Gescheitertes Volksnahrungsmittel: Das Milcheiweißbrot 1934/35

Seit 2023 werden hierzulande überteuerte Produkte mit Proteinanreicherung breit vermarktet – und viele Journalisten und „Experten“ sprangen freudig auf diesen nun abebbenden Trend auf. Es handelt sich um eine der vielen strohfeuerartigen Wachstumsgeschichten, die keinerlei Nachhaltigkeit besitzen, die aber für ein, zwei Jahre Gewinne in einem gesättigten Lebensmittelmarkt generieren können. Dabei sind solche „Hypes“ erwartbar, fast schon langweilig. Proteine, Stoffe „von erster Qualität“, standen nämlich seit ihrer 1838 durch den niederländischen Chemiker Gerhard Johann Mulder (1802-1880) erfolgten Benennung im Zentrum vieler wissenschaftlicher Kontroversen und begleitender Kaskaden marktgängiger Offerten.

Im 19. Jahrhundert hatte dies elementaren Sinn. Zum einen galt es die stofflichen Strukturen der Nahrung zu verstehen, um die Defizite der Alltagskost gezielt zu reduzieren. Das deutsche Wort Eiweiß bezeichnete zwar keinen einheitlichen Stoff, doch die Einzelstoffe dieser Gruppe waren offenkundig unmittelbar am Körperaufbau und der Bildung von Muskeln beteiligt, verkörperten Kraft und Leistungsfähigkeit. Gerade tierisches Eiweiß, einverleibt durch Fleisch und Milch, schien förderungswürdig, denn darauf gründete die Entwicklung der Neugeborenen und die Muskelkraft der Männer. Eiweiß trat an die Spitze der unverzichtbaren Nahrungsstoffe – auch, weil die Alltagskost der breiten Bevölkerung eiweißarm war. Die frühen Empfehlungen der Ernährungswissenschaft forderten daher mehr davon, das Kostmaß des Münchener Physiologen Carl von Voit (1831-1908) sprach von täglich 118 Gramm für ein auskömmliches Leben. Zum anderen aber waren eiweißhaltige Nahrungsmittel nicht nur hochwertig, sondern auch deutlich teurer als Kohlenhydrate, letztere in Form von Mehl, Brot und Kartoffeln Rückgrat der täglichen Kost. Die Eiweißfrage war im 19. Jahrhundert demnach immer auch eine sozialer Gerechtigkeit, nach der Integration aller in die bürgerliche Gesellschaft. „Mehr Eiweiß“ wurde ein Flaggenwort der Emanzipation der Arbeiterschaft sowohl auf dem Lande als auch in den rasch wachsenden Städten.

Doch dieser Artikel greift auf die Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts nur zurück; ohne sie ist das auf- und abebbende Angebot proteinreicher und -angereicherter Lebensmittel eben nicht zu verstehen. Im Zentrum dieses Artikels wird jedoch ein historischer Flop stehen, ein scheiterndes Möchtegernvolksnahrungsmittel, das für kurze Zeit reichsweit propagierte Milcheiweißbrot. Es war der deutsche Staat, der nationalsozialistische Staat in seinen Anfangsjahren, der 1934/35 versuchte, das gängige Brot zu verbessern und ergänzend und verdrängend ein eiweißreicheres Milcheiweißbrot zu etablieren. Dazu wurde die staatliche Werbetrommel dröhnend geschlagen, darauf galt es die Konsumenten lockend zu verpflichten. Doch auch NS-Propaganda konnte ins Leere laufen, war keineswegs so erfolgreich, wie uns das die Inszenierungen des Regimes und viele spätere Pseudoerklärungen des „Wie konnte es geschehen“ weismachen wollen. Das Milcheiweißbrot fiel jedenfalls durch – auch wenn es als deutsches Zukunftsbrot, als Kraftbrot, als Resultat deutschen Forschergeistes propagiert wurde. Es fiel durch, auch wenn die Eiweißversorgung im Ausklang der Weltwirtschaftskrise kaum besser war als im späten 19. Jahrhundert. Dabei ging es gar nicht um grundstürzende Veränderungen der täglichen Kost, sondern um eine an sich kleine Veränderung: Das Milcheiweißbrot war ein Kunstprodukt, dem üblichen Brotteig wurde ein wenig getrocknete Magermilch beigemengt. Der Nährwert und der Eiweißanteil lagen dadurch ein wenig höher als zuvor. Und doch, es fiel durch.

Eiweißpräparate als (unzureichende) Alternative tradierter Kost

Um dieses Scheitern zu verstehen, gilt es sich ein wenig genauer mit der Stellung von Eiweiß in den Konsumgütermärkten vor dem NS-Regime auseinanderzusetzen, uns also den Markterfahrungen der damaligen Konsumenten zu widmen. Einerseits war die wissenschaftlich propagierte Vorrangstellung des Eiweißes nicht unkommentiert geblieben. Die vegetarische Bewegung kämpfte schon seit den 1860er Jahren gegen die „Ritter vom Fleische“, verwies auf pflanzliche Proteine, auf Hülsenfrüchte, Getreide, auch die Kartoffeln. Physiologische Forschungen ergaben zudem, dass der Mensch mit deutlich weniger als täglich 118 Gramm Eiweiß leben konnte. In der Eiweißminimum-Debatte, die seit den 1890er Jahren in immer neuen Wellen über mehrere Jahrzehnte geführt wurde, unterschied man zunehmend zwischen einem deutlich niedriger liegenden Mindestbedarf und einem anzustrebenden, die Körperfunktionen optimal ausbildenden höheren Wert. Dabei ging es nicht allein um wissenschaftliche Wahrheit. Ein niedriger Eiweißbedarf und preiswerteres pflanzliches Eiweiß waren insbesondere im Sinne der damaligen Arbeitgeber, mündeten in geringere, am Mindestbedarf ausgerichtete Löhne. Entsprechend gab es intensive Forschungen, Eiweiß billig und haltbar anzubieten. Fleisch wurde gekocht, konzentriert, getrocknet – und Fleischextrakte, Fleischpeptone sowie Fleischpulver wie Carne pura versprachen eine bessere und preisgünstige Ernährung, ohne aber Breitenwirkung zu erzielen. Auch Milch wurde nicht nur frisch verkauft, sondern seit den 1860er Jahren als Kondensmilch resp. später in Form der Heilspeisen Kumys oder Kefir angeboten. Hinzu traten Suppen- und Kindermehle, auch Eipulver oder Trockeneier. Diese Nahrungsinnovationen waren nur in Nischenmärkten erfolgreich. Doch davon ließen sich Erfinderunternehmer nicht bremsen. Seit den 1890er Jahren wurden mit den Eiweißpräparaten neuartige Produkte beworben, die auch im Massenmarkt Erfolg haben sollten.

Neue Formen für Abfall- und Trockenprodukte: Werbung für Aleuronat und Nährstoff Heyden (Vossische Zeitung 1899, Nr. 311 v. 6. Juli, 17 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 2 v. 4. Januar, 8)

Zwei damals entwickelte Strategien waren für unsere Fragestellung nach der Einführung und dem Scheitern des Milcheiweißbrotes 1934/35 vorreiterhaft. Einerseits bemühten sich Anbieter, Eiweiß aus möglichst billigen Grundstoffen herzustellen. Reststoffe boten sich dabei an, also nicht lukrativ verwertbare Ergebnisse industrieller Nahrungsmittelproduktion. Das Eiweißpräparat Aleuronat gründete auf den Albfallprodukten der seit 1869 von der Hammer Firma R. Hundhausen produzierten Weizenstärke. Sie dienten anfangs als Tierfutter. Mit der Übernahme der Firma durch den Chemiker Carl Johannes Hundhausen (1856-1946) begann 1881 jedoch ein Umdenken. Die Stärkereste wurden genauer untersucht, die Eiweißbestandteile isoliert und zu einem Pulver verarbeitet (Wichtige Erfindung, Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 34 v. 10. Februar, 2). Das neue, seit 1886 angebotene Aleuronat war nahrhaft, hatte aber einen kratzigen Geschmack, war auch relativ teuer, so dass es als Suppen- oder Brotzusatz Anfang der 1890er Jahre scheiterte. Hundhausen feilte daraufhin an der Trocknungs- und Filtertechnik, konnte auch den Preis massiv verringern. Der Einbruch in den Massenmarkt misslang dennoch. Stattdessen etablierte sich Aleuronat als Diabetikerpräparat, während des Eiweißhypes der Jahrhundertwende auch als kräftigendes Nährpräparat für Rekonvaleszente. Aleuronat war ein chamäleonhaftes Pionierprodukt, ähnlich wie die folgende Lawine: Die bald dreistellige Zahl der Eiweißpräparate war in sich heterogen, die Preisunterschiede beträchtlich, die Grundstoffe vielfach unbekannt. Schlachtabfälle wurden geadelt, ähnlich wie zuvor bei den Fleischfuttermehlen. Der oben angeführte Nährstoff Heyden bestand dagegen aus Eiereiweiß, war daher leicht verdaulich. Vermarktet wurde er jedoch als Ergänzungsnahrung für Wöchnerinnen und Neugeborene (Nährstoff Heyden, Pharmaceutische Post 32, 1899, 408).

Eiweißhype um die Jahrhundertwende: Fortifizierte Nahrungsmittel auf Grundlage von Plasmon und Tropon (Berliner Morgenpost 1900, Nr. 100 v. 1. Mai, 14 (l.); Westdeutsche Bäcker- & Conditor-Zeitung 2, 1900, Nr. 13, 4)

Doch es war nicht nur die hohe Zahl der neuen Eiweißpräparate, die um die Jahrhundertwende einen beträchtlich intensiveren Hype in Gang setzte als das laue Lüftchen der letzten Jahre. Die neuen Trockenpräparate – pastöse Angebote blieben Ausnahmen – konnten und sollten nämlich die gängigen Nahrungsmittel auch anreichern, ihnen ausgewogenere Nährstoffprofile verleihen. Der Mensch schuf sich eine neue Nahrungsgrundlage. Damals gängige Markenartikel wie Plasmon oder Tropon wurden nicht nur als essbare Pulver verkauft, sondern in zahlreiche zumeist kohlehydrathaltige Nahrungsmittel eingebacken, eingerührt. Gemeinsam mit den damals modischen Nährsalzen schien die gewerbliche Produktion neue Angebote schaffen zu können, teils billiger, teils besser als die tradierte Kost. Derartige Konsumträume scheiterten an mangelnder Haltbarkeit, am schlechten, ungewohnten Geschmack, an der nicht sehr elaborierten Produktionstechnik, vor allem aber an den unzureichenden Kenntnissen der Nahrungsstoffe selbst (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Die große Palette der für Eiweiß konstitutiven Aminosäuren wurde erst damals gezielt erkundet. Vitamine waren noch nicht bekannt, die Wirkungen von Mineralstoffen großenteils unklar. Doch die treibende Idee der Anreicherung, der Fortifikation bestehender Nahrungsmittel wurde unbeirrt hochgehalten. Man müsse nur die Mängel abstellen, das stofflichen Wissen verbessern.

Das galt nicht zuletzt für das Brot, nach der Kartoffel das Hauptnahrungsmittel dieser Zeit. Nicht aber Bäcker waren Pioniere der Umgestaltung, sondern Naturwissenschaftler: Der Göttinger Mediziner Wilhelm Ebstein (1836-1912) zielte beispielsweise auf Nährbrote für die Krankenkost, für die wachsende Zahl der Diabetiker. Versuche mit Tiereiweiß hatten sich nicht bewährt, das seit den 1840er Jahren gängige Kleberbrot schmeckte nach längerem Konsum widerwärtig. Er experimentierte daher mit Aleuronat-Zusätzen in Suppen, Gebäck, Panaden und Brot. Doch es bedurfte der Not der Krankheit, um letzteres regelmäßig zu essen ([Wilhelm] Ebstein, Ueber Ernährung der Zuckerkranken, Internationale Klinische Rundschau 6, 1892, Sp. 952). Da half es auch nicht, das die Resorption von solchem „Milcheiweissbrot“ an sich hoch war (W[ilhelm] Prausnitz, Ueber ein neues Eiweisspräparat (Siebold’s Milcheiweiss), Münchener Medizinische Wochenschrift 46, 1899, 849-858). Für Zuckerkranke waren die fortifizierten Brote seither eine wichtige Ernährungshilfe, nicht aber im Massenmarkt (Salabrose, Medizinische Klinik 25, 1929, 29; Plaschkes, Diabetikerbrot, Wiener Medizinische Wochenschrift 81, 1931, 1505).

Das zeigte sich auch bei verschiedenen Bemühungen, mit Magermilch angereichertes Brot zu vermarkten. Versuche gab es in den frühen 1890er Jahre erst einmal in der Schweiz, wo die Butter- und Käseproduktion zu kaum mehr verwertbaren Magermilchmengen führte. Oskar Gottwald Ambühl (1850-1923), Kantonschemiker St. Gallen und zeitweilig auch Präsident der Schweizerischen Gesellschaft analytischer Chemiker, trat emsig für das neue Brot ein, doch bedauernd blieb zu konstatieren, „die liebe Gewohnheit siegte über eine vorteilhafte Neuerung in der Volksernährung“ (Jahrbuch der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft 48, 1907, 202-203). Auch die stärker elaborierten Vorschläge des Leipziger Hygienikers und Kgl. Oberapothekers Georg Marpmann (1849-1911), flüssige Magermilch resp. das kompaktere Zwischenprodukt Kasein zu einem „Eiweissbrot“ (Jahresbericht der Pharmacie 30, 1895, 640) zu verbacken, scheiterten letztlich an der fehlenden Resonanz bei Bäckern und Konsumenten (G[eorg] Marpmann, Die Verwertung der Molkereiabfälle, Apotheker-Zeitung 10, 1895, 169-170, hier 170). Die neuen Produkte mochten zwar volkswirtschaftlich und physiologisch gut begründbar sein, doch angesichts des ungewohnten Geschmacks und höherer Preise gab es für die gesunde Mehrzahl keinen Anlass, ihren Alltagskonsum zu verändern.

Entsprechend scheiterten auch während des Ersten Weltkriegs neuerliche Initiativen für sog. Magermilchbrote oder aber andere Eiweißbrote (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 7, 1916, 250). Auch das 1915 zeitweilig propagierte Bluteiweißbrot konnte die Hürde des Probierens und raschen Ausspeiens trotz Versorgungsengpässen nicht überwinden. Wir finden damals allerdings bereits das für das nationalsozialistische Milcheiweißbrot dann so charakteristische propagandistische Beschönigen. Das Neue galt als „Spartanerbrot“, es sei schmackhaft, haltbar und billig, im Ostseeraum und Skandinavien schon länger bewährt und werde bereits allüberall in Deutschland gebacken (Das Spartanerbrot, Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger 1915, Nr. 200 v. 29. August, 6; Die neue Eiweißquelle – das Blut-Eiweiß-Brot, Sächsische Volkszeitung 1915, Nr. 166 v. 23. Juli, 1933). Das waren Wunschwelten der Propaganda. Auch das sogenannte N-Brot, ein mit Nährhefe fortifiziertes eiweißreicheres „Kraftbrot“, scheiterte am schlechten, durchdringenden Geschmack (N-Brot, ein Kraftbrot, Die Umschau 20, 1916, 14-15).

Verbesserte Zusatzstoffe: Trockenmilch

Der Fehlschlag der Eiweißanreicherung des Brotes in den 1890er Jahren und auch in den Notjahren des Weltkrieges war – so die naturwissenschaftlichen Experten – vorrangig Folge wenig ausgefeilter Zwischenprodukte, einer dringend verbesserungswürdigen Produktionstechnik und unzureichender Grundlagenforschung. Letzteres bezog sich auf die nur rudimentären Kenntnisse über den Geschmack der Nahrungsmittel und dessen Veränderungen während der Bearbeitung. Das war Gegenstand der Bromatik, die erst in der Zwischenkriegszeit größere Bedeutung gewann. Während des Kaiserreichs war Deutschland international führend in der Entwicklung und der Synthetisierung von Essenzen und Aromastoffen; und entsprechend der Außenblick, die Neigung, nicht die Produkte selbst zu optimieren, sondern ihnen verbessernd etwas zuzumengen. Die Lebensmittelherstellung blieb daher tradiert, „bewährt“. Das galt gerade für das Brot, dem seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder leistungsfähigere Backhilfsmittel beigemengt wurden, nachdem noch vor der Reichsgründung der Übergang vom Sauerteig- zum Backpulverbrot kläglich gescheitert war. Auch die seit den 1890er Jahren lautstark propagierte Brotreform zielte vorrangig auf anders vermahlene und vorbehandelte Mehle, während die chemischen Veränderungen während des Backens vielfach unbekannt waren und großenteils auch blieben.

Die Bewegung hin zu einem angereicherten Milcheiweißbrot wurde daher nicht von den Bäckern getragen. Sie war stattdessen Folge einer zunehmend marktbezogen arbeitenden Landwirtschaft. Dort entwickelte sich die Milchwirtschaft zur wichtigsten Einzelbranche, ökonomisch wichtiger als die gemeinhin mit dieser Zeit verbundene Schwerindustrie oder die chemischen Industrien. Wachsende urbane Märkte, das massenhafte Aufkommen von Separatoren, die Bildung von Molkereien und Molkereigenossenschaften, zunehmende Spezialisierung und die verstärkte Verwendung von Kraftfutter veränderten den Zuschnitt einer immer größeren Zahl bäuerlicher Existenzen. Tiermast, Butter- und Käseproduktion  spiegelten sich im wachsenden Aufkommen von Magermilch, die gemeinhin verfüttert wurde, während man Vollmilch und Milchfette verkaufte. Die um die Jahrhundertwende intensiv und mit kulturpessimistischen Tönen geführte Debatte um die „Entmilchung“ des Landes spiegelte diese Verschiebungen.

Die Magermilch enthielt meist nur einem halben Prozent, gar weniger Fett, war vorrangig Tierfutter. Marktnah wurde sie zu Magermilchkäse, den vor allem in Mitteldeutschland allgemein üblichen Weichkäsen bzw. Quark verarbeitet, diente auch als Grundlage für Buttermilch. Doch nicht zuletzt aufgrund fehlender Kühltechnik waren die Marktchancen für Kleinbetriebe begrenzt, blieb die Nutzung im eigenen Betrieb üblich. Dennoch wurde über neue, finanziell einträglichere Produkte aus Magermilch nachgedacht. Dabei gewann die Trocknung zu Trockenmilch, Milchpulver und Kasein wachsende Bedeutung. Das war Herrschaft über Zeit und auch Raum. Ein Teil davon mutierte zu Eiweißpräparaten, doch dieser Absatzmarkt war begrenzt – auch, weil die vielen kleinen Höfe und die regional noch sehr unterschiedlich verteilten Molkereien ihre Rohware schlechter bündeln konnten als etwa in Städten konzentrierte Schlachthöfe oder größere Stärkefabriken.

Die Masse der Trockenmilch wurde ohnehin importiert, lag der Schwerpunkt der ländlichen Industrie doch eher in Ostpreußen, wo 1913 neun Fabriken bestanden (W[ilhelm] Fleischmann, Lehrbuch der Milchwirtschaft, 5. neu bearb. Aufl., Berlin 1915, 469). Die inländische Produktion setzte 1890 ein, meist als Nebengewerbe größerer städtischer Milchverarbeiter wie Gebr. Pfund in Dresden oder Loeflund in Stuttgart (A[dalbert] Rabich, Ein Jahrhundert Molkereiwesen, in: Die deutsche Milchwirtschaft im Wandel der Zeit, Hildesheim 1974, 11-208, hier 92). Das Magermilchpulver wurde vorrangig in der Säuglingsernährung eingesetzt, zunehmend gefolgt von der Süßwarenindustrie. Anfangs wurde die Milch in Pfannen eingedampft, war entsprechend vitaminarm. Erst um 1900 führte man schonendere Walzenverfahren ein. Während des Ersten Weltkrieges nahm die Produktion beträchtlich zu, konnte aber die wegbrechenden Importe auch nicht ansatzweise ersetzen. Einen nennenswerten quantitativen Effekt auf die Magermilchverwertung besaßen die neuen Produktionsstätten ohnehin nicht.

Trockenmilch als Ersatzmittel für die kaum mehr verfügbare (Voll-)Milch während des Ersten Weltkrieges (Vorwärts 1915, Nr. 223 v. 28. September, Unterhaltungsbl., 2)

Trockenmilch milderte während des Ersten Weltkrieg in vielen urbanen Zentren die quantitative und qualitative „Milchnot“ – auch wenn das Pulver in Wasser teils nur schwer löslich war (Hugo Kühl, Trockenmilchpräparate als Liebesgaben, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 693-696). Gewalzte Trockenmilch war keimarm, enthielt noch Vitamine, war preiswerter zu transportieren als Vollmilch (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927, 46-49). Dennoch dominierten nach dem Ende der Zwangswirtschaft wieder die Importe vorrangig aus den Niederlanden. Erst 1926 konnten die Deutschen die zuvor untersagten Schutzzölle neuerlich erhöhen, was den nun vermehrt entstehenden deutschen Unternehmen eine gewisse Plansicherheit gab. 1934 gab es reichsweit 41 Trocknungsanlagen, 26 Sterilisierungsbetriebe und vierzehn Kaseinwerke mit einer Kapazität von ca. 375 Mio. Liter, etwa drei Prozent des Anfalls. Ausgenutzt wurde davon aber nur ein Drittel (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Das neue Milcheiweißbrot sollte, so der Plan, die Auslastung massiv erhöhen und der Industrie einen dauerhaften Aufschwung verleihen. Obwohl die Qualität mittlerweile deutlich verbessert wurde – Wasserlöslichkeit war kein Problem mehr und neue Sprühtrockenverfahren verbesserten die Haltbarkeit und den Vitamingehalt – blieb die Akzeptanz der Trockenmilch begrenzt. In der Schweiz hatte man seit 1927/28 neuerlich Magermilchbrot propagiert, doch dies wurde weder von Bäckern noch Konsumenten angenommen (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 19, 1928, 275). Der andersartige, teils fade Geschmack und auch die raschere Abgegessenheit ließen die Versuche immer wieder erfolglos enden (Magermilchbrot ist nicht begehrt, Der Bund 1934, Nr. 563 v. 2. Dezember, 6).

Eingesacktes Milchpulver der Trockenmilchwerke Lippstadt und Trockenmilchpresslinge (Zeno-Zeitung 1938, Nr. 282 v. 15. Oktober, 7 (l.); Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1197)

Erfolge der Agrarlobby: Beimischungszwang 1933

Das seit 1934 im Deutschen Reich propagierte Milcheiweißbrot war denn auch keine Angelegenheit marktnah arbeitender Kreise. Es stand vielmehr in der Tradition der seit 1929 von der damals gut organisierten und äußerst einflussreichen Agrarlobby durchgesetzten Beimischungszwänge. Das war Folge der schon länger schwelenden internationalen Agrarkrise, der trotz beträchtlicher Investitionen fehlenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft und ihrer wachsenden Überschuldung. Doch die Zeche einer Jahrzehnte zurückreichenden, teils bewusst unterlassenen Modernisierung, die ein wichtiger Aspekt auch der Versorgungskatastrophe während des Ersten Weltkrieges gewesen war, sollten nun die Verbraucher zahlen, deren Wahlmöglichkeiten man durch staatliche Interventionen marktfern verringern wollte. Das hatte Tradition, das 1914 eingeführte K-Brot wurde zwar als Kriegsbrot vermarktet, war jedoch ein mit Kartoffelwalzmehl angereichertes Produkt, das helfen sollte, die schwindenden Getreidevorräte zu strecken (Lebensmittelstreckung, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 25, 1915/16, Sp. 559-562; Ferdinand Hueppe, Unser Kriegsbrot, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 726-731). Das Ergebnis war klitschig, wurde bald verschmäht. Zusätze von Stroh und Holz wurden erforscht, als Notbrote aber kaum eingesetzt (Heinrich Mohorcic und Wilhelm Prausnitz, Die Verwendung des Holzes zur Herstellung von Kriegsbrot, Archiv für Hygiene 86, 1917, 219-240). Der Mensch war doch kein Vieh…

Staatlich verordnete Beimischungszwänge wurden mit Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht nur im Deutschen Reich modisch, waren während der NS-Zeit endemisch und sind bis heute Teil auch sich marktwirtschaftlich nennender Wirtschaftspolitiken (Bioethanol). Es handelt sich um dirigistische Eingriffe in den Preismechanismus zu Lasten einzelner Gruppen. Sie sind ein klarer Bruch mit einer damals von der liberalen und katholischen Mitte und der SPD verteidigten Konsumentensouveränität. Den Anfang machte das qua Notverordnung veränderte Brotgesetz vom Dezember 1930, das zwar nicht die „Brotzwangswirtschaft“ (Das Roggenbrotgesetz, Vorwärts 1930, Nr. 51 v. 31. Januar, 3) einführte, wohl aber einen Beimischungszwang von Roggen zum Weizenmehl vorsah. Dies erfolgte gegen den massiven Widerstand der Bäcker, die um die Qualität des Standardbrotes fürchteten und Umstellungen ihrer Produktionsverfahren scheuten (Zwangsweise Beimischung von Roggenmehl zum Weizenmehl?, Weckruf 16, 1929, 1149-1150). Auch die Konsumgenossenschaften sahen die Roggenbegünstigung kritisch, wandten sich aber noch strikter gegen den Beimischungszwang von Butter zur Margarine 1933 (G[eor]g Büchlein, Beimischungszwang von Butter zur Margarine, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933 4-5). Beimischungszwänge gab es jedoch zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbranchen: Ab 1930 waren dem Treibstoff 2,5 Prozent Kartoffelsprit beizumengen, bis 1932 sollte dieser Anteil auf zehn Prozent steigen. Während der NS-Zeit sollte derartiger staatlicher Dirigismus die Umsteuerung auf deutsche Austauschstoffe begleiten und zur „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsfähigkeit führen. Er war nicht länger vorrangig agrar-, sondern zunehmend staatspolitisch motiviert. Entsprechend erfolgten Beimischungszwänge ab 1936 zunehmend ohne Kennzeichnung, gleichsam hinter dem Rücken der Konsumenten. Die prekäre Devisenlage des Reiches und die teure Aufrüstung ließen derartige Eingriffe erforderlich erscheinen.

Kritik an den willkürlich erscheinenden Beimischungszwängen der Regierungen während der Präsidialdiktatur (Ulk 62, 1933, Nr. 1, 1)

Für unsere Frage nach dem Entstehen und der Propagierung des Milcheiweißbrotes 1934/35 müssen wir jedoch genauer hinschauen. Das im Juni 1931 neuerlich per Notverordnung geänderte Brotgesetz beendete erst einmal die Roggenmehlbeimischung zum Weizen, erlaubte nun aber dem Weizenbackwerk bis zu zehn Prozent Kartoffelstärkemehl beizumengen (Das neue Brotgesetz 1931, Nr. 174 v. 25. Juni, 3). Im Herbst 1931 endete die Freiwilligkeit, nun musste dem Brot Kartoffelstärkemehl zugefügt werden, um so zusätzlich 600-700.000 Tonnen Kartoffeln abzusetzen (Neue Erleichterung des Kartoffelabsatzes, Kölnische Zeitung 1931, Nr. 533 v. 30. September, 1). Das Bäckerhandwerk protestierte scharf, konnte den Beimischungszwang jedoch nicht verhindern. Ähnlich war es im Dezember 1932, als zudem Kartoffelwalzmehl genutzt werden sollte, also der vom K-Brot des Weltkrieges bekannte Hilfsstoff: „Wenn der Reichsinnenminister glaubt, daß der Bäckermeister sich bereitfinden würde, neben dem aufgezwungenen Kartoffelstärkemehl auch noch Kartoffelwalzmehl zu verwenden, dann ist er in einem großen Irrtum“ (Kartoffelwalzmehl zum Roggenbrot?, Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung (RBKZ) 35, 1933, 40). Beides gehöre nicht in die Backstube. All dies erfolgte während der Präsidialdiktaturen, bereitete aber dem Milchweißbrot den Weg.

Wie verwerten? Magermilch zwischen Tierfutter und Eiweißreserve (Ernährungsdienst Nr. 13, 1936, 5)

Schon vor der Machtzulassung der NSDAP wurden weitere Beimischungszwänge für die Brotherstellung diskutiert, darunter auch die verpflichtende Verwendung von Magermilch. Während der Agrar- und Weltwirtschaftskrise war dieser Reststoff der bäuerlichen Milchwirtschaft zu einem immer größeren Problem geworden. Eine breitere gewerbliche Nutzung war jedoch kaum möglich, auch das Verbacken frischer Magermilch schien unmöglich: Die Bäcker intervenierten früh, verwiesen auf die hohen Transportkosten, fehlende Kühltechnik und Maschinen, sprachen von einem um fünf bis sechs Pfennig teureren Brot: „Das Bäckerhandwerk kann derartige Lasten erst recht nicht auf sich nehmen, abgesehen davon, daß die Bevölkerung sich noch mehr vom Brotverzehr – nicht zuletzt auch zum Schaden der Landwirtschaft – abwenden wird“ (Magermilch in Bäckereien, RBKZ 35, 1933, 74). Dennoch wurde am 12. September 1933 das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch erlassen. Milch und Brot gingen damit eine erzwungene Symbiose ein, die ein gutes Jahr später in das Milcheiweißbrot münden sollte.

Auf dem Weg zur reichsweiten Einführung

Das neue Brot wurde offiziell Ende Oktober 1934 vorgestellt und sollte ab dem 1. November allgemein verfügbar sein. Dies war nicht Ausfluss einer stringenten Agrarpolitik, sondern Resultat einer durch die massiven staatlichen Eingriffe mit verursachten Versorgungskrise. Sie hatte sich bereits 1933 ankündigt, war während der ernsten Wirtschafts- und Finanzkrise im Frühjahr 1934 jedoch kaum mehr zu überdecken. Kartoffeln wurden zunehmend knapp, die Kritik der Bäcker an der zwangsweisen Verwendung des Kartoffelmehls hallte nach, zugleich galt die Magermilch aufgrund der freien Kapazitäten als gut erschließbare Nahrungsreserve (P[aul] Schuppli, Ueber Beimischung von Magermilch bei der Broterzeugung in Deutschland im Interesse der besseren Milchverwertung, Der fortschrittliche Landwirt 17, 1935, 70). Das Gesetz über die Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch sah anfangs allerdings nur geringe Anteile von einem halben bis einem Prozent Milchpulverzusatz vor. Anfang 1934 wurde erst in Bayern, dann auch im Südwesten erlaubt, das Kartoffelmehl gänzlich durch Magermilch zu ersetzen (Verwendung von Trockenmagermilch in Württemberg, RBKZ 36, 1934, 140). Als am 15. Oktober 1934 das Gesetz auslief, trat an seine Stelle nunmehr eine formal freiwillige Anreicherung der Brote mit mindestens 2,5 Prozent Magermilchpulver. Die gleichgeschaltete Presse applaudierte: Schon Kartoffelmehl habe die Brotqualität gehoben, doch mit der neuen eiweißhaltigen Magermilch werde eine „weitere Verbesserung“ (Milch-Eiweiß-Brot, Hannoverscher Kurier 1934, Nr. 498 v. 24. Oktober, 2) erzielt.

Bevor wir uns der Einführungspropaganda widmen, müssen wir uns noch einem eigenartigen Phänomen zuwenden, das für die NS-Ernährungspropaganda recht typisch werden sollte. Das Milcheiweißbrot erschien als begrüßenswerte Neuschöpfung – doch faktisch wurde es bereits 1933 öffentlich immer wieder erwähnt, mutierte seit Frühjahr 1934 gar zu einem gängigen Vorzeigeobjekt. Es gab also eine Vorpropaganda, die zwar die Vorstellung einer grundstürzenden Neuerung unterminierte, die aber die Einführung des Milcheiweißbrotes vorbereitete.

Die Machtzulassung der NSDAP Ende Januar 1933 bedeutete anfangs massive Gewalt gegen die Opposition, doch parallel führte die neue konservativ-nationalsozialistische Regierung Maßnahmen der Zeit der Präsidialdiktatur, teils auch der parlamentarischen Demokratie weiter. Für die Milchwirtschaft war das Milchgesetz von 1930 die entscheidende Wegmarke. Und es war der 1926 gegründete Reichsmilchausschuss, der 1933 nicht nur weiter für einen höheren Milchkonsum warb, sondern auch ein Milcheiweißbrot freudig präsentierte (Flugtag in Berlin, Stuttgarter Neues Tagblatt 1933, Nr. 357 v. 3. August, 17). Das sei Ergebnis neuerlicher agrarwissenschaftlicher Forschungen zur Nutzung der Magermilch: „Bei der Brotherstellung fand Milch schon Verwendung, soweit es sich um Weißbrot handelt. Eingehende Versuche haben nun ergeben, daß auch die Verwendung entrahmter Milch in flüssiger Form oder als Milchpulver bei der Herstellung von Roggenbrot ein sehr wohlschmeckendes Brot ergibt, das durch Erhöhung des Eiweißgehalts dem mit Wasser hergestellten Roggenbrot vorzuziehen ist“ („Milcheiweißbrot“, Neckar-Bote 1933, Nr. 206 v. 5. September, 5).

„Milcheiweißbrot“ vor der Einführung: Stellenanzeige für Milchpulver-Vertreter (Neue Mannheimer Zeitung 1934, Nr. 409 v. 6. September, 14)

Backversuche schlossen sich an, umfangreiche Überlegungen zur Werbung, zunehmend auch Gespräche mit den beteiligten Wirtschaftskreisen. Gerade in der Trockenmilchindustrie bereitete man sich vor, musste die Milchpulverproduktion doch beträchtlich gesteigert werden, um den erwarteten Bedarf zu decken. Die Dauermilchindustrie wurde neu strukturiert, ihr eine staatliche „Marktordnung“ und ein neues Ziel verliehen: „Milcheiweißbrot, das deutsche Kraftbrot, wird in kurzer Zeit das tägliche Brot von Millionen Verbrauchern sein, und damit wird ein erhöhter Absatz von entrahmter Milch auf lange Zeit hinaus gesichert“ (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Die Milchwirtschaftsverbände luden schon im September 1934 Journalisten, Frauenverbände und NS-Repräsentanten zu Besichtigungsfahrten von Molkereien und auch – wenn vorhanden – Trockenmilchfabriken ein, präsentierten dort schon Milcheiweißbrothäppchen für die Multiplikatoren (Besichtigungsfahrt in das Milcheinziehungsgebiet Witten, Wittener Tageblatt 1934, Nr. 204 v. 1. September, 4; Eine Fahrt ins Milchland, Bottroper Volkszeitung 1934, Nr. 268 v. 29. September, 5). Milcheiweißbrot wurde vorher bereits auf der seit Ende April 1934 in Berlin gezeigten NS-Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ präsentiert, die heute vornehmlich durch die Beiträge führender Bauhäusler in Erinnerung geblieben ist (RBKZ 36, 1934, 510). Ende Mai fand man es auf der ersten Reichsnährstand-Ausstellung in Erfurt, 11.000 Brote sollen damals in Bäckereien und der Milchkosthalle verkauft worden sein (Ostpreußische Zeitung 1934, Nr. 294 v. 24. Oktober, 12). Das Mitte März neu gegründete Reichskommissariat für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft präsentierte das Milchweißbrot dann auf der Jahresmesse für das Gastwirts-, Hotelier- und Konditorengewerbe in Berlin: „Die neue Brotart wird erst ab 15. Oktober im Handel sein, um dann schlagartig in jeder Bäckerei um die Gunst des Publikums zu werben“ (Milcheiweißbrot und Drei-Fett-Topf. Revolution im Haushalt, Dresdner Nachrichten 1934, Nr. 466 v. 4. Oktober, 6). Schlagartige Präsenz mit zugestandenem Vorlauf.

Werbefotos mit Brot und Plakaten (Volksgemeinschaft 1934, Nr. 293 v. 27. Oktober, 4 (l.); Velberter Zeitung 1934, Nr. 292 v. 24. Oktober, 3)

Das Reichskommissariat verbreitete derweil vorbereitete Artikel, in denen die kommende Melange von Milch und Brot schmackhaft gemacht wurde (Milch und Brot – Milcheiweißbrot, Nethegau- und Weser-Zeitung 1934, Nr. 125 v. 15. Oktober, 4). Das neue Brot sei traditionsreich, eiweißreich und doch billig, ein „Aufbaubrot für jung und alt“, ein wahres Volksbrot, „das als kraftvolles, kerniges Brot ein kraftvolles, kerniges Volk zu schaffen vermag“ (Steinheimer Zeitung 1934, Nr. 240 v. 16. Oktober, 6). Hausfrauen wurden gezielt angesprochen, das Kommende vor Augen geführt: „In den Schaufenstern zahlreicher Bäckereien wird ein Schild, das ein appetitliches, mit Banderole versehenes Brot zeigt, den Hausfrauen in die Augen springen“ (Jetzt gibt’s Milcheiweißbrot, Zeno-Zeitung 1934, Nr. 288 v. 19. Oktober, 8). Trotz weiterhin hoher, wenngleich rasch abklingender Arbeitslosigkeit, trotz eines nur langsam und mit Stockungen in Gang kommenden Wirtschaftsaufschwungs, sollten sich die Konsumentinnen auf das neue Brot freuen. Man gab sich sicher, dass es gern gekauft werden würde („Milcheiweißbrot“, National-Zeitung 1934, Nr. 249 v. 23. Oktober, 4), schließlich sei man dem neuen Deutschland und seinem „Volkskanzler“ gegenüber verpflichtet. Experten- und Diktatorenträume…

Ein neues, vielgestaltiges Produkt

Sorgender Staat: Kunde von einem neuen Volksnahrungsmittel (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3)

Das Milcheiweißbrot wurde im Oktober 1934 als neues Volksnahrungsmittel angekündigt, also als ein wichtiger und bleibender Beitrag zur Alltagsernährung. Trotz der Vorpropaganda, trotz der auf mehreren Ausstellungen und Messen verteilten Proben handelte es sich jedoch erst einmal um eine erläuterungsbedürftige Worthülse. Entsprechend war die Propaganda geprägt von vermeintlichen Sachinformationen. Propaganda, auch die nationalsozialistische, bedarf nachprüfbarer Fakten, sogenannter rationaler Propaganda (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [ebook], 114-115). Was also war das neue Milcheiweißbrot?

Seitenansicht eines Milcheiweißbrotes (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 555)

Erste Nachrichten besagten, daß es „jetzt nach einem vorgeschriebenen Rezept ein Milcheiweißbrot [gibt, US], das als neuartiges Kraftbrot anzusehen ist, denn es enthält im Gegensatz zu dem üblichen Brot das außerordentlich nahrhafte Milcheiweiß“ (Rheinisches Volksblatt 1934, Nr. 249 v. 24. Oktober, 8). Genauere Information findet man nur in der Fachliteratur. Ein Grundrezept lautete bei der Einführung: „750 Gramm Vollsauer aus Roggenmehl Type 997, 10 Gramm Salz, 475 Gramm Mehl Type 997 und 25 Gramm Milchpulver (bzw. 15 Gramm Kasein und 485 Gramm Mehl) wurden zu einem normalen Teig von 27 Grad Celsius verarbeitet. Der Tag kam eine Stunde in den Gärschrank von 38 Grad Celsius, hierauf wurde durchgewirkt, gewogen und ein Laib von 1400 Gramm Teiggewicht ausgeformt. Nachdem die Ofengare der Laibe erreicht war, wurden sie innerhalb 45 Minuten bei 260 Grad ausgebacken“ (P[aul] Pelshenke und A[dolf] Zeisset, Backprüfung der Magermilchpulver, RBKZ 38, 1936, 5-6, hier 5). In der Backstube waren die Mengen natürlich größer.

Der Einführung gingen umfangreiche Backversuche in verschiedenen Gebieten Deutschlands voraus, auch wenn nicht klar ist, ob die immer wieder genannte Zahl von mehr als 100.000 Versuchsbroten wirklich belastbar war oder nicht doch der nationalsozialistischen Freude am Mächtig-Gewaltigen entsprach. Sie wurden unter den Auspizien von Hans Adalbert Schweigart (1900-1972) vorgenommen, einer schillernden Figur während der NS-Zeit, auch während der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik. Nach der Promotion zum Chemiker arbeitete er von 1928 bis 1932 in der Produktentwicklung der Saalfelder Schokoladenfabrik Mauxion, deren Schoko- und Kakaotrunk damals beträchtlichen Erfolg hatte. Schweigart wechselte dann zum Reichsmilchausschuss, agierte als Hauptabteilungsleiter des Reichsnährstandes, wurde 1935 schließlich Direktor des Berliner Instituts für Milchwirtschaft. Er war ein gutes Beispiel für zahlreiche junge nationalsozialistische Akademiker, die ihre Karrieren vor allem den massiven Investitionen in die Agrar- und Ernährungsforschung verdankten. Nach Schweigart erprobte man „bei Privatbäckern, in Konsumbäckereien, in der Militärbackanstalt“ verschiedene Backverfahren. Im Gegensatz zur Vorstellung vom Einheitsrezept gab es jedoch keine verbindlichen Backvorschriften. Milcheiweißbrot konnte „als Vollkornbrot, Schwarzbrot, Graubrot oder Feinbrot gebacken“ werden, wahlweise „mit Sauerteig- oder Hefeführung“ (Hans Adalbert Schweigart, Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 510-512, hier 511).

Varianten des Milcheiweißbrotes (National-Zeitung 1936, Nr. 195 v. 18. Juli, 3)

Positionierung und Abgrenzung einer Lebensmittelinnovation

Milcheiweißbrot war demnach ein Dachbegriff, denn es konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Das verbindende Element dieser Brote war schlicht der Zusatz von Magermilchpulver oder – sehr selten – Nährkasein. Angesichts der zuvor schon beleuchteten Vorgeschichte war sein Platz im etablierten Gefüge der Standardbrote unklar. Die rationale Propaganda positionierte es erst einmal negativ.

Milcheiweißbrot war demnach erstens kein Einheitsbrot. In zahllosen Artikel wurde im Oktober 1934 immer wieder hervorgehoben, dass der Kauf freiwillig sei, „kein Zwang“ (Karlsruher Tagblatt 1934, Nr. 295 v. 25. Oktober, 5) auf die Konsumenten ausgeübt würde. Es handele sich um ein ergänzendes Angebot: „Um den Schein eines Abnahmezwanges zu vermeiden, wird es nur dort verkauft, wo auch normales Brot feilgehalten wird“ (Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1934, Nr. 251 v. 26. Oktober, 4). Zweitens grenzte man das Milcheiweißbrot explizit vom Kriegsbrot ab; ein Vorwurf, der nicht zuletzt innerhalb der Arbeiterschaft, innerhalb der unterdrückten und still geprügelten Opposition artikuliert wurde. Der Dresdener Arzt und Sachbuchautor Georg Kaufmann betonte demgegenüber: „Das jetzt zur Einführung gelangende Kraftbrot (Eiweißbrot) stellt keineswegs ein Ersatznahrungsmittel dar. Es handelt sich nicht lediglich um eine Streckung des Brotgetreides, wie wir das aus der Kriegszeit her kennen“ (Kraft durch Brot. Zur Einführung des neuen Milcheiweißbrotes, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 256 v. 3. November, 5).

Derartige negative Positionierung sollte Ängste abzubauen, Ängste, die den Propagandisten durchaus gewahr waren. Es gab jedoch zweitens eine durchaus zutreffende positive Positionierung. Sie zielte auf den praktischen Nutzen des neuen Brotes für die Käufer. Das neue „Volksbrot“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1934, Nr. 303 v. 3. November, 5) wurde erstens als wichtige Erweiterung und Verbesserung der gängigen Nahrungspalette vorgestellt. Man klebe in dieser dynamischen Zeit des Umsturzes nach vorn nicht an den vom Bäckerhandwerk emsig verteidigten fünf Grundsorten, führe zugleich nicht auf Abwege in die Irrungen und Wirrungen der lebensreformerischen Spezialbrote. Das war noch vor der reichsweiten Propagierung erst von Knäcke-, dann vor allem von Vollkornbrot. Zweitens konzentrieren sich die Artikel immer wieder auf den höheren Nährwert des Milcheiweißbrotes. Das war die Essenz des Werbeattributs „Kraftbrot“. Diese Bezeichnung stand in einer langen Bedeutungskette, nicht nur weil man im frühen 19. Jahrhundert damit das teuer-lockende Marzipan vermarktete. Seit den 1860er Jahren findet man es auch in Anzeigen von Bäckern, doch sein Durchbruch in die Alltagssprache erfolgte erst drei Jahrzehnte später. Der bescheidene Vorzeigemönch und Marketingvirtuose Sebastian Kneipp (1821-1897) gab seinen Namen nicht nur für zahllose Reformwaren, sondern auch einem von ihm grob empfohlenen „Kraftbrot“ (Linzer Zeitung 1891, Nr. 37 v. 15. Februar, 9; Der Landbote 1893, Nr. 31 v. 14. März, 2). Der Begriff fand dadurch breiten Widerhall, zumal im schillernden Umfeld der Lebensreformbewegung. Das Steinmetz-Vollkornbrot war als Spezialbrot recht teuer, zeichnete sich durch eine ausgefeilte Werbung und auch eine Verbreiterung der eigenen Angebotspalette aus. Seit spätestens 1911 trat das „Kraftbrot“, ein dunkles Familienbrot, an die Seite des hellen Vollbrotes, des Rheinischen Roggenschrotbrotes und des nach Dr. Bircher benannten Grahambrotes (Badischer Beobachter 1911, Nr. 126 v. 3. Juni, 8; Badische Presse 1911, Nr. 207 v. 5. Mai, 6). Diesen Reformbroten gemein war eine niedrigere Ausmahlung, entsprechend warb man mit dem leicht höheren Eiweißgehalt, mochte die Resorption auch geringer sein. Das schon erwähnte N-Brot war mit seinem Zusatz von 2,5 Prozent Nährhefe, seinem höheren Eiweißgehalt und seinem einige Pfennige höheren Preis nicht nur „Kraftbrot“, sondern ein unmittelbarer Vorläufer des Milcheiweißbrotes (Das N-Brot, ein Kraftbrot, Fremden-Blatt 1916, Nr. 49 v. 18. Februar, 2).

Schlagzeilen des Neuen (Bergische Wacht 1934, Nr. 247 v. 25. Oktober, 1 (o.), Buersche Zeitung 1934, Nr. 292 v. 25. Oktober, 1)

Dessen Nährwert lag durch die zwar kleine, doch konzentrierte Beimischung von Magermilch in der Tat leicht höher als beim Standardbrot. Das neue „Kraftbrot“ sei daher nahrhafter, nährstoffreicher, sein leicht höherer Preis keine Verteuerung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 248 v. 26. Oktober, 4). Dies wurde auch durch den pointierten Slogan „Kraft durch Brot“ auf den Punkt gebracht (Kraft durch Brot, Stuttgarter Neues Tagblatt 1935, Nr. 28 v. 17. Januar, 17). Die NS-Sprache schuf ihren eigenen Welten: „Kraft durch Freude“ werde die Freizeitgestaltung revolutionieren, das Milcheiweißbrot die Alltagsernährung. In der Tat propagierten mehrere Ärzte, etwa der Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1946), das angereicherte Brot als Beitrag gegen die während der Weltwirtschaftskrise qualitative Eiweißunterernährung großer Bevölkerungsschichten, die zu Wachstumsrückständen und Nährschäden geführt hatte (Naturgemäße Ernährung und Eiweißstoffwechsel, Medizinische Klinik 31, 1935, 331).

Intrinsische Motivation: Der Konsument als ein angeleitetes, doch selbst handelndes Wesen (Victor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1927, 853)

Drittens schließlich diente das Milcheiweißbrot auch der Formung des modernen Konsumenten in der Zeit des Nationalsozialismus. Die fortifizierte Innovation wurde einerseits als Teil einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion präsentiert. Adolf Bickel habe seit 1929 für eine moderne Magermilchverwertung plädiert: „Die nationalsozialistische Regierung hat diesen Gedanken aufgegriffen und in dem Milcheiweiß verwirklicht“ (Auf das Eiweiß kommt es an!, Herforder Kreisblatt 1935, Nr. 27 v. 1. Februar, 7). Brot fern des Tradierten, als Anwendungsfeld des deutschen Geistes. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), zentrale Figur für die Umgestaltung der Wehrmachtsverpflegung und anschließend zentrale Figur der Versorgungswirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, betonte die Koppeleffekte des Eiweißzusatzes: Brot habe einen Eiweißgehalt von fünf bis sieben Prozent, das Milcheiweiß erhöhe ihn um an sich geringe ein bis zwei Prozent. Entscheidend aber sei die weit größere physiologische Wirkung. Das Milcheiweiß erlaube eine deutlich bessere Erschließung des Getreideeiweißes, das im Standardbrot nur zur Hälfte genutzt werde. Milcheiweißbrot sei daher ein wichtiges Element einer vollwertigen Ernährung (Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936, 148). Für die jungen Experten und die NS-Machthaber war das neue Brot anderseits Testlauf für den neuen nationalsozialistischen Konsumenten, der den eigenen Nutzen nicht vernachlässige, der ihn aber in einen völkischen Zusammenhang stelle. Zwang werde nicht ausgeübt, müsse auch nicht ausgeübt werden, denn nun werde „an die Stelle des Zwanges der Gemeinschaftssinn“ treten („Neues Brot“, Lippische Tageszeitung 1934, Nr. 251 v. 27. Oktober, 5). Das Neue sei sinnvoll, würde daher gekauft werden, denn es sei Materialisierung der wechselseitig verpflichteten Volksgemeinschaft auf rassischer Grundlage. Milchweißbrot werde die zuvor teils nutzlos vergossenen Ströme entrahmter Milch wieder in den Kreislauf menschlicher Ernährung lenken. Die Bauern würden davon unmittelbar profitieren, auch alle Konsumenten: „Was für den zartesten Säugling, der eben der Mutterbrust entwöhnt ist, taugt und ihn zu einem aufblühenden Menschenkinde macht, das gesund und quicklebendig ins Leben geht, das ist auch geeignet, dem Heranwachsenden und dem im Kampf ums Dasein nach dem täglichen Brot greifenden Aelteren die Kräfte zu erhalten und aufzubessern. Die für die Gesundheit der Familie verantwortliche Hausfrau, der allein für sich sorgende Berufsmensch, das lebendig hungrige Jungvolk und die hart arbeitenden Männer, sie alle finden, was sie suchen und für den täglichen Kampf brauchen, im Milcheiweißbrot“ (Was ist Milcheiweißbrot?, Der Weckruf 22, 1935, 138). Das war typischer NS-Kitsch, doch er etablierte sich, wurde wohl auch geglaubt. Wichtig ist, dass die hier aufgeführten sechs Positionierungen nicht nur in derartigen Kitsch, in die übliche Selbstbeweihräucherung mündeten. Alle besaßen ein Fünkchen Wahrheit, alle waren nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Blicken wir nun aber auf die Markteinführung und die sie begleitende, deutlich breiter gefasste Propaganda.

Reichsweite Einführung mit Wumms

Das Milcheiweißbrot wurde am 25. und 26. Oktober in fast allen deutschen Tageszeitungen ähnlich vorgestellt, ein zweiter oft mit Bild versehener Text folgte vielfach am nächsten Tag. Das war Ergebnis des nationalsozialistischen Presselenkung. Die Presseanweisung am 24. Oktober lautete lapidar: „Bitte übernehmen Sie von DNB eine Meldung des Reichsnährstandes über die Schaffung eines Mich-Eiweiß-Brotes [sic!]“ (Gabriele Toepser-Ziegert (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 2: 1934, München et al 1985, 437). Das war eine Meldung ganz im Sinne des Regimes, setzte es der sich 1934 allgemein verschlechternden Brotqualität und -versorgung doch etwas Positives entgegen. Und sie war gewiss angenehmer, als die wabernden Gerüchte einer bevorstehenden Brotstreckung oder aber der chemischen Konservierung von Brot und Getreide zu dementieren (ebd., 406 (5. Oktober), 423 (18. Oktober)).

In der verpflichtend abzudruckenden Meldung wurde erstens das Ende der Kartoffelmehlbeimengung bestätigt und zweitens für den 1. November ein neues Milcheiweißbrot mit einer „Beimischung pulverisierter entrahmter Milch“ angekündigt. Drittens präsentierte man das neue Produkt als Spezialbrot, als Ergänzung des ortsüblichen Brotes, etwas teurer, doch kräftiger, nahrhafter und gesunder. Mit nationalsozialistischem Paukenschlag tönte sie von einem „Erzeugnis des Gemeinschaftsgeistes vom Erzeuger bis zum Verbraucher“. Zwang werde nicht ausgeübt, doch die Bäcker müssten klare Vorgaben erfüllen, wenn sie das neue „Kraftbrot“ anbieten wollten. Viertens schließlich präsentierte man die Neueinführung als Ausdruck eines sorgenden Staates, in dem Wissenschaft und Praxis zielgerichtet zusammenarbeiten würden, um „Qualitätsleistung“ für den Verbraucher zu gewähren, um Bauern und Bäcker zu entlasten. 18.000 Anträge für die Herstellung lägen bereits vor, bald schon könne man das mit Streifband und Marke versehene Brot kosten und kaufen (Milcheiweißbrot, das Kraftbrot, Badische Presse 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 7; Das neue Milch-Eiweißbrot, Der Sächsische Bauer 82, 1934, 889). Der Grundtext scheint im Norden etwas ausführlicher abgedruckt worden zu sein, schließlich gab es in Bayern und dem Südwesten bereits ein gering angereichertes Magermilchbrot (Das neue Kraftbrot, Aachener Anzeiger 1934, Nr. 248 v. 24. Oktober, 1).

Reichsweite Präsentation in der Presse Ende Oktober 1934: Banderole und Marke des Milcheiweißbrotes (Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 497 v. 27. Oktober, 4)

Die Vorlage des Reichsnährstandes wurde von den seit dem Schriftleitergesetz vom Oktober 1933 zwingend „politisch unbedenklichen“ und „arischen“ Redakteuren inhaltstreu, doch mit leichten Variationen und unterschiedlichen Schlagzeilen umgesetzt. Man schrieb durchaus von dem geringen Beifall zur Kartoffelstärkemehl-Beimischung, präsentierte das neue Produkt als Resultat eines Kritik aufgreifenden Staates (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3). Die deutschsprachige Presse des Auslandes berichtete ebenso (Einführung des Milcheiweißbrotes in Deutschland, Pester Lloyd 1934, Nr. 241 v. 25. Oktober, 9; Lodzer Volkszeitung 1934, Nr. 293 v. 25. Oktober, 1; Milch – Eiweißbrot – das deutsche Kraftbrot, Deutsche Rundschau in Polen 1934, Nr. 248 v. 30. Oktober, 2). Nur wenige Redakteure gaben zusätzliche Informationen, erwähnten etwa, dass die Rezepte erst später backtechnisch erprobt und verbreitet werden würden (Das Milcheiweißbrot, Dortmunder Zeitung 1934, Nr. 498 v. 25. Oktober, 12).

Plakatwerbung in Bäckereien (Rheinisches Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 511)

Die Meldungen informierten über das Neue, positionieren das Brot in den oben dargelegten Formen, ermöglichten zugleich ein Vorabbild des Brotes. Gedruckt wurde einerseits das in den Bäckereien anzubringende Werbeplakat, das nur die teilnehmenden Betriebe nutzen durften. Es zeigte ein aufgeschnittenes Langbrot mit hellem Teig, kennzeichnete es als gehaltvoll, wohlschmeckend und nahrhaft. Daneben trat häufig ein kleines adlerbewehrtes Zeichen, eine Marke, die von außen sichtbar die Verkaufsstelle markierte. Man schuf also Bilder, wenngleich das Brot noch nicht zu kaufen war. Damit glaubte man eine gewisse Spannung schaffen zu können. Konsumenten wurden im Sinne eines simplen Reiz-Reaktions-Schemas angesprochen: Hier Plakat und Verkaufsstellen-Signet, dort kaufen. Weitere Bilder unterstrichen das Versprechen eines hochwertigen Spezialbrotes. Das Milcheiweißbrot war ein Markenprodukt, war mit einer Banderole versehen, mit einer Garantiemarke beklebt (Bremer Zeitung 1934, Nr. 297 v. 27. Oktober, 7; Durlacher Tagblatt 1934, Nr. 254 v. 30. Oktober, 7). Die Bäcker waren an strikte Qualitätsvorgaben gebunden, durften das Brot erst nach einem Anerkennungsverfahren backen, in dem sie sich an reichsweite Vorgaben binden mussten. Dazu gehörte auch die Verwendung einheitlicher Werbematerialien. Gleichwohl sollten die Bäcker auch eigenständige Propaganda betrieben. Einheitlicher Auftritt und variable Ergänzungen, so das Ziel.

Freiwillige Ergänzungen gab es schon in den Zeitungen und (seltener) Zeitschriften. Das galt vor allem für ein kurzes „Interview“ mit Hans Adalbert Schweigart, der Kernbotschaften bündelte und freudig betonte, dass das neue Brot schon bald an der Spitze der Spezialbrote des Reiches stehen werde (Westfälische Zeitung 1934, Nr. 252 v. 26. Oktober, 5; Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 5). Darin kündigte er zudem einen „großen umfassenden Werbefeldzug“ an (Milchweißbrot [sic!] an der Spitze der Spezialbrote, Badischer Beobachter 1934, Nr. 293 v. 26. Oktober, 8).

Nachziehender Aufbau des Vertriebs

Die Werbung für das Milcheiweißbrot war visuell durchaus ansprechend, erfolgte in der Tradition der landwirtschaftlichen Werbeausschüsse, die im Anschluss an das landwirtschaftliche Notprogramm seit 1928 mit immensen Kosten für heimische Lebensmittel warben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 334-339). Auch wenn das neue Brot „gesund“ war, so stand dieses für spätere NS-Kampagnen typische Attribut noch nicht im Mittelpunkt der Propaganda, ging es beim Kraftbrot doch weit stärker um den Nährwert.

Dennoch war die Einführung des Milcheiweißbrotes durchaus charakteristisch für die Propaganda in der Frühphase des NS-Regimes. Es ging nicht mehr um martialisch ins Bild gesetzte Massenveranstaltungen und SA-Aufmärsche, um einen fordernden Redner, wie während der Durchbruchsphase 1930 bis 1932. Diese Bildwelten waren verfälschend geglättet, zeigten nur selten – wie etwa in Leni Riefenstahls (1902-2003) Film „Sieg des Glaubens“ über den 5. NSDAP-Reichsparteitag – irritiert in die falsche Richtung marschierende Männerhorden. Sie widmeten sich auch nicht den massiven hygienischen Problemen urinierender und defäktierender Menschen, geschweige denn den unzähligen Übergriffen auf fesche Mädel. All dies wurde propagandistisch glattgezogen, wird in heutigen Dokumentationen entsprechend übergangen. Bei der Einführung eines neuen Lebensmittels aber bildete die Verkaufstheke ein regulatives Moment. Die Einführung blieb größtenteils virtuell, denn es gelang anfangs nicht, Milcheiweißbrot in nennenswerter Menge herzustellen und zu verkaufen. Milcheiweißbrot steht entsprechend für das Maulheldentum der frühen NS-Expertokatrie, das an den Willen zur Veränderung und zum Mitziehen appellierte, zugleich aber die Mühen der Ebene vernachlässigte. Es bedurfte mehrerer Jahre organisatorischen Feinschliffs, ehe die Interaktion zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, NSDAP und Staat soweit eingespielt war, das angekündigte Produkte auch wirklich käuflich waren. Vollkornbrot, der Eiersatz Milei oder das Molkenährmittel Migetti waren dafür gute Beispiele.

Die Einführung des Milchweißbrotes 1934 verzögerte sich nicht nur aufgrund der für die deutsche Wirtschaft und insbesondere Naturwissenschaftler recht typischen Vernachlässigung der Vertriebsprobleme, sondern es hakte auf verschiedenen Ebenen: Beim bürokratischen Antragswesen, der unzureichenden Integration der Bäcker und Magermilchproduzenten sowie der Neigung, die Lebensmittelinnovation schlagartig einzuführen, statt sie langsam und stetig in den Markt einsickern zu lassen.

Werbung für Spezialbedarf: Gummierapparat und Backhilfsmittel für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 640 (l.); ebd. 37, 1935, 23)

Beginnen wir mit der rasch zunehmenden Bürokratie: Seit 1930 wurde die Gewerbefreiheit im Deutschen Reich vielfältig eingeschränkt. Die Beimischungszwänge entfernten tradierte Lebensmittel aus den Läden, setzten an ihre Stelle Kunstprodukte staatlichen Willens. Die Devisenzwangswirtschaft verringerte die Möglichkeiten, Rohwaren frei einzukaufen. Notverordnungen und der im Aufbau befindliche Reichsnährstand legten Preise (und Löhne) fest, ebenso Mengenbeschränkungen. Staatliche, vor allem aber vom Staat (und der NSDAP) beauftragte Institutionen etablierten eine umfangreiche Bürokratie. Milcheiweißbrot war nur mit einer offiziellen Erlaubnis möglich. Dazu musste ein Bäckermeister ein Antragformular von seinem Obermeister anfordern, der dieses wiederum vom regionalen Milchwirtschaftsverband erhielt. Der Antrag musste ausgefüllt an den Obermeister zurückgesandt werden, dieser kommentierte ihn, um ihn dann dem Milchwirtschaftsverband zur Entscheidung weiterzuleiten, der schließlich eine im Regelfall zeitlich begrenzte Genehmigung erteilte (Anträge auf Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 555). Anschließend musste sich der Bäckermeister um die Trockenmilch kümmern, die er nicht einfach so kaufen konnte. Milchpulver wurde den regionalen Innungen und Verkaufsgenossenschaften entweder von der Reichszentrale Deutscher Bäckergenossenschaften eGmbH in Berlin oder aber der dort ebenfalls residierenden Gemeinschaft Deutscher Lebensmittel-Großhändler zugewiesen, deren Kontingente zuvor bei der Reichsstelle für Milcherzeugnisse, Öle und Fette angemeldet und bewilligt werden mussten (Werner Johann, Der Vertrieb des Milchpulvers, RBKZ 36, 1934, 555). Es ist nachvollziehbar, dass die Anfang Oktober 1934 vielen Bäckern noch nicht bekannte Einführung zum 1. November nicht umgesetzt werden konnte. Ende November waren in Rheinland und Westfalen 4.500 Anträge bewilligt worden, ein knappes Drittel der 14.000 brotherstellenden Betriebe (Zeno-Zeitung 1934, Nr. 331 v. 1. Dezember, 7). Das bedeutete aber nicht, dass diese schon das entsprechende Milchpulver hatten. Und auch die je nach Brotart erforderlichen Umstellungen in den Bäckereien und den (recht wenigen) Brotfabriken waren vielfach noch nicht erfolgt.

Genehmigungszahlen als trügerischer Erfolgsausweis (Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 330 v. 2. Dezember, 11)

Parallel aber gab es strikte Ansprüche auch an die Innungen. Die Milchwirtschaftsverbände hatten vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft die Vorgabe erhalten, mindestens 80 Prozent der Betriebe zu erfassen und einzubinden (Das Milch-Eiweißbrot, Solinger Tageblatt 1934, Nr. 279 v. 30. November, 11). Dieser Druck wurde durchgereicht: „Die Bäckerobermeister sind nunmehr durch ihre übergeordneten Bäcker-Innungsverbände verpflichtet worden, dafür Sorge zu tragen, daß auch dort, wo die Beteiligung augenblicklich noch zu wünschen übrig läßt, in kürzester Frist alle Bäckermeister, deren Betrieb als geeignet zu betrachten ist, sich in den Dienst der nationalen Sache zu stellen haben“ (Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 616).

Rezeptdienst für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 76)

Derweil hatten die Bäcker zwar die einer Genehmigung folgenden Werbematerialien erhalten, nicht aber die für die Produktion erforderlichen Grundrezepte. Anfang Dezember hatte das Reichsbildungsamt des Bäckerhandwerkes drei Rezepte für unterschiedliche Milcheiweißbrote getestet und reichsweit 20.000 einschlägige Hochglanzbögen gegen Gebühr versandt. So sollten die nicht wenigen Brotfehler minimiert werden, die vor allem aufgrund falscher Mengen und schlechter Roggenmehle bei vorpreschenden Bäckermeistern entstanden waren. Diese Rezepte durften sie ihren Kollegen allerdings nicht weitergeben. Ohne Entgelt kein Rezept. Und bei Produktion abseits der Grundrezepte wurde die Genehmigung zurückgezogen. Dadurch veränderte sich auch das Milcheiweißbrot selbst. Während Werbeplakat und Verkaufssignet-Signet runde Brote zeigten, sollte die Form nun vierkantig sein, um es besser vom Standardbrot abheben zu können (Hans Lubig, Rezeptdienst und Gesellenaustausch, RBKZ 36, 1934, 614). All dies unterstreicht, dass die auf den 1. November 1934 gesetzte Einführung des Milcheiweißbrotes illusorisch war, von der bürokratischen Struktur des selbstgeschaffenen Systems abstrahierte.

In solchen Fällen setzt Propaganda auf Aktivisten und Vorzeigebäcker. Das galt etwa für Bielefeld, wo vermeintlich alle Bäcker das neue Kraftbrot backen und verkaufen wollten. Die Ostfalen hatten sich daher schon größtenteils mit Milchpulver eingedeckt. Bald werde man durchstarten: „Die Bäcker werden sofort mit dem Backen beginnen, sobald die Kennzeichnung (Streifband und Aushängeschilder) von Berlin bei der Innung eingegangen und den einzelnen Bäckern zugestellt worden ist“ (Alle Bielefelder Bäcker backen, Westfälische Zeitung 1934, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Eine Woche danach sprach man von Mitte November, musste der Bäcker doch „erst einen Fragebogen auszufüllen, […] in dem er sich verpflichtet, eine vorgeschriebene Menge an Milchpulver zu verbacken“ (NS-Volksblatt für Westfalen 1934, Nr. 258 v. 2. November, 10). Zeitgleich meldete man aus Bonn, dass es Verzögerungen gäbe, denn ohne Genehmigung kein Milchpulver: „Alle die kleinen und großen Feinschmecker, die sich schon auf die neuen Leckerbissen freuen, müssen sich also noch einige Zeit gedulden“ (Das Mittelrheinische Landes-Zeitung 1934, Nr. 254 v. 3. November, 6). Andernorts stammelte man bescheidener, so Anfang Dezember in Remscheid, wo nun knapp 50 der 102 Bäckereibetriebe „ihre Anmeldungen dazu einreichen“ wollten (Remscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 1. Dezember, 5). Und in Solingen wurde Rezepte und erste Genehmigungen erst kurz vor Weihnachten verteilt (Gemeinschaftsveranstaltung der Bäcker, Ohligser Anzeiger 1934, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5). In all diesen Städten wurde Milcheiweißbrot (noch) nicht gebacken, von Ausnahmen abgesehen.

Uneingestandenes Scheitern als Schlagzeile (Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 595 v. 20. Dezember, 5)

Etwas ehrlicher tönte es aus dem Südwesten: „Zur Zeit wird in den Bäckereien eifrig nach dem neuen Milcheiweißbrot gefragt. […] Aber es ist noch nicht soweit, und es wird auch am 1. November […] noch nicht soweit sein. Die Vorbereitungen nehmen offenbar einige Zeit in Anspruch“ (Wann kommt das deutsche Kraftbrot?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 508 v. 30. Oktober, 5). Kurz vor Weihnachten setzte die Landesbauernschaft Württemberg den Produktionsbeginn auf Neujahr 1935 fest (Milcheiweißbrot ab 1. Januar, Schwäbischer Merkur 1934, Nr. 297 v. 21. Dezember, 5). Auch aus Sachsen wurde damals die lichte Zukunft schönfärberisch beschworen: „Bald wird es jeder Bäcker als eine Ehre betrachten, auch in seinem Laden das Schild zu haben: ‚Verkaufsstelle für Milcheiweißbrot‘“ (Der Bote von Gesing und Müglitztal-Zeitung 1934, Nr. 147 v. 15. Dezember, 3). Festzuhalten ist also, dass der so machtvolle NS-Staat es nicht nur nicht schaffte, den selbstgesetzten Einführungstermin auch nur ansatzweise einzuhalten, sondern dass Milcheiweißbrot offenbar erst Anfang 1935 in größerer Menge angeboten wurde.

Auch dann waren genauere Informationen rar: Im rheinischen Rheydt war Milcheiweißbrot Anfang Februar 1935 „in sämtlichen Bäckereien zu haben, aber bisher wird es noch nicht viel gekauft“ (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 28 v. 2. Februar, 5). Einzig die Aktivistenstadt Bielefeld machte eine Ausnahme: Dort „bezifferte sich die Nachfrage in den ersten Tagen des Verkaufs auf rund 1000 Stück je Tag, dann aber ließ das Interesse der Käufer nach, heute werden täglich rund 600 bis 700 Stück in sämtlichen Bäckereibetrieben der Stadt verkauft. Im ganzen wird von maßgeblicher Stelle der Verkauf bisher auf rund 100.000 Milcheiweißbrote geschätzt“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 35 v. 10. August, 6). Das war innerhalb von acht Monaten knapp ein Brot für jeden der ca. 110.000 Einwohner. Recht wenig für ein Volksnahrungsmittel. Und das war eine sehr seltene Erfolgsmeldung.

Werbefeldzug für das Milchweißbrot

Propaganda ist weit mehr als die Einführung und Positionierung von etwas Neuem. Die Milcheiweißbrotpropaganda zielte weit über die Kastenformen hinaus. Sie zielte auf eine für Machtpolitik funktionale Lebensmittelpalette, für die Nutzung heimischer Ressourcen, für die Revision der verhassten Ordnung der Pariser Friedensverträge. Sie zielte auch auf einen neuen nationalsozialistischen Konsumenten, gläubig und folgsam, begeisterungsfähig und Teil eines völkisch-reflektiert agierenden Kollektivs. Um diese Weitung der NS-Propaganda, auch bei einem einzelnen Volksnahrungsmittel, wirklich in den Blick zu bekommen, müssen wir uns den Narrativen und Praktiken widmen, die immanenter Teil der neuen Brotpropaganda waren. Als solche waren sie harmlos, fast wie zuvor. Doch im Kontext der Zeit, eines sich trotz massiver Krisen konsolidierenden und unbeirrt, wenn auch im Detail flexibel, auf die Umsetzung einer mörderischen Ideologie zielenden Regimes, dienten sie immer auch dieser breiteren Zielsetzung.

Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus war hierarchisch, die vielfach wissenschaftlich begründeten Produkte und Praktiken standen in einem Verpflichtungsdiskurs, in dem der Verbraucher nicht manipuliert, sondern regimekonform angeleitet wurde. Oder, in den Worten von Wilhelm Ziegelmayer: „Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit). Durch eine solche Werbung kann wirklich Nachfrage nach Milcheiweißerzeugnissen geschaffen werden, ähnlich wie mit dem Schlagwort ‚Vitaminen‘ berechtigter- oder unberechtigterweise der Verbrauch vieler Nahrungsmittel gehoben wurde“ (Ziegelmayer, 1936, 145). Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus knüpfte damit an gut begründbare und bis heute gängige Werbeformen an. Zugleich aber schuf sie – und auch das soll heute noch vorkommen – an eine selbst geschaffene und geglaubte Welt an, in der es darum ging, Zukünftiges so auszuleuchten, dass es die „Volksgenossen“ mitzog, das Anvisierte dann doch erreichte. Entsprechend konnten objektiv wahrheitswidrige Wunschwelten eröffnet werden: „Wo man geht und steht, spricht man vom Milcheiweiß-Brot, hervorgerufen durch die vorzügliche Reklame, die durch Radio, durch die Zeitung und durch die Vorträge […] durchgeführt ist. Ob beim Friseur, ob in der Wirtschaft, ob im Zigarrenladen, überall wird gefragt“ (Richard Lubig, Das neue Milcheiweiß-Brot. Beginn des Rezeptdienstes, RBKZ 36, 1934, 555). Das waren verlogene Aussagen der Macher, Aussichten auf ihren möglichen Sieg. Die Werbung für das Milcheiweißbrot wurde vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft und den regionalen Milchwirtschaftsverbänden getragen, die Innungen unterstützten. Hausfrauen standen als Verwalterinnen des Wirtschaftsgeldes im Mittelpunkt der Werbe- und Propagandaanstrengungen.

Der angekündigte Werbefeldzug setzte reichsweit Mitte Januar 1935 ein (Stand der Milcheiweißbrotaktion, Der Weckruf 22, 1935, 218). Er vertiefte und verbreiterte die oben näher vorgestellten sechs Positionierungen des neuen Produktes, hatte ansonsten den Charme des Unbedingten, des Einhämmerns: „Durch den immerwährenden Hinweis auf das neue Milcheiweißbrot wird jeder Verbraucher unbedingt aufmerksam werden müssen. ‚Milcheiweißbrot‘ muß unbedingt zu einem volkstümlichen Begriff werden“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Dies sollten auch die Bäcker vorantreiben. Sie ergänzte und erweiterte vor allem die Presseberichterstattung.

Den Übergang zu einer intensiveren öffentlichen Werbung markierten im Februar und März 1935 zahllose Werbeumzüge. In Hannover trugen beispielsweise vier berufsgekleidete Bäckergesellen zwei Riesenbrote durch die Innenstadt, Lautsprecherwagen tönten vom neuen Milcheiweißbrot (Zwei Brote wandern durch die Stadt, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 69 v. 10. Februar, 10). Zwei Wochen später rollten die Lautsprecherwagen neuerlich, spielten nun jedoch flotte Märsche. Im Mittelpunkt aber stand eine Wagenkolonne, darunter ein feierlich geschmückter Vierspänner. Transparente forderten: „Eßt Milcheiweißbrot!“ (Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 91 v. 23. Februar, 10). Die Wirtschaftswerbung Niedersachsen bewegte sich damit in der Tradition des Reichsmilchausschusses. Ähnliches gab es in vielen Städten. Teils blieb es bei Propagandawagen, teils wurden aber auch Proben an die Passanten verteilt. In Düsseldorf sollen es Anfang März 20.000 sauber verpackte Schnitten gewesen sein (3000 besuchen die Ausstellung „Täglich Brot“, Heimat-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 2. März, 1).

Deutlich breitenwirksamer waren mehrere Flugblätter, die einerseits durch die Bäcker als Beigabe beim Einkauf verteilt wurden. Sie versuchten, den recht altbackenen Slogan „Milch und Brot machten Wangen rot“ zu popularisieren. Der knüpfte an bekannte Redewendungen an, etwa an „Salz und Brot macht Wangen rot“. Er war jedoch auch eine Umdeutung einer gänzlich anders verstandenen Sentenz: „Milch und Brot macht Wangen rot“ stand traditionell eben für genügend Milch, genügend Brot, getrennt gegessen (Fürs Haus 9, 1890, Probenummer, 6). Und zugleich war er wenig originell, gab es doch bereits kommerzielle Slogans wie „Union-Brot macht Wangen rot!“ (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 80 v. 6. April, 4).

Sloganwerbung ohne Kraft (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Die Flugblätter priesen das Milcheiweißbrot als Volksnahrungsmittel, als neuen Standard: Es war kräftigend, stärkend, nahrhaft, wohlschmeckend, leichtverdaulich und frischbleibend, gab Kraft, förderte die Gesundheit, verband Stadt und Land. Ein Brot für alle – und auch die Werbung zielte auf alle möglichen Käufergruppen, unterschied kaum Zielgruppen. Der positiv-preisende Tenor wurde durch Ängste vor Unterversorgungen gesteigert. Das Milcheiweißbrot helfe gegen den Eiweißmangel, ergänze andere Grundnahrungsmittel, erschließe das pflanzliche Eiweiß besser.

Die Gefahr des Eiweißmangels (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Flugblätter wurden aber auch an die Frauenorganisationen gesandt. In Schulen wurden Klassensätze verteilt, um sie im Unterricht zu besprechen, um über die Kinder die Eltern zu erreichen. „Die Milch auf der Walze“ spielte mit der Faszination der Technik, der Transformation der Kinder bestens vertrauten flüssigen Vollmilch in trockene Formen (Stolzenauer Wochenblatt 1935, Nr. 37 v. 13. Februar, 1). „Geburtsanzeige“ spielte mit der Kraft des umgestaltenden Geistes, mit der Vorstellung guter sorgender Mächte, sei es der Wissenschaft, sei es des Staates (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Spätere Flugblätter spannen solche Geschichten weiter, erzählten das „Märchen“ vom Milcheiweißbrot. Darin präsentierte man das neue Volksnahrungsmittel als Teil der „Erzeugungsschlacht“, wies den Kritikaster „Freund Alleswisser“ in die Schranken, der an Brote aus den „hungrigen Kriegs- und Nachkriegsjahren“ erinnerte. Die Eltern sollten nachdenken, dann handeln: „Schicke also Deinen kleinen Hansi oder Deine kleine Gretl zum Bäcker und mache einen Versuch! Du wirst sicherlich zufrieden sein und Deine Kinder werden mit Stolz ein Stück Milcheiweißbrot zur Schule tragen und dann wird der Lehrer oder die Lehrerin lächelnd und freudig sagen: So, das ist ein wackeres Kind, es ißt sein Stück Brot und kämpft mit im Kampf um eigenes – um deutsches Brot“ (Verbo – Der Rottum-Bote 1935, Nr. 70 v. 22. März, 8). Propaganda appellierte an das Gute, an das heilige deutsche Brot, bis heute eines „unserer“ Vorzeigeprodukte.

Das Milcheiweißbrot wurde zugleich aber von Frauenverbänden reichsweit propagiert. Kleine Ausstellungen und Hausfrauenabende besaßen einen Januskopf von Geselligkeit und verpflichtender „Aufklärung“. Die Amtsleiterinnen der NS-Frauenschaft erhielten gesonderte Schulungsblätter, Vollzug war zu melden. Schon Ende 1934 waren an vielen Orten Proben verteilt worden – selbst wenn das Brot nicht wirklich zu kaufen war (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 279 v. 17. November, 10; Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 277 v. 28. November, 3). Im Januar tourten Wissenschaftler wie Schweigart, Moog und Hennewig, beschworen die Magermilchverwertung, die „Selbstdisziplin vom Erzeuger wie vom Verbraucher“, priesen die gut haushaltende „planmäßige Volkswirtschaft“, beantworteten im Hausfrauendialog auch Fragen (Vom Detmolder Hausfrauenbund, Lippische Landes-Zeitung 1935, Nr. 8 v. 10. Januar, 8; Hausfrauen und Marktregelung, Münsterischer Anzeiger 1935, Nr. 27 v. 16. Januar, 3; Speisenausstellung der Frauenwirtschaftskammer, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 36 v. 5. Februar, 6).

Präsentation von Milch-, Käse- und Brotvarianten während einer Veranstaltung der NS-Frauenschaft in Mannheim (Neue Mannheimer Zeitung 1935, Nr. 85 v. 20. Februar, 7)

Charakteristischer noch war gemeinsames Verkosten in trauter lokaler Runde. Das war auch typisch für parallel stattfindende Ausstellungen, etwa der Berliner „Grünen Woche“, der Düsseldorfer Fachausstellung „Täglich Brot“ oder aber den noch üblichen „Braunen Messen“. Die Auswirkungen sind nicht wirklich einzufangen, in der Presse aber klang es appetitanregend: „Da ist zunächst das neue Milcheiweißbrot, hübsch knusprig, in länglichen Formen gebacken, sieht es appetitanregend aus und schmeckt, wie eine Kostprobe bewies, einfach wunderbar“ (Streiflichter von der Schau „Täglich Brot“, Der Mittag 1935, Nr. 52 v. 3. März, 8). Mit etwas mehr Abstand besehen, handelte es sich jedoch um eine Art Fremdbeglückung. Standen bei Hausfrauenveranstaltungen ansonsten oft selbst zubereitete Speisen im Mittelpunkt, so war es nun ein von Bäckern hergestelltes, nur als Fertigware zu erprobendes Milcheiweißbrot. Die Hausfrauen wurden als Konsumentinnen angesprochen, ihre haushälterischen Fertigkeiten noch nicht herausgefordert. Das sollte in den folgenden Jahren anderes werden, insbesondere beim „Kampf dem Verderb“.

Werbung für Rundfunkwerbung (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 38)

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot nutzte zudem gezielt audiovisuelle Medien. Audiovisuelle Medien faszinierten schon vor der Machtzulassung nationalsozialistische Kader, die rasche Übernahme der Kontrolle des Films und des Rundfunks durch das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda diente der Machtsicherung, der Machtausweitung. Die NS-Illustrierte „Illustrierter Beobachter“ besaß seit 1931 eine gesonderte Rubrik „Der Funk-Beobachter“, und schon im Februar 1933 gründete der parteieigene Franz-Eher-Verlag die bald erfolgreichste Programmzeitschrift der NS-Zeit, den „NS-Funk“.

Entsprechend diente auch der Rundfunk der Propagierung des Milcheiweißbrotes. Dies war nicht Werbung, sondern eine staatspolitische Aufgabe. Einerseits wandte man sich im Januar 1935 zwei Wochen lang direkt an die Hausfrau, machte sie während der kurz vor Mittag ausgestrahlten „Stunde der Hausfrau“ mit sogenannten Werbesprüchen, also in der Regel gereimten Jingels, auf das neue Produkt aufmerksam. So könne sie am „Aufbau der deutschen Wirtschaft und an der Gesundung unseres Volkes gewissenhaft mitarbeiten“ (Milcheiweißbrot, Lippspringer Anzeiger 1935, Nr. 13 v. 16. Januar, 8).

Doch es gab auch eine Art Bildungsprogramm, also moderierte Gespräche über aktuelle Themen. Am 8. Februar 1935 diskutierten der Ingenieur Emil Moog, Abteilungsleiter des Rheinisch-westfälischen Milchwirtschaftsverbandes sowie der 33-Jährige „alte Kämpfer“ Richard Lubig, Reichsbildungsobmann des Bäckerhandwerkes, in der Nachkriegszeit bekannt für sein Laktasebrot und das sog. Schaumsauerverfahren, über die Frage „Kennen Sie schon das Milcheiweißbrot?“ Stichwortgeber war Karl Holzamer (1906-2007), späteres NSDAP-Mitglied, langjähriger SWF-Rundfunksratvorsitzender und von 1962 bis 1977 Intendant des ZDF. Lubig lobte die Schmackhaftigkeit des neuen Brotes, Moog eher den Gesundheitswert (Das Milcheiweiß-Brot im Rundfunk, RBKZ 37, 1935, 75-76).

Inszenierung der Betriebsgemeinschaft: Gemeinschaftliches Hören einer Rundfunksendung über das Milcheiweißbrot in einer Backstube (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 75)

Breitenwirksamer waren wohl die von April bis Juni 1935 in den Kinos laufenden Werbekurzfilme. Hinzu kamen reichsweit präsentierte „Ton-Diapositive“, also vertonte, mit einem kurzen Merkspruch erläuterte Werbebilder. Auch es blieb nicht beim Sehen, denn viele Kinos boten parallel Milcheiweißbrot als gesunden Snack an (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Eine größere Präsenz in den Gaststätten scheiterte jedoch (Milcheiweißbrot in den Gaststätten, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 142 v. 23. Mai, 4).

Nicht näher eingehen muss man auf die nicht kleine Zahl populär gehaltener Propagandaartikel. Trotz der Affinität zu audiovisuellen Massenmedien gründete der Aufstieg der NSDAP immer auch auf der Presse, wenngleich der Ausbau der eigenen Verlagsmacht relativ spät einsetzte, die SPD- und Zentrumspresse Anfang 1933 weit höhere Auflagen aufwies. Der Parteivorsitzende Adolf Hitler (1889-1945) betonte immer wieder: Die Presse „besorgt in erster Linie diese ‚Aufklärungsarbeit‘ und stellt damit eine Art von Schule für die Erwachsenen dar“ (Die ‚öffentliche Meinung‘ und ihre Fabrikation!, Illustrierter Beobachter 6, 1931, 453).

Insgesamt variierten die vielgestaltigen Propagandaartikel, die meist von lokalen Akteuren platziert wurden, die bereits hinlänglich bekannten Weisen. Es galt mit Magermilch zum Vorteil aller zu haushalten (Eiweiß von 20 Millionen Schweinen, Weißeritz-Zeitung 1934, Nr. 275 v. 26. November, 7), den Sinn des neuen Volksnahrungsmittels zu unterstreichen, das Bild des sorgenden Staates zu unterfüttern (Flörsheimer Zeitung 1934, Nr. 146 v. 6. Dezember, 2; Etwas vom Brotbacken. Ein Wort an die Hausfrau, Lippspringer Anzeiger 1934, Nr. 288 v. 12. Dezember, 8). Wie schon in den Flugblättern präsentierte man die Milchtrocknung als wissenschaftliches Husarenstück, als Milch in der Tüte (Der Neuling auf dem Frühstückstisch, Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15076 v. 2. November, 3). Und man nahm immer wieder die Hausfrau in die Pflicht: Bringt „das vorzügliche Milcheiweißbrot auf den Tisch! Ihr seid es der besseren Ernährung unseres Volkes schuldig“ (Hausfrauen, paßt mal auf!, Niederrheinische Landeszeitung 1934, Nr. 288 v. 13. Dezember, 5).

Im Rahmen des Werbefeldzuges 1935 konzentrierten sich die Propagandaartikel zunehmend auf die Eiweißfrage, auf die damit verbundene Sorge der Frau für Kinder und Mann (Das neue gute Brot, Wittener Volks-Zeitung 1935, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; „Bitte, geben Sie ein gut ausgebackenes Milcheiweiß-Brot“, Hildener Rundschau 1935, Nr. 45 v. 22. Februar, 3). Zudem finden sich nun reichsweit platzierte Artikel für die bunten Seiten und Wochenendbeilagen. Sie simulierten teils Alltagssituationen, etwa Gespräche zwischen bürgerlichen Hausfrauen (Erlauschtes vom Kaffeeklatsch, Bremer Zeitung 1935, Nr. 76 v. 17. März, 22). Da erschien die freundliche Ratgeberin, die von Frau zu Frau das Milcheiweißbrot vorstellte und pries (Liesel Wulff, Milcheiweißbrot, Die Glocke am Sonntag 1935, Nr. 6 v. 10. Februar, 20; Sächsische Volkszeitung 1935, Nr. 35 v. 10. Februar, Beil. Die praktische Hausfrau, s.p.; Oldenburger Landwirt 29, 1934, Nr. 49, 1). Und da war Milcheiweißbrot als Waffe gegenüber dem feindlichen Ausland, als Teil der Ersatzmittelwirtschaft, als Pendant zum synthetischen Treibstoff, den neuen Kunstfasern: „Wir tanken Holz. Wir essen Milcheiweißbrot. Wir haben eine fabelhafte funktionierende Marktordnung geschaffen. Wir haben Wunder gewirkt“ (Fleischlose Tage, Altenaer Kreisblatt 1935, Nr. 256 v. 1. November, 1). Derartiges Selbstlob mündete fast zwingend in Sendungsbewusstsein. Wahrheitswidrig wurde behauptet, dass auch die Niederlande und die Schweiz ähnliche Spezialbrote entwickeln würden, dann auch Schweden (Ernährungsdienst 1934, Nr. 2, 2; Deutsches Brot wird in Schweden als Vorbild hingestellt, Die Glocke, Ausg. B 1937, Nr. 117 v. 1. Mai, 3). Wir sind wieder wer…

All das war Propaganda, zielte auf einen seine völkischen (Einkaufs-)Pflichten stolz erfüllenden nationalsozialistischen Konsumenten. Realistischere Einschätzungen findet man in den Berichten der Auslands-SPD. Lapidar meldete man die Maßnahmen: „Brot wird mit Trockenmilchpulver versetzt gebacken und als besonders wertvoll und nahrhaft zu teuren Preisen angeboten“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 5, A-12). Nach Auskunft der unter hohen persönlichen Risiken berichtenden Gewährsleute war dies Teil und Ausdruck einer vor allem im Fettsektor krisenhaften Lebensmittelversorgung. Für sie weckte die Propaganda „die Erinnerung an Kriegswirtschaft und Kriegsnot […], so dass jede ‚Versorgungsspannung‘ automatisch neue Hamsterwellen hervorruft. Seit man z.B. aus agrarpolitischen Gründen das Brot verschlechtert hat, macht man für dieses neue „Milcheiweissbrot‘ eine Propaganda, die der Propaganda für das Kriegsbrot aufs Haar gleicht“ (Ebd., Nr. 9 v. 16. Oktober, A-39). Das mochte so nicht zutreffen, doch es gab Einblicke abseits der Propaganda: „Auch das Brot ist schlechter geworden – wie das Kriegsbrot. Die Bäcker schimpfen, sie behaupten, das Mehl habe sich verschlechtert. Zudem hat sich ihre Preisspanne verringert, da sie die Festpreise nicht überschreiten dürfen. Das Milcheiweissbrot setzt sich nicht durch, es schmeckt aber auch trocken wie Stroh. Ausserdem habe sich nur wenige Firmen zur Herstellung entschlossen“ (Ebd. 3, 1936, Nr. 12 v. 15. Januar, A-12). Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot verfehlte offenbar sein Ziel. Öffentlich wurde das beschwiegen, propagandistisch übertüncht. So findet sich das vermeintliche Volksnahrungsmittel immer mal wieder in den damals zunehmend üblichen Wochenspeisezetteln (etwa Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 97 v. 27. Februar, 14; Nr. 146 v. 27. März, 15; Nr. 401 v. 28. August, 12; Nr. 473 v. 9. Oktober, 18; ebd. 1936, Nr. 46 v. 29. Januar, 17; Nr. 180 v. 18. April, 21; Nr. 307 v. 4. Juli, 23). Selbst den Heiligabend 1935 sollte man mit (Ersatz-)Kaffee und Milcheiweißbrot mit Honig beginnen.

Den Heiligabend mit Milcheiweißbrot beginnen (Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 583 v. 13. Dezember, 31)

Paradoxien der Werbung: Milcheiweißbrot als Fabrikware

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot blieb also keine Ankündigung. Milchwirtschaft und Reichsnährstand unternahmen vielgestaltige Anstrengungen um trotz des katastrophalen Startes das neue Brot stärker zu popularisieren. Die eingesetzten Werbemittel hätten auch von den landwirtschaftlichen Werbeausschüssen Ende der 1920er Jahre eingesetzt werden können. Und doch fehlte eine entscheidende Zwischenstufe. Während gängige Lebensmittel und nicht zuletzt Innovationen sehr rasch ihren Weg in die Anzeigen des mittelständischen Einzelhandels, der Filialbetriebe oder aber der Einkaufsgenossenschaften fanden, waren entsprechende Anzeigen für das Milcheiweißbrot selten.

Einzelanzeigen (Der Sächsische Erzähler 1934, Nr. 275 v. 26. November, 4 (l.); Merseburger Korrespondent 1934, Nr. 288 v. 10. Dezember, 10)

Das lag gewiss an den recht kleinen Einzugsgebieten, an einem meist recht überschaubaren Sortiment, an einem habitualisieren Einkaufsverhalten. Doch gerade zu den christlichen Hochfesten und den neuen staatlichen Feiertagen schalteten größere Bäckereien häufig Anzeigen, schmückten auch ihre Schaufenster, vielfach nach staatlichen Vorgaben. Für das Milcheiweißbrot wurde in den Zeitungen jedoch kaum geworben.

Einzelanzeigen (Sauerländisches Volksblatt 1934, Nr. 278 v. 3. Dezember, 4 (l.); Langenberger Zeitung 1935, Nr. 191 v. 17. August, 6)

Man bediente sich in diesen Fällen der einschlägigen Werbephrasen, lobte das Kraftbrot, verwies auf die staatliche und institutionelle Propaganda. Ansonsten wurde höchstens bei der Einführung kurz annotiert. Gemeinschaftswerbung der Innungen fehlte. Darin zeigt sich deutlich die kritische, ja häufig ablehnende Grundhaltung vieler Bäcker gegenüber dem Milcheiweißbrot. Die eingeforderten Plakate und Verkaufs-Signets mussten reichen. Die Sache würde schon enden…

Milcheiweißbrot bei der verfemten Konkurrenz der Konsumgenossenschaften (Bote für Stadt und Land 1935, Nr. 53 v. 22. Februar, 5 (o.); Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 11 v. 14. Januar, 6)

Konkurrenten nutzten dagegen die mit dem neuen Brot verbundenen Chancen. Die durch Handwerksbäcker strikt bekämpften und durch das Gesetz über Verbrauchergenossenschaften vom Mai 1935 eng begrenzten und zunehmend bedrohten Konsumgenossenschaften ließen in ihren zumeist größeren und leistungsfähigen Bäckereibetrieben vielfach Milcheiweißbrot herstellen, stellten dadurch ihre Loyalität zum NS-System öffentlich unter Beweis. Die Anzeigen setzten Anfang 1935 ein, finden sich aber auch noch im Folgejahr (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1936, Nr. 152 v. 30. März, 12; Hamburger Tageblatt 1936, Nr. 98 v. 8. April, 10; ebd. 1937, Nr. 82 v. 24. März, 6; Verbo – Der Rottum-Bote 1936, Nr. 79 v. 3. April, 12; Verbo – Buchauer Tagblatt 1936, Nr. 84 v. 9. April, 8).

Milcheiweißbrot als Teil eines breiteren Sortiments von Spezialbroten (Frankenberger Tageblatt 1936, Nr. 80 v. 9. April, 3 (l.); Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 100 v. 30. April, 8)

Filialbetriebe folgten ebenfalls, integrierten das Milcheiweißbrot in ihre breiten Sortimente. Im Bäckereihandwerk wurde es dagegen ab 1936 einzig noch bei Spezialbäckereien beworben. Das angereicherte Produkt diente dann aber nicht als Volksnahrungsmittel, sondern als Alltagshilfe für Kranke und Rekonvaleszente. In gewisser Weise folgte das Milcheiweißbrot also der Marktpositionierung der einst massiv beworbenen Eiweißpräparate der Jahrhundertwende vom Massenmarkt in die Nische.

Mythenproduktion: Nationalsozialistische Konsumlegenden

Dier NS-Propaganda zielte (wie jede Propaganda) auf totale Propaganda. Sie versuchte, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben“ (Ellul, 2021, 28). Die NS-Propaganda agitierte in ihrer Zeit, wollte diese prägen und beherrschen. Doch sie zielte zugleich darauf, „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31).

Die Milcheiweißbrot-Propaganda zielte daher auch auf die Mythisierung und Umdeutung der deutschen (Konsum-)Geschichte. Auf der einen Seite erklärte man das neue Brot einfach als eine modernisierte Rückkehr zur bewährten Praxis der Vorkriegszeit: „Bis zum Kriege war es üblich, daß jeder Brotteig mit Milch, und zwar hauptsächlich mit entrahmter Milch, angesetzt wurde. Dieser Jahrhunderte alte Brauch ist erst in den schweren Kriegsjahren – der Not gehorchend – verloren gegangen: man ersetzte seitdem die Milch durch Wasser“ (Lippische Tageszeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 6). Teils wurde auch die Industrialisierung für diese Abkehr von der eigenen Tradition bemüht, teils an weit verbreitete Agrarromantik angedockt: „Nur auf dem Lande hat sich der alte Brauch meist noch erhalten. Darum schmeckt uns Städtern auch das Landbrot, das Bauernbrot so besonders gut!“ (Ellen Schweigart, Milcheiweiß-Brot – das neue Kraftbrot, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 3. Dezember, 10).

Man fühlt sich angesichts solch systematischer Irreführungen an die heutige Bereicherungsökonomie erinnert, an die gängige Naturmystik bei der Vermarktung von Bio-Lebensmitteln. Doch schon ein flüchtiger Blick ergibt keinen Beleg für das Verbacken von Milch bei der Brotbereitung im Kaiserreich (Fritz Elsner, Die Praxis des Lebensmittelchemikers, Leipzig 1880, 64-69; R. Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 70-73; A. Bender, Brot, in: O[tto] Dammer, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. III, Stuttgart 1896, 373-389). Die Eiweißfrage wurde stattdessen vorrangig am Problem des Feinmehls diskutiert. Kleiebrot galt Physiologen teils als gehaltreicher, während andere auf die geringe Ausnutzung des Brotes verwiesen (Palm, 1882, 73). Auch in Kochbüchern findet man keine Belege für das Verbacken von Magermilch im Brot (vgl. etwa Henriette Davidis und Luise Rosendorf, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 25. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1882, 523-524). Eine Ausnahme bildet lediglich leichtes, mit kalter Milch gebackenes Weißbrot (Luise Holle, Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch […], 37. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1898, 555). Brotrezepte fehlen in der Mehrzahl der bürgerlichen Kochbücher. Magermilch wurde verfüttert, getrunken, zu Weichkäse verarbeitet, nicht aber dem Brot zugemengt.

Ebenso typisch war ein zweiter historischen Mythos, der die Entwicklung der Ernährungswissenschaft schlicht ad absurdum führte. Demnach habe die moderne Wissenschaft, insbesondere die Vitaminlehre, zu einer Neubewertung des Natürlichen geführt, zu einer neuen Wertschätzung „der natürlichen Lebensweise unserer Vorfahren“, zu einem fundierten Weckruf, „die Irrwege einer Zivilisation verlassen, die uns schon in so manche Sackgasse geführt haben“ (Etwas über Milcheiweißbrot, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 264 v. 15. November, 4). Die Nähe zwischen NS-Regime und Ernährungsreformern war bis 1935/36 in der Tat eng (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, 134-150). Doch Lehrbücher nationalsozialistischer Hygieniker wie Werner Kollath (1892-1970), die derartige Narrative adelten, erwähnten just das Milcheiweißbrot nicht (Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene, Leipzig 1937, 314-321). Bei aller berechtigten Kritik an den Fehlern der neuzeitlichen Lebensmittelproduktion, nicht zuletzt der Eiweißanreicherung: Die natürliche Lebensweise der Vergangenheit ist ein irreführender Romantizismus, ebenso die wohlfeile Klage über die Irrwege der Zivilisation. Dass gerade ein wissenschaftliches Kunstprodukt wie Milcheiweißbrot ein „Vorwärts zur Natur“ bedeuten sollte, war überraschend.

Drittens schließlich findet sich in der Propagandaliteratur auch die weitverbreitete Idee eines guten alten Brotes, das durch die neuere Hochmüllerei (und auch der Abkehr von der flüssig verbackenen Magermilch) seine Kernigkeit und seinen Nährwert verloren habe. Dies vorausgesetzt erschien das Milcheiweißbrot als ein neuerliches „Höherwertiger-Machen“ (Hans Schlachcikowski, Wer hat den richtigen Schlüssel?, Altenaer Kreisblatt 1934, Nr. 282 v. 3. Dezember, 6). Technik und Wissenschaft erlaubten demnach eine virtuelle Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Dieser Mythos wurde bereits von den Brotreformern der Jahrhundertwende vertreten, sollte die kurze Zeit später begonnene Vollkornbrotpolitik kennzeichnen (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im »Dritten Reich«, 1999 16, 2001, 91-128). Modernes Vollkornbrot war und ist jedoch ein modernes, technisch elaboriertes Produkt, keine Wiederkehr von etwas Verlorenem. Das Umschreiben der Vergangenheit dürfte dennoch auf Zustimmung getroffen sein, so wie die zahllosen Konsummythen unserer Zeit.

Unwillige Bäcker

Das Milcheiweißbrot war ein Flop. Es scheiterte fast schon jämmerlich, auch wenn es noch nach Mitte 1935 angeboten und verzehrt wurde, als der Werbefeldzug endete. Das lautstark und vielgestaltig angepriesene Volksnahrungsmittel mutierte zu einem Nischenprodukt, über dessen reale Bedeutung wir leider nichts sagen können, da es nicht mehr Gegenstand der vom NS-Regime gewährten Öffentlichkeit war, da archivalische Quellen fehlen.

Das Milcheiweißbrot als Eckenbrüller auf der Kölner Gastwirte-Ausstellung im September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Die Ursachen für diesen Flop waren vielgestaltig. Das neue Brot war teurer, der fachlich begründete Verweis auf mehr Eiweiß und einen etwas höheren Nährwert blieb demgegenüber abstrakt. Brot war ein Grundnahrungsmittel, meist unhinterfragtes Korsett der täglichen Kost. Änderungen bedurften daher besonderer Anreize, die diese Morgengabe an die Landwirtschaft kaum hatte. Das neue Kraftbrot folgte auf mehrere staatliche erzwungene Neugestaltungen des Brotes, so dass die Propaganda für ein dauerhaft etabliertes Volksnahrungsmittel recht unglaubwürdig war. Die neue „nationale“ Regierung war 1934 in einer tiefen Krise, konnte viele Versprechungen nur unzureichend erfüllen, eröffnete im Mai einen Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, tötete zwecks Herrschaftsstabilisierung Ende Juni 1934 ca. einhundert SA-Granden und meist konservative Kritiker. Es war nicht ausgemacht, dass diese Regierung nicht zusammenbrechen würde. Hinzu kam der äußerst schwer zu rekonstruierende neuartige Geschmack des Milcheiweißbrotes und schließlich die desaströs verzögerte Einführung, die unartikulierte Zweifel an der Seriosität des ganzen Unterfangens schürte.

Die verzögerte Einführung des neuen Brotes war jedoch nicht nur Folge organisatorischer Versäumnisse, einer nicht reibungslos funktionierenden gelenkten Agrarwirtschaft und ineffizienter Bürokratie. Sie spiegelte vor allem den nur selten öffentlich artikulierten Unwillen der Bäcker, das gegen ihren Willen und gegen ihre Expertise eingeführte Milcheiweißbrot wirklich zu backen. Um das zu begründeten, müssen wir noch einmal genauer auf die Debatten um die Beimischungszwänge eingehen. Das Bäckerhandwerk hatte die neue „nationale“ Regierung freudig begrüßt, Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) schien einer der Ihren zu sein. Man hoffte Anfang 1933 auf ein rasches Ende der erzwungenen Kartoffelstärkemehlbeimischung, die man mit dem Slogan „Schweinefutter im Brot, gesundes und gutes Getreide im Schweinetrog“ strikt ablehnte (Das Bäckerhandwerk gegen den Kartoffelstärkemehl-Verwendungszwang, RBKZ 35, 1933, 74). Doch dieser „Qualitätsverschlechterung“ der Brotherstellung wurde nicht Einhalt geboten, stattdessen sah man sich zusätzlich mit dem vom Deutschen Landwirtschaftsrat und dem Milchwirtschaftlichen Verband propagierten „Verwendungszwang“ für Magermilch konfrontiert. Die wichtigste Dachorganisation der Bäcker, der Germania-Verband, protestierte gegen die kostenträchtige und nicht praktikable „Aenderung in der bisherigen Arbeitsweise“ (Der Germania-Verband wendet sich an den Reichsernährungsminister, RBKZ 35, 1933, 123). Diese grundsätzliche Kritik behielt der Verband auch im Sommer 1933 bei. Der Magermilchzusatz führe zu „einer erheblichen Verschlechterung der Qualität des Brotes“, verringerte die Backfähigkeit des Mehles, erfordere eine andere Teigführung, die wiederum den natürlichen Getreidegeschmack unterminiere: „Wirtschaftlich gesehen ergibt sich also, daß bei Einführung des Verwendungszwanges von Magermilch ein weniger schmackhaftes Brot für einen erhöhten Preis verkauft werden müßte.“ Der Brotkonsum würde sinken, dadurch auch die Landwirtschaft geschädigt werden. „In der Verschlechterung und Verteuerung sieht es [das Bäckerhandwerk, US] nicht nur für seine Existenz und die Verbraucher, sondern gleichzeitig auch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine unübersehbare Gefahr“ (Ausdehnung des Verwendungszwanges bei der Brotherstellung?, RBKZ 35, 1933, 325 [auch vorherige Zitate]). Das waren deutliche und auch mutige Worte in einer von massiver Gewalt durchzogenen Gleichschaltungsphase der Gesellschaft. Die Bäcker kränkte besonders, dass ihre Expertise nicht genutzt und geschätzt wurde (Kommt die Ausdehnung des Verwendungszwanges?, RBKZ 35, 1933, 349).

Die NS-Regierung erließ dennoch das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch vom 12. September 1933. Den kargen archivalischen Unterlagen gemäß teilte man die Sorgen der Bäcker nicht. Der Zusatz von Trockenmilch würde das Brot verbessern, auch wenn die gesundheitlichen Folgen unklar seien. Da aber keine negativen Erfahrungen vorlägen, sei die Beimischung von Kartoffelstärkemehl und Trockenmilch unproblematisch, andernfalls könne man beide ja auch getrennt verwenden (Bundesarchiv Lichterfelde R 43 II, Nr. 863, Bd. 14, 27-42). Im quasi-amtlichen Völkischen Beobachter hieß es autorativ, dass ein mit Magermilch angereichertes Brot, ein „Milchweißbrot“, entscheidend „zur Versorgung der eiweißhungrigen Volksmassen mit billigstem deutschem Nahrungseiweiß beiträgt“ (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Völkischer Beobachter 1933, Nr. 225 v. 2. Oktober, 13). Der Bakteriologe Traugott Baumgärtel (1891-1969) sekundierte in der auflagenstärksten Ernährungszeitschrift, dass Magermilch „das beste und billigste Naturprodukt“ zur Anreicherung des Brotes sei, und das „neue ‚Milcheiweißbrot‘ eine wertvolle Bereicherung der deutschen Volksnahrungsmittel darstellen“ dürfte (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 8, 1933, 316-317, hier 317). In der Fachpresse des Bäckereihandwerkes wurde dies zur Kenntnis genommen, blieb nunmehr unkommentiert (Was ist Trockenmagermilch?, RBKZ 35, 1933, 395).

Es ist nicht davon auszugehen, dass die fachlichen, geschmacklichen und wirtschaftlichen Bedenken gegen das Milcheiweißbrot damit ausgeräumt waren. Im Gegenteil dürfte die deutliche Erhöhung der beizumischenden Magermilchmenge diese nochmals erhöht haben. Doch mit dem am 15. Oktober 1934 auslaufenden Beimischungszwang war nunmehr Freiwilligkeit Trumpf. Das Milcheiweißbrot wurde von der Milchwirtschaft vorangetrieben, sie wachte über die Genehmigungen, sie entwickelte und koordinierte die Propaganda. Die Bäcker aber zogen nicht mit, trotz strikter bürokratischer Überwachung, trotz eindeutiger Vorgaben einer erwarteten achtzigprozentigen Teilnahme.

Flankenschutz für das Milcheiweißbrot: Milchpulverangebote von den Großeinkaufsgesellschaften der Bäcker (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 537)

Anfang 1935, parallel zu einem mangels umfassender Marktpräsenz des Milcheiweißbrotes teils ins Leere laufenden Werbefeldzuges hieß es in einem Rundschreiben des Abteilungsleiter des Rheinisch-Westfälischen Milchwirtschaftsverbands Emil Moog: „Alle Bäckereibetriebe, die die Genehmigung zur Herstellung des Milcheiweißes erhielten, haben nicht nur das Recht, nunmehr das Brot zu backen, sondern auch die Verpflichtung, sich mit Energie und Eifer für die neue Sache einzusetzen.“ Zugleich ließen sich aber die technischen Probleme kaum mehr überdecken: „Wenn beim ersten Back- und Verkaufsversuch auch der volle Erfolg auf einen Anhieb hin noch nicht erreicht ist, so darf dieses den Bäckermeister nicht entmutigen. Der Anfang ist bei einer Neueinführung immer etwas schwieriger. Beim zweiten und dritten Mal wird es schon besser klappen, bis schließlich bei richtiger Ausdauer auch der Erfolg nicht ausbleibt“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Das backtechnisch nicht angemessen erprobte Milcheiweißbrot sollte in der Backstube pröbelnd Gestalt gewinnen. Das war kaum akzeptabel, selbst während der NS-Zeit.

Es folgten Drohungen, ersichtlich etwa in einem Schreiben der Dauermilcherzeuger an den Germania-Verband Anfang 1935: „Ich habe mich während meines Urlaubes überzeugen können, daß die Bäcker, die Milcheiweißbrot führen, tatenlos dem Verkauf gegenüberstehen. Teilweise wird kein Brot den Kunden angeboten, teilweise vergißt man so nebenbei die Banderole um das Brot zu legen usw. Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Art von Verkauf man nicht vorwärts kommt. Wenn die Bäcker auch schon ein Interesse daran haben, ein Brot zu propagieren, bei dem sie mehr verdienen, als beim anderen Brot, so ist es doch tiefbedauerlich, daß nicht aus sich selbst heraus das Bäckergewerbe hier das nötige Verständnis aufbringt. Sie werden selbst einsehen, daß ich unter solchen Umständen einen anderen Weg beschreiten muß und werde. Muß denn bei den einzelnen beteiligten Kreisen immer ein Zwang einsetzen?“ (Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 101).

Appelle zur Verwendung von Trockenmilch Anfang 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 19)

Doch dazu kam es nicht, denn das Bäckerhandwerk umfasste 1933 mehr als 100.000 Betriebe mit fast 400.000 Beschäftigten (Das Bäckerhandwerk in der Gewerbestatistik, RBKZ 37, 1935, 241). Parallellaufende Verhandlungen mit dem Reichskommissar für Milcherzeugnisse, Öl und Fett und dem Reichsernährungsministerium führten jedoch dazu, dass der Germania-Verband „den Kampf gegen Materialvergeudung durch Verringerung der Magermilchschwemme“ formal unterstützte. Das aber bedeutete lediglich den Einsatz von Trockenmilchprodukten bei (Weizen-)Kleingebäck und Kuchen. Von der Verbandsleitung wetterte man zwar pflichtgemäß gegen die „Sabotage unverantwortlicher Kreise“, doch erstreckten sich die ebenfalls angedrohten Sanktionen nur auf eine Nicht-Verwendung von Trockenmilchprodukten, nicht aber auf die Nicht-Produktion von Milcheiweißbrot (Trockenmagermilch, Der Weckruf 22, 1935, 74). Die Blockademacht der Bäcker hatte sich im Wesentlichen durchgesetzt.

Milchweißbrot wurde zwar weiter gebacken, keineswegs aber im anvisierten Umfang. Entgegen Gerüchten über ein Ende der Produktion bekräftigte die Brotmarktordnung vom 15. Juni 1935 nochmals seinen Status als Spezialbrot (Milcheiweißbrot und Brotmarktordnung, Verbo 1935, Nr. 52 v. 1. März, 11). Dieser war jedoch zunehmend eine leere Hülle. Von den NS-Aktivisten verlautete verbrämend: „Schon im vergangenen Jahre versuchte man in dem Milcheiweißbrot eine Absatzmöglichkeit für die Magermilch zu finden, aber durch eine Reihe von Ursachen wurde das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte. Jetzt gibt man der Werbearbeit eine neue Richtung, indem man zunächst einmal das deutsche Bäckerhandwerk mit der Verwendung von Magermilch vertraut machen und ihm zeigen will, welche Werte auch für das Bäckerhandwerk die Magermilchverwendung hat“ (Richard Lubig, Milch im Brot, RBKZ 37, 1935, 386). Im Spätsommer 1935 wurden Ausstellungen zwar weiterhin mit Milcheiweißbroten bestückt, doch in das Zentrum traten trotz des Slogans „Milch in Brot“ das im Jahr zuvor stärker geförderte Knäckebrot, vor allem aber Roggen- und Roggenschrotbrote: „Es ist das deutsche Kraftbrot der Zukunft, das Vollkornbrot, das gesundeste von allen, weil es infolge seiner Zusammensetzung die Eigenschaften besitzt, die Zähne, den Rachen, den Magen und Darminhalt zu reinigen“. Das Milcheiweißbrot solle dagegen als Kastenbrot neu erscheinen, „hergestellt nach einem besonderen Rezept“, […] demnächst in ganz Deutschland einheitlich zu haben“ (Das Bäckerhandwerk auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung, RBKZ 37, 1935, 433-434, hier 434). Diese Ankündigung wurde nicht umgesetzt. Wenig später hieß es dann: „Milcheiweißbrot, dem man einen Teil der Magermilch zugesetzt hatte, konnte sich nicht einführen“ (Zentralblatt für innere Medizin 59, 1938, 56).

„Milch in Brot“: Roggen- und Roggenschrotbrot mit verbackenem saurem Milchpulver auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung in Köln, September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Neue Formen der Magermilchverwertung

Das Scheitern des Milcheiweißbrote war auch deshalb möglich, weil die wissenschaftlichen Begleit- und auch die intensive Produktforschung zunehmend andere Formen der Magermilchverwertung bevorzugten. Erstens wurde der anfangs hervorgehobene Beitrag des Milcheiweißbrotes zur Eiweißversorgung stark relativiert, der „Gehalt an Milcheiweiß ist nicht sehr hoch“ (Frank Lamprecht, Die Verwendung von Magermilch, insbesondere Milcheiweiss, in der menschlichen Ernährung, in: Wissenschaftliche Berichte des XI. Milchwirtschaftlichen Weltkongresses, Bd. II, Hildesheim 1937, 270-273, hier 271). Effizientere Präparate seien vorzuziehen.

Zweitens ergaben Untersuchungen möglicher Backverfahren und -mischungen, dass die Qualität der zumeist aus Roggen hergestellten Milcheiweißbrote geschmacklich nicht überzeugen konnte. Paul Friedrich Pelshenke (1905-1985), führender NS-Experte, seit 1934 Leiter des Berliner Instituts für Bäckerei der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung, betonte nach der NS-Herrschaft, „daß insbesondere beim Roggenbrot der Zusatz von normalem Milchpulver völlig indiskutabel ist, weil der Brotgeschmack unangenehm wird. Es verträgt sich nun einmal die Säure im Roggen- wie auch im Roggenmischbrot nicht mit dem typischen Milchgeschmack, den man ja von der Magermilch her kennt“ (P[aul] F[riedrich] Pelshenke, Über Milcheiweißbrot, Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 15, 5-6, hier 5). Das klang in seinen früheren Analysen weniger eindeutig, 1935 sprach er von einer teilweisen „Verflachung des typisch kernigen Sauerteigbrotgeschmacks“, bei einigen Milchpulvern auch von einer „dem Brot fremde Säuerung, die als nachteilig angesprochen werden muß und zu völliger Ablehnung führen kann“. Weizengebäck sei besser geeignet, könne auch mehr Magermilchpulver aufnehmen (Pelshenke und Zeisset, 1936, 5-6).

Drittens entstand seit 1937 für Wehrmacht und Zivilbevölkerung eine rasant wachsende Palette von mit Eiweiß angereicherten Produkten. Wilhelm Ziegelmayer hob Bratlingspulver mit Soja-, Milch- und Molkeneiweiß, Suppenkonserven mit Hülsenfrüchten und aus Roggenschrot, Frischwurst bzw. Dauerwurst mit Keimmasse, Nudel und Käsepulver mit Hefe, Kekse und kochfertige Saucen mit Sojaeiweiß, Migetti und Puddingpulver mit Milcheiweiß, Pemmikan mit Soja- und Milcheiweiß bzw. Weinsäuredrops mit Molken- und Milcheiweiß nach dem Krieg besonders hervor (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 145). Milcheiweiß machte den Anfang, gefolgt von Soja-, Hefe- und Molkeneiweiß. Es handelte sich zumeist um Zwischenprodukte bei Suppen, zur Fleischstreckung und von Süßwaren (Angewandte Chemie 51, 1937, 829). Sie waren auch in der Nachkriegszeit wichtige Bestandteile der Alltagskost, finden sich täglich in unserer Ernährung.

Verhäuslichung der Rohware: Milcheiweißpulver im Haushalt (Ernährungsdienst Nr. 21, 1938, 25; Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Viertens begann man spätestens mit dem Übergang zum Vierjahresplan, Milcheiweißpulver und Trockenmilch auch als häusliches Convenienceprodukte anzubieten. Sie galten als stark machende, lang haltbare und universell einsetzbare Hilfsmittel im Haushalt, waren Vorschein einer neuen modernen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. In der Nachkriegszeit wurden sie in Ost und West weiter verfeinert und geschmacklich verbessert. Der heute abebbende Eiweiß-Hype macht diese weit verbreiteten Produkte immerhin sichtbar; vorausgesetzt, man kennt ihre, also unsere Geschichte.

Lob der kräftigenden Trockenmilch (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 54 v. 4. März, 14)

Fünftens hatten die raschen Veränderungen auch Rückwirkungen auf das noch vorhandene Nischenprodukt Milcheiweißbrot: 1938 wurde die für eine Anerkennung erforderliche Beimischung von Magermilchpulver resp. Nährkasein auf fünf bzw. 2,5 Prozent verdoppelt. Das behielt man auch während des Krieges bei, obwohl Trockenmilch zunehmend knapp wurde (Milcheiweißbrot als Spezialbrot, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 42, 1940, 45). Die Verordnung vom 26. März 1942 beendete dann die Geschichte des Milcheiweißbrotes während der NS-Zeit (Die neuen Brotzusammensetzungen, Renchtäler Zeitung 1942, Nr. 220 v. 19. September, 5).

Alles neu? Revitalisierung des Milcheiweißbrotes 1953/54

Das Jahr 1945, der militärische Sieg über das Großdeutsche Reich und seine Verbündeten, brachte ein Ende des Schlachtens und Mordens. Das betraf den Krieg, auch die derweil laufenden sieben nationalsozialistischen Massenmordkampagnen (Alex J. Kay, Das Reich der Vergeltung, Darmstadt 2023). Eine Stunde Null hat es dennoch nur ansatzweise gegeben, die gut gemeinten Bemühungen der Besatzungsmächte für einen Neuanfang blieben aus vielerlei Gründen Stückwerk. Nach 1945 dominierte gerade im Agrar- und Ernährungssektor eine Kontinuität der Eliten und der Praktiken. Man vergaß das Geschehene, vergaß die Namen der Macher und Täter, doch diese knüpften in ihren neuen alten Positionen vielfach wieder an das Geschehene an. Das Milcheiweißbrot ist dafür ein beredtes Beispiel.

Im Herbst 1953 lancierte das mit ehedem nationalsozialistischen Funktionseliten gespickte Bundesernährungsministerium – damals waren 70 Prozent der führenden Mitarbeiter frühere NSDAP-Mitglieder, wenige Jahre später dann 80 (Friedrich Kießling, Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik, in: Horst Möller et al. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, Berlin und Boston 2020, 365-512, hier 425-426) – in sechs nordrhein-westfälischen Großstädten eine Gemeinschaftswerbung für „ein mit Milcheiweiß angereichertes Brot“ (Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1). Neuerlich handelte es sich um ein Spezialbrot mit Banderole, neuerlich wurde es als Kraftbrot beworben. Neuerlich war es die Agrarlobby, die hoffte, „ein neues Absatzgebiet für Magermilchpulver zu erschließen“ (Calwer Tagblatt 1953, Nr. 174 v. 30. Juli, 2). Paradoxerweise wurde das altbekannte Milcheiweißbrot jedoch als neu beworben; so als hätte es seinen Vorläufer nie gegeben.

Das „neue“ Milcheiweißbrot in Westdeutschland 1953/54 (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8 (l.); Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1)

Das „neue Milcheiweißbrot“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8) wurde am 1. November 1953 eingeführt – doch bescheidener als ehedem im Oktober 1934. Man hatte offenbar aus der reichsweiten Einführung des Vollkornbrotes 1939 gelernt, das zuvor in zwei Testregionen, in Sachsen und dem Südwesten, eingeführt und evaluiert worden war (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50). Nunmehr testete man in sechs Großstädten Nordrhein-Westfalens. Vorangegangen waren die üblichen Absprachen der interessierten Kreise, „dem Bundes- und Landesernährungsministerium, dem Bäckerhandwerk, den Brotfabriken und der Milchwirtschaft“ (Brot mit Eiweis [sic!], Sauerländisches Volksblatt 1953, Nr. 4. November, 4). Die Konsumenten blieben außen vor, auch ihre damaligen Repräsentanten, die Konsumgenossenschaften und die Hausfrauenverbände. Mit an Bord waren abermals Vorzeigewissenschaftler. Der Physiologe Heinrich Kraut (1893-1992), trotz NSDAP-Mitgliedschaft und umfangreicher Minimalbedarfsuntersuchungen an Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges wieder Leiter der Abteilung für Ernährungsphysiologie des Max-Planck-Instituts in Dortmund und einer der führenden, auch international gefragten Ernährungswissenschaftler der Bundesrepublik, betonte wie schon seine Vorgänger 1934/35, dass Milcheiweiß in eine moderne und gesunde Kost gehöre, dass es zugleich um billiges Eiweiß für ärmeren Segmente der Bevölkerung gehe. Das unterstrich auch der mittlerweile als Leiter der späteren Bundesanstalt für Getreideforschung in Detmold reetablierte Paul Pelshenke, der ab 1940 die Reichsanstalt für Getreideverarbeitung geleitet hatte (Bundesarchiv Lichterfelde R 4901/13273). Neuerlich führte er Backversuche mit Magermilchbroten durch, allerdings ohne direkt auf seine früheren Forschungen zu verweisen, in denen er verschiedene Roggenmehlvarianten ausdrücklich gutgeheißen hatte. Nun, in einem Umfeld neuer Mehle, neuer Technik, neuer Backhilfsmittel und neuer Milchpulver, sei es jedoch ratsam vom nicht geeigneten Roggen auf Weizen umzustellen (Pelshenke, 1954).

Rein technisch hatte man also aus dem ersten Scheitern gelernt, denn das neue Brot bestand nicht mehr vorrangig aus Roggenmehl, sondern nunmehr zu mindestens 70 Prozent aus Weizenmehl, welches damals massenhaft aus den USA und Kanada importiert wurde. Der Magermilchanteil betrug nun drei Prozent, der Preis lag drei Pfennige höher als der weiterhin staatlich administrierte Preis des Standardbrotes (Eine neue Brotsorte, Honnefer Volkszeitung 1953, Nr. 176 v. 31. Juli, 4). Und wieder klang es erfolgstrunken wie in alten Zeiten: „In Dortmund und Düsseldorf hatten die Bäcker ihre Vorräte von dem Brot, da auch besser schmeckt und sich besser hält, sehr schnell verkauft“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8). Schon einen Monat sprach das NRW-Landwirtschaftsministerium von einer dank einschlägiger Werbung erfolgreichen Einführung (Milcheiweißbrot setzt sich durch, Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 279 v. 1. Dezember, 10). Die Landwirtschaft sekundierte, auch wenn der Preisabstand teils auf fünf Pfennige hochgeschnellt war (Milcheiweißbrot gefällt, Bünder Zeitung 1953, Nr. 300 v. 28. Dezember, 5). Da machte auch der Bäcker mit.

Integration des „Eiweissbrotes“ in die staatliche Agrarwerbung der Bundesrepublik (Honnefer Volkszeitung 1954, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 109 v. 12. Mai, 8)

Anfang 1954 war man dann fast wieder dort, wo man 1934 begonnen hatte: „Das je Kilo um drei Pfennig teurere Brot soll demnächst in allen Städten mit über 50.000 Einwohnern verkauft werden. Bundesernährungsminister Lübke wolle allen Ländern empfehlen, ähnliche Versuche durchzuführen. Falls dieser Plan in die Wirklichkeit umgesetzt wird, ist nach Meinung des Landwirtschaftsverbandes damit zu rechnen, daß der Ueberschuß an Magermilch bis auf einen kleinen Rest aufgefangen werden kann“ (Eiweißbrot soll sich durchsetzen, Bünder Zeitung 1954, Nr. 15 v. 19. Januar, 5). Das Milcheiweißbrot wurde seit Februar 1954 in 26 nordrhein-westfälischen Städten angeboten, die Werbung entsprechend ausgeweitet (Eiweißbrot bewährt sich, Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 39 v. 16. Februar, 3). Stolz hieß es, es „werden jetzt Vorbereitungen getroffen, dieses Milcheiweißbrot im ganzen Bundesgebiet anzubieten“ (Münstersche Zeitung 1954, Nr. 62 v. 13. März, 9). Weitere Pilotprojekte folgten in Kassel, dann in ganz Hessen. Die Bäckereien waren nach wie vor zögerlich, doch das sollte sich langsam legen: 60 Prozent der Kasseler Bäcker beteiligen sich, „nachdem sich zuerst nur zehn Bäckereien zögernd dazu entschlossen hätten“ (Milcheiweißbrot jetzt für ganz Hessen, Mannheimer Morgen 1954, Nr. 170 v. 24. Juli, 10). Zuvor hatte sich das Brot nochmals gewandelt, wurde nunmehr als „Eiweißbrot mit Milch-Eiweiß“ Teil der staatlichen Gemeinschaftswerbung. Trotz weiterer Erfolge blieb der Erfolg jedoch begrenzt. Die 1957 folgende EWG-Gründung führte die nun gemeinsame Agrarpolitik ohnehin in neue Dimensionen, Milchseen und Milchpulverberge wurden gängige Bilder der weitergeführten subventionieren Unvernunft.

Überproduktion und Vorratswirtschaft als Folge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, karikiert vom früheren NS-Propagandazeichner Hanns Erich „Erik“ Köhler (1905-1983) (Das Beste aus Reader’s Digest 28, 1975, Nr. 12, 55)

Uwe Spiekermann, 31. August 2025

Mandelmilch – Anfänge eines „Megatrends“

„Die Mandelmilch ist altbekannt, sie fehlte früher bei keiner Tee- und Tanzgesellschaft unter den erfrischenden Getränken; jetzt trifft man sie da viel weniger“ (Über vegetabile Milch, Therapeutische Monatshefte 30, 1916, 65-68). Der seinerzeit führende Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) kannte Mandelmilch nicht nur aus der klinischen Praxis, sondern als bürgerliches Sommergetränk. Doch seine besten Zeiten schien sie hinter sich zu haben, hatten doch billigere Limonaden und Fruchtsäfte ihr schon vor dem Ersten Weltkrieg den Rang abgelaufen. Mandelmilch war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eben kein fertig käufliches, global vermarktetes und durch Kühlketten und aseptische Produktion „frisch“ und stets konsumierbar gehaltenes Getränk. Es musste häuslich zubereitet werden – und das war aufwändig: Man nahm dazu ein halbes Pfund süße Mandeln, kochte diese in einem Liter Wasser. Dann zog man den Mandeln die Haut ab, trocknete sie, verrieb sie in einer Handmühle. Dem bröseligen Gemenge fügte man etwas Bittermandel hinzu, verrührte es mit dem Rest des gekochten Wassers, ließ das Ganze zwei Stunden stehen. Danach wurde die Flüssigkeit durch ein Tuch geseiht und die fertige Mandelmilch in Eis gestellt. Das Getränk musste rasch, spätestens binnen 24 Stunden getrunken werden (M[aria] Lorenz, Zur Geschichte der Mandeln, Kochkunst und Tafelwesen 10, 1908, 157).

Mandelmilch als bürgerliches Sommergetränk im langen 19. Jahrhundert

Häusliche Mandelmilch war ein erfrischendes Getränk vor dem Aufkommen der Erfrischungsgetränke. Es war wohlschmeckend, nicht zu süß, zehrte von einer bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden Tradition als Herrenspeise (Ein Hoffest aus der Roccocozeit, Echo der Gegenwart 1884, Nr. 94 v. 20. April, 1; Der Wiener Mundkoch […], Wien 1789, passim). Es konnte im späten 18. Jahrhundert auch bei Zuckerbäckern und Konditoren gekauft werden, neben „allerhand Zuckerwerk“ (Gülich und Bergische wochentliche Nachrichten 1780, Nr. 20 v. 16. Mai, 5). Feinkostläden offerierten sie ebenfalls. Aber, ach, Mandeln waren teuer, Handelsware aus fernen Ländern. Ihr Ursprung lag wohl im Nahen Osten, in der römischen Provinz Syria. Im Alten Testament wird sie häufig erwähnt. Von dort verbreitete sich das Rosengewächs zum einen östlich nach Persien bis hin nach China. Mandelbäume waren aber auch Nachzügler der späteren islamischen Expansion nach Nordafrika und Spanien. Auf der iberischen Halbinsel etablierten sich im späten Mittelalter Handelszentren. Die Gegend um Valencia stach hervor, später traten das sizilianische Messina und die französische Provence hinzu. All das betraf die süße Mandel, Grundstoff für Bäckerei, für Marzipan und auch Mandelmilch. Als Handelsware gleichfalls bedeutend war die Bittermandel. Deren Öl diente als Grundstoff für Schönheitsmittel, für Parfüm und Seife, wurde auch Arznei beigefügt. Übergehen wir die Krachmandel, ehedem ein wichtiger Bestandteil des Studentenfutters (E[rnst] Mayerhofer und C[lemens v.] Pirquet (Hg.), Lexikon der Ernährungskunde, T. 2, Wien 1926, 652-653).

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Der Hausball mit Mandelmilch – in ironischer Brechung (Fliegende Blätter 78, 1883, 70)

In den europäischen Zentren zumal West- und Mitteleuropas war Mandelmilch ein gesellschaftsfähiges Getränk. Es repräsentierte eine gewisse Kultiviertheit, eine gewisse Internationalität, eine gewisse Wohlbestalltheit. Und es schied treulich die Herren und die Damen. Häusliche Geselligkeit führte zusammen, die Getränke aber bildeten Ordnungslinien: „Für die Herren gab es Bier, doch in ziemlich beschränktem Maße, für die Damen Mandelmilch, da es nicht ‚fein‘ erschien, vor Herren Bier zu trinken“ (Haushalte in der Biedermeierzeit, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 15 v. 16. Januar, 19). Frisch zubereitete Mandelmilch war kühl und erfrischend, denn im Salon, beim Ball galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie war zugleich aber Teil weiterer häuslich zubereiteter Mischgetränke, etwa der Orgeade, einem Mischgetränk aus abgekochter Gerste, Zucker und Mandelmilch.

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Standardrezept für Mandelmilch als Arznei – und Getränk (Johann Christian Reil, Ueber die Erkenntniss und Kur der Fieber, Bd. 1, Halle a.d.S. 1820, 674-675)

Mandelmilch hatte zugleich ein Renommee als diätetische Speise. Humoralpathologie und Erfahrungsmedizin hoben gesundheitliche Wirkungen der Mandeln ins allgemeine Bewusstsein. Bittermandeln galten als Mittel gegen die Tollwut, Mandelöl gab man Frauen im Kindbett zur Linderung der Schmerzen. Mit Zucker versetzt diente Mandelmilch Kindern als „heilsame Arzeney“ gegen Brustschmerzen, bekämpfte Brechreiz und wirkte abführend (Anton Bach, Abhandlung über den Nutzen der gebräuchlichsten Erdgewächse […], Breslau und Hirschberg 1789, 37). Mandelmilch half insbesondere schwächeren, konstitutionell gefährdeten Menschen: „Diejenige aber, die keine heftige Arbeit und Bewegung haben, die Zärtlichen und Stillsitzenden können kein schweres hitziges Bier im Sommer vertragen, sondern müssen Wasser mit Citronensäure, Molken, Mandelmilch, Limonade, Selzerwasser mit Moseler Wein und dergleichen trinken“ (Von den Wirkungen einer heissen und trockenen Luft und der davon abhangenden Gesundheit der Menschen, Münsterisches gemeinnütziges Wochenblatt 4, 1788, St. 33, 128-132, hier 131). Doch derartige Empfehlungen bröselten seit dem späten 18. Jahrhundert. Statt gekochtem Obst, Essiggetränken und Mandelmilch setzte man vermehrt auf kräftigende Speisen, etwa Fleischbrühe oder gequirlte Eier – sie alle Vorboten der durch Justus von Liebig verkörperten Hochschätzung des Eiweißes, auch des Fettes.

Mandeln gewannen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung, die Verbilligung des internationalen Handels war hierfür zentral. Im bürgerlichen Haushalt etablierten sie sich als schmackhaftes, ja edles Element der Weihnachtsbäckerei. Konditoren lieferten Mandelgebäck, offerierten Mandeltorten. Italienische und französische Backtraditionen wurden aufgegriffen, wenngleich die Mandelbäckerei vorwiegend unterhalb der Mainlinie und in Großstädten zu finden war. Mandelmilch wurde weiterhin häuslich zubereitet, doch in abnehmendem Maße. Das lag einerseits an Marktalternativen, insbesondere geschmacklich verbesserten, mit Kohlensäure versetzten Limonaden sowie dem wachsenden Angebot von Fruchtsirup und vollmundigen Fruchtsäften (die dann mit Wasser vermischt wurden).

Parallel zum Aufkommen moderner Restaurants mit ihren Lieferangeboten und auch dem intensiven Wettstreit der immer noch mächtigen, vielfach tonangebenden Adelshöfe, blieb Mandelmilch ein fester Bestandteil großer Feste, insbesondere repräsentativer Bälle. Dabei stand Mandelmilch dem Kaffee nicht nach, übertraf ihn teils – so etwa im republikanischen Paris, wo beim Hauptball 1888 den 4000 Tassen Kaffee 6300 Glas Mandelmilch gegenüberstanden (Friedrich Hermann, Ein Ball im Pariser Rathhaus, Bonner Tageblatt 1888, Nr. 52 v. 21. Februar, 2). In Berlin ward es seltener gereicht, doch beim Wiener Hofball war die schwachweiße Erfrischung gängig (Kulinarisches vom Hofball in Wien, Rosenheimer Anzeiger 1911, Nr. 18 v. 22. Januar, 5). Und vom bayerischen Hof hieß es nach der Jahrhundertwende: „Noch einmal treten sie mit den silbernen Servierbrettern, auf denen es in Gläsern und Schalen von allen Farben schimmert, an, und diesmal bringen sie mit Sorbet, Mandelmilch, Limonade, Gefrorenem, Tee, auch Bier und Kaffee. Noch ein Schlückchen, noch eine Verbeugung, ein Handkuß und der Hofball 1906 ist zu Ende, eine glänzende Erinnerung mehr“ (Alex Braun, Der Hofball 1906, Allgemeine Zeitung 1906, Nr. 18 v. 12. Januar, 5-6, hier 6).

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Mandelmilch als Bestandteil eines gehobenen Menüs (Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 560 v. 13. November, 12)

Die Enthäuslichung der Mandelmilch fand ihren Widerhall auch in Cafés und Restaurants, wo sie als Damengetränk galt. Das war gesellschaftliche Konvention, nicht aber umsatzsteigernd: „Die nicht ein einzig Schöpplein kaufen / Und sich mit Mandelmilch besaufen – Vertilge sie und ihren Samen! Erlös‘ uns von dem Übel! Amen.“ (G. Kernstock, Wie der Löwenwirt gebetet hat, Fliegende Blätter 139, 1913, 249). Bei den Bällen und im öffentlichen Leben mutierte Mandelmilch im späten 19. Jahrhundert immer stärker zu einem schwachen, einem weiblichen Getränk. Ein Getränk für Damen, Kinder und Vegetarier, nicht aber für schaffende Männer. Schachspieler sollten es während des Spieles, in ihrem erregten Zustand, nicht zu sich nehmen. Die Enthäuslichung der Mandelmilch ging im späten 19. Jahrhundert mit ihrer Exotisierung einher. Mandelmilch erschien zunehmend als Getränk und auch Speisenbestandteil ferner Länder, etwa am Hofe in Sansibar oder als Bestandteil der chinesischen Küche (Neue Westfälische Volks-Zeitung 1885, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3; Chinesische Leibspeisen, Bonner Volkszeitung 1886, Nr. 138 v. 19. Mai, 3). Die imaginäre Schwäche der Mandelmilch spiegelte sich im kolonialen Umfeld, denn die erobernden Männer und Mächte standen für andere Nahrung, für Rindfleisch und Alkoholika. Doch zugleich hatte Mandelmilch noch eine hohe Wertigkeit, denn sie war nicht billig, in höheren Kreisen üblich, den Festen zuordnet. In modernen Konsumgesellschaften bietet das Markpotenzial. Entsprechend diffundierte die Mandelmilch seit den 1890er Jahren in immer neue gewerblich hergestellte Konsumgüter.

Heinrich Lahmann oder Mandelmilch als Säuglingsnahrung

Das galt früh schon für den Mediziner Heinrich Lahmann (1860-1905), der aus einem großbürgerlichen Bremer Umfeld stammte (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 216-218). In Heidelberg promoviert, knüpfte er schon früh an die damalige, vornehmlich erfahrungsmedizinische Naturheilkunde an. Mit der Emphase des jungen Wissenden arbeitete er sich an Größen seiner Zeit ab, wollte Neues schaffen, die „Grundursache“ der Kranken und des allgemeinen Niedergangs erkunden (Antje Kracik, Die Kleidung als Gesundheitsschutz in Deutschland im späten 19. Jahrhundert, Med. Diss. Köln 2000).

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Fluchtort für ein zahlungskräftiges Publikum: Lahmanns Naturheilstätte in Weißer Hirsch, nördlich von Dresden (Fliegende Blätter 90, 1889, Nr. 2285, Beibl., 4)

1886 übernahm der Überflieger eine erste Naturheilanstalt in Chemnitz, schon zwei Jahre später eröffnete er zwischen Radebeul und Dresden aus der Konkursmasse eines 1867 gegründeten Bades ein neues Sanatorium (Martina Lienert, Zum 100. Todestag von Heinrich Lahmann, Ärzteblatt Sachen 2005, 379-382, hier 380). Es sollte zu einem der bekanntesten, gleichwohl nicht unumstrittenen Orte der Naturheilkunde werden. Lahmann war ein Vegetarier der zweiten Welle; und diese war naturwissenschaftlich ausgerichtet, wollte an die Stelle des Animalischen etwas Besseres setzen, weil nur dieses mit den Naturgesetzen in Einklang stand. Die erste Welle der Vegetarier um Eduard Baltzer (1814-1887) oder Theodor Hahn (1824-1883) zielte noch auf einen ethischen Vegetarismus: Der Kulturmensch sollte im Einklang mit seiner Umwelt und seinen Mitgeschöpfen leben, rohes und gewalttätiges Schlachten galt ihnen als Vertierung des Menschlichen. Für sie war Mandelmilch ein Kulturgetränk im vegetarischen Haushalt, alkoholfrei und pflanzlich, ein Labetrank (Vegetarianisches Kochbuch […], 10. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1891, 36).

Naturwissenschaftlich ausgebildete Alternative wie Julius Hensel (1833-1903) und dann vor allem Heinrich Lahmann teilten diese Einschätzung, doch sie wussten zugleich, dass Ethik und Moral zu schwache Motive waren, um die nur wenige tausend Getreue zählende Schar der Alternativen zu mehren. Lahmann war, wie die führenden Physiologen, ein Materialist: Der Mensch war mit der Natur in einem rein materiellen Stoffaustauch verbunden. Es ging ihm um dessen innere Harmonie, um die Zufuhr und Ordnung der richtigen Stoffe. Lahmann beurteilte die vielfältigen gewerblichen Veränderungen der Alltagskost als Gefahr, denn sie unterminierten die natürliche Harmonie insbesondere der Mineralstoffe, der „Nährsalze“. Er sah in der „Entsalzung“ der modernen Zivilisationskost eine wesentliche Ursache für die wachsende Zahl von „Zivilisationskrankheiten“, etwa der Korpulenz. In seinem 1891 erschienenen und rasch zum Bestseller avancierten Buch „Die diätetische Blutentmischung (Dysämie) als Grundursache allen Krankseins“ begründete er dies, schlug zugleich Rezepte gegen die Übel der modernen Welt vor. Von den vielfältigen Facetten der Lahmannschen Lehre sind hier nur zwei relevant: Auf der einen Seite propagierte er die Anreicherung der Alltagskost mit Nährsalzen. Das führte zu einem breiten und einträglichen Angebot von Nährsalzpräparaten und Kräftigungsmitteln, die unter seinem Namen werbeträchtig vermarktet wurden. Auf der anderen Seite betonte Lahmann, dass die dadurch mögliche Reparatur der bereits geschädigten Erwachsenden einher gehen müsse mit einer Stärkung der Kinder von Babybeinen an. Dies führte zu Dr. Lahmanns vegetabiler Milch, einer neuartigen pflanzlichen Säuglingsnahrung. Wie viele Ärzte zuvor, orientierte sich Lahmann an der stofflichen Zusammensetzung der Muttermilch. Auf Basis genauer Mineralstoffanalysen komponierte er eine Pflanzenmilch, „ein Gemisch von Nuss- und Mandeleiweiß, Mandelöl, gereinigtem Zuckersaft (nicht Zucker) und dem sogenannten Pflanzen-Nährsalz-Extrakt“ (Heinrich Lahmann, Die wichtigsten Kapitel der natürlichen (physikalisch-diätetischen) Heilweise, 4. Aufl., Stuttgart 1901, 156). Ziel war es, die vielfach tödlichen „Mehlschäden“ bei unsachgemäßer Anwendung von getreidehaltigen Kindermehlen auszuschließen, zugleich aber eine kalzium- und natriumreiche Ernährung sicherzustellen. Die vegetabile Milch war eine gleichsam aufgeschlossene Ergänzungskost, die mit Kuhmilch vermengt wurde, zugleich aber vom Säugling einfach resorbiert werden konnte. Fabriziert von der Kölner Schokoladenfabrik Hewel & Veithen wurde die zähe, pastöse und in Büchsen gefüllte Masse seit 1893 erfolgreich verkauft.

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Nuss-Mandelmilch als Substitut der Muttermilch (Der Bazar 50, 1904, 356)

Lahmanns vegetabile Milch war eine Lebenshilfe, sollte bei entwöhnten und künstlich ernährten Kindern, bei Stillproblemen, „Unlust zum Säugegeschäft“ und Widerwillen gegen die natürliche Ernährung eingesetzt werden (Heinrich Höck, Ueber die Anwendung von Dr. Lahmann’s „vegetabiler Milch“, Wiener Medizinische Wochenschrift 46, 1896, Sp. 436-437, 494-496, 539-542, hier 494). Mandel- und Nussmilch ermöglichten ein nähr- und mineralstoffreiches Komprimat: Es bestand aus 24% Fett, 7,5% Pflanzeneiweiß, knapp ein Prozent Kali, Kalk und Phosphorsäure. Aufgrund seines hohen Zuckeranteils von fast 42% wurde die vegetabile Milch gerne verzehrt, süßte sie doch auch die an sich dominante Kuhmilch. Im Gegensatz zu milchhaltigen Konkurrenzprodukten zerstörte die Produktion zudem nicht alle (damals noch nicht bekannten) Vitamine, konnte daher auch bei Avitaminosen eingesetzt werden, etwa der in den 1890er Jahren weit verbreiteten Möller-Barlowschen Krankheit (Mayerhofer und Pirquet (Hg.), 1926, 608)

Die Integration von Mandelmilch in Lahmanns vegetabile Milch war kein Geniestreich, sondern lag im Trend der Zeit. Die Säuglingsernährung war seit den 1860er Jahren ein wichtiges Pionierfeld einer wissensbasierten Nahrungsmittelproduktion, sah man in Keimfreiheit und einer an der Muttermilch orientierten Zusammensetzung doch wichtige Mittel gegen die damals teils bis zu 40%ige Kindersterblichkeit. Mandelmilch wurde geschwächten Wöchnerinnen zur Stärkung verabreicht (F[riedrich] A[ugust] von Ammon, Die ersten Mutterpflichten und die erste Kindespflege, Berlin 1892, 69). Es war gängiges Getränk der Krankenkost und milderte Fieber und Verdauungsprobleme, also die wichtigsten Todesursachen der Jüngsten. Süße Mandelmilch wurde von Kindern gerne getrunken. Anfang der 1890er Jahre war Mandelmilch immer noch Teil der ärztlichen Praxis. Sie wurde etwa bei Harnbeschwerden verordnet, ebenso bei Durchfall (500 beste Hausarzneimittel gegen alle Krankheiten der Menschen, 8. verb. u. verm. Aufl., Quedlinburg 1846, 47; Phil[ipp] Seifert, Handbuch der Arzneimittellehre, 2. umgearb. u. verm. Aufl. Greifswald 1856, 56; Josef Ruff, Illustrirtes Gesundheits-Lexicon, Straßburg 1882, 466). Als Arznei wurde Mandelmilch auch in Apotheken frisch zubereitet.

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Konsumgüter gegen den Niedergang: Fortifizierte Mineralstoffpräparate und die Nuss-Rohrzucker-Mandelmilch (Daheim Kalender 1907, Anzeiger, 65)

Der Erfolg der vegetabilen Milch bahnte auch anderen „Reformwaren“ Lahmanns den Weg in neue, weit über die vegetarische Bewegung hinausreichende Bevölkerungsschichten. Neben die fortifizierten Nährsalzpräparate traten insbesondere die aus Baumwolle gewobene „Unterkleidung“ sowie später auch Schuhwaren. Auch frühe vegetarische Restaurants, pardon „Kurrestaurants“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1910, Nr. 268 v. 17. November, 12), bereiteten Speisen „nach Dr. Lahmann“.

Die vegetabile Milch stützte die weitere Verwendung von Mandelmilch in der Säuglings- und Kinderernährung. Mandeln waren damals immer noch relativ teuer, doch grundsätzlich erschwinglich: Ein Pfund kostet in Karlsruhe 1904 85 Pfg., 1909 1,10-1,25 M (Karlsruher Tagblatt 1904, Nr. 351 v. 23. 12, 8252; ebd. 1909, Nr. 335 v. 3. Dezember, 10022). Gleichwohl begann schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Trend hin zu günstigeren Alternativen. Statt Mandeln nutzten insbesondere Ärzte Erdnuss- oder Haselnussmilch (Erdnußmilch anstatt Mandelmilch, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 55, 1914, 901). Auch Konditoreien waren Teil dieses Trends zum Ersatz der Mandeln etwa durch Walnüsse oder Malakkanüsse. Auch die kurz vor dem Ersten Weltkrieg stark anwachsenden Sojabohnenimporte verringerten den Einsatz von Mandelmilch in der Säuglings- und Krankenernährung.

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Gescheiterte Nachahmung für den Massenmarkt: Hexamers Universal Nährgetränk (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 270 v. 16. November, 9)

Lahmanns Mandelmilchprodukt fand Nachahmer. Das oben angezeigte „Universal Nährgetränk“ des in Bad Kreuznach ansässigen Ingenieurs Peter Hexamer stand für gleich zwei Entwicklungslinien: Zum einen wurde Mandelmilch Bestandteil allgemeiner vermarkteter Produkte, zum anderen wurde durchaus versucht, nicht nur klar segmentierte Kundenkreise anzusprechen, sondern auch Angebote für den Massenmarkt zu entwickeln. Doch auch im Kreise der Naturheilkunde wurde Lahmanns Idee fortgesponnen: Der im benachbarten Radebeul residierende Naturheilkundler Friedrich Eduard Bilz (1842-1922) offerierte seit Mitte des 1890er Jahre unter eigenem Namen Mandelmilch-Nährbisquits. Die Werbesprache klingt fast schon vertraut: „Diese, unter Verwendung der überaus kraft- und blutbildenden Mandelmilch aus den besten Rohmaterialien hergestellten Nährbisquits sind von feinstem Wohlgeschmack, leichtester Verdaulichkeit und höchstem Nährwert, dienen als ausgezeichnetes Thee- und Tafelgebäck und sind besonders Rekonvalescenten warm zu empfehlen“ (F[riedrich] E[duard] Bilz, Das neue Naturheilverfahren, 91. neu bearb. Aufl., Leipzig 1898, 105).

Markterweiterung: Mandeln als Grundstoff für neu beworbene Konsumgüter

Um die Bedeutung von Mandelmilch genauer zu fassen, gilt es aber nicht nur auf Endprodukte zu blicken. Größere Marktbedeutung gewann sie vielmehr als Zwischenprodukt anderer Konsumgüter. Schon zur Jahrhundertmitte fand sich Mandelmilch als diätetische Beimengung in Schokoladen etwa der Dresdener Firma Jordan & Timaeus (Leipziger Zeitung 1861, Nr. 206 v. 30. August, 4552; ebd. 1863, Nr. 136 v. 10. Juni, 2914). Referenzen finden sich auch abseits der Nahrungsmittel, etwa bei Heil- oder Putzmitteln. Liebes Malzextrakt-Lebertran wurde als „der Mandelmilch ähnlich“ beworben, ebenso „mandelmilchig weißer“ Bohnerwachs (Rhein- und Ruhrzeitung 1883, Nr. 76 v, 2. April, 4 (l.); Iserlohner Kreisanzeiger 1889, Nr., 87 v. 12. April, 4).

Weit wichtiger aber war das weite Feld der Schönheitspflege, der Kosmetika. Schon der Göttinger Hygieniker Eduard Reich (1836-1919) witzelte: Es „ist ein Jammer, wenn man die – nicht seltene – Beobachtung macht, dass auch die beste Mandelmilch der Dame, welche sie nutzt, nichts von der verlorenen Schönheit zurückbringen will!“ (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde […], Bd. 2, Göttingen 1860, 75). Zur Zeit der Reichsgründung hatte die Bittermandel ihr jedoch den Rang abgelaufen. Milch wurde mit zerstoßenen Mandeln vermengt, der Brei dann auf die Haut aufgetragen. Obacht war geboten, denn diese Bittermandelmilch war blausäurehaltig. „Die im Handel als kosmetisches Mittel vorkommende Mandelmilch ist complicirter Art; auch giebt es käufliches Mandel-Cold-Cream, Mandelkugeln, Mandelseifen-Cream etc.“ (Hermann Klencke, Hauslexikon der Gesundheitslehre für Leib und Seele, T. 2, Leipzig 1872, 351). Auch in den folgenden Jahrzehnten erschien Mandelmilch als Garant eines rosigen Teints, war zudem bei Sonnenbrand hilfreich (Der Teint, Solinger Kreis-Intelligenzblatt 1885, Nr. 107 v. 5. September, 6). Mandelmilch-Seife war in Drogerien erhältlich (Westfälische Zeitung 1886, Nr. 208 v. 7. September, 6), allerdings meist vor Ort produziert, ohne Markenidentität.

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Schönheitspflege für selbstbewusste Damen (Berliner Morgenpost 1913, Nr. 300 v. 1. November, 7)

Das änderte sich erst um die Jahrhundertwende. Trendsetter für starke Markenprodukte war etwa die Kolberger Anstalt für Exterikultur, deren 1903 eingetragene Dachmarke Aok (Anhalt Ostseebad Kolberg) auch eine erfolgreiche Mandelkleie überwölbte. Der Apotheker Wilhelm Anhalt hatte entsprechende Kosmetika seit 1885 in Kolberg hergestellt – und etablierte sie dann dank ansprechender Werbung reichsweit. Mandelkleie war typisch für die Nutzung von Reststoffen, handelte es sich doch um ein Überbleibsel der Mandelölproduktion. Anfangs nutzte man sie als Bestandteil von Bade- und Waschmitteln, doch die auf die Haut aufgetragene Mandelmasse machte diese zart und weich, pflegte insbesondere spröde Stellen. Mandelmilch fand während des Kaiserreichs vielfältige kosmetische Anwendung, sowohl häuslich als auch in den frühen Schönheitssalons. Seifen sowie Kombinationen von Honig und Mandelmilch. Letztere wurde auch zu Hautcreme weiterverarbeitet, wobei Pariser Anbieter eine führende Marktstellung einnahmen (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 176 v. 5. April, 9).

Wichtiger wohl war der Einsatz der Mandelmilch als Emulsion in der Margarineproduktion. Die Kunstbutter wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert noch vorrangig aus Rindertalg resp. animalischem Oleomargarin hergestellt. Aus Kostengründen wurde ihr jedoch möglichst viel Pflanzenfett zugemengt. Vor der Fetthärtung war dies ein schwieriges Unterfangen, da der Schmelzpunkt der Pflanzenfette teils niedrig lag, so dass die Fertigware im Sommer häufig schmolz. Um dies in Grenzen zu halten, nutzte man verschiedene Emulsionsmittel. Allgemein gebräuchlich war Milch, die seit 1897 angebotene Vitello entstand dagegen mittels Eidotter und pasteurisierter Sahne (Johannes Frentzel, Ernährung und Volksnahrungsmittel, Leipzig 1900, 95). Bessere Emulsionen ermöglichten höhere Pflanzenfettanteile und damit billigere Margarine.

Ein wichtiger Durchbruch gelang 1898 dem schon als Erfinder des Eichelkakaos bekannten Berliner Chemiker Hugo Michaelis (1852-1933). Sein 1898 gewährtes Patent für den „Ersatz der bei der Kunstbutter- (Margarine-)Fabrikation benutzten Milch durch eine Lösung von Emulsin bzw. durch die das Emulsin enthaltende Mandelmilch“ (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 149 v. 27. Juni, 7; ebd., Nr. 252 v. 24. Oktober, 10) sollte die Produktionskosten um 10 % reduzieren (Margarine ohne jede thierische Milch, Vorwärts 1898, Nr. 279 v. 29. November, 2), zudem die Infektionsgefahr durch Rindertuberkulose praktisch ausschalten. Michaelis nutzte dabei die Erkenntnis der Nahrungsmittelchemiker, die Mandelmilch als Verfälschungsmittel für Milch ansahen, da sie die Milch „rahmartig“ machte (Joseph Weil und Robert Gnehm, Handbuch der Hygiene, Karlsbad 1878, 90). Auch schlechter Butter wurde Mandelmilch zugegeben, um ihren Geschmack zu heben (Gabriel Belleville, Die Milch und deren Verwerthung, Wien 1879, 162).

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Mandelmilch als Werbeträger für die neuartige milchfreie Sana (Dresdner Nachrichten 1900, Nr. 90 v. 2. April, 6)

Die holländische Firma van der Bergh kaufte das Patent und produzierte ab 1899 die neuartige „milchfreie“ und „mit feinster, süßer Mandelmilch“ hergestellte Margarine Sana. Zuerst als Krankenkost präsentiert, etablierte sie sich rasch auch im Massenmarkt (Ein Gang durch die Ausstellung für Krankenpflege in Berlin. II, Neue Westfälische Volks-Zeitung 1899, Nr. 132 v. 7. Juni, 5). Obwohl das neue Verfahren die hygienischen Probleme mit Tuberkelbazillen nur abschwächte, waren der niedrigere Preis und die längere Haltbarkeit wichtige Kaufargumente (Fortschritte der Medizin 18, 1900, 676; Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 26).

Die durch van der Bergh kontrollierte Sana-Gesellschaft nutzte in den Folgejahren die Mandelmilch als einen zentralen Werbeträger. Sie verkörperte Wertigkeit bei einem – im Vergleich zur Butter – Billigprodukt. Die Firma sicherte sich einen Kranz einschlägiger Warenzeichen: Mandelkrone, Mandelstern, Mandelstolz und Mandelblume ragten dabei hervor (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 138 v. 15. Juni, 20: ebd. 1912, Nr. 87 v. 10. April, 1; ebd., Nr. 101 v. 26. April, 27; ebd. 1921, Nr. 136 v. 14. Juni, 22). Ökonomisch wichtiger war jedoch die ab 1906 vermarkte Mandel-Pflanzenmargarine Sanella (Ebd. 1906, Nr. 114 v. 15. Mai, 16; ebd., Nr. 266 v. 9. November, 10).

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Verpflanzlichung der Margarine: Sanella als Pionierprodukt (Vegetarische Warte 41, 1908, Anzeigenanhang, s.p. (l.); Die Presse 1910, Nr. 51 v. 2. März, 4)

Aufgrund der nun eingesetzten Fetthärtung konnte auf tierische Fette verzichtet werden. Vorrangig aus Palmöl hergestellt, behielt die Sana GmbH den Mandelmilchzusatz jedoch bei, bewarb diesen offensiv. Parallel begann die Sana-Gesellschaft Nischenmarken mit Mandelmilch anzubieten, so etwa seit 1907 die breit beworbene koschere Pflanzenmargarine Tomor.

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Marktsegmentierung: Mandelmilchmargarine Tomor für die koschere Küche (Frankfurter Israelitisches Familienblatt 6, 1908, H. 28, 8)

Nischenwaren: Mandelmilch als Reformware für Jung und Alt

Während die Mandelmilch als Zwischenprodukt vor dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung gewann und damit ihre schwindende Stellung als erfrischendes Getränk mehr als substituieren konnte, erfolgte parallel die Etablierung der Mandelmilch als Nischenprodukt der Ernährungsreform, der Vegetarier. Für unser heutiges Verständnis von Mandelmilch als Milchersatz ist dies sehr wichtig. Denn es gilt ja nachvollziehbar zu machen, wie aus der Mandelmilch mit ihrer vieltausendjährigen Geschichte ein Ersatzmittel wurde.

Anders als heutzutage, wo Milchersatzprodukte auf eine allgemeine Reduktion des Milchkonsums und damit der Milchviehwirtschaft zielen, konnte davon im Kaiserreich nicht die Rede sein. Valide Daten fehlen, doch kann man in Preußen von ca. 133 Liter pro Kopf ausgehen (häufiger Speise als Getränk). 1900/02 lag dieser Wert in Groß- und Mittelstädten bei ca. 109 Liter (vor allem Frischmilch), sank bis 1913 aufgrund von Preissteigerungen auf ca. 103 Liter (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur, Aktuelle Ernährungs-Medizin 21, 1996, 29-39, hier 32). Milch galt zwar als hygienisch heikles Produkt, war nicht selten verfälscht, doch ein hoher Milchkonsum galt öffentlich als Ausdruck einer kräftigen, gesunden und modernen Ernährungsweise (E. Melanie Dupuis, Nature’s Perfect Food. How Milk Became America’s Drink, New York und London 2002).

Im vegetarischen Umfeld war dies deutlich anders. Dort galt es Milch zu meiden und sie zu ersetzen. Die Getränkefrage war innerhalb der Bewegung stets umstritten, zumal sie großenteils auch Alkoholika abschwor, dem Kaffee-, Kakao- und Teekonsum kritisch gegenüberstand. Bei Nüssen und Mandeln war dies anders: „Die Mandel wird hochgeschätzt für Küchenzwecke, da sie zur Herstellung verschiedener außerordentlich einladender feiner Speisen benutzt wird. Der hohe Preis verhindert ihre allgemein ausgedehnte Verwendung“ (George E. Cornforth, Nüsse, Vegetarische Warte 47, 1914, 53-54, 63-64, 80-82, hier 63).

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Frugola-Angebotspalette – inklusive Mandelmilch (Vegetarische Warte 46, 1913, Anzeigenanhang, s.p.)

Mandelmilch war ein gängiger Reformartikel, auch wenn die Konservierung vielfach unklar war. Die Angebotspalette der 1901 in Hannover gegründeten Natura-Werke lässt jedoch erahnen, dass es sich um Mandelpasten handelte, die dann mit kaltem Wasser, eventuell Süße und Gewürzen verzehrsfähig gemacht wurden. Wichtig ist, sich durch die Rhetorik der Alternativbewegung nicht irreführen zu lassen. Die recht überschaubare Gruppe von ca. 30 mittelständischen Anbietern präsentierte ihre Naturwaren in gut verpackter Form, haltbar und gewerblich verarbeitet. Die Alternativbewegung war stets Vorreiter für den Massenmarkt, ein Durchlauferhitzer für erhöhte Wertschöpfung (Spiekermann, 2018, 225-233). Konzentrate spielten dabei eine wichtige Rolle. Es überrascht daher nicht, dass auch Mandelmilch spätestens seit 1907 in Pastillenform angeboten wurde.

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Ausweitung der Konsumsphäre: Mandelmilchtabletten als Getränkegrundstoff (Vegetarische Warte 46, 1913, s.p.)

Die „konzentrierte“ Mandelmilch entsprang der Praxis des Apothekers Andreae, die Auskopplung des Geschäftes erfolgte unter Namen wir „Mandelwasser-Fabrik“ oder „Mandelmasse-Fabrik“. Die Pastillen bestanden zu zwei Dritteln aus feingeriebenen Mandel, zu einem Drittel aus Zucker (Vierteljahresschrift für praktische Pharmazie 4, 1907, 220). Sie mussten in Wasser aufgelöst werden. Anfangs hoffte der Anbieter, im Massenmarkt reüssieren zu können. Die Werbung klang ähnlich wie die für das Anregungsmittel Kola-Dallmann: Es ist gelungen, „konzentrierte Mandelmilch in Pastillenform herzustellen. […] Zur bevorstehenden Manöverzeit ebenso für Touristen dürften diese Pastillen eine höchst willkommene Neuerung sein; dieselben sind in allen Apotheken und besseren Handlungen zu haben“ (Münchner Neueste Nachrichten 1907, Nr. 379 v. 14. August, General-Anzeiger, 1). Der Erfolg war begrenzt, doch die Firma lieferte ihre Produkte über viele Jahre. Andreae entwickelte zudem neue Varianten, etwa Mandelmilchpastillen mit Pfefferminz oder mit Kakao. Unter der Schutzmarke Früchtetragender Engel entwickelte er weitere Convenienceprodukte, etwa Minzenmarzipan (Münchner Neueste Nachrichten 1908, Nr. 254 v. 13. Dezember, 3).

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Mandelmilch als Liebesgabe (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 545 v. 14. Oktober, 8)

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren Andreaes Mandelpastillen eine der zahllosen Liebesgaben, die die ausgerückten Soldaten zugesandt bekamen, um die Versorgungsprobleme an der Front zu mildern, um den Kontakt mit den Lieben aufrecht zu erhalten. Selbst das Warenhaus Hermann Tietz, Münchens größte Verkaufsstätte, verkaufte nun die Mandelmilchpastillen (Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 395 v. 20. November, 7). Diese Sonderkonjunktur währte bis zum Frühling 1915 (Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 211 v. 26. April, 4). Fast schien es, als müsse man die Vorstellung der schwachen, weiblich konnotierten Mandelmilch korrigieren. Der Publizist Maximilian Harden (1861-1927) hatte diese in nationalistischer Emphase bei Kriegsbeginn nochmals unterstrichen: „Krieg ist nicht Mädchenschulspiel, von dem Jüngferlein zu Mandelmilch und Schlagsahne eilt […]“ (Friedrich Thimme, Maximilian Harden am Pranger, Berlin 1919, 11).

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Mandelmilch als Milchersatzmittel während des Ersten Weltkrieges (Münchener Neueste Nachrichten 1915, Nr. 590 v. 18. November, 5)

Apotheker Andreaes Angebote verkörperten jedoch eher die Versorgungsnot an den Fronten und seine großen Bestände als eine männliche Aufladung der Mandelmilch als Kriegerkost. Sie standen zugleich für das rasche Scheitern des Milchersatzes Mandelmilch im Ersten Weltkrieg. Im November 1915 wurde in München nämlich – wie auch im ganzen Deutschen Reich – die Milch- und Sahneabgabe in den Cafés und Gaststätten untersagt. Viele Stammgäste reagierten empört, traten in den Konsumentenstreik (Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 584 v. 15. November, 3). Doch die Wirte reagierten. In München versuchten sie ihre Gäste mittels Mandelmilch zurückzugewinnen. Lieferant war niemand anderes als Apotheker Andreae. Der wachsende Zuspruch gab den Wirten anfangs recht. Doch nachhaltig war dies nicht: Die „von den Cafétiers als Notbehelf verwendete Mandelmilch eignet sich nach unseren Erkundigungen wohl einigermaßen für Kakao und Schokolade, beim Kaffee dagegen will sich das Publikum nicht an die Verwendung von Mandelmilch gewöhnen; diese beeinträchtigt zwar den Kaffeegeschmack nicht, aber es fehlt der ausgesprochene Milchgeschmack.“ (Zum Milchabgabeverbot in den Kaffeehäusern, Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 587 v. 17. November 3).

Zwischen Ernährungsreform und schwindender häuslicher Verwendung

Ab 1920 normalisierte sich die Versorgungslage langsam, auch die Lebensreformwirtschaft nahm die Produktion von Mandelmilch wieder auf. Das galt etwa für die Nuxo-Werke, die Mandelmus bzw. Mandel-Emulsion anboten, die dann mit Wasser verrührt und mit Honig oder Zucker gesüßt wurde. Neben das erfrischende Getränk traten neue Anwendungen: „Noch schöner wird das Getränk, wenn man heißen Apfelschalentee (aus frischen oder getrockneten Apfelschalen gekocht, die man mit kaltem Wasser aufsetzt) nimmt. Dann ist es geradezu eine Delikatesse. Aber wir lieben diese Milch auch an grünem frischen Salat, besonders Rapunzechen, Schnitt- und Pflücksalat, sowie Kopf- und römischem Salat“ (Helene Volchert-Lietz, Vegetabile Milch, Vegetarische Warte 54, 1921, 102). Offensiv wurde zudem der Zusatz von Mandelmilch zu Getreidebreien propagiert.

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Mehr als ein Milchersatz: Nuxo-Mandelmilch aus Mandelemulsion (Vegetarische Warte 62, 1929, 47)

Die Nuxo-Werke Rothfritz & Co. waren seit 1902 aktiv (Biologisch-Medizinisches Taschenjahrbuch 9, 1944, 39), die Dachmarke Nuxo seit 1907 warenrechtlich geschützt. In Konkurrenz und Seit an Seit mit der adventistischen, von John Harvey Kellogg geförderten DE-VAU-GE stellten sie vorrangig Nusspräparate her. Sie wurden ergänzt durch verschiedene vegetarische Kraftnahrungen, etwa Protose oder Brotose. Nuxo-Nussfleisch – ein virtueller Fleischersatz – oder Nussmus wurden als „vollwertig, leicht verdaulich, wohlschmeckend“ beworben, mit dem Versprechen von „Muskelkraft und Formenschönheit“ (Vegetarische Warte 47, 1914, 77). Mandelmilch passte in dieses Nischenangebot.

Sie wurde in den 1920er Jahren weiterhin als Krankengetränk empfohlen, ebenso als Säuglings- und Kindernahrung (Tagung für naturgemäße Kinderpflege in Berlin 1924, Nr. 299 v. 1. November, 39-40, hier 40). Auch als Schonkost für „alte Leute“ wurde sie empfohlen (Rohkost, Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 226 v. 21. August, 22). Häuslich hergestellte Mandelmilch galt als Bestandteil eines modernen Rohkosttages (Hedwig Staiger-Lohß, „Iß roh, dann wirst du froh!“, Das Buch für Alle 59, 1927, 648). Obwohl Mandeln und Nüsse von der nun zunehmend ernährungsrelevanten Vitaminlehre profitierten, litt ihre Verwendung doch unter dem Verdikt des Fettreichtums – trotz ihres günstigen Nährstoffprofils (Willy Weitzel, Die Bedeutung der Nüsse und Mandeln für die menschliche Ernährung, Die Volksernährung 1, 1925/26, 139-140, hier 139).

Mandelmilch war dennoch ein allseits bekanntes erfrischendes Getränk, das sich auch als „zweckmäßige Diätspeise“ (Mayerhofer und Pirquet (Hg.), 1926, 653) behauptete. Entsprechend findet sich Mandelmilch noch in wichtigen Kochbüchern der Zwischenkriegszeit (Ida Schulze, Das neue Kochbuch für die deutsche Küche, 11. erw. Aufl., Bielefeld und Leipzig s.a. [1940], 334). Doch ihre Alltagspräsenz schwand, andere Marktangebote traten an ihre Stelle.

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Häusliche Geselligkeit mit Mandelmilch, Fruchtlimonade und Gebäck (Vobachs Frauenzeitung 39, 1936, H. 32, 2)

Nutraceuticals: Neuentdeckung des Massenmarktes auf physiologischer Grundlage

Mandelmilch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch Reformhäuser vertrieben, in der Diätkost mutierte sie zur Marginalie. Kurze Moden, etwa die Anfang der 1950er Jahre beträchtliche Hochschätzung der Waerland-Kost, änderten daran nichts. Diese huldigte dem „Meisterkoch Natur“ (Arne Waerland, die 7 Pfeiler der Gesundheit, Mannheim 1953, 8), setzte auf eine laktovegetabilische Roh- und Vollwertkost, insbesondere auf den Getreidebrei Kruska. In den wichtigsten Standardkochbüchern der Nachkriegszeit – Dr. Oetkers Schulkochbuch und das DDR-Pendant „Wir kochen gut“ – findet sich kein Verweis auf Mandelmilch. Auch das Standardwerk der Vollwert-Ernährung empfahl zwar Mandeln, erwähnte die Mandelmilch aber nicht (Karl von Koerber, Thomas Männle und Claus Leitzmann, Vollwert-Ernährung, 9. überarb. Aufl., Heidelberg 1994, 155).

Die bedingte Wiederentdeckung der Mandelmilch erfolgte durch die kalifornischen Mandelproduzenten. Spanische Franziskaner brachten Mitte des 18. Jahrhunderts Mandelbäume in ihre damaligen Missions- und Kolonisationsgebiete. Die klimatischen Bedingungen waren dort ideal, später auch die Vermarktungsbedingungen. Im Jahre 2000 stammten 80% des weltweit gehandelten Mandeln aus Kalifornien (Donald E. Pszczola, Health and Functionality in a Nutshell, Food Technology 54, 2000, Nr. 2, 54-59, hier 54-55). Die Anbieter finanzierten damals zahlreiche Studien über die gesundheitlichen Wirkungen der Inhaltsstoffe von Mandeln – damals schienen Functional Foods und Nutraceuticals ein zukunftsträchtiger Megatrend zu sein. Mandeln konnten demnach Übergewicht eindämmen, unterstützten das kardiovaskuläre System, konnten Darmkrebs vermindern. Auch über positive Wirkungen auf die „Zivilisationskrankheiten“ Diabetes und Alzheimer wurde viel geschrieben, die Förderung der körperlichen Physis beschworen. Immer wieder erwähnte man das günstige Fettprofil (ungesättigte Fettsäuren) der Mandeln, ihren recht hohen Anteil fettlöslicher Vitamine, das Fehlen von Cholesterin und Laktose. Almond Breeze wurde seit den späten 1990er Jahren zu einem ersten global vermarkteten Markenartikel: „Aseptisch verpackt in 32-Unzen-Getränkekartons ist es bis zu einem Jahr haltbar. Das Produkt hat einen milden Geschmack und eignet sich für die Verwendung in Kaffee oder Müsli sowie in Backrezepturen, Desserts oder Soßen“ (Pszczola, 2000, 55; eigene Übersetzung).

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Mandelmilch im Supermarktregel 2019 (Wikipedia)

Die Folgen dieser Marketinganstrengungen sehen wir heute in unseren Supermarktregalen. Sie wurden flankiert von zahllosen Studien, die stets den Fokus auf einzelne Inhaltsstoffe der Mandelmilch richteten, die Ernährung, gar das Essen aber kaum behandelten (Linda Milo Ohr, The (Heart) Beat Goes On, Food Technology 60, 2006, Nr. 6, 87-88, 91-92, 95, hier 91-92; Dies., Health Nuts, Food Technology 60, 2006, Nr. 12, 81-82, 84, hier 81). Mandelmilch wird bis heute als Stoffträger beworben, ist es doch „reich“ an Vitamin E & Omega-3-Fettsäuren, gewinnt sie angesichts wachsender Raten von Laktoseintoleranz und Hypercholesterinämie an gesundheitlicher Bedeutung. Es gilt schließlich Märkte vorrangig in Asien zu erobern, deren Ernährungskulturen nicht auf Milch gründen. Auch in warmen Entwicklungsländern soll sie, wie auch andere Milchersatzprodukte, eine gesunde Alternative zur unzureichenden Milchversorgung bieten. Verweise auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz runden die Angebote ab.

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Die bessere Welt jetzt: Werbung für Milchersatzprodukte (Schrot & Korn 2023, Nr. 1, 20)

Wie bei vielen Functional Food, oder vielen „alternativen” Produkten, bestimmen logarithmische Kurven die Markterwartungen. Doch wie üblich bröckelten diese rasch, zerbrachen an der Realität. 2019 prognostizierte eine Marktanalyse den globalen Mandelmilchmarkt im Jahre 2025 auf 13,3 Mrd. $. Eine Anfang 2021 vorgelegte Studie reduzierte diese Summe bereits auf 12,1 Mrd. $ bis 2025. Auch diese ist nicht mehr realistisch.

Mag sein, dass ich mich irre: Doch in den Anpreisungen und den Erwartungen des Neuen, des Kommenden, höre ich stetig das Gedröhne der Frühgeschichte der Mandelmilch, ihrer rasch gebrochenen ersten Hochzeit um 1900. Mehr Realismus stände allen Akteuren gut zu Gesicht.

Uwe Spiekermann, 25. März 2023

Das Scheitern der „guten“ Bakterien: Die Acidophilusmilch und der Reformjoghurt Saya

Bakterien sind Krankheitserreger, sind Feinde des Menschen. Das war das Credo der Mikrobiologie, der Bakteriologie, als sie seit den 1870er Jahren ihren raschen Siegeszug begann. Geleitet von den Ideen und der praktischen Arbeit von Louis Pasteur (1822-1895) und Robert Koch (1843-1910) wurden zahlreiche Infektionskrankheiten auf ihre kausalen Ursachen zurückgeführt. Der Mensch war offenbar Angriffspunkt eine Mikrowelt des Schreckens, denn Bakterien konnten zu Milzbrand und Cholera, Typhus und Paratyphus, Tuberkulose und Pest, Lungenentzündungen und Keuchhusten, Scharlach und Diphterie, Fleckfieber und Ruhr, etc. führen (Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890-1933, Göttingen 2009). Immer weitere Einbruchsschneisen wurden im späten 19. Jahrhundert entdeckt, der Blick auf die bakteriellen Erreger von Tier- und Sexualkrankheiten geweitet.

Die kausale Koppelung von Bakterien und Krankheiten schuf nicht nur Klarheit, sondern erlaubte auch Gegenmaßnahmen. Impfstoffe wurden entwickelt, wappneten große Gruppen gegen die drohenden Gefahren, verhießen den Sieg über den imaginären Feind (Malte Thießen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017). Bauten, Infrastrukturen und Versorgungsketten konnten zielgerichtet umgestaltet werden. Die neue Wissenschaft der Hygiene begleitete dies, gab Ratschläge für persönliche Gefahrenminderung. Neue Sicherungssysteme verbesserten die Alltagsversorgung, die bakteriologische Milch- und Fleischbeschau waren hierbei Vorreiter. Parallel zerbrachen tradierte Vorstellungen von Krankheit und Körper, wurden die Menschen in einen neuartigen Bezug zur Natur gesetzt (Philipp Sarasin, Die Visualisierung des Feindes. Über metaphorische Technologien der frühen Bakteriologie, Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 250-276). Das Unsichtbare und Untergründige wurde bewusst, das Geschehen in Luft und Wasser, Darm und Zellen ward öffentlich thematisiert. Wichtiger noch: Zahllose neue Märkte, Dienstleistungen und Produkte entstanden, schufen Wachstum und Wohlstand durch zivile Vernichtung.

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Markt versus Bakterien: Anzeige für ein aseptisches Mundwasser 1890 (Berliner Tageblatt 1890, Nr. 163 v. 30. März, 22)

Und doch, trotz aller Erfolge trogen viele mit dem Aufstieg der Mikrobiologie verbundene Hoffnungen. Viele Krankheiten konnten mit diesem Wissen nicht erklärt und eingedämmt werden. Aseptische Reinheit konnte wiederum eine Krankheitsursache sein, wie die von sterilisierter Säuglingsmilch hervorgerufene Möller-Barlow-Krankheit schlagend belegte. Zudem blieben die Mikrowelten trotz aller Entdeckungen großenteils unbekannt, Vitamine und Viren harrten noch ihrer Entdeckung.

Joghurt oder das Aufkommen des „guten“ Bacillus bulgaricus

Zugleich zeigte sich, dass Bakterien nicht allein Feinde, sondern auch unverzichtbare Bestandteile eines gedeihlichen und gesunden Lebens waren. Dies jedenfalls war die Quintessenz weiterer, vor allem vom französisch-russischen Bakteriologen Elie Metchnikoff (1845-1916) popularisierten Forschungen (Elias Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine optimistische Philosophie, Leipzig 1904; Ders., Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung, München 1908). Er war ein gläubiger Naturwissenschaftler, der mittels genauer Kenntnis der Mikrowelten Entzündungen abmildern, Stoffwechselprozesse optimieren und das Leben verlängern wollte. Wohlbedacht konnten Bakterien auch Helfer werden, Heinzelmännchen des Wohlbefindens und der Gesundheit. Das bis heute bekannteste Beispiel hierfür war der von Metchnikoff propagierte Joghurt (Scott Podolsky, Cultural Divergence: Elie Metchnikoff’s Bacillus Bulgaricus Theraphy and His Underlying Concept of Health, Bulletin of the History of Medicine 72, 1998, 1-27).

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Lobpreis der „guten“ Bakterien (Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 2, Beibl. 2)

Joghurt, so Metchnikoff und auch andere Forscher des Pariser Institut Pasteurs, enthielt eine Bakterienart, die er nach der Herkunft des untersuchten Fermentes Bacillus bulgaricus nannte. Verzehr von Joghurt führe diese ins Körperinnere ein. Im Darm nähmen sie dann den Kampf mit den anderen, tendenziell „bösen“ Bakterien auf, hielten sie nieder. Nachschiebender Konsum verhindere „Darmfäulnis“ und Verstopfung – und all die gravierenden Folgen einer Verseuchung des Körpers. Bulgarien war dabei nicht nur Chiffre für die Weisheit des Ostens und die Herkunft des Untersuchungsmaterials. Es stand auch für eine noch intakte bäuerliche Kultur, für einen anderen, gleichsam natürlichen Lebensstil. Entsprechend langlebig waren die bulgarischen Bauern, erreichten teils 80, teils über 100 Lebensjahre. All das waren Mythen, doch sie entsprachen einer Sehnsucht im Fin de Siècle, in den von Konventionen und dem Markt geprägten Großstadtkulturen des Westens. Breite Debatten schlossen sich an, durchaus im Einklang mit positiver Eugenik. Metchnikoff jedenfalls gab einfache Antworten auf komplexe Fragen: Ein gesundes langes Leben erfordere einen entsprechenden Lebensstil. Doch im Kern bedeutete dies den Kauf und steten Verzehr eines neuen, zuvor unbekannten Produktes. Es galt nicht anders zu essen (und zu leben), sondern es galt anderes zu essen, vor allem aber zu kaufen. Den Rest erledigten die „guten“ Bakterien.

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Joghurt zwischen „Gesundheitsmilch“ und Ferment für den Hausgebrauch (Vorwärts 1912, Nr. 144 v. 23. Juni, 19 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1913, Nr. 305 v. 18. Juni, 6)

In ganz Europa war dies Auftakt für intensive Forschung einerseits, breitgefächerte Marktbildung anderseits (Uwe Spiekermann, Twentieth-Century Product Innovations in the German Food Industry, Business History Review 83, 2009, 291-314, hier 300-302). Joghurt etablierte sich als Functional Food, also als Hybrid von Nahrung einerseits, Arznei anderseits (Uwe Spiekermann, Functional Food: Zur Vorgeschichte einer „modernen” Produktgruppe, Ernährungs-Umschau 49, 2002, 182-188, hier 185-186). Ab 1908 boten zahlreiche städtische Molkereien Joghurt einem vornehmlich bürgerlichen Publikum an. Hinzu kam ein breiter Markt der Selbstbereitung: Zahlreiche Versandgeschäfte offerierten Joghurtkulturen und -brüter, Glasfläschchen und Rezepte inklusive. Joghurtprodukte folgten, etwa mit „gutem“ Joghurt vermischte Butter oder aber einschlägig angereicherte Bonbons oder Käsevarietäten. Marktdifferenzierung also, wie es sie schon bei Schokolade oder Nährsalzen gegeben hatte. Auch bei den Milchprodukten hatte es Vorläufer gegeben, sei es bei der Einführung von Kumys, sei es bei der Etablierung von Kefir. Joghurt stand eben nicht allein, sondern war Teil einer tief gefächerten Gruppe von Sauermilchprodukten, Kommerzimporte vorrangig aus Russland und dem Orient, die nun allesamt als „Kampfstoffe gegen die Darmfäulnis“ (M[ax] Düggeli, Die Mikroflora der Sauermilcharten und deren Verwendung, Schweizerische Zeitschrift für Allgemeine Pathologie und Bakteriologie 1, 1938, 273-312, hier 282) galten. Joghurt konnte sich allerdings deutlich breiter etablieren und blieb als Naturjoghurt ohne Zucker und Fruchtzubereitung Teil des urbanen Konsumangebots vor dem Ersten Weltkrieg.

Damit war keine grundlegende Änderung der Ernährungsweise verbunden. Joghurt blieb Ergänzungsspeise, vorwiegend im Sommer. Das lag zum einen an dem üblichen Wildwuchs bei den Angeboten: „Erfolgen standen Versager gegenüber. Ein objektives Urteil war um so schwerer zu erlangen, weil die verschiedensten Sauermilchen unter dem Namen Yoghurt benutzt wurden und weil Laien und Kurpfuscher sich am Kampfe beteiligten“ (Julius Kleeberg, Die therapeutische Bedeutung von Yoghurt und Kefir in der inneren Medizin, Deutsche Medizinische Wochenschrift 53, 1927, 1093-1095, hier 1093). Kontrollverfahren wurden entwickelt, Nahrungsmittelchemiker unterstrichen ihren Anspruch als Wächter des Marktes und Beschützer der Konsumenten. Einzelne Marken etablierten sich, am bekanntesten gewiss der in Lizenz in vielen Großstädten produzierte Dr. Axelrod Joghurt. Auch das Versandgeschäft konzentrierte sich nach dem kurzen Boom auf wenige verlässliche Anbieter, etwa die Münchner Firma Dr. Klebs. Joghurt stand demnach für eine erfolgreiche Nahrungsmittelinnovation, mehr nicht. Die nutritive Revolution war ausgeblieben, der Siegeszug des „Guten“ blieb verhalten.

Der Bacillus acidophilus: Ein konkurrierendes „gutes“ Bakterium

Warum siegte die Trägersubstanz der „guten“ Bakterien nun nicht? Trägheit, Kosten, Verfügbarkeit, Geschmack? All dies, gewiss. Doch im Kern bestand Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Versprechungen. Verständlich angesichts der offenkundige Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Bulgarien mochte für manche eine Bauernidylle sein, doch die Öffentlichkeit sah es als ein rückständiges Land mit einem wankelmütigen König, als Unruhestifter auf dem Balkan. Weniger bekannt, doch zunehmend wichtiger wurden bakteriologische Rückfragen an das von Metchnikoff präsentierte Wirkungskonzept.

Einerseits ergaben Dutzende von Untersuchungsreihen, dass die vorhergesagte Harmonie im Darm auch nach regelmäßigem Joghurtverzehr nicht eintrat. Anderseits häuften Bakteriologen und Kinderärzte immer genauere Kenntnisse über die menschliche Darmflora an (Forschungsüberblick bei Leo F. Rettger und Harry A. Cheplin, Treatise of the Transformation of the Intestinal Flora with special Reference to the Implantation of Bacillus Acidophilus, New Haven 1921, 1-10). Einen Durchbruch bildete schon 1900 die Entdeckung eines neuen Darmbakteriums durch den österreichischen Pädiater Ernst Moro (1874-1951) (Ueber den Bacillus acidophilus, Jahrbuch für Kinderheilkunde 52, 1900, 38-65). Er benannte es plakativ Bacillus acidophilus, also „säureliebendes Milchbazillus“. Säurefest besiedelte er den menschlichen Darm. Eine damit versehene, „geimpfte“ Milch hatte offenbar Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden (Karl Leiner, Die Bakterien als Erreger von Darmerkrankungen im Säuglingsalter, Wiener klinische Wochenschrift 13, 1900, 1200 -1204, hier 1203). Doch eine genaue Scheidung und Isolation der Bakterienstämme blieb äußerst schwierig, so dass viele Forscher weiterhin von der Identität der Bulgaricus- und Acidophilusbakterien ausgingen (P.G. Heinemann und Mary Fefferan, A Study of Bacillus Bulgaricus, Journal of Infectious Diseases 6, 1909, 304-318, insb. 317-318).

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Lactobacillus acidophilus unter dem Mikroskop sichtbar gemacht (Damm, 1929, 1129)

Die Wissenschaft folgte damit der Alltagspraxis. Sauermilch war auch in Mitteleuropa eine häuslich hergestellte Alltagsspeise. Für Dickmilch, Setzmilch oder Schlippermilch goss man ungekochte Milch in ein Glas oder eine Schale, stellte sie an die (mit Bakterien durchsetzte) Luft oder fügte einen Schuss der noch verfügbaren restlichen Dickmilch zu. Auch Buttermilch gewann um die Jahrhundertwende wachsende Bedeutung als Säuglingskost. Doch Mikrobiologie war Klassifikation, Ausdifferenzierung, Scheidekunst und Isolation. Die im Alltag undifferenziert genutzten Einzelstämme sollten in ihren jeweiligen Wirkungen verstanden werden, so wie dies auch bei Nahrungsstoffen und Pharmazeutika seit längerem üblich war.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg setzten insbesondere amerikanische Forscher auf breit angelegte Tierversuche mit kontrollierten Testdiäten. Sie legten nahe, dass Metchnikoffs optimistische Annahmen trogen, denn der Bacillus bulgaricus wurde durch die körpereigenen Verdauungssäfte sicher beseitigt, konnte per Joghurt daher nicht zur Walstatt im Darm eilen. Anders jedoch der Bacillus acidophilus. Ca. 90 % der säurefesten Kleinlebewesen überwanden die Körperbarrieren (Rettger und Cheplin, 1921). Die Frage nach den „guten“ Bakterien war damit entschieden, wenngleich noch Anfang der 1920er Jahre über deren Leistungsfähigkeit gerungen wurde (Anthony Bassler und J. Raymond Lutz: Bacillus Acidophilus. Its very limited value in intestinal disorders, Journal of the American Medical Association 79, 1922, 607-608; Nicholas Keploff und Clarence O. Cheney, Studies on the Therapeutic Effect of Bacillus Acidophilus Milk and Lactose, ebd. 79, 1922, 609-611).

Derweil arbeitete man in Yale und in anderen Orten bereits an der kommerziellen Nutzung der neuen Erkenntnisse. An die Stelle der Joghurt-Milch sollte eine Acidophilus-Milch treten. Dazu war es erforderlich, Reinkulturen zu produzieren und den Produktionsprozess ohne Luftzufuhr ablaufen zu lassen, da andernfalls Verunreinigungen mit schneller wachsenden Fremdbakterien auftreten würden. „Indess, diese Schwierigkeiten sind durch die Anwendung von geeigneten Mitteln, mit Hilfe eines sorgfältigen und fähigen Arbeiters und durch strenge Beaufsichtigung seitens eines geübten Bakteriologen erfolgreich überwunden worden“ (Leo R. Rettger, Milchsäurebakterien mit besonderer Bezugnahme auf den Bacillus Acidophilus Typus, Welt-Kongress für Milchwirtschaft, 1923. Auszug, U.S. Department of Agriculture, Abstract No. 188, 2). Deutlich erkennt man hieran die zunehmende Verwissenschaftlichung der Nahrungsmittelproduktion: Dickmilch konnte jeder herstellen, Joghurt bedurfte der Milchexperten oder der bakteriologischen Versandgeschäfte, Acidophilusmilch konnte dagegen vom Konsumenten lediglich gekauft werden, erforderte akademisch gebildete Fachleute. Doch am Ende sollte nun endlich ein angenehm mundendes, nährendes, zähflüssiges Getränk stehen, dessen Wirkung im Darm gesichert war (Leo F. Rettger, Acidophilus Milk a Therapeutic Agent and Health Drink, American Food Journal 20, 1925, Nr. 6, 301-302). In den USA setzte der Vertrieb nach mehr als vierjährigen Vorarbeiten 1925/26 ein. Das neue Produkt etablierte sich im Umfeld einer größeren Zahl bakteriologischer Institute.

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Wachsende Marktpräsenz: Werbung für Walker-Gordon Acidophilusmilch (Evening Star [Washington, DC] 1926, Nr. 29878 v. 18. Februar, 6)

Amerikanisierung? Deutsche Debatten über die Acidophilusmilch

Im Deutschen Reich war derweil nach dem verlorenen Krieg, dem Abbau und der Aufhebung der Zwangswirtschaft und der Stabilisierung der Währung langsam wieder Normalität eingetreten. Joghurt wurde weiterhin angeboten, beworben mit den bekannten Vorkriegsmetaphern: „Joghurt, diese Götterspeise, / Fördert Dich in jeder Weise, / Joghurt gibt Dir neue Kräfte, / Joghurt stärkt die Magensäfte, / Joghurt tötet die Bakterien, / Die im Darm Du hast in Serien. / Joghurt ist auch leicht verträglich! / Drum, iß Joghurt Du tagtäglich […] / Und zum Aerger Deiner Erben / Wirst Du alt – wirst lang‘ nicht sterben!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 273 v. 22. November, 9). Nun, das konnte nicht stimmen, zumindest nicht in Gänze. Doch angesichts der massiven Einbrüche, die die Milchwirtschaft während des Jahrzehnts der Ernährungskrise 1914-1923 erlitten hatte, war es nicht nur notwendig, den Milch-, Butter- und Käseabsatz wieder auf alte Höhen zu bringen. Das war volkswirtschaftlich geboten, denn die Wertschöpfung der Milchwirtschaft war damals höher als die des Bergbaus und der Stahlindustrie zusammen. Doch Zusatzangebote schienen ebenfalls erforderlich, wurden auch als eine Art Friedensdividende der umfangreichen Forschungen während der Kriegszeit verstanden: Trockenmilch, Kasein, Milchzucker sowie die Molkenverwertung gewannen an Bedeutung, neben Endprodukte traten vermehrt Zwischenprodukte (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927).

Ein vermehrter Joghurtabsatz passte zu dieser Neuakzentuierung, doch der Markt für Sauermilchangebote war begrenzt: „In landwirtschaftlichen Kreisen war zwar das Interesse für diese Milcharten sehr rege, auch eine kleine Anzahl von Konsumenten fand sich, besonders in den großen Städten. Aber das Gros der Bevölkerung blieb teilnahmslos, auch die Mehrzahl der Aerzte. Im Beginn dieses Jahrhunderts hatte Metschnikows Eifer auch in Deutschland einigen Widerhall gefunden. Allein nach wenigen Jahren war alles vergessen, und man darf sagen, daß man die wenigen Aerzte und Laien, die ihre Kuren mit Yoghurt oder Kefir betrieben, etwas mit Spott ansah“ (Julius Kleefeld und Hans Behrend, Die Nährpräparate mit besonderer Berücksichtigung der Sauermilcharten, Stuttgart 1930, 191). Das lag an typisch deutschen Problemen, etwa einer vielfach fehlenden Marktorientierung, kaum vorhandenen Marken und Gütezeichen, einer unzureichenden Standardisierung und weiterhin akuten Qualitätsproblemen. Neben diese für fast alle Agrarsektoren geltenden ökonomischen Probleme gab es bei den technisch komplexeren Milchpräparaten aber auch naturwissenschaftliche Defizite. Die vorhandenden Reinkulturen waren höchst unterschiedlich wirksam, entsprechend hatten die Produkte trotz gleichen Namens eine recht unterschiedliche Zusammensetzung, Textur und Geschmack (Julius Kleeberg, Studien über Yoghurt und Kefir. I. , Centralblatt für Bakteriologie Abt. II 68, 1926, 321-326, hier 326; Traugott Baumgärtel, Milchspezialitäten. (Joghurt, Kefir, Acidophilusmilch, Saya), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 17-21, hier 19).

Vor diesem Hintergrund bot die Acidophilusmilch eine besondere Chance. Sie stand für die pragmatische und marktnahe Forschung in den USA, dieser Siegermacht des Weltkrieges, diesem Hort des Wohlstandes und der Fülle. Kam der Joghurt aus dem Osten, so schien es nun ein noch leistungsfähigeres Angebot aus dem Westen zu geben. Kaum beachtet wurde dabei, dass Acidophilusmilch in den USA auch Folge der Prohibitionskultur war. In Mitteleuropa wurde sie jedenfalls Anfang der 1920er Jahre bereits vereinzelt in Kliniken als Kräftigungsmittel gereicht (Wiener Medizinische Wochenschrift 74, 1924, Sp. 1719). Brückenkopf einer möglichen Amerikanisierung der deutschen Milchwirtschaft wurde die Preußische Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel. Dort hatte man bereits 1924 Milchexperten versammelt, um amerikanisches Rahmeis in Deutschland einzuführen (Uwe Spiekermann, Die verfehlte Amerikanisierung. Speiseeis und Speiseisindustrie in Deutschland in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Heidrich und Sigune Kussek (Hg.), Süße Verlockung, Molfsee 2007, 31-38, hier 34). Dies scheiterte, doch davon ließ sich der Anstaltsleiter Wilhelm Henneberg (1871-1936) nicht beirren. Für ihn war die Acidophilusmilch eine Art Joghurt 2.0, ein Edel- bzw. Reformjoghurt. Am Geschmack des amerikanischen Präparates sei gewiss noch zu arbeiten, doch das Bakteriologische Institut der Forschungsanstalt würde Reinkulturen erstellen und an alle Interessenten versenden, zudem Proben des fertigen Produktes kontrollieren: „Da der ‚Reform-Yoghurt‘ (=Acidophilusmilch), der genau so einfach und auf die gleiche Weise wie der Yoghurt im kleinen oder großen Maßstab bereitet werden kann, sehr gut schmeckt, wird er sich in Deutschland leicht einführen lassen“ (Über Bacillus acidophilus und „Acidophilus-Milch“ (= Reform-Yoghurt), Molkerei-Zeitung 40, 1926, 2633-2635, hier 2635).

Das war forsch, denn Henneberg wusste gewiss von den sorgfältigen Arbeiten der amerikanischen Pioniere. Doch dem 1922 eingesetzten neuen Direktor ging es darum, einen Prozess in Gang zu setzten. Dass dies möglich war, legten aber auch erste deutsche Präparate nahe, so die bereits 1925 zur Begutachtung eingesandte „Saya-Milch“ (Bericht der Preußischen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel 1922 bis 1925, Berlin 1925, 50). Dennoch kritisierten Praktiker Hennebergs Vorpreschen, etwa der Schweizer Unternehmer J. Spohr. Er hatte 1926 im Tessin mit der Produktion von Reinkulturen begonnen und bot mit Acimil eine der ersten Marken-Acidophilusprodukte an (Schweizerisches Handelsamtblatt 44, 1926, 1265). Spohr wandte sich strikt gegen die semantischen Illusionen des Deutschen. Acidophilusmilch sei eben kein Edeljoghurt, „so wie der Bandwurm dem Regenwurm stets verschieden sein wird“ (J.L.P. Spohr, Acidophilus-Milch, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 604-605, hier 604). Wer die gravierenden Unterschiede nicht ernst nähme, der würde im Markt zwingend scheitern. Henneberg wischte solche Kritik jedoch beiseite. Neue Bezeichnungen seien erforderlich, „da sich der Laie unter Acidophilusmilch garnichts [sic!] vorstellen kann. Ferner ist es Tatsache, daß sehr viele Menschen sich ekeln, wenn sie erfahren, daß die Acidophilusmilch durch Bakterien, die aus dem Menschendarm (Exkrementen) stammen, erzeugt wird. Bei der Bezeichnung Reformjoghurt forschen die meisten nicht weiter nach, sie erfahren, daß es sich um eine neue, verbesserte Art Joghurt handelt. Herstellungsweise und Geschmack ist ja auch fast wie bei dem alten Joghurt.“ ([Wilhelm] Henneberg, Bemerkungen zu der vorstehenden Abhandlung „Acidophilus-Milch“, Molkerei-Zeitung 41, 1927, 605). Es gäbe jedenfalls „viel Interesse“ am Reform-Yoghurt, zahlreiche Molkereien hätten Reinkulturen geordert.

Acidophilusmilch im deutschen Markt

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Dr. Pohls Acidophilusmilch in Karlsruhe (Badische Presse 1927, Nr. 310 v. 7. Juli, 13)

In der Tat boten spätestens 1927 mehrere großstädtische Molkereien vorrangig im Sommer Acidophilusmilch an. Präsentiert wurde ein wissenschaftliche Präparat: Neuere amerikanische Forschungen hätten die „die Resultate älterer Forschungen ins Wanken“ gebracht, hätten einen neuen Reform- oder Edel-Yoghurt entwickelt. Hierzulande finde dieser „ebenfalls Anklang und das Interesse, welcher dieser Heilmilch, besonders von wissenschaftlicher Seite, entgegengebracht wird“ stimme optimistisch, sei Grund für einen wagenden Kauf (O[tto] Pohl, Einiges über die Acidophilusmilch und ihre Wirkung, Karlsruher Tagblatt 1927, Nr. 185 v. 7. Juli, 7). Es folgten optimistische Verallgemeinerungen: „Schon heute werden große Mengen Acidophilus-Milch in Amerika, neuerdings auch in Deutschland, besonders in Süddeutschland, hergestellt und mit bestem Heilerfolge genossen” (Otto Druckrey, Uber Lactobacillus acidophilus und Acidophilus-Milch, Phil. Diss. Leipzig, Jena 1928, 373). Doch zugleich ergaben bakteriologische Untersuchungen der neuen deutschen Präparate, dass sie „zu therapeutischen Zwecken nicht geeignet waren“ (Ebd., 392).

Die Diskrepanz war offenkundig: Bakteriologische Forschung konnte an Tiermodellen nachweisen, dass Acidophilusmilch in der Lage war, „die Darmfäulnis und ihre schädlichen Folgen zu mindern und zu einer länger andauernden Umstimmung der Darmflora beizutragen“ (Helmut Damm, Kefir, Yoghurt und Acidophilus-Milch, Apotheker-Zeitung 1929, 1127-1130, hier 1129). Doch der Markterfolg blieb aus – obwohl die Proben des „Reform-Yoghurts“ auch geschmacklich überzeugten. Es gelang den Anbietern nämlich nicht, ihr Produkt in stetig gleicher Qualität anzubieten. Die raschen Deutschen hatten die Kernaussage der amerikanischen Forscher ignoriert: „Da jedoch nur geringfügige Abweichungen bei der Herstellungsweise eine hundertprozentige Güte in Frage stellen, wird sich die Acidophilus-Milch nur schwer ihren Weg erobern können, im Gegensatz zu der bulgarischen Milch, die zu ihrer Herstellung viel weniger Aufwand an Zeit und Mühe erfordert, abgesehen davon, daß zur Ueberwachung der Entwicklungsstadien unbedingt ein Bakteriologe zugegen sein muß“ (Alfred Schreiber, Acidophilus-Milch, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1576-1577, hier 1576). Die in Kiel erstellte und vertriebene Reinkultur war offenbar regelmäßig verunreinigt. Das amüsierte die Konkurrenz, etwa den Münchener Produzenten der Dr. Axelrod Joghurt-Reinkulturen: „Als in neuerer Zeit in Amerika der Bacillus acidophilus entdeckt wurde, waren auch Fachgelehrte in Deutschland gleich der Meinung, daß dieser nun sofort den Bacillus bulgaricus verdrängen, ja den Joghurtvertrieb vollständig lahm legen können. Der Mann der Praxis lächelte hierüber. Heute darf ich sagen, daß vor allem in Deutschland der Joghurt weiter gesiegt hat. Ich will aber nicht verkennen, daß auch jene Städte, denen ich das Ferment für die Acidophilusmilch liefere, Erfolge erzielen, wenn auch bescheidene“ (Spieker, Joghurt in der Theorie und Praxis, Milchwirtschaftliche Zeitung 1929, 1505-1508, hier 1505). Doch die Qualitätsprobleme standen zugleich für die damals vielfach zu Tage tretende Unfähigkeit zahlreicher deutscher Unternehmen, die Massenproduktion hochwertiger Konsumgüter aufzunehmen.

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Wachsender Absatz von Joghurt – Ergänzungssortiment Acidophilusmilch Millacol (Der Volksfreund 1927, Nr. 171 v. 26. Juli, 9)

Die unbedachte und unzureichend vorbereitete Markteinführung der Acidophilusmilch mündete in Ablehnung seitens der Konsumenten. Der Joghurt dominierte weiter – obwohl das Narrativ der „guten“ Bakterien für dieses Produkt nicht mehr galt. Für Bakteriologen und Milchwissenschaftler war dies durchaus ein Moment der Neubesinnung. Der Staffelstab wurde nun von Vertretern der Süddeutschen Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchforschung Weihenstephan in Freising übernommen. Sie erstellten eine Reinkultur nicht nur unter bakteriologischer Aufsicht, sondern stellten sicher, dass die geimpfte Milch auch keimfrei war. Das „gute“ Acidophilus-Darmbakterium entwickelte sich nämlich langsamer als einschlägige Milchbakterien. „Ist nun die Milch nicht ganz keimfrei, so werden sich die anderen Bakterien, die darin sind, rascher als der Acidophilus entwickeln und diesen im Laufe von mehreren Umimpfungen nach wenigen Tagen vollständig unterdrücken“ (Karl J. Demeter, Ueber Acidophilus- und Joghurtmilch, Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 277 v. 14. Juni, 4).

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Produkte auf der Suche nach einem Markt (Villacher Zeitung 1928, Nr. 15 v. 18. Februar, 7)

Aufgrund verbesserter Reinkulturen bestand also durchaus eine Zukunft für die Acidophilusmilch. Die von den Amerikanern propagierten reinen Produkte wurde jedenfalls auch in gängigen Tageszeitungen gefordert – und als Vorteil der Acidophilusmilch präsentiert (Hoffmann, Der Wert der Sauermilch, Sächsische Volkszeitung 1931, Nr. 213 v. 13. September, Beilage Die praktische Hausfrau, 3). Dies wurde weiterhin begleitet vom Narrativ des Bakterienkampfes im Körperinnern: „In der Milch sind für gewöhnlich beide Gruppen von Bakterien vertreten und wenn nicht besondere Verhältnisse vorwalten, siegt auch hier das ‚Gute‘ über das ‚Böse‘. Das gute Prinzip in der Milch sind die Milchsäurebakterien, ihr Umsetzungsprodukt, die Milchsäure, ist das Gegenmittel, dem die Fäulnis- und Giftbakterien erliegen. […] Saure Milch ist also in jeder Form gut und die Milchsäurebakterien sind die Freunde der Menschen“ ([Hermann] Weigmann, Bakterien als Förderer der Gesundheit, Die Neue Zeitung 1931, Beilage der Naturarzt Nr. 2, 1). Wenn Naturwissenschaftler ihre Metaphern schleudern, dann schweigen die Kolportageautoren.

Saya: Eine deutsche Acidophilusmilch

Frischen Wind in die zwischen Kiel und Weihenstephan hin und her wogende deutsche Debatte kam jedoch auch von einem etablierten Außenseiter. Richard Wehsarg (1862-1946) hatte nach dem Medizinstudium in Gießen und München 1888 seiner Schwester Wilhelmine geholfen, eine Kuranstalt in Hobbach im bayerischen Spessart zu gründen (Heinz Linduschka, Vom »reitenden Doktor« und dem Spessart, Main-Post v. 16. November 2015). Diese scheiterte nach mehreren Jahren, doch Wehsarg etablierte sich im benachbarten Sommerau erst als Arzt, leitete dort nach der Jahrhundertwende dann sein Sanatorium, eine Nervenheilanstalt (Allgemeine Zeitung 1904, Nr. 284 v. 26. Juni, 4). Von Beginn an engagierte er sich auch für die Verbesserung der hygienischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der armen Mittelgebirgsregion. 1906 gründete der in der Heimatschutzbewegung engagierte Wehsarg die bis heute existierte Zeitschrift „Spessart“, in der Regionalgeschichte, Volkskunde, Tourismus, soziale und wirtschaftliche Themen zeittypisch gebündelt wurden. Wehsarg, der für sein Engagement den Sanitätsratstitel verliehen bekam, stand in der Tradition sozial engagierter Wissenschaftler: „Der Arzt ist gewissermaßen Pionier und muß sich an allen Lebensfragen der Bevölkerung beteiligen“ ([Richard] Wehsarg und Will, Das Ernährungsproblem im Spessart und seine wirtschaftlichen Grundlagen, Zeitschrift für Ernährung 2, 1932, 265-274, hier 265). Als solcher präsentierte er seit Mitte der 1920er Jahre eine Eigenentwicklung, die er nach einem anderen russischen Sauermilchpräparat „Saya“ nannte.

Saya war für Wehsarg ein Heilmittel, ein erprobtes Therapeutikum, Resultat ständigen bis Anfang der 1890er Jahre zurückreichenden Pröbelns (Rich[ard] Wehsarg, Moderne Milchtherapie bei Verdauungsstörungen und Tuberkulose, München 1928, 81). Wie viele andere Ärzte strebte er nach einem Alleinstellungsmerkmal, fand dieses in der Milchtherapie. Ihn störte allerdings, dass bei der Herstellung von Kefir und Joghurt „die lebendige Kraft der Rohmilch verloren“ (Ebd., 29) gehe. Saya diente erst einmal seinen Patienten, diente der Kräftigung und Erfrischung. Die Herstellung des Präparates zog sich allerdings lange hin, währte Wochen. „Das Verfahren ist nicht einfach und daher im Privathause oder in einer Krankenanstalt nicht ohne weiteres durchführbar“ (Ebd., 81). Doch am Ende stand ein lang haltbares Therapeutikum, Kern einer mittel- und langfristigen Kur. Wehsarg war vom Wert seiner Erfindung überzeugt: „Sayakuren bedeuten eine völlige Umwälzung aller seither geübten Methoden“ (Ebd., 88). Das Präparat übertraf demnach alle anderen Milchprodukte durch seinen Reichtum „an Enzymen und einer entsprechenden Flora von Verdauungsbakterien“ (Ebd.). Saya sollte stärken und prophylaktisch wirken, als Heilmittel bei Verdauungsstörungen, Verstopfung, Diabetes, Arteriosklerose, Herz- und Nierenkrankheiten, Bronchitis, Tuberkulose sowie Fieberkrankheiten dienen (Ebd., 89-92). Das war ein breites Spektrum, doch die „guten“ Enzyme und Bakterien würden es gewiss richten. Wehsarg kreiste aber nicht nur im Selbst- und Sayalob, sondern bot das Milchpräparat auch Ärzten kostenlos zum Test an.

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Richard Wehsarg und seine Gattin Maya im heimatlichen Ambiente (Main-Post 2015, Ausg. v. 16. November)

Wehsarg strebte nach Anerkennung: Zum einen betonte er, dass Saya „ein völlig neuartiges Produkt“ (Richard Wehsarg, Wesen und Bedeutung der „Saya-Milch“, Molkerei-Zeitung 43, 1929, 1989-1991, hier 1989) sei, anzusiedeln zwischen Joghurt und Kefir. Er präsentierte sich als Pionier einer neuen Arzttums, das seine Kraft aus praktischer Arbeit, nicht aus chemisch-physiologischem Wissen schöpfte. Er verstand sich als Gesundheitsführer, dem Patienten durch gleichsam natürliche Autorität übergeordnet. Entsprechend knüpfte Wehsarg nicht an die bakteriologische Debatte an, deren Details er offenkundig nicht kannte: „Ich suchte vor allem ein leicht verdauliches und trotzdem schmackhaftes Milchpräparat herzustellen, mit dessen Hilfe ich auch solchen Patienten die Nährstoffe der Milch in größeren Mengen zuführen konnte, welche die gewöhnliche Kost, Frischmilch und die bisher bekannten Sauermilchpräparate nicht vertrugen, also vor allem Kindern, alten Leuten und Magen- und Darm-Kranken. Nach langjährigen Versuchen ist mir das gelungen. Durch bestimmte Kombination von, in der Hauptsache Mikro- und Streptokokken erzielte ich unter Sauerstoffabschluß, bei langer Gärdauer und tiefer Temperatur ein Produkt, das außerordentlich leicht verdaulich ist und zu meiner eigenen Überraschung sich bei kühler Aufbewahrung monatelang unverändert hält“ (Ebd.). Doch Wehsarg wusste um seine Grenzen und übertrug die Herstellung der Reinkultur an die Süddeutsche Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft, nachdem er das Verfahren patentiert hatte.

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Kraft und Gesundheit durch trinkfertige Angebote am Milchhäuschen (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 887)

Damit veränderte sich auch die Marktpositionierung des Milchpräparates. Für Wehsarg blieb Saya ein Heilmittel, doch 1929 trat seine Bedeutung als mögliches Volksgetränk hervor. Im Einklang mit dem 1926 gegründeten Reichsmilchausschuss propagierte er sein Milchgetränk als Massengetränk, um gleichermaßen Fleisch- und Alkoholkonsum einzugrenzen. Sauermilchpräparate sollten an die Stelle der viel zu teuren Mineralwässer und Limonaden treten. Saya sei durch seinen guten Geschmack eine Alternative für Konsumenten, „die den Geschmack der Milch und anderer Milchpräparate nicht schätzen und die lange Haltbarkeit, ferner gute Bekömmlichkeit und leichte Verdaulichkeit“ (Ebd., 1990) zu würdigen wissen. Diesem Tenor folgte auch die Saya-Werbung in der Schweiz (Von der „Saya-Milch“, Der Bund 1930, Nr. 68 v. 11. Februar, 6).

Saya und andere Milchpräparate

Saya wurde beschrieben als eine „dickflockige, sauer riechende und sauer schmeckende unmittelbar trinkfertige Milch, die nach Angaben des Herstellers monatelang haltbar ist. […] Der Geschmack ist eigenartig“ (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Neben derartige Produktbeschreibungen traten nach Vertriebsbeginn chemisch-physiologische Analysen. Diese bestätigten die meisten von Wehsargs Aussagen. Saya bestand demnach aus ungekochter Vollmilch, die mit patentierten (also im Detail unbekannten) Bakterien geimpft wurden und dann bei relativ tiefen Temperaturen „eine 4wöchige spezifische Gärung […] in völlig sauerstofffreiem Milieu“ (Hermann Mohr, Milchtherapie mit dem Milchpräparat Saya, Medizinische Klinik 25, 1929, 230-231, hier 230) durchmachten. Das Milchkasein wurde dadurch größtenteils abgebaut, das Milcheiweiß in eine einfacher lösliche und leicht resorbierbare Form überführt. Anders als Kefir enthielt Saya praktisch keinen Alkohol, jedoch deutlich schmeckbare Kohlensäure (Wiener Tierärztliche Monatsschrift 17, 1930, 157).

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Visualisierung der relativen Vorteile von Saya gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt (Forster, 1929, 84)

Die in verschiedenen bayerischen Kliniken und Laboratorien durchgeführten Untersuchungen waren vergleichend angelegt, auch wenn das neue Produkt im Mittelpunkt stand. Mit den damals zunehmend verwandten Visualisierungstechniken wurden die Spezifika von Saya gebührend hervorgehoben, galt das Interesse doch einem bayerischer Spezialprodukt. Deutlich wurde die gegenüber Frischmilch, Kefir und Joghurt bessere Verdaulichkeit, außerdem die schon von Wehsarg hervorgehobene lange Haltbarkeit. Deutlicher noch waren die jeweiligen Vitamingehalte, die mittels Rattenversuchen auch gut ins Bild gesetzt werden konnten. Schon die unterschiedlichen Ausgangsmaterialien (aufgekochte versus frische Milch) waren hierfür verantwortlich (A[ugust] Forster, Ueber das Sauermilchpräparat „Saya“, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 73-74; Ders., „Saya“ ein neues Sauermilchpräparat, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1929, 83-85; Ders., Vitamingehalt der Sauermilchpräparate, Süddeutsche Molkereizeitung 50, 1929, 749-751). Das quasi vorhersehbare Ergebnis lautete denn auch, dass Saya nicht nur eine wichtiges Heilmittel, sondern vor allem ein hervorragendes Volksgetränk sei (F. Kieferle, K[arl] J. Demeter und A[ugust] Forster, „Saya“, ein neues Sauermilchpräparat, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 101-102, hier 101).

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Der Vitamingehalt von Saya als Wachstumsgarant: Links drei 8 Wochen B-vitaminfrei gefütterte Ratten, die zudem täglich 5 gr Joghurt, Kefir bzw. Saya erhielten: rechts die jeweiligen A-, C- und D-Vitamingehalte (Molkerei-Zeitung 49, 1929, 1990 (l.); Forster, 1929, 751)

Die Saya GmbH

All dies erfolgte parallel zur Gründung einer Produktions- und Vertriebsfirma für die neuartige Acidophilusmilch. Die Saya Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde am 9. April 1929 in München gegründet, die Geschäftsräume lagen oberhalb des Hauptbahnhofs in der Nymphenburgerstraße 25 (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Dort war auch der Kemptner Käseproduzent Alfred Hindelang ansässig, der für die neue Firma freudig warb (Gräfinger Zeitung 1929, Nr. 178 v. 3. August, 7). Das Stammkapital der Saya GmbH lag bei 24.000 Reichsmark, Geschäftsführer wurde der Diplomlandwirt Josef von Dall’Armi, Spross einer der führenden Münchner Familien. Der aus Trient stammende Andreas Michael Dall’Armi (1765-1842) war einst ein einflussreicher Bankier und Offizier, gilt zudem als Begründer des Münchner Oktoberfestes (Markus A. Denzel, Münchens Geld- und Kreditwesen in vormoderner Zeit, in Hans Pohl (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes München, München 2007, 1-40, hier 20-22).

Der Gegenstand der Saya GmbH war breit angelegt, war für Expansion offen, nämlich die „Herstellung und der Vertrieb von Saya-Milch und deren Nebenprodukten, die Vergebung von Lizenzen zu deren Herstellung und Verkauf und die Beteiligung an anderen Unternehmen, welche sich mit Milch oder Milchprodukten befassen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1929, Nr. 127 v. 4. Juni, 9). Es ist unklar, ob die nicht sehr dynamische Unternehmensentwicklung, bestehender Kapitalmangel oder persönliche Gründe dazu führten, dass Josef von Dall’Armi Anfang 1930 als Geschäftsführer zurücktrat und vom Frankfurter Kaufmann Otto Goll (1864-1953) ersetzt wurde (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 44 v. 21. Februar, 10). Dabei dürfte es sich um den gleichnamigen Chemiker gehandelt haben, der verschiedene Patente in die IG Farben einbrachte, wo er von 1926 bis 1930 Prokura besaß (Die Chemische Industrie 49, 1926, 227; Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 286 v. 12. August, 12 (Hoechst), ebd., 11 (Bayer); ebd., Nr. 300 v. 24. Dezember, 15 (BASF)). Golls Eintritt dürfte die Kapitalkraft der Saya GmbH deutlich verbessert haben, denn im April 1930 wurde das Stammkapital auf 66.000 Reichsmark erhöht (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 114 v. 17. Mai, 15).

Die Firma dürfte sich die Verwertungsrechte an den Wehsargschen Patenten gesichert haben. Saya wurde in zwei Varietäten hergestellt, nämlich auf Voll- und auf Magermilchbasis, verkauft als Kursaya resp. Saya. Das Herstellungsverfahren blieb unbekannt (Kleeberg und Behrendt, 1930, 259). Es wurde im November 1929 aber auch in der Schweiz patentiert (Schweizerisches Handelsamtblatt 49, 1931, 2034), der österreichische Markt vorrangig mittels Versandgeschäft beliefert (Pharmazeutische Monatshefte 10, 1929, 177). Zudem gab es eine Dependance im 130 Kilometer östlich von München gelegenen Grenzort Mauerkirchen (Tages-Post [Linz] 1929, Nr. 206 v. 6. September, 3).

Über den Umsatz und die Beschäftigten der Saya GmbH ist nichts bekannt. Die vielfach in Abstimmung mit der Firma durchgeführten wissenschaftlichen Analysen erbrachten aber weitere Details: Mikrokokken und Streptokokken beherrschten die Ausgangsflora, wobei letztere vorrangig aus Milch- bzw. Aromabakterien bestanden (Strept. kefir und Strept. citrovorus) (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102). Die Reinkultur entstand in Weihenstephan, möglichweise auch am Produktionsort Steingaden. Dieser lag 90 Kilometer südwestlich von München, nördlich vom Ammergebirge. Die Sayaproduktion selbst wurde für eine 1932 in Dresden entstandene Dissertation auf dem sächsischen Rittergut Benndorf nachmodelliert. Die Schilderung verdeutlicht, dass Wehsarg in der Tat eine sehr eigenständige Technik entwickelt hatte, die deren weitere Verbreitung sowie das Lizenzgeschäft erschwerte: Benötigt wurden ein großer Mischkessel mit Rührwerk, komprimierte Kohlensäure und eine Flaschenabfüllvorrichtung – eine zylinderförmige Glastrommel – mit direkter Verbindung zum Mischkessel. Rohmilch von ca. 18°C wurde in den Kessel gefüllt, mit der Reinkultur vermengt, Waldmeisteressenz diente als Geschmacksveredeler. Der Deckel wurde verschlossen, unter weiterem Rühren Kohlensäure eingeleitet, um einen Überdruck zu schaffen. Nach fünf Minuten Rühren öffnete man dann die Abfüllvorrichtung, die Trommel wurde gefüllt und der Inhalt dann unter Druck und automatisch abgefüllt (Käte Kunze, Über das Sauermilchpräparat Saya, Phil. Diss., Leipzig 1932, 3).

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Gesundheit aus der Spezialflasche: Verpackung von Saya (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 8. August, 4 (l.); Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 86)

„Die Saya-Flaschen sind starkwandig und ähneln in der Form der bekannten Selterswasserflasche mit Bügelverschluss, nur daß sie weithalsiger gestaltet sind; das Fassungsvermögen beträgt 3/8 Liter. Nach dem Abfüllen werden die Flaschen festverschlossen, drei bis vier Tage lang bei einer Temperatur von 15 bis 18ˆC. vorgelagert und dann vorsichtig ohne Schütteln zur Ausgärung in einen Lagerraum, dessen Temperatur auf 11ˆC. zu halten ist, gebracht. In dem Lagerraum bleiben die Flaschen sechs Wochen; vor Ablauf dieser Zeit ist die Milch nicht reif und genussfähig“ (Ebd.).

Werbung für Saya

Die mit einem Gummiring abgedichteten Saya-Flaschen waren demnach funktional, mussten sie doch hohem Druck standhalten und zugleich den eigentlichen Gärraum schützen. Doch sie waren zugleich ein wichtiger Werbeträger. Im Gegensatz zu den Mitte der 1920er Jahre zunehmend eingeführten Milcheinheitsflaschen hoben sie Saya aus dem gängigen Angebot auch von Joghurt und Kefir heraus. Die Verpackung portionierte vor, strich damit den Conveniencecharakter des unmittelbar verzehrsfähigen Produktes heraus. Das weiß-matte Fläschchen kokettierte zudem mit der wissenschaftlichen Aura von Medizinal-, Laboratoriums- und Apothekerglas. Nicht umsonst wählten auch die führenden Anbieter von Functional Food-Milchprodukten um die Jahrtausendwende ähnliche Kleinbehälter, wenngleich aus Kunststoffen. Zugleich präsentierte man das Produkt als „Gesundheitsmilch“, grenzte sich also bewusst von dem werblich beschädigten Begriff der Acidophilusmilch ab, auch wenn dieser zutreffender gewesen wäre.

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Werbung für Wehsargs Broschüre über die Milchtherapie (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 1928, Nr. 171 v. 25. Juli, 6123)

Die Saya GmbH nutzte für ihre Werbung zweitens die wissenschaftliche Aura ihres Erfinders, des Sanitätsrats Dr. Wehsarg. Das war üblich für viele meist kleinere Anbieter pharmazeutischer und kosmetischer Produkte, ebenso im breiten und rechtlich kaum geregelten Grenzgebiet zwischen Nahrungs- und Heilmitteln: Dr. Axelrod (ein Phantasietitel) und Dr. Klebs wurden bereits erwähnt, eine breite Palette von Säuglingsnährmitteln wäre zu ergänzen. Mit „Sanitätsrat Dr. Wehsarg“ war das Narrativ des Tüftlers eingebettet, des letztlich erfolgreichen Visionärs (Entgiftung durch Diät, Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4). Wehsarg hatte dieses in seinem Büchlein über die Milchtherapie unterstrichen. Hinzu kam eine gewisse öffentliche Präsenz, etwa Rundfunkvorträge über „Milch als Nahrungsmittel“ (AZ am Abend 1928, Nr. 283 v. 5. Dezember, 9). Insgesamt gelang die enge Verbindung von Wissenschaftler und wissenschaftlichem Produkt. Teils war gar die Rede von „Wehsargschen Bakterien“ (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 30).

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Werbung für die Fachleute: Produktpräsentation mit Verweis auf Ausstellungspräsenz (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 358)

Drittens war die Saya GmbH in der Anfangszeit auf mehreren landwirtschaftlichen Ausstellungen präsent. Dies diente einerseits der Popularisierung des neuen Produktes, zielte anderseits aber auf die dort breit vertretenen Molkereien: „Lizenzen zur Herstellung und zum Vertrieb von ‚Saya‘ werden für alle größeren Plätze oder Bezirke vergeben“ (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 58, 1929, 187). Zugleich profitierte das neue Produkt von der stets umfangreichen Berichterstattung über derartige Ausstellungen. Dazu richtete man einen Saya-Ausschank ein – so wie schon in den 1880er Jahren für Carne pura-Produkte und viele andere Innovationen. Journalistischer Widerhall war damit quasi garantiert: „Die Saya-Milch ist sehr kalorienreich, sie erhält einen Zusatz von frischgewonnenem Rahm, ihr Geschmack ist angenehm säuerlich“ (Neue Milchprodukte, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 13). Wichtiger aber war noch die stete Wiederholung des Narrativs vom bakteriellen Krieg im Darm, für die Funktion von Saya als „Darmreinigungsmittel“ (Will, Ein modernes Milchgetränk. Saya-Gesundheitsmilch als Heil- und Genußmittel, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 252 v. 16. September, 12). Die landwirtschaftlichen Ausstellungen boten zudem breitere Absatzchancen, war doch Joghurt zu dieser Zeit ein nicht unübliches Futtermittel für malade Ferkel und Kälber (Hoenow, Vom Joghurt, Ingolstädter Anzeiger 1928, Nr. 21 v. 26. Januar, 4). Folgerichtig wurde Saya auch als Heilmittel für streptokokkenkranke Kühe getestet (Tierärztliche Rundschau 36, 1930, 553).

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Saya als „Volksgetränk der Zukunft“ (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 149 v. 6. April, Sonderbeilage, 17)

Viertens schließlich schaltete die Saya GmbH Anzeigen in gängigen Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Erstere dienten der Marktpflege im bayerischen, letztere der im nationalen Rahmen. Diese Anzeigen waren sachlich gehalten, einzig die fett gedruckte Überschrift propagierte einen weitergehenden Anspruch. Die Anzeigen sollten über das Produkt aufklären, seinen Nutzen und Sinn kommunizieren. Dabei bediente man sich – abseits der Bezeichnung „Gesundheitsmilch“ – jedoch keiner Werbesprache im engeren Sinne, sondern listete wissenschaftliche überprüfte Argumente auf. Die in den meisten Motiven enthaltenen elf Vorzüge von Saya (Werbefachleute hätten wohl eher zu zehn geraten) waren Destillate der Wehsargschen Schriften und parallel laufender wissenschaftlicher Studien.

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Variationen der Werbung durch „wissenschaftliche“ Gutachten (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 183 v. 8 Juli, 9)

Entsprechend finden sich in den Anzeigen abseits der Saya-Flasche keine weiteren Abbildungen. Variiert wurden die appellativen Überschriften, zusätzlicher Platz wurde mit Auszügen aus Gutachten, selten auch mit Empfehlungsschreiben gefüllt. Die Saya-Anzeigen entsprachen damit eher der pharmazeutischen Fachwerbung als etwa der damals durchaus bunten, mit Zeichnungen und Strichmännchen aufgelockerten Werbung für Joghurt. Die Bakterien, die „guten“ wie die „bösen“, waren durchaus präsent, wurden jedoch umschrieben („besondere, experimentell ermittelte Stoffe“; „Darmfäulnis“). Diese Zurückhaltung mochte mit dem faktischen Scheitern der Acidophilus-Angebote 1927/28 zusammengehangen haben, auch der schon von Henneberg betonten Reserviertheit des Publikums im Umgang mit den im Kot zahlreich vorhandenen Darmbakterien. Sie war aber auch ein Reflex auf den in der 2. Hälfte der 1920er Jahre gängigen Kampf von Interessengruppen und die wachsende Bedeutung von Experten und Gegenexperten. Die lange Haltbarkeit von Saya war gewiss ein wichtiges Argument in einem Umfeld heißer Sommer und fehlender Kühlschränke. Doch Joghurtproduzenten begegneten dem mit Kritik an der „Konservenform“ des Edeljoghurts, um stattdessen frische Kost zu propagieren (Behandlung des Joghurt in der heißen Zeit, Fürstenfeldbrucker Zeitung 1928, Nr. 157 v. 11. Juli, 3).

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Propagierung als „tägliches Getränk“ (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 4)

Die Anzeigenwerbung unterstrich dennoch das Ziel, Saya als Volksgetränk für Kranke und Gesunde zu positionieren, also die Wehsargsche Welt des Sanatoriums zu durchbrechen. Saya sollte ein „tägliches Getränk“ werden, modern und auf der Höhe der Zeit. Dabei zielte man vorrangig auf Angestellte, Akademiker und bürgerliche Konsumenten. Unklar blieb, ob die vielfach hervorgehobene „Billigkeit“ des Produktes zutraf, denn Preise konnte ich leider nicht finden.

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Einfache Präsentation als Functional Food (Münchner Hochschulalmanach WS 1929-1930, München 1929, 5)

Saya als Heil- und Kurmittel

Trotz dieser Öffnung hin zum Massenmarkt blieb Saya jedoch vorrangig ein Heil- und Kurmittel. Zahlreiche Studien verwiesen wieder und wieder auf ihren hohen diätetischen Wert (Josef Gloetzl, Beiträge zur Kenntnis der stickstoffhaltigen Bestandteile, insbesondere des Reststickstoffs der Kuhmilch, Landw. Diss. Weihenstephan 1929, Berlin und Heidelberg 1930, 53). Klinische Interventionsstudien bestätigten viele der Wehsargschen Annahmen, wenngleich die Studienanlagen aus heutiger Sicht kaum überzeugend zu nennen sind. Saya wurde gut vertragen, kaum abgelehnt. Bei Kolitis, also Darmentzündungen, siegten die „guten“ Bakterien regelmäßig (Mohr, 1929). Auch bei Gastroenteritiden sowie Magengeschwüren milderte sie die Symptome (Pharmazeutische Monatshefte 11, 1930, 63). Die Hauptbedeutung schien jedoch in „einer raschen und zuverlässigen Kräftigung des Gesamtorganismus“ (Kieferle, Demeter und Forster, 1929, 102) zu liegen, also bei unspezifischen Krankheits- und Schwächezuständen wie Rekonvaleszenz, Bleichsucht oder Blutarmut. Aufgrund ihres relativ hohen Nährwerts ermöglichte Saya auch Gewichtszunahmen (H[ans] Seel, Experimentelle Untersuchungen über das Sauermilchpräparat „Saya“, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 41, 1930/31, 294-297).

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Gewichtskurven als vermeintlicher Beleg für die Wertigkeit von Saya (Seel, 1930/31, 296)

Dennoch führten die Untersuchungen auch zu kritischen Rückfragen. Leichte Besserungen etwa bei Lungentuberkulose konnten schon deshalb nicht kausal auf den Einfluss von Saya zurückgeführt werden, da die Wirkmechanismen unklar blieben (C[arl] Funck, Nutritive Allergie als Faktor in der Pathogenese initialer Lungentuberkulose, Archiv für Verdauungskrankheiten 44, 1928, 356-361, hier 360-361). Bei Tuberkulose war Saya generell wirkungslos; so jedenfalls das Ergebnis einer Studie an 81 Kindern in der Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte Scheidegg (L. Bötticher und Hans Heinrich Knüsli, Versuche mit Saya-Milch bei den verschiedenen Formen der kindlichen Tuberkulose, Zeitschrift für Tuberkulose 54, 1929, 130-131). Die damals vor allem von der sog. SHG-Diät – einer von Sauerbruch, Herrmannsdorffer und Gerson propagierten salzfreien Tuberkulosediät – geweckten Hoffnungen an eine wirksame Bekämpfung des „weißen Todes“ erwiesen sich auch im Falle von Saya als trügerisch.

Das Wehsargsche Acidophilusmilch dürfte gleichwohl von der Ende der 1920er Jahre wachsenden Bedeutung ernährungsbasierter Therapien, der Rohkostdiäten und der Vitaminlehre profitiert haben. Jedenfalls wurden Milchtherapien öffentlich häufiger empfohlen. Das galt vor allem bei Frühjahrskuren, bei denen Sauermilchpräparate – darunter auch explizit Saya-Milch – für eine „Durchspülung des ganzen Körpers und die Anregung der Nieren- und Darmtätigkeit“ (W[aldemar] Schweisheimer, Frühlingskuren mit Milch, Frauenzeitung 1931, Nr. 12 v. 4. Juni, 1) sorgen sollten. Wiederum also die helfende Symbiose von Mensch und „guten“ Bakterien. Das galt aber auch für die Schönheit der menschlichen Außenhülle. Verheißend hieß es, Milch – explizit auch Saya-Milch – „geht zum Teil in das Blut über, schafft Gesundheit, heiße Augen, frische, natürliche Gesichtsfarbe und zarte Haut“ (Hildegard G. Fritsch, Natürliche Schönheitsmittel, Internationale Frisierkunst und Schönheitspflege 20, 1932, H. 1, 18). Richard Wehsarg griff derartige Moden auf, denn er hatte Schönheitsfehler schon seit langem mittels Ernährungsumstellung und Milchtherapie behandelt. Rückgang von Gesichtspickeln und Besserung von Ekzemen waren die Folgen, ebenso regelmäßiger Stuhlgang ([Richard] Wehsarg, Hautpflege / Milch und Butter, Die Volksernährung 5, 1930, 369-370, hier 370).

Qualitätsprobleme

Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Etablierung von Saya im Massenmarkt und im klinischen Alltag waren also gut. Doch wie schon bei der Acidophilusmilch bestanden massive Qualitätsprobleme, so dass der Markenartikel nicht in stetig gleicher Güte angeboten wurde. Ausgerechnet Traugott Baumgärtel (1891-1969), damals frisch ordinierter Mikrobiologe an der TH München und später einer der wichtigsten deutschen Milchbakteriologen, erhielt im August 1928 eine Fehlcharge von Saya. Und er wetterte in heiligem Zorne gegen das „neuerdings so lebhaft propagierte Sauermilchfabrikat ‚Saya‘“ (Baumgärtel, Milchspezialitäten, hier 17): Wer „Saya-Milch etwas näher betrachtet, wird sie auf den ersten Blick für eine in Fäulnis übergegangene Flaschenmilch halten. Man erkennt deutlich die gelb-grünliche Molke, in welcher das von Gasblasen durchsetze Milcheiweiß Koagula bildet, die an der Oberfläche eine dicke Rahmdecke tragen, an welcher man mitunter mehrere Schichten wahrnehmen kann. Entsetzt wird man aber zurückfahren, wenn man die meist unter Druck stehende Flasche öffnet und den fauligen, wenn nicht jaucheartigen Geruch ihres Inhalts wahrnimmt. Nach der Gebrauchsanweisung soll der Inhalt jeder Flasche vor dem Gebrauch kräftig geschüttelt und das klümpchenhaltige Koagulum verrührt werden. Es mag sein, daß hierdurch das Präparat etwas an Appetitlichkeit gewinnt, während es seinen unangenehmen Geruch und Geschmack nach wie vor beibehält. Nach allem gehört eine starke Überwindung dazu, ein Sauermilchprodukt wie Saya zu genießen; es sei denn, daß man sich als Kranker – im festen Glauben an die Heilkraft der Arznei – an den Geruch und Geschmack der Saya gewöhnt“ (Ebd., 21). Für Baumgärtel war klar, dass Präparate, die „wegen ihres fäulnisartigen Aussehens, Geruchs und Geschmacks geradezu ekelerregend wirken“, keine Marktchancen haben, höchstens als Arznei bestehen konnten.

Baumgärtel ruderte zurück, als ihm die Kollegen aus Weihenstephan Produktionsprobleme eingestanden und ihm vorschriftsgemäß hergestellte Fläschchen lieferten. Er veröffentlichte daraufhin einen zweiten Artikel, in dem er nicht nur den säuerlich-erfrischen Geschmack lobte, sondern auch das Konzept und dessen volkswirtschaftliche und volkshygienische Bedeutung (Traugott Baumgärtel, „SAYA“ ein spezifisches Milchgärprodukt?, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 137-139). Doch die Milch war in den Brunnen gefallen, denn welcher Konsument wollte sich auf das Lotteriespiel einlassen, ein verdorbenes Produkt zu erwerben, dessen Qualität er trotz der durchsichtigen Flasche eben nicht unmittelbar einschätzen konnte. Außerdem gelang es der Saya GmbH auch in der Folgezeit nicht, die Qualitätsprobleme abzustellen: „Bei der Herstellung der Saya im Grossen ist wiederholt die unliebsame Erfahrung gemacht worden, dass das Präparat nicht haltbar war und noch vor Ablauf der Reifeperiode ungeniessbar wurde. […] Der Geschmack war scharf bitter, und der Geruch stechend scharf“ (Kunze, 1932, 23). Die damalige deutsche Unfähigkeit zur Massenproduktion komplexer Gebrauchsgüter wurde dadurch nochmals unterstrichen.

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Flaschenhygiene als Qualitätsproblem: Reinigungsmaschine von Ernst Mäurich, Dresden (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, 780)

Die Ursachen hierfür lagen allerdings nicht bei der Reinkultur, sondern offenkundig in unzureichender Hygiene. Das betraf zum einen Kessel und Abfüllanlage, vor allem jedoch Flaschen und Gummiringe. Diese mussten nämlich keimfrei sein, ansonsten setzten sich rasch die „bösen“ Bakterien durch. Das wusste jede einmachende Hausfrau, doch Saya bedurfte eines deutlich reineren Umfeldes als die gern genommene und mit Konservierungsstoffen (Zucker) versehene Marmelade. Fremdinfektionen waren auch deshalb wahrscheinlich, weil die gängigen chemischen Reinigungsmittel aufgrund ihrer Auswirkungen auf den Geschmack nicht eingesetzt werden konnten.

Praktiker und Bakteriologen empfahlen gleichermaßen regelmäßige Belehrungen der Beschäftigten, sogleich aber auch der Hausfrauen, da verdorbene Ware grundsätzlich Erkrankungen nach sich ziehen konnte (Spieker, 1929, 1506). Hefen, anaeroben Sporenbildern und vor allem die gängigen Escherichia coli-Bakterien mussten schlicht gänzlich beseitig werden, bevor Saya gelang (Karl J. Demeter, Bakteriologische und biologische Untersuchungsmethoden, in: Willibald Winkler (Hg.), Handbuch der Milchwirtschaft, Bd. 2, T. 2, Wien 1931, 397-437, hier 403). Die Qualitätsprobleme der Wehsargschen Gesundheitsmilch unterstrichen indirekt, dass die Milchwirtschaft noch einen weiten Weg hin zur aseptischen Produktion auch nur der Milchspezialitäten vor sich hatte (Tr[augott] Baumgärtel, Die Anwendung von Mikrobenreinkulturen in der Milchwirtschaft, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 81-88, hier 88).

Vom Nahrungsmittel zur Arznei

Die Saya GmbH in Liquidation wurde schließlich am 3. August 1932 gelöscht (Deutscher Reichsanzeiger 1932, Nr. 186 v, 10. August, 7). Die genauen Ursachen hierfür sind unklar, doch es lag sicherlich nicht an den „guten“ Bakterien. Wie schon die einfache Acidophilusmilch scheiterte Saya wohl an fehlender Hygiene und unausgereifter Technik. „Diese Milchart wurde […] unter dem Namen ‚Reform-Joghurt‘ in Deutschland eingeführt, ohne jedoch die Verbreitung zu finden, die ihrer Bedeutung als Heilmittel zukommt“ (Heinrich Thomsen, Joghurt, Acidophilusmilch und Kefir, Hildesheim 1951, 17). Und doch, das Scheitern von Acidophilusmilch und Saya war nicht vollständig.

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Trockenprodukte im Trend: „Acidophilus“ als Kaufanreiz für häuslich einzusetzende Sauermilchkulturen (C.V.-Zeitung 9, 1930, 495)

Ähnlich wie schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als frischer Joghurt mit einer großen Zahl von rasch entwickelten Trockenpräparaten konkurrieren musste, konnten Konsumenten seit Ende der 1920er Jahre auch auf eine Reihe von Acidophiluspräparaten zurückgreifen. Aus Nahrungsmitteln wurden Heilmittel. Der Absatz von Acidophilusmilch verlagerte sich von den Milch- und Kolonialwarenhandlungen in die Drogerien, die Apotheken und Reformhäuser. Im Deutschen Reich erweiterte Dr. Klebs sein Angebot unter der Dachmarke von Joghurt-Tabletten. In Österreich bot das Wiener Laboratorium Groll mit Acidophil gar ein Trockenprodukt an, mit dem sich jeder die „guten“ Bakterien eigenverantwortlich zuführen konnte.

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Vom Nahrungsmittel zum Pharmazeutikum: Werbung für Grolls Acidophil (Neue Freie Presse 1933, Nr. 24699 v. 18. Juni, 13)

Anfang der 1930er Jahre wuchs das Arzneimittelangebot weiter. Baktolax war eine Mischung aus Lactobacillus acidophilus, Fragulaextrakt sowie Gleit- und Quellmitteln, das Darmkontrolle und innere Harmonie verhieß (Hermann Poras, Über Baktolax, ein neues Darmregulans, Wiener Medizinische Wochenschrift 85, 1935, 47-49). Im Deutschen Reich konnte man auf die Edelweiß-Tabletten oder aber Acidophilus Dr. Düll zurückgreifen (Neue Erkenntnisse im Verdauungsvorgange, Badische Presse 1933, Nr. 13 v. 1. August, 6; Pharmazeutische Wochenschrift 72, 1939, 118). Diese pulverförmigen Präparate waren einfacher herzustellen, ihr Hersteller hatten weniger heikle Hygienefragen zu klären als die Saya GmbH und viele Molkereien. Gleichwohl konnte man Acidophilusmilch weiterhin vereinzelt zu kaufen, etwa als Angebot der Wiener Molkereien (Acidolphilusmilch (Wimo), Medizinische und Pharmazeutische Rundschau 7, 1931, Nr. 145, 10). Doch all dies ummäntelte nur das Scheitern der Acidophilusmilch und des Reformjoghurts Saya in Mitteleuropa. Erst der 1957 eingeführte „Bioghurt“ sollte dies schließlich ändern.

Uwe Spiekermann, 15. November 2021

Migetti – Ein topffertiges, biologisch vollwertiges Nährmittel der NS-Zeit

Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen herrschte Hochstimmung bei vielen NS-Ernährungsplanern. Nun endlich konnten sie auch öffentlich die Ergebnisse ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten präsentieren. Neuartige Lebensmittel würden, so tönte es, deutsche Soldaten und Arbeiter zu Höchstleistungen an Front und Heimatfront befähigen. Deutsch sollten sie sein, aus heimischen Rohstoffen gefertigt. Gesund sollten sie sein, vitaminreich und biologisch vollwertig. Und schmecken sollten sie, schon einen Abglanz der Volksgemeinschaft nach dem Kriege liefern, die Wohlstand für alle Volksgenossen verhieß.

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Anzeige und Blick in die Produktionsstätte von Migetti 1939 (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, Nr. 19, III (l); ebd., 304)

Eines dieser neuartigen Lebensmittel war Migetti, ein heute vergessenes Nährmittel, das 1939 jedoch die Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaft und Wirtschaft manifestierte: Es war ein „ausschließlich aus einheimischen Rohstoffen hergestelltes Erzeugnis, das als sättigende Hauptkost dienen kann, im weitgehenden Umfang biologisch vollwertig ist und in seinen Eigenschaften etwa Eierteigwaren, Reis oder Sago ähnlich ist“ (Ein neues Nahrungsmittel für die Gemeinschaftsverpflegung, Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 11, 1939, 304). Migetti wurde mit modernen, eigens konstruierten Maschinen vollautomatisch produziert, hygienische Verpackungen behüteten die kleinen Körner. Stolz präsentierte man vor allem das stoffliche Profil: „‚Migetti‘ verhütet Mangelkrankheiten, es enthält genügend Eiweiß und Mineralsalze und die Ausnutzung der Kohlehydrate ist besonders gut, weil es gleichzeitig die für den Kohlehydratstoffwechsel notwendigen Vitamine enthält. ‚Migetti‘ weist keinerlei chemische Zusätze auf und ist auch nicht künstlich gefärbt. […] ‚Migetti‘ verbindet also den Nährwert der Ackererzeugnisse mit dem biologischen Werten der Milch.“ Und mehr noch: Das neue Nährmittel war kochfertig, ein Convenienceprodukt, das man nur zwei, drei Minuten kochen musste, um es anschließend zu genießen. Deliziös und ingeniös, fürwahr.

Molke als verwertbarer Reststoff

Doch die nationalsozialistische Wissenselite zielte nicht nur auf Volksgenossenbeglückung. Migetti war Teil einer breiten Forschungs- und Entwicklungsinitiative, deren Ziel „Nahrungsfreiheit“ war. Seit Ende des Ersten Weltkrieges, verstärkt noch seit der Weltwirtschaftskrise flossen hohe staatliche Fördersummen in die Agrar- und Ernährungswirtschaft, in Laboratorien und die Absatzketten. Einerseits galt es die Abhängigkeit von devisenträchtigen Importen zu minimieren, anderseits den Anbau und die Verarbeitung heimischer Agrarprodukte zu steigern. Nur so schien ein neuerliches Fiasko wie im Ersten Weltkrieg vermeidbar, als die fehlende Nahrung ein Grund für die Niederlage der Mittelmächte gewesen war. „Nahrungsfreiheit“ war Teil eines machtpolitischen Revisionismus, der den neuerlichen Krieg stets mit einschloss.

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Molke als Verwertungsaufgabe. Die deutsche Milchproduktion 1936 in der Stoffbilanz ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Tafel I)

Das wohl wichtigste Arbeitsfeld war dabei die Milchwirtschaft. Sie war ein Kernelement vor allem der Versorgung mit Fett und Eiweiß, besaß zugleich aber beträchtliches Rationalisierungspotenzial. Trinkmilch-, Butter- und Käseproduktion befanden sich in einem langwierigen Modernisierungsprozess, der nicht allein auf erhöhte Warenmengen zielte, sondern auch auf qualitativ hochwertige und neuartige Lebensmittel. Wichtiger noch für die Ernährungsplaner in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft war dabei, bisher unerschlossene Nahrungsreserven durch neue Technik verfügbar zu machen. Spätestens seit Mitte der 1930er Jahre begann ein durch den Vierjahresplan nochmals intensivierter Ausgriff auf vermeintliche „Restprodukte“, insbesondere auf Magermilch und Molke, das viel beschworene letzte, nur unzureichend verwertete Drittel der Milch.

Bei Molke handelt es sich um die flüssigen, grünlich-gelben Rückstände der Käseverarbeitung. Sie war praktisch fettfrei, jedoch vitamin-, mineralstoff- und milchzuckerhaltig. Schätzungen gingen von jährlich etwa zwei Milliarden Tonnen Molke aus – genaue statistische Daten fehlten –, die vornehmlich an Schweine verfüttert wurden. Mindestens 500 Millionen Tonnen Molke wurden jedoch ungenutzt weggekippt. Diese Nahrungsressource galt es zu nutzen. Seit 1937, also vergleichsweise spät, wurde die Forschung intensiviert, teils im Rahmen von Ressortforschung, teils dezentral in den seit dem Reichsmilchgesetz 1930 rasch zunehmenden leistungsfähigen regionalen Molkereien und Milchhöfen. Molke wurde vom Rest- zum Wertstoff und seit 1939 öffentlich bewirtschaftet. 1943 erfolgten umfassende Begriffsdefinitionen für Molkeprodukte, die damit in das allgemeine Lebensmittelrecht integriert wurden. Der Höhe- und Wendepunkt dieser Förderung war erst das Jahr 1947, in dem sowohl in der amerikanischen (Stuttgarter Plan) als auch der britischen (Hamburger Plan) Besatzungszone die Produktion von Molkenprodukten hohe Priorität besaß (G. v. Flotow, Marktordnung und Bewirtschaftung von Molke, Süddeutsche Molkerei-Zeitung 69, 1948, 82-84).

Zehn Jahre zuvor mussten erst einmal Grundlagen geschaffen werden. Die Forschung konzentrierte sich anfangs auf die Trocknung der Molke. Sie war technisch nicht sonderlich komplex, ergab nach Zumischung von Kleie und Getreideresten auch ein von Schweinen und Geflügel akzeptiertes Futter (G. Schwarz, Milchverarbeitung und -verwertung, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit. Arbeitsbericht 1934 bis 1937 des Forschungsdienstes, Neudamm und Berlin 1938, 612-615, hier 614). Doch der Preis der Molke war niedrig – etwa ein Pfennig pro Liter –, die Trocknungskosten dagegen hoch – zwischen ein und zwei Pfennig (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 224). Hinzu kamen Transportkosten, aber auch eine generelle Geringschätzung der Molke als Wertstoff. Die Resonanz auf Anordnungen der Hauptvereinigung der deutschen Milchwirtschaft blieb daher vor dem Krieg begrenzt (Alle Molke muß verwertet werden!, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 41).

Das änderte sich nach Kriegsbeginn: 1943 war die nutzbare Molkenmenge aufgrund besserer Erfassung und erhöhter (Hart-)Käseproduktion auf ca. vier Milliarden Kilogramm gestiegen. Mehr als drei Viertel davon wurden verfüttert, ein Zehntel ungenutzt entsorgt. Doch derweil wurden mehr als zehn Prozent der Molke zu Lebensmitteln weiterverarbeitet (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 377). Den NS-Ernährungsfachleuten gelang durch die Produktion von Zwischenprodukten beträchtlich höhere Wertschöpfung: Molkeneiweißpaste gab es nun, karamellisierte Molkenpaste, Molken-Sirup und Paga F., fortifizierte Roggen-Vollkornflocken und sog. Schwabenbissen. Auch Molkenmarmelade und Kunsthonig mit Molkenzusatz entstanden, ferner Invertzucker und Hefeextrakt auf Molkenbasis (Ziegelmayer, 1947, 387; Walter Müller, Neuere Wege der Molkenverwertung, Deutsche Molkerei-Zeitung 61, 1940, 183-184). Die Verbraucher nahmen diese breite Palette innovativer Produkte kaum wahr, aßen sie jedoch als Bestandteil von Schmelzkäse, Süß- und Backwaren, Wurst und Suppenpräparaten oder in Kantinen. Migetti war eine vermeintlich zukunftsweisende Ausnahme, ein Bannerträger für Molkenaustauschprodukte im Massenmarkt.

Was war Migetti?

Migetti war ein sprechender Name, ein Silbenwort, zusammengesetzt aus Mi[lch] und [Spa]g[h]etti. Es bestand aus Molke, Weizen- und Kartoffelstärkemehl. Es sollte küchentechnisch den damals zumeist aus Italien importierten Reis ersetzten, ebenso die angesichts geringer Eierbestände vielfach knappen Eiernudeln. Auch Weizengrieß war in der NS-Mangelökonomie nicht mehr allseits verfügbar. Migetti galt im Ausland als eine nennenswerte, ja wichtige Nahrungsinnovation. Anfangs wurde es dort vor allem als Kartoffelprodukt angesehen – wobei wahrscheinlich Erinnerungen an das K-Brot des Ersten Weltkrieges mitschwangen (Foreign Crops and Markets 40, 1940, Nr. 22 v. 1. Juni, 725). Ab 1941 galt es als ein reisähnliches Austauschprodukt aus Kartoffeln und Molke (William A. Hamor, Industrial Research in 1940. An Account of Advances in Foreign Countries, News Edition 19, 1941, 57-72, hier 65; Karl Brandt, How Europe Is Fighting Famine, Foreign Affairs 19, 1941, 806-817, hier 809). Nach der deutschen Kriegserklärung an die USA galten “Migettis” schließlich als Produkt aus Milchreststoffen (H.W. Singer, The German War Economy-VIII, The Economic Journal 53, 1943, Nr. 209, 121-139, hier 132).

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Präsentation des Neuen 1940: Migetti-Rezeptbuch und Migetti-Frühstück (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81)

Das neue Produkt war körnig und reisähnlich. Am Anfang standen Ideen des Erlanger Ingenieurs Dr. A. Werner über einen Reisersatz aus Milch und Kartoffeln. Dies wäre technisch möglich gewesen, war jedoch zu teuer (M[ax] E[rwin] Schulz, Molkenverwertung durch neuartige Erzeugnisse Beispiel: Migetti, Die Milchwissenschaft 1, 1946, 55-66; ebd. 2, 1947, 77-83, hier 56). Der aus Italien als Teil von Kompensationsgeschäften importierte Reis war nämlich deutlich billiger als etwa Haferflocken oder das aus Kartoffelstärke hergestellte Sago. Anders als heutige Reissorten musste er jedoch lange gekocht werden. Hier lag die Marktchance für Migetti, dessen Kochzeit auch deutlich unter der gängiger Eierteigwaren lag. Anders als der 1939 eingeführte und aus Magermilch gewonnene Eier-Austauschstoff Milei konnte es nicht als Preisbrecher agieren. Die politisch gewünschte Verwertung von Molke und Kartoffelstärke verteuerte das Produkt weiter.

Der Ingenieur und Milchwissenschaftler Max Erwin Schulz (1905-1982) hätte Migetti neben Molke und Kartoffeln daher lieber auch Hühnereiweiß beigefügt, um so die Textur an Eiernudeln anzunähern. Während einer Kriegstagung hieß es 1942: „Auch bei dem Produkt ‚Migetti‘ ist man im Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, daß nicht der Wunsch, bestimmte Rohstoffe zu verwerten, sehr in den Vordergrund gestellt werden darf. Wir können z. B. bei diesem Produkt den Wunsch Kartoffelstärkemehl zu nehmen oder sehr viel Molke unterzubringen, nicht so stark berücksichtigen, daß dadurch die küchentechnischen Eigenschaften des Produktes leiden“ (M[ax Erwin] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Das helle, gelblich scheinende Migetti hatte eine krosse Textur, schmeckte als Röstgut keksartig, konnte im Notfall auch trocken gegessen werden. Migetti war neutral, besaß keinen wirklichen Eigengeschmack. Dadurch war es in der Küche breit einsetzbar, als Einlage in Suppen und Eintöpfen, als Sättigungsbeilage, zu süßen Nach- und salzigen Vorspeisen. Hinzu kam ein beträchtlicher Gehalt an B-Vitaminen und Mineralstoffen, zudem mit 400 Kilokalorien pro 100 Gramm ein auch gegenüber anderen Nährmitteln überdurchschnittlicher Nährwert. Migetti war demnach ein gehaltvolles Convenienceprodukt, eine Allzweckwaffe in der Küche, ein Aushelfer eigenen Rechts.

Vollautomatische Produktion

Migetti wurde auf Anregung des Oberkommandos des Heeres entwickelt, sollte ursprünglich der Versorgung der Truppe dienen. Die konzeptionelle Arbeit erfolgte durch einen kleinen Stab von Chemikern und Ingenieuren der Bayerischen Milchversorgung GmbH in Nürnberg. Diese war 1930 aus der Gemeinnützigen Milchversorgungsgesellschaft der Städte Nürnberg-Fürth hervorgegangen, dem neuen finanzkräftigen Verbund gehörte auch die Stadt Regensburg an (Deutscher Reichsanzeiger 193, Nr. 89 v. 15. April, 15). Der im gleichen Jahr in Nürnberg entstandene Milchhof war nicht nur Monument des Neuen Bauens (das man vor mehr als einem Jahrzehnt DDR-mäßig zerstört hat), sondern bündelte auch fortgeschrittene Technik.

04_Die Milchwissenschaft_01_1946_p57_Migetti_Produktionsstaette_Fließfertigung_Fuerth

Maschinelle Fließfertigung: Schemazeichnung des Fürther Migetti-Betriebes (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 57)

Migetti war das Ergebnis umfangreicher Tests in kleinem Maßstab. Im Nürnberger Laboratorium wurde lange um das stoffliche Profil und die Zusammensetzung des Produktes gerungen. Der detaillierte Bericht des späteren Patenteinhabers Max Erwin Schulz ist ein treffliches Zeugnis für die Gestaltungsfreude von Männern im Kittel. Ihr Ziel war Kochfestigkeit und eine rasche Zubereitung. Das Migetti-Korn musste kompakt sein, durfte sich beim Kochen nicht auflösen, zudem eine gute Quellfähigkeit besitzen. Zugleich aber galt es einerseits möglichst viel Molke und auch erhebliche Mengen Kartoffeln zu nutzen, um die deutsche Stoffbilanz zu verbessern. Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Vorgaben, Marktgängigkeit und wehrwirtschaftlichen Aspekten. Migetti bestand anfangs aus 10 Prozent Molkepulver, 20 Prozent Kartoffelstärkemehl und 70 Prozent Weizenmehl. Später nahm der Molkeanteil weiter zu, wurde Weizen- teils durch Roggenmehl ersetzt. Die Laboratoriumsversuche wurden anschließend großtechnisch umgesetzt, dazu ein eigenes neues Werk in Fürth gegründet. Dort erst legten die Experten Form und Gewicht des einzelnen Kornes fest, ebenso die Farbe. Zugleich wurden verschiedene Maschinen getestet und zu einer automatischen Fließfertigung verbunden. Aus wehrwirtschaftlichen Gründen sollte „das Produkt mit geringem Personalaufwand und auch mit weiblichen Arbeitskräften hergestellt werden“ (Nahrungsmittel, 1939).

05_Die Milchwissenschaft_01_1946_p60_Migetti_Produktionsstaette_Fuerth_Trocknung_Schilde_Presse_Lihotzky

Kernelemente der Migetti-Produktion: Drei-Bandtrockner (l.) und Lihotzky-Presse (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 60)

Die eingedickte Molke wurde im Migetti-Stammwerk mit den Getreide- und Kartoffelzutaten gemischt und zu einem Teig vermengt. Er wurde anschließend in einem von der Plattlinger Firma Emil Lihotzky neu konstruierten Schleuder-Mischer zu Körnern gepresst. Die derart geformten Teigkörper kamen anschließend in große Trockner mit mehreren Laufbändern, in denen sie bei über 100 °C getrocknet wurden. Zwei Typen kamen dabei zum Einsatz, nämlich einerseits der oben gezeigte Bandtrockner der Hersfelder Firma Benno Schilde oder aber – in anderen Betriebsstätten – ein noch größerer Trockner der Hamburger Firma Lange. Der Schilde-Trockner war schneller und benötigte weniger Heizmaterial, der Lange-Trockner konnte größere Chargen bedienen, war im Betrieb jedoch teurer. Ersterer entwickelte sich zur Standardausrüstung der sich damals rasch entwickelnden deutschen Trocknungsindustrie, die vorrangig Obst, Gemüse und Kartoffeln für Wehrmacht und Großküchen produzierte (E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 48-59).

06_Die Milchwissenschaft_01_1946_p65_ebd_p60_Migetti_Produktionsstaette_Fuerth_Verpackung_Frauenarbeit_Muehle

Verpackungsraum (l.) und Mühle für deformierte Körner (Die Milchwissenschaft 1, 1946, 65 (l.) und 60)

Die getrockneten Körner kamen anschließend in einen Verpackungsraum, wo sie mittels Maschinen zumeist in Verkaufsverpackungen von 250 Gramm gefüllt und anschließend von vornehmlich weiblichen Arbeitskräften versandfertig gemacht wurden. Deformierte Körner (etwa fünf Prozent der Produktion) wurden zuvor auf Rüttelbändern ausgesondert, gelangten in eine Mühle, wo sie vermahlen und dann neuerlich verarbeitet wurden. Misch- und Formmaschinen waren vorgelagert, die Einzelkomponenten der Produktion über Transportbänder miteinander vernetzt. Ein Betriebslaboratorium kontrollierte die Qualität des Produktes. Die Herstellung der Migetti-Körner dauerte zwischen ein und zwei Stunden. Sie erfolgte vollautomatisch und erlaubte einen Mehrschichtenbetrieb. Die Migetti-Fabrik repräsentierte das damals im Deutschen Reich technisch Machbare.

Auch aus diesem Grunde wandten sich Produzenten und die durch Presseanweisungen an die Hand genommenen Journalisten gegen die Bezeichnung „Ersatzstoff“: „Migetti ist vielmehr nahrhafter als Reis und darf als biologisch vollwertiges Nahrungsmittel bezeichnet werden. Es enthält z. B. natürlichen Kalk in zehnfacher Menge wie Reis. Außerdem enthält es Vitamin B und, was sehr wesentlich ist, die Nährsalze der Milch, Bestandteile, die Reis nicht aufweist. Die Kalorienzahl von Migetti ist 400, von Reis 356 und von Sago 335. Auch hiermit ist die Vollwertigkeit dieses neuen Dauernahrungsmittels bewiesen, das sich infolge seiner überaus günstigen Zusammensetzung besonders auch als Kranken- und Kinderkost eignet“ (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7).

Der Weg in den Massenmarkt

Migetti war nicht nur Molkenträger, Halbfertigprodukt und Wegbereiter einer vollautomatischen Lebensmittelproduktion. Es war zugleich Quintessenz vieler hauswirtschaftlicher Debatten über eine neue schnelle Küche, durch die Hausfrauen ihre Kernarbeit rascher erledigen, durch die sie zugleich aber mehr Zeit für Familie und Muße gewinnen konnten. Dies stand sehr wohl im Einklang mit der offiziellen Beschwörung der Frau als Mutter und Mannesgefährtin, mochte es auch nicht mehr den emanzipatorischen Touch der großenteils sozialdemokratisch und feministisch geprägten Debatten der Weimarer Zeit haben. Zwischen 1933 und 1939 war die Zahl weiblicher Erwerbstätiger um ca. drei Millionen angestiegen, bei Kriegsbeginn gingen mehr als die Hälfte aller erwerbsfähigen Frauen einer gewerblichen Arbeit nach. Migetti erleichterte ihre weiterhin zu erbringende Kocharbeit: Reis musste mehr als eine Stunde, Migetti nur wenige Minuten kochen (Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Doch das neue Halbfertiggericht forderte Hausfrauen zugleich, denn sie mussten tradierte Herdarbeit in Frage stellen und die Zeitökonomik der Speisenproduktion ändern. Es ging um Veränderungen gemäß den im Migetti materialisierten Vorgaben einer männlichen Expertenkultur.

07_Haushalt_1941_p3_Migetti_Auflauf_Milei

Migetti-Auflauf unter Zusatz auch von Milei G und W, gebacken und serviert in dicken Tassen (Zeitgemäßer Haushalt, hg. v.d. Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Elektrowirtschaft 1941, Brief März-April, 3)

Migetti war anfangs markenfrei, was nicht zuletzt den auch durch äußerst geringe Rationen diskriminierten Juden begrenzte Alternativen bot (Else R. Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, 3. Aufl., Köln und Frankfurt a.M. 1979, 82; zur Rationierung s. Gustavo Corni und Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 555-573). Die Produktwerbung besaß 1939/40 eine nur geringe Bedeutung, konzentrierte sich vorrangig auf Prospekte und Rezeptbroschüren. Diese waren sorgfältig gestaltet, um jeden Gedanken an ein Ersatzmittel zu vermeiden (Walter Ernst Schmidt, Aus dem Werbeschaffen des Kriegsjahres 1940, Werben und Verkaufen 24, 1940, 361, hier 363). Werbung sollte Vertrauen schaffen, entsprechend wurden anfangs die Nährkraft und die biologische Vollwertigkeit hervorgehoben: „Allein hieraus wird die Hausfrau erkennen, daß ihr dieses neue Nahrungsmittel aus altvertrauten Rohstoffen ein schützenswerter Helfer in der Küche sein kann“ (Neue Helfer der Hausfrau, Der Führer 1940, Nr. 289 v. 20. Oktober, 10). Zugleich aber zogen die Werbetreibenden immer auch die Karte nationalen Stolzes. Der Kauf von Migetti war Dienst am Volke, war ein konsumtives Plebiszit für „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsbereitschaft (Die Industrie der Molke, ebd. 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Die Konsumenten wurden dergestalt eingebunden in die vom Regime in Gang gesetzte „Revolutionierung der Milchwirtschaft“, in die Schaffung zusätzlicher Nährwerte (Straßburger Neueste Nachrichten. Ausgabe Nord 1942, Nr. 216 v. 7. August, 4).

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Die Hausfrau umgarnen – mit Humor und Schaukochen (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 81 (l.); Salzburger Volksblatt 1942, Nr. 50 v. 28. Februar, 10)

Die frühe Werbung zielte daher auf Einsichtshandeln, auf rationales Verhalten im Sinne des völkischen Ganzen. Über die Rezeptbücher, über Schaukochen und hauswirtschaftliche Beratung wurden die Hausfrauen an eine neue Art der Zubereitung herangeführt, die ihre Rolle als gleichberechtigte Akteurin auf biologisch vorbestimmtem Felde gleichsam adelte. Analog zu den Befehlen im Militär erhielten auch die Hauswalterinnen klare Grundregeln: „1. Migetti wird vor der Anwendung nicht gewaschen oder gewässert. 2. Es verlangt auch keine sonstige Vorbehandlung: Migetti ist kochfertig. 3. Es wird stets in die kochende Flüssigkeit eingerührt. 4. Migetti nur kurz auf Stufe 3 ankochen und auf Stufe 0 garquellen lassen. 5. Wird eine möglichst feste, körnige Form der Speise gewünscht, so lässt man Migetti 2 bis 3 Minuten aus Stufe 3 kochen und anschließend etwa 3 Minuten quellen. 6. Für weichere Formen der Speisen wird die Kochzeit entsprechend verlängert, bei Milch- und Buttermilchsuppen bis zu 20 Minuten. 7. Migetti ist sparsam im Gebrauch, aber nie zuviel nehmen. Man rechnet bei 1 l Flüssigkeit für Suppen etwa 80 g, für puddingartige Breie etwa 200 g, für feste Breie 300 g“ (Zeitgemäßer Küchenzettel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 88-90, hier 89). Das Ergebnis folgsamen Tuns war eine breite Palette wohlschmeckender Speisen. Die Hausfrauen verlängerten so den Gestaltungstraum der Experten in die Praxis.

Im Januar 1941 wurde Migetti dann kartenpflichtig, „um den Verbrauch der Erzeugung anzupassen und eine geordnete Belieferung der Verbraucher sicherzustellen“ (Steigende Migetti-Erzeugung, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1941, Nr. 23 v. 30. Juni, 8). Das Austauschprodukt trat dadurch an die Stelle von Teigwaren (Deutscher Reichsanzeiger 1941, Nr. 40 v. 17. Januar, 1). Ab Mai 1941 konnte Migetti auch anstelle von Getreidenährmitteln gekauft werden (Anzeiger für Zobten am Berge und Umgegend 1941, Nr. 54 v. 9. Mai, 4). Diese Regelung wurde später auch auf Selbstversorger ausgeweitet. All das spiegelt nicht nur die wachsenden Schwierigkeiten des Regimes, die Grundversorgung sicherzustellen. Sie bedeutete auch eine kontinuierliche Marktpräsenz des neuen Produktes – und damit einen gedämpften Wettbewerb um den Käufer.

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Migetti im Spiegel einer Konsumentenbefragung der Gesellschaft für Konsumforschung (Die Milchwissenschaft 2, 1947, 80)

Zwei Folgen traten besonders hervor: Erstens wurden Kundenwünsche und -präferenzen mittels einer Konsumentenbefragung in Nürnberg, München und Berlin genauer erkundet. Die von der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung durchgeführte Untersuchung ergab recht positive Urteile: Zwei Drittel der Befragten bewerteten Migetti-Speisen als gut oder gar ausgezeichnet, nur ein Achtel lehnte es ab. Überraschenderweise wurden Migetti-Suppen schlechter bewertet als Süßspeisen und andere Hauptgerichte. Von einem notgedrungen konsumierten Ersatzmittel konnte also nicht die Rede sein, stattdessen überzeugte die Verwendungsbreite: Das neue Produkt stand für Vielfalt und Flexibilität, war just deshalb besonders kriegsgeeignet. In Walter Kempowskis Roman „Tadellöser und Wolff“ hieß es daher zutreffend: „Migetti-Suppe. Nudelartig, gar nicht so schlecht. Aus Milchsubstanzen hergestellt“ (München 1975, 367).

Zweitens wurde die Werbung nun intensiviert und professionalisiert. Migetti mutierte dabei zum Milei-Erzeugnis, der Milei-Aufklärungsdienst übernahm die kommerzielle Kommunikation, gab ihr Struktur und Wiedererkennungswert. Aus dem Molkenaustauschprodukt wurde ein reichsweit bekannter Markenartikel. Zuvor hatte die Nürnberger Bayerische Milchversorgung GmbH begonnen, das seit Ende 1938 hergestellte Eier-Austauschprodukt Milei auch im eigenen Milchhof zu produzieren. Vertragspartner war die 1940 gegründete Stuttgarter Milei GmbH, deren Anfänge auf eine Kooperation der Württembergischen Milchversorgung AG mit den Vierjahresplanbehörden zurückzuführen war. Die Firma verwertete Patentrechte, errichtete ein über die Grenzen des Großdeutschen Reiches hinausweisendes Produktions- und Vertriebsnetz, zudem eigene Produktionsstätten im besetzten und auszubeutenden Ausland.

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Migetti als Trittbrettfahrer der Markenartikelwerbung für Milei (Wiener Modenzeitung 1941, H. 159, 24 (l.); Vorarlberger Landbote 1941, Nr. 67 v. 23. August, 8)

Auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, ehe Migetti eine unverwechselbare Werbegestalt erhielt, nahm der Bekanntheitsgrad von Migetti schon 1941 deutlich zu (Rainer Horbelt und Sonja Spindler, Tante Linas Kriegskochbuch. Erlebnisse, Kochrezepte, Dokumente. Rezepte einer ungewöhnlichen Frau, in schlechten Zeiten zu überleben, Frankfurt a.M. 1982, 67). Milei-Anzeigen verwiesen nun auch auf das körnige Nährmittel, koppelten es an die relative Erfolgsgeschichte des reichsweit erfolgreichen Mileis. Der Milei-Aufklärungsdienst integrierte Migetti in seiner Vortrags- und Kochveranstaltungen. Auch das Deutsche Frauenwerk erläuterte den zielgenauen Umgang mit dem Halbfertiggericht. Eine kleine Broschüre wurde teils versandt, teils über Einzelhändler in hoher Auflage verteilt (Gut essen und satt werden durch das Migetti Nährgericht, Stuttgart 1941). Insgesamt wurden damals 10-15 Prozent des Großhandelsumsatzes für Werbung ausgegeben und bewusst auf einen Gewinn verzichtet (Schulz, 1947, 79). Der würde schon kommen, nach der erfolgreichen Etablierung als Markenartikel. Der Krieg war eine Chance, der Markt kaum ausgeschöpft: „Bereits im Jahre 1940 wurden 1 Mill. kg Migetti erzeugt; im Jahre 1941 will man die Produktion auf 5 Mill. kg steigern und im Jahre 1942 10 Mill. kg erreichen“ (Was ist Migetti?, Sächsische Volkszeitung 1941, Nr. 39 v. 14. Februar, 6). Den Molken-Austauschstoff präsentierte man seither selbstbewusst als ein angereichertes Lebensmittel, das dem Verbraucher die biologischen Wertstoffe der Milch neuartig erschließe (Kennen Sie Migetti?, Neueste Zeitung – Innsbruck 1941, Nr. 91 v. 12. Mai, 4).

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Migetti im Wettbewerb der Nährmittel (Riesaer Tageblatt 1942, Nr. 126 v. 2. Juni, 4)

Materialauf­wand, Entwicklungs- und Investitionskosten erlaubten kein Billigpro­dukt, doch der vergleichsweise hohe Preis schien mit Blick auf die Brennstoffersparnis, den Geschmack und die Anwendungsbreite mehr als gerechtfertigt. Spätestens ab 1942 spiegelte sich dies auch in den Rezeptspalten gängiger Tages- und Wochenzeitungen (vgl. etwa Frau und Mutter 1942, H. 9, 14; Neues Wiener Tagblatt – Wochenausgabe 1942, Nr. 16, 11; ebd., Nr. 28, 11; ebd. Nr. 30, 11; ebd., Nr. 43, 11). Zu dieser Zeit hatte der Milei-Aufklärungsdienst Migetti eine eigenständige werbliche Präsenz geschaffen. Der Slogan „Die kräftige Nährkost“ spielte nach den Rationenkürzungen 1942 mit dem hohen Kaloriengehalt des Nähmittels. Migetti wurde zudem als eiweißhaltige Ergänzung der zunehmend gängigen Kartoffel- und Gemüsespeisen und -eintöpfe beworben. Damit war es im Massenmarkt angekommen.

12_Nationalsozialistischer Volksdienst_09_1942_p130_Kunst fuer Alle_57_1941-42_Nr11-12_Anhang_p6_Wiener Illustrierte_61_1942_Nr43_p8_Migetti_Eintopf_Fleischlos_Kriegsernaehrung

Appelle nach den Rationenkürzungen 1942 (Nationalsozialistischer Volksdienst 9, 1942, 130 (l.); Die Kunst für Alle 57, 1941/42, Nr. 11/12, Anhang, 6; Wiener Illustrierte 61, 1942, Nr. 43, 8 (r.))

Migetti in der Gemeinschaftsverpflegung

Migetti war anfangs nicht als Massenartikel konzipiert worden, sondern als eine Nahrungsinnovation für die Wehrmacht – nicht umsonst kamen Anregungen und Unterstützungen aus dem Oberkommando des Heeres (Karl-Dieter Frombach, Gemeinschaftsverpflegung im Wandel der Zeit, Med. Diss. FU Berlin, Berlin s.a. [1961], 47). Migetti war nährstark, relativ einfach zu transportieren und hielt mehrere Jahre. Noch Anfang 1941 hieß es in der gelenkten NS-Presse stolz: „Das Nährmittel ‚Migetti‘ hat sich bei unserer Truppe gut eingeführt“ (Am Ufer des weißen Stromes, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 67 v. 8. März, 7) und sich „namentlich bei der Truppe gut bewährt“ („Rohstoff“ Milch aus nächster Nähe, Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14797 v. 26. März, 8). Auch Großküchen gehörten zu den umworbenen Abnehmern. Migetti gab es 1939/40 in Krankenhäusern, Hotelküchen, aber auch in den Speisewagen der Mitropa (Neues reisähnliches Nahrungsmittel aus Kartoffeln, Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 7). Gerade für Gaststätten schien die „vollwertige Teigware“ bestens geeignet (Jederzeit ein ‚tulli‘ Papperl auch für dich, Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 155 v. 5. Juni, 6).

13_Zeitschrift fuer Volksernaehrung_17_1942_H09_pIII_ebd_H10_pII_Migetti_Gemeinschaftsverpflegung_Gaststaetten_Feldkuechengericht_Milei_Austauschstoffe

Migetti in Gaststätten als Nachklang der Milei-Werbung (Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, H. 9, III (l.); ebd., H. 10, II)

Der Geschäftsbericht der Bayerische Milchversorgung GmbH vermerkte, dass 1940 mehr als die Hälfte der knapp 1000 erzeugten Tonnen „an Großküchen“ ging (Migetti-Erzeugung, 1941). Mochte der „Migetti-Macher“ Max Erwin Schulz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Blick auf die weitere Produktion auch behaupten, dass Migetti „für Massenverpflegung ungeeignet“ (Schulz, 1947, 80) gewesen sei, da es für die Nahrungsinnovation keinen Platz zwischen Sago und Teigwaren gegeben habe, so belegt die Produktwerbung eine doppelte Präsenz im Massenmarkt und in der Massenverpflegung bis zum Kriegsende. Migetti half beim massiven Ausbau der Außer-Haus-Verpflegung, an der Anfang 1944 schätzungsweise 26 Millionen Personen teilnahmen (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363). Einschlägige Rezepte finden sich in den Fachzeitschriften und Ratgebern dieser Zeit (Alexander Novotny, Küchenzettel zur Gemeinschaftsverpflegung in Lager- und Werksküchen. Eine Sammlung von 250 erprobten Kochanweisungen, Berlin 1942). Wichtiger noch: 1943/44 wurde für Migetti mit neuen Werbeanzeigen und einem lachenden Kochtopf umfassend beworben.

14_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H12_Beil_p4_ebd_H16_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Geschwindigkeit und Effizienz in der Großküche (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 12, Beil., 4; ebd., H. 16, Beil., 4)

Die Anzeigen hoben einerseits die betrieblichen Vorteile des Halbfertigproduktes hervor, nämlich seine rasche Zubereitung und die dadurch mögliche Brennstoffeinsparung. Zugleich aber trat der relative hohe Nährwert von Migetti in den Vordergrund. Gute Verdaulichkeit und ein „nährgesundes“ Stoffprofil waren überzeugende Argumente, um die Hürde des höheren Preises zu überspringen. Angesichts zunehmend fader und monotoner Abfütterung wurde auch der „gute“ Geschmack hervorgehoben. Im totalen Krieg konnte Migetti den Verpflegungstrott ansatzweise durchbrechen: „Wenn man auch berücksichtigen muß, daß Migetti ein Kunst- und kein Naturprodukt ist, das in seinen biologischen Werten dem Vollgetreide nicht gleichgestellt werden kann, so ist im Augenblick jede Abwechslung zu begrüßen“ (Josef Hierz, Fleisch- und fleischlose Speisen aus Migetti, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 181). Die gängigen Rezepte entsprachen dabei den Anregungen für die Einzelhaushalte. Migetti diente vornehmlich als Einlage für Suppen und Eintöpfe, als Nährfüller für Hammelfleisch- und Krautgerichte, erschien als Migetti-Fleisch, -knödel, -schnitte oder -Auflauf, als Tunke sowie süße Nachspeise.

15_Gemeinschaftsverpflegung_1944_H05_Beil_p3_ebd_H01_Beil_p4_Migetti_Austauschstoffe_Eintopf_Halbfertiggericht

Gute Stimmung und Geschmack trotz Kriegsanstrengung (Gemeinschaftsverpflegung 1944, H. 5, Beil., 3 (l.); ebd., H. 1, Beil., 4)

Produktionswerte und Produktionsnetzwerk

Anders als bei Milei sind die Informationen über die Produktion von Migetti rudimentär und nicht widerspruchsfrei. Eine archivalische Überlieferung fehlt. Das Migetti-Werk in Fürth lag in der Ottostraße 24, nicht weit vom Hauptbahnhof (Bayerisches Landes-Adreßbuch für Industrie, Handel u. Gewerbe 21, 1942/43, 383). Regionale Adressbücher verweisen zudem auf ein „Migetti-Werk“ resp. eine „Nährmittelfabrik“ auf dem Gelände des Nürnberger Milchhofes (Ebd., 412), doch dürfte es sich hierbei lediglich um eine Firmendependance gehandelt haben. Heimatgeschichtliche und touristische Literatur verweist auf zwei andere Standorte in Regionen mit überdurchschnittlicher Käseproduktion. Das galt einmal für die Lötzener Milchwerke, die nach der Eroberung Polens 1939/40 neue Produktionsstätten hochzogen (Max Meyhöfer, Der Kreis Lötzen. Ein ostpreussisches Heimatbuch, Würzburg 1961, 218). Falls Sie Schwierigkeiten bei der Vorortung haben: Es handelte sich um eine ostpreußische Mittelstadt, ungefähr 80 Kilometer südlich von Insterburg gelegen, dem Geburtsort meiner Mutter. Zudem gab es wahrscheinlich ein Migetti-Werk im pommerschen Pasewalk (Fritz R. Barran, Städte-Atlas Pommern, Leer 1989, 86). Die Untersuchungen britischer Offiziere zur Stuttgarter Milei GmbH enthalten keine detaillierten Informationen über das Produktions- und Vertriebsnetzwerk von Migetti, das lediglich als Teil des Milei-Sortiments erwähnt wurde (Bate-Smith et al., 1946, 92). Neben Stuttgart besuchten die neuen Herren auch den schleswig-holsteinischen Produktionsort Lütjenburg – und es erscheint nicht abwegig, dass in der dortigen Käseregion ebenfalls Migetti hergestellt wurde.

16_Uwe Spiekermann_Migetti_Fuerth_Molke_Produktion_Statistik_Schaubild

Produktion von Migetti in Fürth und dabei verarbeitete Molke 1941-1944 (eigene Darstellung auf Grundlage von Schulz, 1947, 82)

Migetti sollte anfangs in drei Fabriken produziert werden, anvisiert waren etwa 6000 Tonnen pro Jahr (Schulz, 1947, 80). Dieses Ziel ist auch nicht ansatzweise erreicht worden, Folge insbesondere des elaborierten Maschinenparks, der aufgrund von Lieferengpässen nicht einfach multipliziert werden konnte (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Der 1940er Geschäftsbericht der Bayerischen Milchversorgung GmbH gab für 1939 eine Produktionsmenge von lediglich 98 Tonnen an, die 1940 dann auf 952 Tonnen gesteigert werden konnte (Migetti-Erzeugung, 1941). Schulz präsentierte für den Zeitraum 1941 bis 1944 die oben graphisch aufbereiteten Produktionszahlen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Daten allein die Fürther Produktion wiedergab: 2000 Tonnen pro Jahr, das entsprach rein rechnerisch etwa acht Millionen Migetti-Packungen – und auch der von Schulz angegebenen Kapazität einer Migetti-Fabrik (Schulz, 1947, 80). Die britischen Untersuchungen dokumentierten anhand der Milei-Unterlagen für 1943 und 1944 allerdings einen etwa doppelt so hohen Ausstoß, nämlich 3.926,785 Tonnen Migetti mit einem Produktionswert von ca. einer Million RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Das bedeutete jährlich jeweils 16 Millionen Packungen.

Migetti als blitzschnelle Nährspeise im totalen Krieg

Von 1943 an wurde die Migetti-Werbung zunehmend in die allgemeine Kriegspropaganda eingebunden. Den Anfang machten von Februar bis Mai 1943 vier Motive, in denen das Kochen von Migetti-Speisen mit Warnungen vor „Kohlenklau“ verbunden wurde. Dabei handelte es sich um die wohl präsenteste deutsche Werbefigur der Kriegszeit, denn Unternehmen und Staat zogen hier an einem Strang. Migetti konnte dabei seine Vorteile als kochfertige Halbfertigware ausspielen.

17_Kleine Volks-Zeitung_1943_03_10_Nr069_p8_Wiener Illustrierte_16_1943_Nr14_p8_Migetti_Kohlenklau_Milei_Kochen_Brennstoff

Kohlenklau lauert auch in der Küche (Kleine Volks-Zeitung 1943, Nr. 69 v. 10. März, 8 (l.); Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 14, 8)

Damals lenkte der Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung durch Broschüren und hauswirtschaftliche Beratung die Konsumenten, kooperierte aber zugleich eng mit der Konsumgüterindustrie. Seine „Ratschläge für die (und aus der) Wirtschaftspraxis“ beeinflussten die Werbung im Sinne des NS-Regimes und der Prioritäten der Kriegswirtschaft. Kohlenklau war Teil der Ende 1942 einsetzenden Sparsamkeitswerbung des Reichspropaganda- und des Reichsrüstungsministeriums (Alfred Heizel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124). Es wurde rasch „eine volkstümliche Figur“, die dem schlechten Gewissen über Energieverschwendung ein Gesicht gab, ohne Missetäter einseitig zu denunzieren (Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. Hg. u. eingel. v. Heinz Boberach, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718).

18_Der Fuehrer_1943_03_18_Nr077_p6_ebd_03_07_Nr066_p6_Migetti_Kohlenklau_Sparsamkeit_Kochen

Sparsamkeit bei der Migetti-Werbung – hier ohne Abbildungen (Der Führer 1943, Nr. 77 v. 18. März, 6 (l.); ebd., Nr. 66 v. 7. März, 6)

Auch Migetti wurde damals „volkstümlich“, der lachende Kochtopf oder die wandernde Möhre brachten etwas Freude in den zunehmend entbehrungsreichen Alltag. Die Marke wurde auch durch ein großes M gestärkt – Reminiszenzen an Fritz Langs Filmklassiker dürften keine Rolle gespielt haben. Die Verwendung von Großbuchstaben war damals eine nicht ungewöhnliche Marketingstrategie, deckte sich etwa mit der kommerziellen Präsenz von Vivil-Pfefferminz oder Hanewacker-Kautabak.

Migetti-Werbung wurde 1943/44 intensiv geschaltet, zunehmend in Form reiner Textanzeigen. Im Gegensatz zur Milei-Werbung setzte man auf eine überschaubare Zahl von Themen und Motiven, die dann jedoch wieder und wieder erschienen. Dies entsprach der recht eindeutigen Textur des körnigen Nährmittels und seiner Haupteigenschaften. Dem Halbfertiggericht war eine engführende Nutzung schon einprogrammiert. Ein pulverförmiger Eier-Austauschstoff besaß demgegenüber breitere werbliche Möglichkeiten.

19_Litzmannstaedter Zeitung_1943_09_23_Nr266_p6_Offenburger Tagblatt_1943_11_06_Nr261_p8_ebd_10_21_Nr247_p4_Migetti_Molke_Austauschstoff_Kriegsernaehrung_Moehre_Suppenschuessel_Fruehstueck

Verbreiterung der Einsatzpalette (Litzmannstädter Zeitung 1943, Nr. 266 v. 23. September, 6; Offenburger Tagblatt 1943, Nr. 261 v. 6. November, 8; ebd., Nr. 247 v. 21. Oktober, 4)

Migettis prägende Eigenschaften waren eine sehr kurze Kochzeit, geringe Brennstoffkosten, ein hoher Nährwert, biologische Vollwertigkeit sowie eine breite küchentechnische Einsatzmöglichkeiten. Die Werbung setzte diese in eingängige Adjektive um, nämlich „kochfertig“, „topffertig“, „nährstark“, „nachhaltig“, „zeitschnell“, „küchenschnell“, „geschmacksneutral“ und „körpernützlich“. Zugleich bettete sie diese in kleine Geschichten ein, vornehmlich Alltagssituationen: „10 vor Zwölf … kam man da noch rasch ein schmackhaftes Essen herstellen. Ja! Man nimmt einfach das topffertige Migetti dazu“ (Badische Presse 1944, Nr. 31 v. 7. Februar, 4). „Blitzschnell läßt sich mit Migetti ein schmackhaftes, sättigendes Essen herstellen. Migetti ist bekanntlich topffertig: Es braucht also nicht gewaschen, nicht gewässert werden“ (Ebd., Nr. 127 v. 2. Juni, 4).

Daneben arbeiteten die Werbetexter mit Aufmerksamkeit erheischenden Plattitüden, die gleichsam als Auftakt eines Gesprächs, eines Ratschlages dienten: „Am Waschtag kann die Hausfrau keine große Kocharbeit brauchen“ (Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 264 v. 10. November, 1240). „Geschwindigkeit in der Küche liebt jede Hausfrau“ (Badische Presse 1944, Nr. 25 v. 31. Januar, 4). Doch wenn der Platz begrenzt war, so konnte man den Topf auch direkt schlagen, die Produktinformation kurz und knackig an die Frau bringen. Dann hieß es etwa: „Migetti zeichnet sich durch sehr kurze Kochzeit aus. […] Daran muß man denken… dann wird Migetti kornglatt“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 94 v. 4. April, 6). Oder: „Migetti immer kräftig würzen… das muß man sich merken“ (Ebd., Nr. 226 v. 17. August, 6).

20_Das Kleine Volksblatt_1943_05_31_Nr149_p7_Offenburger Tageblatt_1943_11_04_Nr259_p4_Migetti_Hausfrau_Kochbuch_Rezepte_Milei_Austauschprodukt_Halbfertigprodukt

Anleitung zum präzisen Kochen: Direkt oder per Kochbüchlein (Das Kleine Volks-Blatt 1943, Nr. 149 v. 31. Mai, 7 (l.); Offenburger Tageblatt 1943, Nr. 259 v. 4. November, 4)

Die wachsende Enge, ja Not der späten Kriegszeit spiegelte sich in den Anzeigen 1943/44 nur indirekt. Doch Forderungen wurden gestellt. Präzision und Wertarbeit waren nicht auf die Werkbank und die Fabrikhalle zu begrenzen, auch die Hausfrau hatte ihren Mann zu stehen: „Über den Daumen peilen? Also nach Gutdünken Migetti zu Mahlzeiten verwenden? Das ist grundfalsch, das ist verschwenderisch. Migetti wird immer löffelgenau abgemessen“ (Der Führer 1945, Nr. 18 v. 22. Januar, 4). Dem diente die während den Herbst 1943 andauernde Werbung für das Migetti-Kochbüchlein, das eine siebenstellige Auflage hatte (Schulz, 1947, 80).

Die Kriegssituation gebar zugleich zunehmend striktere Appelle an Sparsamkeit, an ein Haushalten im Sinne der völkischen Kampfgemeinschaft. Migetti-Wasser durfte nicht geschüttet werden, denn zum Andicken von Suppen und Saucen – sorry, Tunken – war es noch gut zu verwenden (Badische Presse 1943, Nr. 273 v. 20. November, 8). Auch ohne Kohlenklau war klar, dass Migetti keinesfalls auf großer Flamme unbeaufsichtigt kochen gelassen werden durfte (Hakenkreuzbanner 1944, Nr. 261 v. 3. Oktober, 4). Und auch der Abfall war Volkseigentum, denn die papierene, mit sieben Migetti-Rezepten bedruckte Verpackung durfte nicht verheizt, sondern musste der Altpapiersammlung zugeführt werden (Ebd., Nr. 259 v. 30. September, 4). Und doch, die Texte waren nicht immer ernst und betroffen, sondern ließen auch Platz für ein kleines Schmunzeln. Etwa, wenn der Topos der „Vollkost“ zu „Migetti, die topffertige Volkskost“ mutierte (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 6). Oder wenn es um Männer ging: „Männer kochen nicht gern. Wenn es aber sein muß, reicht ihr Kochtalent völlig, um sich eine nahrhafte Migetti-Suppe zu bereiten. […] Kochkünstler sehen sich die Rezepte auf der Migetti-Packung an; nach ihnen können sie noch manches schmackhafte Migetti-Essen bereiten!“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 235 v. 26. August, 6) Ja, die Lacher waren damals dünn gesät…

Die Anzeigen wurden bis mindestens Mitte 1944 von elaborierteren Kochrezepten für Frauen und kontinuierlichen Kochvorführungen begleitet (Der Führer-Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort fanden die Nöte des Alltags durchaus Widerhall, wurden in der aufmunternden gemeinsamen Tat jedoch gebrochen: „Es ist heute für die Hausfrau eine rechte Schwierigkeit, ihrer hungrigen Familie ein schmackhaftes Mittagessen auf den Tisch zu stellen; es kostet der Speisezettel immer viel Kopfzerbrechen. Jetzt, wie wäre es einmal mit: Topinambur-Gemüse mit Roggengrützrand? Weckauflauf mit Aepfel? Süße Milchsuppe mit Migetti oder Gänseblümchen-Salat? Die Zubereitung? Diese erfahren Sie bei einem Schaukochen des Deutschen Frauenwerkes“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1944, Nr. 101 v. 12. April, 3).

21_Bozner Tagblatt_1944_05_19_Nr116_p3_ebd_05_31_Nr125_p6_Migetti_Fruehstueck_Kaltschale_Austauschstoffe_Molke

Fleischlos und gesund – Migetti-Varianten (Bozner Tagblatt 1944, Nr. 116 v. 19. Mai, 3; ebd., Nr. 125 v. 31. Mai, 6)

Die letzte neu gestaltete Migetti-Werbekampagne lief dann von November 1944 bis Januar 1945. Der Angriff der Roten Armee im Baltikum hatte massive Flüchtlingsbewegungen zur Folge, eine ausreichende Lebensmittelversorgung war langfristig nicht mehr möglich (Corni und Gies, 1997, 575-582). Werbeabbildungen waren damals unterbunden, die Zeitungen zu kleinen, meist vierseitigen Ausgaben auf braunem Papier geschrumpft. Die Anzeigen spiegelten die recht ausweglose Situation, gaben aber zugleich Ratschläge, um daraus das Beste zu machen. Dabei halfen die beiden Haupteigenschaften des Nährmittels, nämlich einerseits seine geringe Zubereitungszeit, anderseits sein Nährwert. Ob alle satt werden, war ab Herbst 1944 wahrlich eine berechtigte Frage, denn die Rationen fielen beträchtlich. Doch mit Migetti ließ sich ein „dünnes Süpplein […] mühelos verbessern“ (Völkischer Beobachter 1945, Nr. 9 v. 11. Januar, 3). Das gelang in höchstens fünfzehn Minuten. Wichtig blieben weiterhin Präzision und Sparsamkeit. Migetti musste „löffelgenau“ verwendet und durfte nicht zu lange gekocht werden (Ebd. 1944, Nr. 322 v. 28. November).

22_Völkischer Beobachter_1944_12_05_Nr328_p3_ebd_12_23_Nr344_p3_Migetti_Eintopf_Kriegsernaehrung_Molke_Austauschstoffe

Küchenwinke vor Kriegsende (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 328 v. 5. Dezember, 3 (l.); ebd., Nr. 344 v. 23. Dezember, 3)

Strenge wurde mit Empathie verbunden, Ausdruck einer Volksgemeinschaft im Endkampf. Selbst Männer mussten nun an den Herd: „Schicke mir, bitte, Migetti – so schrieb er kürzlich an seine evakuierte Frau. Weshalb? Weil er herausgefunden hatte, wie zeitschnell und schmackhaft eine Migetti-Gericht herzustellen ist. Die Migetti-Rezeptpackung gibt sieben verschiedene Kochanweisungen, […]. Das geht eins, zwei, drei… und im Handumdrehen ist ein gutes Migetti-Gericht fertig“ (Ebd., Nr. 313 v. 17. November, 3). Auch für die Familie konnte er sorgen, war seine Gattin abwesend: „Vater bindet sich die Küchenschürze um und dringt in die Geheimnisse der Kochkunst ein. Er greift zur Migetti-Rezeptpackung, studiert Rezept 7… und 15 Minuten später steht eine sommerliche Migetti-Kaltschale vor ihm“ (Ebd., Nr. 310 v. 14. November, 3). Migetti erlaubte virile Selbstbehauptung auch bei Ausfall der Massenverpflegung: „Herr Meyer wälzt das Kochbuch – er ist Strohwitwer. Er sucht emsig nach einem Migetti-Rezept“ (Ebd. 1945, Nr. 15 v. 18. Januar, 3). All das erfolgte mit Augenzwinkern. Jede dieser Kleinanzeigen war Ausdruck einer sorgenden Diktatur, in der man zum nächsten Tag, zur nächsten Bewährungsprobe geleitet wurde: Davon geht die Welt nicht unter, / Sieht man manchmal auch grau. / Einmal wird sie wieder bunter, / Einmal wird sie wieder himmelblau…

Ausklang

Heutzutage ist Molke ein wichtiges Nebenprodukt der seit der NS-Zeit immens gewachsenen „deutschen“ Käseindustrie. Die Herstellung von Molkepulver sichert die Rentabilität dieser im globalen Wettbewerb führenden Branche. 2019 wurden hierzulande 310.000 Tonnen Molkepulver hergestellt. Es dient nicht allein als Viehfutter, sondern ist ein unverzichtbares Zwischenprodukt der Lebensmittelindustrie, zumal von Babynahrung (Corina Jantke, Richard Riester und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2020, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2021, 121-152, hier 147). Die grün-gelbe Molke hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem „grünen“ alternativen Getränk gemausert, das frisch oder aber in Form von Molkeprodukten von fast zwei Millionen Bundesbürgern einmal pro Woche oder aber häufiger konsumiert wird (Statista 2021). Und doch führt keine gerade Linie von den NS-Ernährungsplanern in die alternativen und gesundheitsbewussten Zirkel.

Molkenprodukte waren während der Besatzungszeit stark gefragt, die Forschung lief weiter auf Hochtouren und es fehlte auch nicht an politischer Unterstützung (Georg Willfang und Erika Willfang, Molken- und Abzeugverwertung für die Ernährungswirtschaft […], Süddeutsche Molkerei-Zeitung 68, 1947, 154-158). Neben Migetti wurden vor allem zahlreiche Molkegetränke entwickelt (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 547). Nicht nur das 1941 präsentierte Molkenbier fand Käufer, sondern insbesondere Lactrone, ein Erfrischungsgetränk auf Molkengrundlage, dass ebenfalls von der Bayerische Milchversorgung GmbH verkauft wurde. Es hielt sich einige Jahre und war eines der nicht wenigen Beispiele für Kontinuitäten zwischen der NS-Forschung und der vermeintlichen Wirtschaftswunderzeit (Uwe Spiekermann, A Consumer Society Shaped by War: The German Experience 1935-1955, in: Hartmut Berghoff, Jan Logemann und Felix Römer (Hg.), The Consumer on the Home Front […], Oxford und New York 2017, 301-312, hier 306-308).

Doch trotz eines breiten Angebotes insbesondere von Molkegetränken scheiterten die neuen Produkte auf Molkebasis (A. Hesse, Molkengetränke […], Zeitschrift für die Untersuchung der Lebensmittel 88, 1948, 499-506). Das gilt auch für die meisten damals in anderen Staaten entwickelten Angebote, waren die deutschen Bemühungen doch Teil internationaler Forschung und Produktentwicklung (V.H. Holsinger, L.P. Posati und E.D. BeVilbiss, Whey Beverages: A Review, Journal of Dairy Sciences 57, 1974, 849-859). Das galt auch für Migetti, das auf der Agrarmesse 1949 in Frankfurt a.M. noch hoffnungsfroh präsentiert wurde (Deutsche Milchhandels- und Feinkost-Zeitung 71, 1949, 399). Trotz steten Kaufs und im Gegensatz zu den relativ guten Kundenbewertungen galt es – wie in zeitgenössischen Analysen – als überholtes NS-Austauschprodukt (Fascism in Action. A Documented Study and Analysis of Fascism in Europe, Washington 1947, 161). Für Migetti war kein Platz mehr als die Rationierung auslief und Nährmittel wieder in ausreichender Zahl und Güte verfügbar waren.

Und doch war Migetti mehr als eine leidlich erfolgreiche Episode im recht langen Kapitel der Austauschstoffe der NS-Zeit. Es setzte vielmehr erstens Standards für die Entwicklung und Herstellung neuer Konsumgüter, stand zweitens für die stofflich und technologisch dominierte und von Konsumenteninteressen weitgehend unberührte Forschungs- und Entwicklungsarbeit der Lebensmittelindustrie und belegt drittens eine ideologisch letztlich indifferente Arbeit der Ernährungsfachleute. Max Erwin Schulz wurde 1950 Institutsdirektor und Professor an der Bundesversuchs- und Forschungsanstalt für Milchwissenschaft in Kiel – und war dann eine prägende Figur bei der grundstürzenden Rationalisierung der Milchwirtschaft in der Bundesrepublik und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Uwe Spiekermann, 1. Mai 2021

Waffe an der NS-Heimatfront – Der Eier-Austauschstoff Milei

Wer im Lebensmittelhandel einkauft, weiß häufig nicht, was er schließlich mit nach Hause trägt. Gewiss, Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch jedes Produkt ist doppelbödig, stofflich und rechtlich definiert, Ausdruck eines vorgelagerten Expertenwissens, ohne das der Einkauf gar nicht möglich wäre. Das hat große Vorteile, erlaubt der Mehrzahl sich dem Leben abseits der Mühen um die tägliche Kost zu widmen. Doch es führt zu Unschärfen, zu Ängsten um Selbstbestimmung und Gesundheit, um Identität und moralische Integrität. Und dabei bleibt es nicht: Denn dieser schielende Blick auf unseren Einkauf gibt anderen Experten Platz für ihre Dienstleistungen oder aber neue Produkte. All das ist eine stabile und zugleich dynamische Marktstruktur, getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft und Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges.

Dieses Hamsterrennen im konsumtiven Laufrad lässt sich analysieren (vgl. als Versuch Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018). Geschichtswissenschaft fürchtet nicht den Spiegel, blickt übermütig und mutig hinein, um zu erklären und zu verstehen, wie wir wurden, wie wir kauften. Und wenn das Gekaufte nur schemenhaft bekannt ist, so gilt es sich just mit ihm zu beschäftigen. Doch wo ansetzen? Der Einkauf besteht eben aus Produkten, die allesamt aus Einzelkomponenten zusammengesetzt sind – schon ein flüchtiger Blick auf die Pflichtangaben auf der Verpackung gibt einen blassen Eindruck von den wertgebenden Stoffen, von der im Produkt materialisierten Arbeit. Moderne Produkte sind Komposita, bestehend auch Einzelstoffen, zusammengesetzt aus Zwischenprodukten. Sie sind reale Konstruktionen für deren Verständnis die Einzelkomponenten und das ganze Produkt in den Blick zu nehmen ist. Milch ist Milch, ein trinkfertiges Ganzes – und zugleich eine aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, Wasser, Mineral- und Mikrostoffen zusammengesetzte Komposition, Ausfluss einer langen Kette von künstlicher Besamung bis hin zur Kühltheke.

Ich will Sie nun einladen, mit mir aus dem Theoriehimmel hinabzusteigen, um sich einem Beispiel zu widmen, das diese Doppelbödigkeiten genauer zu beleuchten hilft. Milei war ein Ende 1938 eingeführtes Milcheiweißpräparat, ein Eier-Austauschstoff, der bis weit in die 1960er Jahre bedeutsam war. Das Besondere an Milei war sein Doppelcharakter: Es war erst einmal ein Zwischenprodukt für das Lebensmittelgewerbe und die Massenverpflegung. Zugleich aber war es ein Markenartikel für Verbraucher, die es in Kriegs- und Nachkriegszeiten als Zutat für das häusliche Kochen und Backen nutzten. Milei verband in sich damit den Widerspruch jedes Konsumgutes, das Zweck und Mittel zugleich sein kann.

Wenige Sätze zur Vorgeschichte seien erlaubt. Die Zahl der Zwischenprodukte hatte bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch zugenommen. Es handelte sich anfangs meist um einfache Sortenabstufungen, wie etwa bei unterschiedlich ausgemahlenen Getreideprodukten. Konservierte Zwischenprodukte folgten, etwa getrocknete Gewürze oder Suppenzugaben. Das Feld erweiterte sich aufgrund wachsender Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, die Stoffprofile denkbar machten. Verstand man das Ganze als Summe seiner Teile, so konnten einzelne Bestandteile ausgetauscht werden, waren preiswertere und auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Produkte möglich. Nicht Milch wurde nun in den Blick genommen, sondern Milcheiweiß und Milchfett, dann die in der Milch befindlichen Amino- und Fettsäuren – und jede dieser Komponenten konnte gesondert gewonnen, verändert und weiterverwertet werden; zumindest theoretisch. Denn die Isolation, die Verarbeitung und dann die Lagerung und der Vertrieb hingen von Wissen und Infrastrukturen ab, die erst entwickelt werden mussten. Denken Sie etwa an die Konservierungstechnik, den Maschinenbau und die Verpackungsindustrie. Butter und Käse waren die tradierten Wege der Bewahrung von Milchfett und -eiweiß. Doch durch einfaches Filtrieren der Milch konnte man bereits im späten 19. Jahrhundert nicht nur Quark und Sauerkäse gewinnen, sondern auch das Eiweißprodukt Kasein, das als Zwischenprodukt in Seifen, Kosmetika, Lacken oder Photofilmen eingesetzt wurde. Filtrieren bedeutete Konzentration durch Wasserentzug. Ein anderer Weg zum Eiweiß war Hitzezufuhr. Trocknungsverfahren wurden erprobt, doch auch ein so einfaches Produkt wie Trockenmilch gewann erst kurz nach 1900 an Bedeutung, anfangs in der Säuglingsernährung, dann auch in der Lebensmittelverarbeitung (Trockenmilch, Der Konsumverein 5, 1907, 357). Erst die verstärkte Nachfrage der kaiserlichen Armeen und der darbenden städtischen Bevölkerung führten während des Ersten Weltkrieges zu technisch versierteren Verfahren, die derartigen Milchkonserven langsam auch den Weg in die Lebensmittelverarbeitung bahnten (J[osef] Tillmans, Trockenmilch, Kosmos 19, 1922, 43-45), so bei Würsten und Backwaren.

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Mahl- und Verpackungsraum der M. Töpfer Trockenmilchwerke in Böhlen, Sachsen, 1914 (Kurt Friedel und Arthur Keller (Hg.), Deutsche Milchwirtschaft in Wort und Bild, Halle a.S. 1914, 221)

Derartige Zwischenprodukte hatten wichtige Vorteile: Die spezialisierte Produktion ermöglichte Maschineneinsatz, größere Verarbeitungsmengen und damit geringere Gestehungskosten. Kasein und Trockenmilch waren deutlich länger haltbar als Frischmilch und konnten somit die noch beträchtlichen saisonalen Unterschiede im Milchaufkommen ausgleichen. Schließlich erlaubte ihre pastöse oder pulverige Konsistenz, sie anderen Nahrungsgütern rezeptgenau zuzufügen: Neue und/oder billigere Waren wurden so möglich. Ähnliche Veränderungen gab es bei fast allen landwirtschaftlichen Gütern, so auch bei Eiern. Doch noch waren Trocknungs- und Kühltechnik kaum ausgebildet, wussten Wissenschaftler und Unternehmer nur wenig von den Schädigungen des Eiweißes durch Hitze oder Kälte, wussten nichts über die erst 1911 entdeckten resp. benannten Vitamine. Daran scheiterten wissenschaftliche Utopien einer durch billige Eiweißpräparate auskömmlich ernährten Bevölkerung, die um die Jahrhundertwende vielfach geglaubt wurden (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Ein komplexes Milcheiweißprodukt wie Milei setzte weitere massive Grundlagenforschung voraus.

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Trockeneier als Hilfe in der eiarmen Zeit (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 39, 32)

Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ als Nährboden von Eier-Austauschstoffen

Während des Ersten Weltkrieges war das Marktpotenzial verarbeiteter Milch- oder Eiprodukte überdeutlich geworden. Das betraf nicht allein die Säuglings- und Kinderernährung, das Backen und den Herd. Eiweiß fehlte in allen Bereichen der Küchen, das Essen wurde bröselig und fad. Hinzu kamen wachsende gesundheitliche Schädigungen, denn trotz des wissenschaftlichen Ringens um physiologische Eiweißminima fehlte der breiten urbanen Bevölkerung und zuletzt auch Teilen der Truppe die vermeintlich aufbauende Substanz der Ernährung. Die Folgen waren Schwarzhandel, Inflation und ein wucherndes Ersatzmittelwesen, das bis Ende des Krieges nicht wirklich gebändigt werden konnte. Unter den damals registrierten 12.000 Produkten dominierten Getränkesubstitute, lediglich 33 Eier-Ersatzmittel wurden behördlich anerkannt (August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927, 60-61). Das spiegelte die immensen technischen Probleme in der Verarbeitung von Eiweiß, das kaum konserviert werden konnte, sich aber rasch zersetzte.

Für Wissenschaftler bedeutete dies Forschungspotenzial, für Agrar- und Ernährungspolitiker Forschungsbedarf und für Unternehmer und Milchgenossenschaften ein schwer zu entwickelndes Marktfeld. Entsprechende Bemühungen setzten schon in den frühen 1920er Jahren ein, getragen von notwendigen Rationalisierungen insbesondere der Milch- und Eierwirtschaft. Die ab 1919 wieder möglichen Importe dämpften diese ab, zumal die Anbieter etwa aus den Niederlanden, Dänemark oder osteuropäischen Staaten entweder qualitativ hochwertigere oder aber billigere Waren liefern konnten. Dies änderte sich langsam seit der internationalen Agrarkrise, die Schutzzölle und massive Subventionen nach sich zog. Sie erreichten einen ersten Höhepunkt während der Weltwirtschaftskrise, die nicht nur den Zerfall der ersten Globalisierung markierte, sondern von intensiven Debatten über Autarkie und „Nahrungsfreiheit“ begleitet war (Spiekermann, 2018, 359-365). Die Nationalsozialisten waren dabei keineswegs Auslöser oder bestimmende Kräfte, doch nach ihrer Machtzulassung setzten sie in bisher unbekanntem Maße staatliche Gelder für Forschung und Entwicklung ein. Die während der 1920er Jahre nochmals gewachsene Importabhängigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft – 1929 wurden lediglich 72% des Kalorienbedarfs im Inland produziert – band eben nicht nur beträchtliche Devisen, sondern unterminierte auch die Kriegsfähigkeit des Deutschen Reiches. Der von Beginn an anvisierte Krieg konnte nur auf Grundlage neuen Wissens und neuer Produkte „erfolgreich“ geführt werden (Spiekermann, 2018, 351-359).

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Importe als Gefährdung der deutschen Wirtschaft (Kladderadatsch 85, 1932, Nr. 43, s.p.)

Die Folgen waren einerseits eine massive Rationalisierung der Agrarwirtschaft, anderseits aber neuartige Lebensmittel: „Wir müssen schließlich bei vielen Erzeugnissen eine verbesserte Grundlage der deutschen Rohstofflage herbeiführen. Nicht Ersatzstoffe dürfen geschaffen werden, sondern neue Erzeugnisse, die vielleicht noch besser sind als die bisherigen“ – so etwa der nationalsozialistische Chemiker Hans-Adalbert Schweigart (1900-1972) (Aufgaben der landwirtschaftlichen Gewerbeforschung, Der Forschungsdienst 1, 1936, 87-89, hier 88). Dabei konzentrierten sich Wissenschaftler, Militärs und Unternehmer gleichermaßen auf die Minimierung der sog. Fett- und Eiweißlücken, denn bei diesen Stoffen war die Abhängigkeit vom Ausland besonders groß. Dazu galt es, heimische Rohstoffe effizienter zu nutzen und neue technische Verfahren zu entwickeln, um nährende Zwischenprodukte zu entwickeln (Fritz Steinitzer, Deutsche Technik und Ernährungsfreiheit, Zeitschrift für Volksernährung 13, 1938, 192-194, hier 192). Das war damals Ausdruck deutschen Erfindergeistes und wurde entsprechend offensiv propagiert: Verwertung von Blut, Fischmehl, Fischeiweiß, Hefe, Holzabfällen und Sulfitablaugen, Eiweißschlempe, synthetischem Harnstoff, synthetischen Fette sowie – eigentlich nach vorn zu setzen – Milcheiweiß. Noch handelte es sich dabei um Zwischenprodukte für die Lebensmittelproduktion, die an Bedeutung rasch wachsende Massenverpflegung und die Wehrmacht. Der Vierjahresplan intensivierte einschlägige Forschungen seit 1936 nochmals – und die Investitionen führten zu Ergebnissen.

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Neue Zwischenprodukte für Backstuben und Großbetrieb: Werbung für Schoeterol und Plenora (Mehl und Brot 40, 1940, 455; ebd., 42, 1942, 123)

1938 wurde etwa Aminogen eingeführt, ein mit Pektin versetztes Magermilchpräparat, oder auch Albugen, eine getrocknete und mit Zucker und Pektin versetzte Eiweißmasse, die schlagfertig war und in Haushalten und Bäckereien das Eiereiweiß ersetzten sollte. Damit war es gelungen, Eiweiß aus Magermilch, einem bis dato vor allem in der Tierfütterung eingesetzten Reststoff der Butterproduktion, für den Menschen neuartig nutzbar zu machen. Weitere Präparate sollten folgen, etwa Schoeterol, Plenora und eben Milei. Die verschiedenen Präparate waren dabei nicht nur Ausdruck erfolgreicher Forschung. Die Zersplitterung des Angebotes verwies auch auf die nach wie vor bestehenden Defizite dieser Austauschprodukte für Eier. Der Eiweißgehalt stimmte, stammte auch aus billigen heimischen Rohstoffen. Doch sie alle besaßen Defizite im Geschmack oder aber in der Verarbeitungsqualität. Hühnerweiß war ein probates Bindemittel und konnte zu Eischnee geschlagen werden, gab Speisen und Produkten eine ansprechende Konsistenz und Textur. Die neuen Milcheiweißpräparate versuchten allesamt diesem Ideal zu genügen, doch ein vollwertiger Ersatz gelang nicht.

Bevor wir uns genauer mit Milei auseinandersetzen, ist noch ein Blick auf die Eierversorgung dieser Zeit erforderlich. Das Milcheiweiß übersprang nämlich die Branchengrenzen: Kuhmilch sollte das Hühnerei substituieren. Letzteres war das drittwichtigste tierische Lebensmittel – nach Fleisch und Kuhmilch. Zumeist in kleinen, bestenfalls mittleren Betrieben herstellt, war der Importdruck durch die qualitativ überlegene und vielfach billigere ausländische Konkurrenz jedoch besonders spürbar. Noch 1936 wurde ca. ein Sechstel des Inhaltsbedarf durch Importe gedeckt ([Hans] Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, Taf. IV). Anders als in der Milchwirtschaft stand die Forschung in der Eierbranche erst in den Anfängen (Bernhard Grzimek, Die Forschungstätigkeit in der Eierwirtschaft, in: Forschung für Volk und Nahrungsfreiheit, Neudamm und Berlin 1938, 581-584). Zugleich war das Hühnerei eine hochgradig saisonale Ware: Fast sechzig Prozent der heimischen Eier wurden in nur vier Monaten gelegt, von März bis Juni (Hans-Jürgen Metzdorf, Saisonschwankungen in der Erzeugung und im Verbrauch von Nahrungsmitteln, Die Ernährung 3, 1938, 21-30, hier 25). Die Importe glätteten die Versorgungstäler zumal im Herbst und im Winter, waren daher für die Grundversorgung vielfach notwendig. Kühlhäuser fehlten und die übliche Haushaltskonservierung mit kalkhaltigen Präparaten ergab leicht muffig schmeckende Eier, die für Backwerk nicht richtig genutzt werden konnten. Milcheiweißpräparate waren daher unabdingbar für die allseits propagierte „Nahrungsfreiheit“. Schon im Frieden waren sie kriegswichtig.

 Milei als Verbundprojekt von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Seit Dezember 1938 wurde Milei als „Schlagfähiges Milch-Eiweiß-Erzeugnis“ (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. v. 155) angeboten. Es bestand aus 90 % Magermilch, 10 % Molke sowie technischen Hilfsstoffen und wurde anfangs von der Württ[embergi­schen] Milchverwertung AG, Stuttgart, ab 1940 dann von ihrem neu gegründeten Tochterunternehmen, der Milei-GmbH, hergestellt. Milei entstand im Gefolge umfassender, im Milchwerk Stuttgart durchgeführten Versuche der württembergischen Dienststelle Vierjahresplan und des württembergischen Wirtschaftsministers (Weihnachtsgebäck mit „Milei“, Badische Presse 1938, Nr. 330 v. 30. November, 6). Milei – eine Abkürzung für Milcheiweiß – diente als Austauschstoff für Hühnereiweiß, denn es konnte zu Eischnee geschlagen und verbacken werden. Anders als manche Vorgängerprodukte deckte es damit eine breite Palette der süddeutschen Mehlspeisenküche ab. Nudeln und Spätzle, Waffeln und Pfannkuchen, Klöße und Knödel, Schaumspeisen und Aufläufe, Kleingebäck und einfache Kuchen – in all diesen Fällen konnte Milei „Volleier“ nahezu gleichwertig ersetzen, nachdem Ende 1939 auch Milei G produziert wurde, ein Austauschstoff für Eigelb.

Das neue Milcheiweiß war Ergebnis kleinteiliger und langjähriger Forschungen (Was ist „Milei“?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1938, Nr. 551 v. 25. November, 3). Auch wenn die Patente letztlich auf den Maschinenbauingenieur Karl Kremers liefen, so profitierte dieser doch von der durch das Milchgesetz von 1930 beschleunigten Verwissenschaftlichung und wirtschaftlichen Rationalisierung der Milchwirtschaft. Die Details der Produktentwicklung sind mangels aussagefähiger Archivalien nicht exakt nachzuzeichnen. Doch die groben Züge dieser gemeinsamen Anstrengung von Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind recht klar:

Karl Kremers hatte 1930 an der TH Aachen mit einer Arbeit über „Das System Kupfer-Zink“ promoviert, die aus gemeinsamer Forschung mit seinem akademischen Lehrer Rudolf Ruer (1865-1938) hervorgegangen war (Ders. und Karl Kremers, Das System Kupfer-Zink, Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 184, 1929, 193-221). Ruer, eine Kapazität im Felde der physikalischen Chemie, sollte 1933 aufgrund seines jüdischen Glaubens in den Ruhestand gezwungen werden. Kremers forschte anschließend weiter im eingeschlagenen Forschungsfeld, wandte sich jedoch parallel der Lebensmitteltechnik zu. 1933 beantragte er – gemeinsam mit seinem Aachener Kollegen Heinz G. Hofmann – ein erstes Patent zur „Gewinnung von Eiweißstoffen aus Molken und Vorrichtungen zur Ausführung des Verfahrens“. Preiswertes Molkeeiweiß, Reststoff der Käseproduktion, sollte mittels Elektrizität verändert und einfach gewonnen werden (Chemisches Zentralblatt 1935, Bd. II, 2898). Weitere Patentanmeldungen folgten 1935 (Die Chemische Fabrik 8, 1935, 336, gemeinsam mit Heinz G. Hofmann) und 1938 (DRP 725955; DRP 739983), doch ihre kommerzielle Nutzung übernahm ein neues Unternehmen: Am 28. Februar 1938 wurde in Stuttgart die Forschungsgemeinschafft Dr. Kremers GmbH gegründet – eine Woche nach Erteilung des Milei-Patentes. Geschäftsführer war Dr. Friedrich Brixner (1904-1975), der starke Mann und Vorstandsvorsitzender der Württembergischen Milchverwertung AG, die bis spätestens Ende 1942 mit 50% beteiligt war (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4). Unternehmensgegenstand war „die Ausarbeitung, der Erwerb und der Vertrieb von Verfahren, Patenten und sonstigen Schutzrechten, die zur Verarbeitung und Verwertung der Milch von Tieren aller Art, der Milcherzeugnisse und der Bestandteile der Milch sowie eiweißhaltiger Lösungen tierischen und pflanzlichen Ursprungs geeignet sind, im In- und Auslande, insbesondere der Erfindungen und Schutzrechte des Dr. Karl Kremers“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 61 v. 14. März, 8). Kremers beantragte ab 1939 auch internationalen Rechtsschutz: Der US-Patentantrag von Milei (No. 257240) war am 18. Februar 1939 eingereicht worden, der für Milei-G folgte am 16. Mai 1939. Die Firma hielt auch in Frankreich, Belgien, Spanien und der Schweiz Patente, wahrscheinlich auch in weiteren Staaten. Kremers verbesserte die Produktionstechnik kontinuierlich, wobei er sich besonders auf die Verarbeitungsqualität von Magermilchpräparaten konzentrierte (Chemisches Zentralblatt 1945, Bd. II, 88 und 313).

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Frühe Milei-Anzeige – und Karl Kremers am Trocknungsapparat in der Württ. Milchverwertung, Stuttgart (Stuttgarter Neues Tagblatt 1938, Nr. 592 v. 19. Dezember, 10 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 244 v. 27. Mai, 14)

Die angewandte Forschung wurde durch staatliche Stellen unterstützt, doch von mindestens gleicher Bedeutung war die Förderung durch die Württembergische Milchverwertung. Dabei handelte es sich um eine 1930 von regionalen Milchproduzenten gegründete Aktiengesellschaft, die ihr Entstehen der mit dem Milchgesetz verbundenen strikten Regulierung der Milchwirtschaft verdankte. Das Unternehmen übernahm 1933 die Milchversorgung Stuttgart GmbH, die nicht nur Butter, Quark und Joghurt produzierte, sondern 1936 auch 693,5 Tonnen Magermilchpulver (als Entramil vermarktet), 387,3 Tonnen Vollmilchpulver und kleinere Mengen Butter- und Sahnepulver herstellte (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht 1936, Stuttgart 1937, 9). Die Württ. Milchverwertung war profitabel und wuchs rasch. 1937 erwirtschaftete sie einen Reingewinn von 65.237 RM, 1939 von 66.250 RM – bei einer Bilanzsumme von 4,42 resp. 6,59 Mio. RM (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7; ebd. 1940, Nr. 131 v. 6. Juli, 9). In der Bundesrepublik entwickelte sich aus dem Württ. Milchverwertung die Südmilch AG, die ihrerseits 1996 in der Campina AG aufging, heute FrieslandCampina Germany GmbH.

Die Stuttgarter Firma vertrieb Milei 1939/40 unter eigenem Namen, legte diese Arbeit jedoch nach Kriegsbeginn in die Hände einer Tochterfirma, der Milei GmbH (Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 5). Diese wurde „anfangs“ 1940 mit Unterstützung der Hermann-Göring-Werke gegründet, ausgestattet mit einem Stammkapital von 250.000 RM (Württ. Milchverwertung A.G. Geschäfts-Bericht für das 10. Geschäftsjahr […] 1940, Stuttgart 1941, 5; E[dgar] C[harles] Bate-Smith et al., Food preservation, with special reference to the applications of refrigeration, London 1946 (B.I.O.S. Final Report, Nr. 275), 88-89). Wohl zur Sicherung der eigenen Produktion übernahm sie im August 1940 die nahe der heutigen Universität gelegene Stuttgarter Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik für 199.500 RM (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 230 v. 1. Oktober, 10). Als Geschäftsführer fungierten damals Otto Häußler (Vorstand der Württ. Milchverwertung AG, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 169 v. 23. Juli, 7), Karl Feneberg (früherer Geschäftsführer der Friedrich Eiermann Nährmittelfabrik in Birkenfeld, Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 98 v. 30. April, 9 und Geschäftsführer der Milei GmbH (Deutscher Reichsanzeiger 1940, Nr. 212 v. 10. September, 6)) und Alfred Schächtel, früherer Prokurist von Eiermann (Deutscher Reichsanzeiger 1937, Nr. 25 v. 1).

Was war Milei?

Kommen wir zum Produkt selbst: Milei war ein Milcheiweißpräparat aus Magermilch und Molke. Hinter dem Namen verbarg sich anfangs ein Eiweißaustauschstoff, der sich gut zum Aufschlagen und Backen eignete. Dazu wurde nahezu vollständig entfettete Magermilch oder aber eine mit Natriumhydroxid neutralisierte Mischung aus Magermilch und Molke verwandt. Diese Grundmasse wurde anschließend in einem Vakuumverdampfer aus rostfreiem Stahl auf etwa 40 Prozent ihres Ausgangsgewichtes eingetrocknet und dann mit Kalkmilch auf einen pH-Wert von über 7 gebracht. Dieses Gemenge wurde schließlich per Sprühtrockner auf einen Feuchtigkeitsgehalt von 3-4 Prozent reduziert. Die Trockentemperatur durfte dabei 60° C nicht überschreiten. Am Ende stand ein weißes Pulver, das unmittelbar gemahlen und verpackt werden konnte (Vgl. die Patentschrift US2349969A.pdf sowie Bate-Smith et al., 1946, 89-91; N.E. Holmes und J.F. Kefford, The Manufacture of „Milei‘ Egg-Substitutes, London s.a. [1946] (B.I.O.S. Trip, Nr. 3344)).

„Milei“ entwickelte sich seit 1939 zu einer Dachmarke. Während Milei Eiweiß substituierte, diente das kurz nach Produktionsbeginn zusätzlich hergestellte Milei G dem Ersatz von Eigelb (Nun auch das „Milch-Eigelb“ erfunden, Württemberger Zeitung 1939, Nr. 257 v. 11. Februar, 3). Milei G wies im Gegensatz zu Milei keinen Molkenzusatz auf, konnte durch die Wahl unterschiedlicher Trocknungsgrade auch für verschiedene Nutzungsarten aufbereitet werden. Als Zusatzstoffe dienten Dinatriumhydrogenphosphat (heute auch bekannt als E 339), Johannisbrotkernmehl und gelbe Lebensmittelfarbe, wohl das bald darauf verbotene krebserregende Buttergelb (Holmes und Kefford, 1946, 2-3; 274000kremers.pdf). Die Milei GmbH nutzte auch weitere Patente, etwa für schaumfähige Produkte aus Kasein, eine Innovation des Nürnberger Milchwissenschaftlers Max Erwin Schulz (1905-1982) vom Juli 1938. Dennoch ist es auch ohne fundierte lebensmittelchemische Kenntnisse offenkundig, dass es sich bei den Produktionsverfahren nicht um High-Tech handelte, sondern um relativ einfach umsetzbare, also „robuste“ Technik. Als Trocknungsmaschinen verwandte man etwa die schon seit 1931 im Deutschen Reich eingeführten Krause-Anlagen, nutzte also Bewährtes (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 183). Dadurch war eine rasche Umsetzung des Wissens in Produkte möglich.

Die damaligen Planer und Wissenschaftler rückten andere Sachverhalte in den Vordergrund. In der volkswirtschaftlichen Fachpresse hieß es: „Milei ist ein schlag- und backfähiges, in Wasser lösliches Pulver, das in reiner Form […] die vollständigen Eiweißstoffe der Milch enthält […]. Der volkswirtschaftliche und privatwirtschaftliche Nutzen dieser Erfindung ist vielseitig. Sie verspricht, die seit Jahren schwierige Eierversorgung zu entlasten, die Haushaltsführung zu verbilligen, die Milchverwertung des Landmanns zu verbessern, und sie bahnt schließlich auch eine Verbesserung der Eiweißbilanz der deutschen Ernährungswirtschaft an“ („Milei“ statt Knickei, Der deutsche Volkswirt 13, 1939, 1303). Milei war nicht nur strategisch wichtig, sondern konnte bereits vor Kriegsbeginn die Auswirkungen des japanischen Krieges gegen China vermindern. Großküchen und Bäckereien waren vielfach abhängig von billigen importierten chinesischen Flüssigeiern, die 1938 etwa ein Achtel der Eierimporte ausmachten. Milei sollte erst einmal helfen, den gewerblichen Eierbedarf zu decken, der ungefähr zwei Fünftel des Gesamtverbrauchs abdeckte. Ökonomisch konnte dies mit einer deutlichen Verbilligung einhergehen, denn die Eiweißkosten von Milei lagen bei der Hälfte des Hühnereiweißes.

Produkteinführung vor dem Kriege

Trotz solcher um die gewerbliche Lebensmittelversorgung kreisenden Überlegungen wurde Milei jedoch seit Ende 1938 auch als Markenartikel im Einzelhandel angeboten (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 590 v. 17. Dezember, 39). Schoeterol und Plenora, Aminogen und Albugen blieben den Fachleuten vorbehalten, waren und blieben Zwischenprodukte in den rückwärtigen Bereichen von Handwerk, Lebensmittelproduktion und Großküchen. Milei aber war von Beginn an ein Alltagsprodukt, das einschlägig beworben wurde.

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Produkteinführung unter dem Logo der Württ. Milchverwertung und der Milchversorgung Stuttgart (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Anfangs war es die Württ. Milchverwertung AG, die zusammen mit der Milchversorgung Stuttgart das in kleinen Metalldosen verpackte Milei vertrieb (Badische Presse 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 17, ebd., Nr. 50 v. 19. Februar, 17). Die luftdichten Verpackungen enthielten 20 bzw. 40 Gramm und entsprachen 4 bzw. 8 Volleiern resp. 8 bzw. 16 Hühnereiweißen (F[ritz] St[einitzer], Austauschstoffe für das Ei in der Küchentechnik, Zeitschrift für Volksernährung 15, 1940, 9-10). Die Verbraucher mussten allerdings wahrlich an die Hand genommen werden, denn das neuartige Pulver erforderte einen steten Zwischenschritt, musste nämlich vor der Verarbeitung in Wasser aufgelöst werden. Analoge Anzeigen wurden auch in der Fachpresse der Gemeinschaftsverpflegung geschaltet (Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung 9, 1939, 2. S. vor 155). Neben Milei, seit Frühjahr 1941 Milei W (für Weiß = Eischnee), trat Ende 1939 Milei G (für Gelb = Eigelb) (Badische Presse 1939, Nr. 181 v. 5. Juli, 11; Verbo 1939, Nr. 257 v. 3. November, 4).

Die Begleitpublizistik der gelenkten deutschen Presse kombinierte Sachinformationen mit Lobpreisungen des deutschen Forschergeistes: „Dass Kühe nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern auch Hühnereier produzieren sollen, wird manchem zunächst reichlich unglaublich und unvorstellbar erscheinen. Dennoch ist es ein Wunder, das tatsächlich geschieht und das die moderne Nahrungsmittelchemie möglich gemacht hat“ (Eiweiß und Eigelb aus Milch, Deutsche Zeitung in den Niederlanden 1940, Nr. 46 v. 20. Juli, 8). Wie einst der Rübenzucker und der Zichorienkaffee die Kontinentalsperre überwinden halfen, so könnten nun moderne Eier-Austauschstoffe die notwendige Abkehr Deutschlands von den Weltmärkten absichern. Ja, mehr als das. Milei war eben kein „Ersatzmittel“, sondern vollwertiger „Ausgleich, der sich von dem Hühnereiweiß nur in einem unterscheidet, nämlich daß der Stoff, aus welchem es hergestellt wird, reichlich vorhanden ist, während die Eier immerhin knapper sind“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Sein Kauf war Dienst am Volke, zugleich doppelt nützlich: „Die Verwendung von Milei in der Küche hilft in hohem Maße Devisen sparen und ist auch für den einzelnen Haushalt wirtschaftlich vorteilhaft, da Milei viel billiger ist als Eier“ (Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 247 v. 24. Oktober, 5). Dieses Nutzenkalkül wurde statistisch unterfüttert: „88,5 Millionen Hühner legten 1938 6,4 Milliarden Eier. Eine hübsche Menge! Aber nicht genug, um den Verbrauch von 8,1 Milliarden Stück zu decken […]. Aber jetzt tritt Milei auf den Plan“ (Rudolf Vogel, Milei und das Hühnerei, Das Kleine Volksblatt 1939, Nr. 91 v. 2. April, 18). Im Ausland wurde es dagegen als Ausdruck einer Kriegswirtschaft vor dem Kriege verstanden (Der Bund 1939, Nr. 155 v. 2. April, 12).

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Einführungswerbung von Milei durch den Karlsruher Lebensmittelfilialisten Union (Badische Presse 1939, Nr. 40 v. 9. Februar, 5)

Die Produkteinführung beruhte neben der Anzeigenwerbung vor allem auf Koch- und Rezeptbüchern, auf Rezepten in Tageszeitungen oder aber allgemeinen Kochbüchern (Sigma Kochanleitung. Eine Auslese bewährter Rezepte und Betriebsanleitung für den Sigma Elektroküchenherd, Mannheim 1939, 54-56). Auch die seit Ende 1938 in Württemberg, nach Kriegsbeginn reichsweit geschalteten Anregungen für einen Wochenküchenzettel verbreiteten die Kenntnis des neuen Produktes (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 612 v. 31. Dezember, 49, Stuttgarter Neues Tagblatt 1939, Nr. 3 v. 4. Januar, 24; Badische Presse 1939, Nr. 219 v. 12. August, 10; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 193 v. 19. August, 12; ebd., Nr. 214 v. 13. September, 8; Badische Presse, Nr. 284 v. 16. Oktober, 5; ebd., Nr. 291 v. 23. Oktober, 4). Sie stammten aus den Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes, das Milei zudem mit ihrem Sonnenzeichen ausgezeichnet hatte. Rezepte wirkten wie Gütezeichen durch erfahrene Hausfrauen und studierte Hauswirtschaftslehrerinnen. Die Versuchsküchen des Deutschen Frauenwerkes präsentierten zudem regionalspezifische Rezepte, zerstreuten so Vorstellungen dekretierter Einheitsküche (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 462 v. 18. Oktober, 6). Sie halfen den Kartenbezieherinnen zugleich, das neue Produkt in just ihrer Küche zu verwenden.

Die in Tageszeitungen veröffentlichen Rezepte ließen teils noch die Wahl, lauteten auf „1 Ei oder Milei“ (Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 252 v. 27. Oktober, 5). Teils aber gaben sie nur noch die Zahl der notwendigen Löffel Milei an (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 51 v. 23. Dezember, 3; Land und Frau 24, 1940, 244). Auch für die Weihnachtsbäckerei waren einschlägige Milei-Rezepte verfügbar (Der Führer am Sonntag 1939, Nr. 46 v. 17. Dezember, 3). All dies war begleitet von gesonderten Werbe- und Rezeptbroschüren der Württ. Milchverarbeitung und der Milei GmbH, deren Umfang zwischen 12 und 16 Seiten schwankte (Milei-Rezepte für die Hausfrau, Stuttgart 1939; Milei in der Großküche, Stuttgart 1939; Rezepte für die Gemeinschaftsverpflegung, Stuttgart 1940). Zum wichtigsten derartigen Werbemittel mutierte das so genannte grüne Milei-Merkbuch für die Hausfrauen. Es umfasste immerhin 36 Seiten, enthielt Abbildungen und eine nicht wirklich anheimelnde, doch nützliche Palette von Rezepten für Kurz-, Spar- und Restgerichte, Kleingebäck und die Kinderernährung (Zeitgemäßes Kochen – Backen – Braten, Stuttgart 1940).

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Einführung von Milei durch das Deutsche Frauenwerk (Der Führer 1939, Ausg. v. 15. Januar, 8)

Der Kriegsbeginn war für Milei eine kommerzielle Chance, denn nun wurde es reichsweit propagiert. Die Ernährungsführung legte gezielt nach, lieferte im Oktober 1939 etwa je 400.000 Dosen in die Metropolen Berlin und Wien (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). „Das Ei aus der Milch“ – so ein Slogan – wurde offensiv beworben. Zentral war dabei die Schlagfähigkeit des neuen Produktes, Beleg seiner Hühnereiebenbürtigkeit. Die Werbung selbst hatte mehrere Väter. Einer davon war Anton Stankowski (1906-1998), ein früherer Folkwankschüler. Er hatte von 1929 bis zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung 1934 in der Schweiz gearbeitet, war dann in Lörrach tätig und machte sich 1938 als Graphiker in Stuttgart selbständig. Dort arbeitete er für NSU und Milei, bevor er ab 1940 zum Kriegsdienst einberufen wurde (Hans Neuburg, Anton Stankowski, Gebrauchsgraphik 22, 1951, Nr. 7, 10-22, hier 18). Nach dem Weltkrieg wurde er Schriftleiter der Stuttgarter Illustrierten und setzte seine Arbeit für Milei fort. Stankowski wurde in der Bundesrepublik zu einem der wichtigsten Typographen, seine Firmenlogos begleiteten und prägten die prosperierende Bonner Republik (Iduna, Vissmann, Rewe, Deutsche Bank, Vereinigte Versicherungen, BKK, etc.). Auch wenn nicht genau abzuschätzen ist, wie weit er die Milei-Werbung zumal nach 1940 prägte, so ist deren klare funktionalistische Formensprache doch auch auf Stankowskis (Mit-)Wirken zurückzuführen.

Diese realisierte, dass Milei ein technisches Produkt war, materialisiertes Know-how. Darin glich es technischen Produkten, Motorrädern, Radios oder Elektrokühlschränken. Mileis Verbreitung war auch eine präziser Gebrauchsanweisungen, die sich auf den Dosen, dann auf dem Rücken der bald üblichen Papierpackungen fanden. Die Werbesprache zielte entsprechend nicht auf Atmosphäre oder Gefühle: Es ging vielmehr um die Programmierung des Hausfrauenhandelns, um Wissen, Pflicht und Tun. Das lag nahe angesichts der rasch spürbaren Härten der frühen Rationierung, die einen allgemeinen Gewichtsverlust der Bevölkerung billigend in Kauf nahm (vgl. aus vornehmlich rechtlicher Sicht Fritz Keller, Kochen im Krieg. Lebensmittelstandards in Deutschland und Österreich 1933 bis 1945, Wien 2017). Die gelenkten Medien verlautbarten entsprechend: „Wir kaufen, was der Markt uns bietet! Wir lassen nichts umkommen!“ (Neueste Zeitung – Innsbruck 1939, Nr. 240 v. 19. Oktober, 4). Und rasch wusste die Hausfrau, wie sie mit dem weißen Pulver umzugehen hatte: Es war mit etwas Wasser vorzubereiten. Milei W wurde geschlagen, Milei G dagegen ungeschlagen weiter verarbeitet. Bei Fleisch- und Fischspeisen oder aber Nudeln konnte dies unterbleiben. Frischeier sollten dem Frischverbrauch vorbehalten sein, als Frühstücksei den Sonntagstisch zieren. Ansonsten konnten sie durch Milei ersetzt werden (Illustrierte Flora und Nützliche Blätter 65, 1941, Beil., 20).

Etablierung in Bäckereien und Gemeinschaftsverpflegung

Die Verwendung von Milei im Haushalt war ein Zugeständnis an die Konsumenten, denn Neues ließ sich einfacher in der Lebensmittelproduktion und der Gemeinschaftsverpflegung einführen. Wer schmeckte schon die Soja im Bratling, das „deutsche Gewürz“ im Eintopf, den Eier-Austauschstoff in der Wurst? Milei aber etablierte sich als Breitbandangebot, als Innovation für Alle: „Heute wird Milei und Milei G. nicht nur bei der Wehrmacht und in Grossküchenbetrieben, sondern auch in Bäckereien und darüber hinaus, soweit es die Produktionskraft möglich macht, auch in jedem Haushalt verwendet“ (Eiweiß, 1940). Entsprechend nahm Milei auch regulative Hürden ohne größere Probleme, wurden gleich nach Kriegsbeginn doch Kennzeichnungspflichten zugunsten des neuen Austauschstoffes reduziert: Speiseeis durfte ab November 1939 ohne Kennzeichnung auch mit Milei G produziert werden, ein Anreiz für Konditoren und Industrie (Ministerialblatt für die badische innere Verwaltung 1939, Sp. 1288).

Die rückwärtigen Lebensmittelsektoren erhielten zudem Spezialprodukte: Milei G II war ein Eigelbersatz mit hohem Lockerungs- und Schaumvermögen, das nach dem Auflösen unmittelbar in Bäckerei und Großküche verarbeitetet werden konnte. Die Milei GmbH etablierte einen eigenen Aufklärungsdienst und bot Schaukochen und Weiterbildungen an (Hamburger Neueste Zeitung 1941, Nr. 80 v. 4. April, 3), nutzte daneben die schon erwähnten Rezeptbücher. Der günstige Preis half, in der Bäckerei das Hühnereiweiß weiter zu ersetzen, ebenso in der Wurst- und Suppenfabrikation. Auch Krankenhausküchen griffen zum Austauschstoff (Hans Glatzel, Krankenernährung, Berlin (W), Göttingen und Heidelberg 1953, 394). Überraschend ist allerdings, dass die Milei-Werbung Bäckereien und Großküchen nicht grundlegend anders als Hausfrauen ansprach. Dies ist nur vor dem Hintergrund der kleinteiligen Produktions- und Absatzstruktur der Bäckereien zu verstehen. Im Deutschen Reich war die Zahl größerer Backwarenproduzenten gering, gab es nur wenige bedeutende Filialbetriebe. Die Werbung auch in der Fachpresse blieb leicht verständlich.

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Vermittlung grundlegender Kenntnisse über Milei (Mehl und Brot 42, 1942, 345 (l.); ebd. 187)

Das änderte sich auch nicht Mitte 1942. Damals wurde Milei V (= Vollei) als verbessertes Substitut für Eiweiß eingeführt, ersetzte Milei G II (Mehl und Brot 42, 1942, 365). Derartige Maßnahmen folgten aber nicht nur weiterer Forschung oder neuen Maschinen. Sie spiegelten auch die Kriegssituation: Milei G wurde anfangs mit Hilfe von Fruchtkernmehl produziert, einem Bindemittel aus Johannisbrotkernmehl, das aus Italien und Marokko importiert wurde. Doch die Zufuhren brachen weg und mussten durch Bohnenmehl ersetzt werden, dessen Viskosität deutlich niedriger lag (Holmes und Kefford, 1946, 1-2). Qualitätsschwankungen waren die Folge, zumal die Produktionsstätten unterschiedlich ausgestattet waren. Auch der spürbare Mangel an Verpackungsmaterial hatte Auswirkungen auf das Produkt. Die Magermilch wurde im Laufe des Krieges immer stärker evaporiert, obwohl die Bäckereien eigentlich ein luftigeres Präparat bevorzugten, das schaumigere Ware ermöglichte. Ein stärker getrocknetes Produkt erforderte jedoch weniger Verpackungsmaterial. Üblich waren mehrlagige Säcke von 25 Kilogramm Gewicht. Die Bäcker mussten also entweder die Gebäckmassen stärker schlagen oder eine weniger ansprechende Ware verkaufen. Gleichwohl funktionierten die Gewerbebetriebe bis zum Kriegsende willig und gläubig. Sie waren unmittelbar von Rohstoffzuweisungen der Behörden abhängig – und damit leicht zu sanktionieren und zu lenken.

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Gewährleistung der Alltagsversorgung: Milei-Werbung in der Endphase des Krieges (Mehl und Brot 43, 1943, 419 (l.); ebd. 44, 1944, 239)

Akzeptierte Alternative zur Eiernot: Milei im System der Rationierung

Widerstand blieb auch bei der Bevölkerung eine Ausnahme, weit verbreitetem Murrens zum Trotz (Andrea Brenner, „Milei“ und Sojabohne. Ersatzlebensmittel im Zweiten Weltkrieg, Wiener Geschichtsblätter 62, 2007, H. 3, 28-53; Fritz Keller, Wie „Ostmärkische Leckermäuler“ den Eintopf verdauen lernten, Zeitgeschichte 34, 2007, 292-309). Milei betraf dies kaum. Selbst die Gewährsleute der sozialdemokratischen Opposition vermerkten in einem Sonderbericht über Ersatzspeisen: „Es gibt aber auch Ersatzmittel, die in Geschmack und Verwendungsfähigkeit einigermaßen dem Original entsprechen, z. B. das Milei, das hauptsächlich aus Milcheiweiß besteht.“ Vor dem Krieg eingeführt, wurde es nun „ erst allgemein gebraucht und auf jeweils bekanntgegebene Markenabschnitte der Lebensmittelkarte abgegeben“ (Beides n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 6, 1940, 65).

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Austauschstoffe als Küchenereignisse (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1940, Nr. 86 v. 13. Oktober, 86, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt. Wochenausgabe 1941, Nr. 13 v. 28. März, 12)

Die relative Akzeptanz von Milei war auch Folge einer breit gestreuten und sachlich gehaltenen Werbesprache. Zudem wurde Milei verlässlich geliefert, war das technische Produkt angesichts des immer noch recht breiten Anfalls von Magermilch und Molke von saisonalen Schwankungen kaum betroffen. Zudem wurde die Produktion rasch hochgefahren. Mitte 1940 wurde der Austauschstoff bereits in acht Betriebsstätten produziert, war die Milei GmbH damit „das grösste Unternehmen seiner Art in Deutschland“ (Eiweiß, 1940).

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Das Neue verarbeiten: Eischnee mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 517)

Entscheidend für die Akzeptanz beim Verbraucher dürften jedoch die küchentechnischen Eigenschaften des Eier-Austauschstoffes gewesen sein. Er hielt schlicht, was er versprach. Dies resultierte auch aus seiner relativ späten Einführung. Die frühen Eier-Austaustoffe dienten vorwiegend ihrem Primärzweck, nämlich der Verwertung billiger und allseits verfügbarer Rohware. Bei späteren Produkten berücksichtigte man dagegen die küchentechnischen Eigenschaften höher, den Geschmack stärker (M[ax Erich] Schulz, Neue Milcherzeugnisse im Rahmen der Kriegs-Ernährungswirtschaft, in: Erste Arbeitstagung des Instituts für Lebensmittelforschung […], Stuttgart 1942, 15-16, hier 16). Ohne ordentlichen Geschmack kein erfolgreicher Krieg.

Doch Milei war auch ein Kopfprodukt. Als Austauschstoff half es, die strukturelle Veränderung der Alltagskost zu begrenzen, der sich die meisten Konsumenten nicht entziehen konnten. Generell sank der Kalorienverbrauch (Vorkriegszeit = 100) über 91 Prozent 1939/30 und 1942/43 auf 86 Prozent 1944/45. Während der Kohlehydrateanteil aber moderat auf 102 Prozent stieg, sank vor allem der Anteil der Fette, der 1944/45 nur noch 53 Prozent des (nicht eben üppigen) Vorkriegskonsums erreichte. Der Eiweißgehalt der Alltagskost konnte bis 1943/44 dagegen fast auf Vorkriegshöhe gehalten werden, sank erst 1944/45 auf dann 91 Prozent. Tierische Eiweißquellen machten damals noch 69 Prozent aus, bremsten damit die allgemeine Vegetabilisierung der Ernährung (Angaben n. Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, s.l. s.a. (Ms.), s.p.). Milei stützte während des Zweiten Weltkrieges vor allem den wegbrechenden Eierkonsum. Dieser lag 1944/45 nur mehr bei etwa der Hälfte der Vorkriegswerte: 1939/40 handelte es sich um 140 Stück pro Kopf, 1941/41 um 87 und 1944/45 schließlich um 68 (Häfner, s.a.). Anfangs ergänzten Importe vor allem aus Dänemark, den Niederlanden und Bulgarien den Konsum, doch schon 1943/44 lagen die Werte bei lediglich einem Zehntel der Importe von 1939/40. Milei war ein reeller und spürbarer Puffer.

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Die werbliche Illusion vom Naturstoff (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 131 v. 12. Mai, 8 (l.); Der deutsche Volkswirt 16, 1942, 529)

Etablierung als reichsweiter Standardaustauschstoff

Die Milei GmbH erweiterte 1940 ihre Produktpalette um Milei Nachspeise, einem Schaumprodukt für süße Nachspeisen, zugleich ein Zuckersparer (Hans Pirner, Neue Wege in der Milchwirtschaft, Vierjahresplan 6, 1942, 268-271, hier 269). Als Ersatz für Puddingpulver erfüllte er eine wichtige Funktion, denn Vollmilch war für Erwachsene immer schwerer zu erhalten. Auch als „Wehrmachts-Milchspeise“ gewann er weite Verbreitung (Schulz, 1942, 16).

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Milei-„Aufklärung“ mittels Werbefilm (Werben und Verkaufen 25, 1941, 239)

Wichtiger aber war eine seit 1941 intensivierte reichsweite Produktwerbung. Sie folgte den Vorgaben der Ernährungsplaner, die nicht allein auf den Zwang der Rationierung setzten, sondern an die Einsicht der Volksgenossen appellierten. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), führender Kopf der Truppenverpflegung, formulierte dafür klare Vorstellungen: „Mit der technischen, geschmacklichen und ernährungsphysiologischen Eignung eines Rohstoffes ist die Einführung noch nicht gesichert. Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit)“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 207). Es galt, dem Produkt eine positive Aura zu verschaffen – und damit gleichzeitig allen neuen Austauschprodukten. Gedacht war das ähnlich wie bei den Vitaminen, deren breit ausgemalte Heilwirkungen in den 1920er Jahren zu einer Neubewertung der ehedem „schwachen“ pflanzlichen Produkte geführt hatte (Uwe Spiekermann, Bruch mit der alten Ernährungslehre. Die Entdeckung der Vitamine und ihre Folgen, Internationaler Arbeiterkreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 4, 1999, 16-20).

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Erstes Kriegsostern mit Milei (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, 472)

Die Milei-Werbung bediente sich entsprechend einer breiten Palette von Werbemitteln, die bis hin zum Werbefilm reichte, der vor der Wochenschau und dem Hauptfilm in den Kinos mit ihrem Millionenpublikum gezeigt wurde. Die Anzeigenwerbung wurde ab 1941 zu Kampagnen gebündelt, die jeweils eine einheitliche Formensprache kennzeichnete. Vor dem Angriff auf die UdSSR präsentierte die Milei GmbH immer noch das Produkt selbst, stellte dessen Nutzen und die erforderlichen hauswirtschaftlichen Kniffe in den Mittelpunkt.

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Informationen für den Umgang mit dem Neuen (Kleine Volks-Zeitung 1941, Nr. 158 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd., Nr. 71 v. 12. März, 12)

Doch die Werbekampagne 1941 ging schon über den alleinigen Nutzen heraus. Der „Milei-Aufklärungsdienst“ verband das Produkt mit allgemeinen Attributen gängiger Lebensmittel, betonte etwa die nährende „Kraft“ des Markenartikels, präsentierte es als „Geschenk der Natur“. Aus dem vermeintlichen Nachteil des wissensbasierten Präparates sollte ein Vorteil entstehen. Milei stand für einen erst durch den Nationalsozialismus bewirkten fundamentalen Wandel der deutschen Konsumgüterindustrie: „Ebenso wie der große Aufschwung der Montanindustrie erst einsetzte, als auch eine erfolgreiche Verwertung der Nebenerzeugnisse gelungen war, so besteht die Hauptaufgabe der Milchwirtschaft heute in der Verwertung der Rest- und Nebenprodukte der Butterherstellung und der Käserei, dem Kasein und der Molke“ (Die Industrie der Molke, Der Führer 1941, Nr. 25 v. 26. Januar, 6). Dies fand Widerhall: Bei einer Befragung von Jugendlichen nach den ihnen bekanntesten Markenartikeln landete Milei auf dem 23. Platz aller Konsumgüter, auf Platz 2 bei den Lebensmitteln (Leder, Wie steht die Jugend zum Markenartikel?, Der Markenartikel 9, 1942, 104-108, hier 106).

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Alltag mit dem Austauschstoff (Wiener Modenzeitung 1942, H. 161, 23 (l.); ebd., H. 157, 23)

Die Werbekampagne des Jahres 1942 vertiefte derartige Überlegungen. Schattenrisse aus dem Alltag traten hervor, immer verbunden mit dem Anbau, der Beschaffung und dem Kochen und Backen von Lebensmittel und Speisen. Im Vordergrund stand Altbewährtes – und die Texte stellten Mileipräparate in just diesen Rahmen. Milei war neu, unbestritten, doch es setzte sich durch, etablierte sich, half damit zugleich das Bekannte zu bewahren. Dabei war wichtig, dass Milei keinen charakteristischen Eigengeschmack besaß. Es war ein uncharismatisches, chamäleonhaftes Lebensmittel, das diente und half, „küchentüchig“ und „schlagstark“.

Entsprechend wichtig waren daher praktische Versuche, war die direkte Ansprache der Hausfrauen. 1940 nahmen die in allen größeren Städten vorhandenen Versuchsküchen etwa der Deutschen Frauenschaft oder aber des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes den Kochlöffel in die Hand, simulierten auf kleiner Bühne haushälterisches Tun, ließen die Hausfrauen dann nachschlagen. Proben rundeten all dies ab. Bevor nun aber Argumente von der vermeintlichen Berufung der Frau für die Küche aufkommen, gilt es eines zu bedenken. Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre hatten insbesondere in der Wehrmacht zu einem massiven Ausbau männlichen Küchenexpertise geführt: Mitte 1940 gab es 100.000 ausgebildete Feldköche, bis Mitte 1942 dann etwa 160.000 (Spiekermann, 2018, 590). Diese Männer waren mit den neuen Austauschstoffen bereits vertraut – und nun galt es auch die Hausfrauen in die neue Welt leistungsfähigerer Präparate einzuführen (Das Blatt der Hausfrau 56, 1942/43, 231). Die nationalsozialistisch geprägte Ernährungswirtschaft war technisch-männlich geprägt und zielte auf eine massive Modernisierung des weiblichen Haushaltens mit neuen, von Männern entwickelten Convenience- und Halbfertigprodukten.

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Oh kommet, ihr Hausfrauen, oh kommet doch all (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 220 v. 29. September, 6)

Die Wirkung derartiger praktischer Werbung wurde durch zahlreiche Zeitungsberichte multipliziert, die haushälterisches Tun wertschätzten und dem Zwang gestalterische Elemente abgewannen: „Kaum machten sich manche Lebensmittel auf dem Markte rar, da schossen schon wie Pilze die neuen Rezepte aus dem Boden, die sich dieser Marktlage anpassen. […] ‚Ein Weg findet sich immer, und das macht ja erst richtig Freude, wenn man auch unter Einschränkungen etwas Gutes zuwege bringt‘“ (Badische Presse 1940, Nr. 9 v. 10. Oktober, 6). In Wien präsentierte man „mollige“ Saucen mit Milei, pikant und mit erhöhtem Nährwert (Völkischer Beobachter 1940, Nr. 69 v. 9. März, 5): Der Charme der lokalen Küche endete offenkundig nicht mit der Rationierung. Selbstverständlich traten auch Meisterköche auf, die mit Kochkunst und Phantasie mit Milei, Tulli und Sojapräparaten kreierte Speisen darboten – und wahrlich, es sah gut aus und schmeckte (Kochkunst + Phantasie = ein schmackhaftes Gericht, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 157 v. 5. Juni, 6). Das Neue, das „der forschende Menschengeist entdeckt hat“ weckte wiederum Neues, war Teil des ewigen völkischen Ringens mit der Natur und ihren Rohstoffen. Versuchsküchen waren Stätten einer kulinarischen Moderne, in der Austauschstoffe nicht „Verlegenheitsschöpfungen, sondern eine Errungenschaft in der Ernährungswirtschaft der Zukunft“ waren (beide Zitate n. Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 153 v. 5. Juni, 6).

Im Laufe des Krieges übernahm vielfach der Milei-Aufklärungsdienst die vorher dezentral wahrgenommenen Veranstaltungen. Er zog durch das Land und veranstaltete in größeren Städten Vorträge und Schaukochen, vielfach in Verbindung mit den lokalen Elektrizitäts- und Gasanbietern (Salzburger Volksblatt 1941, Nr. 239 v. 10. Oktober, 6; Wiener Kronen-Zeitung 1942, Nr. 15085 v. 11. Januar, 15; Der Führer. Rastatt 1944, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Lokale Haushaltsschulen folgten parallel, bildeten Haushaltsgehilfinnen und Hauswirtschafterinnen nicht nur im sparsamen Haushalten aus, sondern wiesen ihnen auch Wege mit neuen „gesunden“ Produkten: „Biologische Salze werden dem schädlichen Kochsalz vorgezogen, das Milei triumphiert, die ‚Grünsbrühe‘ duftet herrlich und ersetzt die Fleischbrühe. Gartenkräuter werden als deutsche Würze verwendet, gemahlener Paprika ist jetzt der Pfeffer“ (Ein Besuch in der Haushaltungsschule Pforzheim, Der Führer 1942, Nr. 79 v. 20. März, 4). Es dürfte Ihnen klar sein, dass all diese Zitate auch Teil des schönen Scheins des Nationalsozialismus sind, dass sie über die Härten und Verwerfungen des Kriegsalltages hinweggingen. Mit fortschreitender Dauer des Krieges wurde eine schmackhafte Zubereitung immer schwieriger, auch wenn die Machthaber Gewürzen und Gewürzsubstituten hohe Aufmerksamkeit schenkten. Backpulver war Mangelware, musste durch Natron, Pottasche oder Hirschhornsalz bzw. durch vermehrten Einsatz von Hefe ansatzweise ersetzt wurde. Milei wurde für all diese Fährnisse erprobt, die Resultate in handhabbare Rezepte umgemünzt (Leckeres Gebäck aus Roggenmehl, Der Führer 1942, Nr. 325 v. 24. November, 4). All dies setzte Versorgungssicherheit voraus – und damit eine leistungsfähige Unternehmensstruktur.

Auf- und Ausbau eines reichsweiten Vertriebs- und Produktionsnetzwerkes

Die Milei GmbH ist ein unbekanntes Unternehmen, denn Firmenunterlagen existieren offenbar nicht mehr. Die heutige in Leutkirch ansässige Milei GmbH sieht sich nicht in der Nachfolge des Stuttgarter Unternehmens. Der „hidden champion der Lebensmittelindustrie“ folgt dem eigenen Motto „Live. Love. Enjoy“ und lässt die eigene Geschichte erst in den 1970er Jahren beginnen. Das ist recht typisch für weite Teile des deutschen Mittelstandes, die ihre NS-Geschichte schlicht übergehen. Wir sind heutzutage über die Opfer des Nationalsozialismus weitaus besser informiert als über die damaligen Akteure und Täter – und dies gilt trotz einer nicht unbeträchtlichen Zahl aussagefähiger Unternehmensgeschichten dieser Zeit.

Die Milei GmbH, die erste, war vorrangig eine Vertriebsorganisation (Bate-Smith et al., 1946 – auch für das Folgende). Sie besaß keine eigenen Produktionsstätten, sondern schloss Verträge mit zahlreichen milchverarbeiteten Betrieben, die in ihrem Auftrag Mileiprodukte herstellten. Diese Firmen kannten weder die genauen Produktionsverfahren, noch die eingesetzten Rohwaren und Zusätze. Diese wurden vielmehr codiert eingesetzt, obwohl ein erfahrener Betriebsleiter sie leicht decodieren konnte (Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 4). In Stuttgart saß die Verwaltung, der Aufklärungs-Dienst, hier wurden Verträge geschlossen und die Rohstoffwirtschaft koordiniert.

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Bezirksleitungen der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Der Vertrieb erfolgte in tradierten Formen. Von Stuttgart ausgehend, richtete die Milei GmbH ein reichsweites Netzwerk von Bezirksleitungen aus, die wie Großhandelsvertretungen funktionieren. Die zehn Bezirksleitungen waren über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt und koordinierten recht eigenständig. Der Absatz in der Backwarenproduktion und im Gaststättengewerbe erfolgte mittels Reisender, die von „Oberreisenden“ regional koordiniert wurden (Der Führer 1941, Nr. 60 v. 2. März, 14). Eine von Ludwig Herrmann geleitete Generalvertretung wurde im März 1942 in Berlin Unter den Linden gegründet, erlosch jedoch schon im November (Deutscher Reichsanzeiger 1942, Nr. 57 v. 9. März, 5; ebd., Nr. 284 v. 3. Dezember, 3).

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Lage der Milei-Produktionsstätten im Großdeutschen Reich 1941 (Der Vierjahresplan 5, 1941, 246)

Die Produktion erfolgte anfangs nur in Stuttgart, doch die Zahl der Produktionsstätten weitete sich rasch aus, da lokale Kapazitäten nicht beliebig gesteigert werden und zugleich Transportkosten reduziert werden konnten. Anfang 1940 substituierte die Firma nach eigenen Angaben bereits monatlich 45 Millionen Eiern (Eiweiß, 1940). Eine Anzeige in der Zeitschrift „Vierjahresplan“ zeigte 1941 bereits neun Produktionsstätten. Deren Zahl wurde bis 1942/43 nochmals verdoppelt.

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Fabrikationsstätten der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Die von britischen Wissenschaftlern sichergestellte Liste der Produktionsstätten unterstrich, dass im Laufe des Krieges der Stellenwert des Produktionsstandortes Stuttgart bzw. Württembergs tendenziell sank. Stattdessen finden sich Vertragspartner in den wichtigsten Milchregionen Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei sowie Polens. Einzelne Standorte wurden beträchtlich aufgewertet, so die zwei Milei-Werke im sächsischen Wurzen. Dort fand auch die Qualitätskontrolle statt. In der zweiten Kriegshälfte wurden Milei-Produkte an folgenden Produktionsstätten hergestellt:

  • Milei-Gesellschaft Werk I und II, Wurzen/Sachsen
  • Württ. Milchverwertung AG, Stuttgart
  • Milchversorgung Heilbronn GmbH, Heilbronn/Ilsfeld
  • Omira Oberland Milchverwertung GmbH, Ravensburg
  • Odam-Milchwerk Gebr. Müller, Holzkirchen/Oberbayern
  • Bayerische Milchversorgung GmbH, Nürnberg
  • Molkerei-Genossenschaft Tabor
  • Molkerei-Genossenschaft Mährisch-Budwitz
  • Molkerei-Genossenschaft Stainach GmbH
  • Molkerei-Genossenschaft eGmbH, Hagenow/Mecklenburg
  • Dauermilchwerke Korschen GmbH, Korschen
  • Ostdeutsche Dauermilchwerke GmbH, Marienburg
  • Alfa-Nährmittelwerk Tonningen GmbH, Tonningen
  • Wartheland-Milchverwertung GmbH Posen, Krotoschin
  • Milchzentrale eGmbH, Lütjenburg/Holstein
  • Schweriner Zentral-Molkerei, Schwerin
  • Ein- und Verkaufsgen. westfälischer Molkereien eGmbH Münster, Lippstadt
  • Verkaufsverband norddeutscher Molkereien, Plathe

Diese Liste bestätigt frühere Aussagen, nach denen „die Betriebe, die Milei herstellen, nichts anderes, als sehr neuzeitlich eingerichtete Molkereien“ sind. „Es fehlen durchaus die geheimnisvollen Retorten und Destillationskolben einer chemischen Fabrik. Wie in jeder anderen Molkerei wird die von den Bauern und Landwirten gelieferte Milch gereinigt, pasteurisiert, entrahmt und zu Butter, Käse, Quark, Kasein und Trockenmilchpulver verarbeitet“ (Eiweiß, 1940). Ganz normale Betriebe für ganz normale Produkte. Milei war zu diesem Zeitpunkt bereits der wichtigste Hersteller von Eier-Austauschstoffen aus Magermilch im Deutschen Reich, ließ Wettbewerber wie Syntova und die Berliner Edmes GmbH weit hinter sich. Die gegenüber der Vorkriegszeit allseits massiv gesteigerte Produktion wurde vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft sowie der Hauptvereinigung der deutschen Milch- und Eierwirtschaft stetig gefördert (Pirner, 1942, 269). Eine weitere Produktionssteigerung scheiterte allerdings am Mangel an Maschinen, vor allem der unverzichtbaren Sprühtrockner.

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Vertriebslager der Milei GmbH 1943 im Großdeutschen Reich (eigene Darstellung auf Grundlage von Bate-Smith et al., 1946, Sect. IV, Appendix 1)

Neben den Bezirksleitungen und Fabrikationsstätten existierte noch ein weiteres Netzwerk von Vertriebslagern. Diese entsprach großenteils, aber keineswegs durchweg, dem Produktionsnetzwerk. Die 19 Lager waren ebenfalls über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt, konnten von alliierten Bombern zwar getroffen werden, boten aber eine flexible Struktur zur kontinuierlichen Versorgung der Bevölkerung.

Schon diese Netzwerke verweisen auf den Ausgriff auf besetzte Gebiete, auf eine Expansion in die frühere Tschechoslowakei und Polen, die wohl 1941/42 erfolgte (Pirner, 1942, 269). Die Produktion von Milei-Produkten war Teil der gewalttätigen Nutzung ausländischer Ressourcen für die Stabilisierung der reichsdeutschen Rationen. Hinzu kam eine Expansion nach Westeuropa. 1941 gründete die Milei GmbH „gemeinsam mit der holländischen Spezialfirma für Milchkonserven Lijempf eine Gesellschaft, die in Holland die Verarbeitung von Magermilch zu ähnlichen Ersatzlebensmitteln aufnehmen soll. Die Milei G.m.b.H. hat sich hierbei die Majorität gesichert“ (Die Zeitung [London] 1941, Nr. 244 v. 22. Dezember, 2). Es handelte sich um die im nordfriesischen Leeuwarden ansässige Milchfabrik N.V. Lijempf, die im nahegelegenen Winsum eine moderne Trockenmilchfabrik mit knapp 200 Beschäftigten betrieb (P. Noord, De Zuivelfabriek van Winsum, 1892-1975, Info Bulletin Winshem 7, 2002, Nr. 3, 8-9). In Frankreich, genauer in der Normandie, wurde 1941 ein ähnlicher Betrieb aufgenommen, der von 1942 bis 1944 Milei auch nach Deutschland exportierte (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4; Bundesarchiv Berlin R 15-V/21). 1943 sollen dadurch ca. 35 Millionen Eier ersetzt worden sein (Innsbrucker Nachrichten 1944, Nr. 114 v. 16. Mai, 5). Im gleichen Jahr plante die Firma eine deutsch-spanische Dependance in Barcelona (Bundesarchiv Berlin R 3101/34784, Bd. 3). Nach Ende des Krieges bemühte sich die Milei GmbH bis 1947 um die Rückerstattung ihres Auslandsvermögens (Bundesarchiv Berlin B 218/755). Außerdem wurde 1942 „ein Unternehmen unter maßgeblicher Beteiligung der Milei-Gesellschaft m.b.H. geschaffen“ (Bericht der Württ. Milchverwertung A.G. über das 1. Geschäftsjahr […] 1942, Stuttgart 1943, 4).

Was war nun das Ergebnis all dieses Bemühens? Die vom britischen Nachrichtendienst ausgesandten Wissenschaftler sicherten 1945 Unterlagen, nach denen die Produktion 1944 bei 6.466.000 Kilogramm Milei G und W gelegen hat. Hinzu kamen 547.113 Kilogramm Nachspeise und 3.926.785 Kilogramm Migetti. 1943 lag die Produktion auf gleicher Höhe. Der Umsatz von Milei G und W lag 1944 bei 25 Millionen RM, bei der Nachspeise bei 3,5 Millionen RM (Bate-Smith et al., 1946, 90). Rechnet man 5 Gramm Milei als Substitut für ein Vollei, so entsprach die 1944 produzierte Menge 1,293,200,000 Volleiern. Das wäre – geht man zurück zu den Ausgangsplanungen – etwa 17% der 1936 im damaligen Deutschen Reich konsumierten Eier. Diese Menge entsprach den gesamten damaligen Eierimporten. Damit dürfte Milei das erfolgreichste Austauschprodukt der nationalsozialistischen Ernährungsforschung gewesen sein – und die anderen gewerblich genutzten Präparate können hier noch zugerechnet werden.

Kaum überraschend waren die verantwortlichen Experten stolz auf das Geleistete: „Für die Kriegswirtschaft bedeutet die Steigerung der Produktion von Milei die Verhinderung des Aufkommens eines unerträglichen Mangels an Eiweiß“ (Wandlungen der deutschen Milchwirtschaft, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 275). Milei hatte sich bewährt, würde auch nach dem Kriege ein wichtiger Markenartikel bleiben, Teil einer neu gestalteten Volksernährung sein (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 375). Die Fachleute hatten geholfen, diese Waffe für die Heimatfront zu schmieden. Und sie verstanden es einen Baustein zur Stabilität und Prosperität eines mörderischen Regimes.

Verbraucherlenkung und Intensivierung

Damit könnte man es erst einmal belassen, könnte die Geschichte von Milei unmittelbar in der beschworenen Nachkriegszeit verfolgen; wenngleich unter einer anderer Siegerkonstellation. Damit aber würde man der Bedeutung eines doppelbödigen Markenartikels jedoch nicht gerecht. Die beschworene Bewährung erlaubte es nämlich der Milei GmbH das Renommee des Produktes in den Dienst allgemeinerer Ziele des Regimes zu stellen. Konsumgüter haben stets einen Subtext, weisen stets über ihre eigene Materialität hinaus. Das gilt auch in Zeiten von Knappheit und Not.

Blicken wir zuerst auf die Versorgung und Verbrauchslenkung in der Mitte des Krieges. 1942 mussten die Rationen deutlich gesenkt werden, ihre Zusammensetzung verschlechterte sich – und sie waren gleichwohl weit besser als in den besetzten Gebieten, weit besser auch als im Hungerwinter 1916/17. Zu diesem Zeitpunkt war der Begriff „Eier-Austauschstoff“ nicht nur weit verbreitet, sondern auch geadelt worden. Er durfte nicht mehr für Hilfs- oder Ersatzmittel in der Kriegssituation verwandt werden, sondern nur für Produkte, die „auch über die Zeit des Mangels hinaus einen dauernden Platz in ihrem Anwendungsgebiet erhalten sollen“ (Verwendung der Bezeichnung ‚Eier-Austauschstoff‘, Werben und Verkaufen 25, 1941, 206). Die relative Wertigkeit von Milei wurde auch durch weitere Verfügungen des Werberates der deutschen Wirtschaft erhöht (Werben und Verkaufen 26, 1942, 68). Die staatspolitische Bedeutung des Austauschstoffes zeigte sich ferner in der Werbung anderer Markenartikelfirmen: Maizena warb beispielsweise mit Rezepten, die Milei propagierten (Badener Zeitung 1941, Nr. 88 v. 1. November, 3).

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Werbung mit Rezepten und breiter Anwendungspalette (Straßburger Neueste Nachrichten. Nord 1941, Nr. 104 v. 16. April, 852 (l.); Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14862 v. 31. Mai, 10)

Milei diente ab 1942 zunehmend dazu, die klarer hervortretenden Härten des Rationierungssystems erträglicher zu machen. Weißwäscher hämmerten die Melodie: „Mit diesen Eiaustauschstoffen kann man ebensogut Schlagobers wie gute Biskuits oder Windmassen erzeugen“ (Hans Rudiak, Kriegswirtschaftliche Materialfragen, Werkzeitung der Hammerbrotwerke 6, 1942, H. 5, 3-10, hier 9). Die Milei-Rezepte wurden der Versorgungslage angepasst. Schon Anfang 1942 fanden sich Rezepte für gebackene Kohlrübenscheiben, die als „verkanntes Gemüse“ (Der Führer 1942, Nr. 57 v. 26. Februar, 4) und nicht als Reminiszenz an den berüchtigten Steckrübenwinter 1916/17 präsentiert wurden. Auch als Mayonnaisezusatz zierte Milei billige Rohkostsalate (Durlacher Tageblatt 1943, Nr. 14 v. 18. Januar, 3). Die immer wieder umgestellten Rezepte wurden gezielt an die Frau gebracht: Ab 1943 verstärkte man die Werbung für das grüne Milei-Merkbuch für Hausfrauen: „Es zeigt die richtige Anwendung des milchgeborenen Milei W und Milei G“ (Badische Presse 1943, Nr. 192 v. 18. August, 6). Diese „Fundgrube zeitgemäßer Rezepte“ (Ebd., Nr. 226 v. 27. September, 6) wurde bis Anfang 1944 kostenlos von der Milei-Gesellschaft versandt. Es ergänzte die Anfang 1943 noch in großer Zahl geschalteten Bildanzeigen, die spezielle Anwendungsweisen des Milei bildlich und textlich präsentierten.

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Haushaltstipps in Wort und Bild (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstadt 1943, Nr. 3 v. 3. Januar, 7 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 3219 v. 20. November, 6)

Parallel zur Intensivierung des „totalen“ Krieges wuchsen die Anforderungen an die Konsumenten. Sie kamen moderat daher, etwa als Anleitung zu erhöhter Präzision: „Eine Handvoll? – Ein schlechtes Maß! So ungenau darf man niemals beim milchgeborenen Milei W und Milei arbeiten. Man muß sich genau nach der Gebrauchsanweisung richten“ (Hamburger Anzeiger 1943, Nr. 185 v. 2. September, 4). Der Kampf gegen Verderb wurde strikter, rasches Umfüllen des Präparates war ein Teil davon. Während Milei anfangs noch in kleinen Büchsen verkauft worden war, wurden nun einzig mit Aluminium beschichtete Papiertüten verwandt. Da Milei feuchtigkeitsempfindlich war, bestand bei unsachgemäßer Lagerung die Gefahr, dass der Stoff verklumpte, ja, verknotete. Dagegen half das Umfüllen in ein trockenes Glas – mit einem zwingend trockenen Löffel (Badische Presse 1943, Nr. 201 v. 28. August, 8). Hatte das hydrophile Milei dagegen Wasser aufgenommen, war es zwar „schlagfaul“, konnte jedoch immer noch zum Panieren genutzt werden (Ebd., Nr. 216 v. 15. Juni, 6). Oder aber für Breie oder Suppen (Ebd., Nr. 235 v. 7. Oktober, 6). Hauptsache, das Präparat wurde genutzt.

Die gewünschte Löffelgenauigkeit wurde eben nicht als Manko gegenüber dem Hühnerei gedeutet, sondern als ein Vorteil gegenüber der Natur, die nur das eine, wenngleich unterschiedlich große Ei kannte. Klares Abmessen half dagegen Sparen – mochte man per Gebrauchsanweisung auch auf kleine Eier umgelenkt werden. Sprache versuchte dies ansatzweise zu kompensieren. Milei war rein und „milchgeboren“, entstammte es doch aus frischer entrahmter Milch, die zur natürlichen, sauberen Herkunft stilisiert wurde (Ebd., Nr. 223 v. 23. September, 6).

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Gebäck als Symbol von Heimat und Frontverbundenheit (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 178 v. 30. Juni, 6; Wiener Illustrierte 1941, Nr. 51 v. 17. Dezember, 12)

Während die 1943 noch möglichen Werbeabbildungen den symbolischen Gehalt von Lebensmitteln, sei es von nährendem Hackbraten oder von Weihnachtsgebäck verstärkt betonten, bot die Mehrzahl der Anzeigen klar gefasste Haushaltstipps: Bei Tunken Milei erst in Wasser auflösen, dann den Brei löffelgenau in die Tunke geben – schon wird sie cremig und verliert ihre Wässerigkeit (Badische Presse 1943, Nr. 204 v. 1. September, 6). Gerade bei fleischarmen Speisen war dies essentiell (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 213 v. 4. August, 6). Ähnlich musste frau vorgehen, wollte sie Mürbeteig machen (Ebd., Nr. 211 v. 9. September, 6). Oder aber beim Kochen von Suppe (Ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6). Bei Kleingebäck wurde Milei geschlagen, zu Schäumchen geformt und dann gebacken (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 6). Ähnlich bei mehlfreiem Kleingebäck (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 121 v. 3. Mai, 4). Und selbst der Sonntagskuchen gelang, trotz Ersatz des Eies (Oberdonau-Zeitung 1943, Nr. 234 v. 25. August, 6). Vorausgesetzt, man vermied Aluminiumgefäße zum Schaumschlagen (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 200 v. 22. Juli, 6). Das war hilfreich, hilfreich beim Rausholen des Letzten. Die Intensivierung des Haushalts entsprach der in der Rüstungsindustrie.

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Gesunde Kost und Sparen auch in der Gemeinschaftsverpflegung (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, nach 28 (l.); ebd., n. 42)

All dies beschränkte sich natürlich nicht auf den Haushalt. Die Bediensteten in Großküchen und Gewerbebetrieben wurden ähnlich angesprochen. Und über den tristen Alltag hinweg half immer stärker ein Blick auf die Modernität der Austauschpräparate: „Heute ist das nicht mehr nötig“, das alte ungenaue Kochen und Backen mit Eiern: „Dessen Aufgabe übernimmt Milei, das Ei aus der Milch. Es wird zum Braten, Backen und Kochen verwendet. Es ist naturrein und nährt. Milei ist rezeptleicht anwendbar … und steigert den Geschmack der Speisen“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1941, Nr. 14877 v. 16. Juni, 7). Selbst der Stolz der südwestdeutschen Hausfrau, die Spätzle, waren vor dem Neuen nicht mehr sicher. Sie „verlangten früher die Verwendg. des Hühnereies“ (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 162 v. 13. Juni, 6). Heute machte dies… – Sie kennen die Antwort.

Rendezvous mit Kohlenklau

Ab 1943 wurde die Milei-Werbung zunehmend breiter eingesetzt, zielte nicht allein auf das Produkt, sondern unterstützte die Kriegsanstrengungen auch anderweitig. Das belegt etwa die enge Verkopplung der Markenartikelwerbung mit der allgemeinen Agitation gegen „Kohlenklau“. Kohlenklau war eine der vielen nationalsozialistischen Imaginationen, die allesamt zu erhöhter Sparsamkeit, zu geringem Ressourcenverbrauch, zu einem gesünderen und gedeihlicheren Leben anhielten (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 91-95). „Groschengrab“ und „Roderich, das Leckermaul“ traten auf, „Flämmchen“, „Familie Pfundig“ und eben auch Kohlenklau, das „Ungeheuer mit dem zugekniffenen Auge, dem gewaltigen Schnauzbart, großem Sack und bedrohlichen Krallen“ (Straßburger Neueste Nachrichten. Kreis Schlettstedt 1943, Nr. 94 v. 18. Juni, 6). Er stahl nicht nur Kohlen, sondern vergeudete Energie und Ressourcen jeglicher Art, unterminierte damit die Kriegsanstrengungen der deutschen Nation. Sogar beim Kuchenbacken lauerte er.

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Kohlenklau in der Milei-Werbung (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 104 v. 14. April, 6 (l.); Wiener Illustrierte 1943, Nr. 21 v. 26. Mai, 8)

Kohlenklau war mehr als ein schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man höre nur: „Taps, taps, taps… Kohlenklau ist in der Küche“ (Das kleine Volksblatt 1943, Nr. 55 v. 24. Februar, 8). Und der grinste höhnisch, wenn Speisen durch zu langes Kochen zerstört und Gas verschwendet wurden (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 63 v. 4. März, 6). Oder wenn das Kleingebäck verbrannte. Die Moral schien einfach zu sein: „Auf Kohlenklau achten“ resp. Plätzchen rechtzeitig aus dem Backofen herausnehmen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1943, Nr. 15551 v. 28. April, 7).

Verhaltensregulierung im Endkampf

Der Kampf gegen Kohlenklau war nur einer von vielen Maßnahmen, um die deutschen Volksgenossen zu gemeinsamen Anstrengungen zu verpflichten. Die Milei GmbH trug dazu bei und knüpfte am Ende des Krieges ein enges Band zwischen Konsument und Firma (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 743). In dieser Werbewelt kooperierten Forscher mit Praktikern, arbeiteten Bauern und Chemiker zum Wohle der Konsumenten. Präsentiert wurde ein völkisches Bild wechselseitiger Verpflichtung, getragen vom gemeinsamen Willen, das Beste zu geben.

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Wechselseitige Verpflichtung der forschenden Produzenten und der Konsumenten (Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, vor 117 (l.); ebd., nach 184)

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Nahrung als Waffe (Tages-Post – Linz 1942, Nr. 284 v. 1. Dezember, 6)

Milei war Alltagsgarant, war zuverlässiger Alltagshelfer (Der Führer. Aus dem Ortenau 1943, Nr. 36 v. 5. Februar, 4). In dem damaligen Völkerringen war es eine Waffe, ein Schwert mit scharfer Klinge. Es half beim notwendigen Strecken nach der Decke, beim Strecken der Lebensmittel und Speisen. Milei stand für die zunehmende Militarisierung der Alltagskost, die durch verpflichtende fleischlose Tage und Feldküchengerichte längst Realität geworden war. Doch das Schwert wurde nur gegen Feinde gezückt, denn innerhalb der Volksgemeinschaft war der Konsument Kulturträger, gesittet, gefasst und optimistisch. Entsprechend konnte allseits „Höflichkeit“ gefordert werden, grenzte man sich von „Miesmachern“ und „Stimmungstötern“ strikt ab. Das galt zumal beim Einkauf, am Tresen, im Umgang mit dem Einzelhändler, der über Bekommen oder Nicht-Bekommen mit entschied.

29_Oberdonau-Zeitung_1944_01_09_Nr008_p8_Wiener Illustrierte_64_1944_Nr15_p08_Milei_Kaeufer-Verkaeufer_Einzelhandel_Hoeflichkeit_Einkaufen_Laden

Seid höflich und nett zueinander – gerade im Krieg (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 8 v. 9. Januar, 8 (l.); Wiener Illustrierte 64, 1944, Nr. 15, 8)

Die Milei-Werbung wandte sich eindeutig gegen Fehlverhalten und Resignation: „Eine einzige verdrießliche Kundin wirkt wie Gift. Sie kann die beste Laune aller Anwesenden zerstören. Deshalb bemühen wir uns, verdrießliche Gemüter aufzumuntern und selbst recht höflich zu sein … auch wenn wir einmal nicht alles bekommen, was wir brauchen“ (Innviertler Heimatblatt 1944, Nr. 8 v. 25. Februar, 8). Zugleich aber forderte sie eine Kultur reflektierter Rücksichtnahme: „Ihr Kaufmann ist heute mit Arbeit reichlich überlastet. Zudem ist das Personal knapp. Trotzdem bemüht er sich, Sie zuvorkommend und höflich zu bedienen. Begegnen Sie ihm auch höflich … und machen Sie ihm das Leben nicht schwer […]. Höflichkeit macht beliebt!“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 48 v. 18. Februar, 4)

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Der Einzelne muss zurückstehen (Nationalsozialistischer Volksdienst 10, 1943, H. 8, II (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 314 v. 13. November, 5)

Spiegelten sich in derartigen Anzeichen die realen Verwerfungen in der Psyche vieler Menschen, so wurden in der Milei-Werbung ab 1943 die bestehenden Versorgungsprobleme zunehmend deutlicher thematisiert. Das betraf zum einen die Hausfrauen, denen etwa Hilfestellungen gegeben wurden, Speisen „bequem und unauffällig“ (Badische Presse 1944, Nr. 35 v. 11. Februar, 4) zu strecken. Das betraf aber zunehmend auch die zerbröselnde Verkehrsinfrastruktur. Deutlich hieß es: „Die Reichsbahn ist überlastet“ (Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 243 v. 29. Februar, 6). Die Konsumenten sollten darauf verständnisvoll reagieren, sich selbst ein kleines Glied im großen Ganzen verstehen. Das half durchzuhalten, seine eigenen Sorten und Nöte geringer zu gewichten.

31_Wiener Illustrierte_62_1943_Nr33_p08_Oberdonau-Zeitung_1944_08_17_Nr226_p5_Milei_Fruchtspeise_Eier_Austauschstoff_Frauenarbeit_Nachbarschaftshilfe

Kinderfreude und Unterhaken der Hausgemeinschaft (Wiener Illustrierte 62, 1943, Nr. 33, 8 (l.); Oberdonau-Zeitung 1944, Nr. 226 v. 17. August, 5)

Zugleich aber lenkte die Milei-Werbung den Blick auf die kleine Lichtblicke und Freuden des Alltags. Freude über eine wohlschmeckende, eine nährende Speise, Dankbarkeit gegenüber einer kleinen Alltagshilfe und Nachbarschaftshilfe. Das entsprach nicht der Realität des letzten Kriegsjahres, half jedoch nicht zu verzweifeln und seine Aufgaben zu erfüllen.

Damit wurden vornehmlich Frauen angesprochen, denn diese waren damals für Haushalt und Kochen verantwortlich, bekochten Kinder und auch Männer. Da musste eben ein Hackbraten her, auch wenn er mit Brot gestreckt werden musste (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 148 v. 30. Mai, 6). Doch zunehmend wurde auch des alleinstehenden Mannes gedacht, den man gemeinhin unter die Dachkategorie des „Strohwitwers“ subsumierte. Sie wurden vielfach in Werksküchen verpflegt, doch es gab seit 1944 auch vermehrt Koch- und Hauswirtschaftskurse für Männer. Die virtuose Handhabung von Milei wurde dabei geprobt (Neues Wiener Tagblatt 1945, Nr. 24 v. 28. Januar, 3). Und siehe da, auch Männer waren lernfähig, wussten die modernen Austauschstoffe zu schätzen.

Die Milei GmbH schaltete bis Anfang 1945 immer neue Werbetexte, denn ab Mitte 1944 verschwanden die letzten Graphiken aus den Zeitungen, schrumpfte die Anzeigen zu Texten in engen Kolumnen. Diese munterten auf, empfahlen das Produkt als Hilfegarant in der Krise: „Hausfrauen wissen sich immer wieder zu helfen“ (Badische Presse 1944, Nr. 179 v. 2. August, 6). Und sie halfen anderen, vielleicht mit einem alltagsaufhellenden Baiser (Völkischer Beobachter 1944, Nr. 348 v. 28. Dezember, 3). Zugleich lenkte die Werbung den Blick auf eine andere, nicht vom Krieg geprägte Welt. Dort wurden Produkte in „blitzsauberen Milchwerken“ (Badische Presse 1944, Nr. 127 v. 2. Juni, 4) hergestellt, dort gab es keimfreie Produktion (Ebd., Nr. 131 v. 7. Juni, 4). In den Anzeigen wurde an Feinschmecker erinnert, sprach man von Wohlgeschmack. Kindergeburtstage feierte man, denn Milei-Fruchtschaum „schmeckt wie im Frieden“ (Kleine Wiener Kriegszeitung 1944, Nr. 77 v. 29. November, 8). Und die Kleinen waren „selig“, wenn es ihn denn gab (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 7). Die Städte stürzten zusammen, die alte Welt zerbrach, doch das ging einher mit der Geburt des Neuen: „Großmutters Rezeptbuch ist längst überholt“ (Innvierteler Heimatblatt 1944, Nr. 35 v. 1. September, 8) und wird ausgetauscht von wissenschaftlichen Präparaten, praktisch und besser als das Alte.

Kontinuität im Schwarzmarkt und der Nachkriegsrationierung

Die Rationierungspolitik wurde nach Ende des Krieges von den Besatzungsmächten fortgeführt, die Lebensmittel teils der eigenen Bevölkerung vorenthalten, um eine Hungerkatastrophe in deutschen Landen zu vermeiden. Milei gehörte dazu, mochten die Zuweisungen pro Normalversorger 1945 und 1946 auch gering ausfallen, da das unternehmerische Netzwerk der Milei GmbH zerrissen war (Badener Tagblatt 1946, Nr. 10 v. 2. Februar, 63; Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 53 v. 6. Mai, 4). Doch in den einzelnen Zonen wurde weiter produziert. Milei konzentrierte seine Aktivitäten wieder auf den Württemberger Raum, die amerikanische Zone. Von dort wurde auch exportiert, wenngleich meist gegen Ware, nicht gegen Geld (Wiener Zeitung 1946, Nr. 149 v. 29. Juni, 2; Badener Tagblatt 1946, Nr. 30 v. 6. Juli, 323). Milei diente wie in der Endphase des Krieges dazu, fehlende Eier- und Fleischlieferungen zu kompensieren (Neues Österreich 1945, Nr. 207 v. 21. Dezember, 3). Angesichts beträchtlicher Unterversorgung bemühten sich Großbetriebe um Milei-Zuweisungen für ihre Werksküchen, wollten Eiweiß für Arbeit (Volkswille 1946, Nr. 98 v. 15. August, 3).

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Zwischen Emmentaler Käse und Eier: Rationiertes Milei (Neue Zeit 1946, Nr. 285 v. 7. Dezember, 4)

Die Wertschätzung der Milei-Produkte spiegelte sich auch darin, dass sie regelmäßig bei Schiebern und Schwarzhändlern beschlagnahmt wurden (Obersteirische Volkszeitung 1947, Nr. 20 v. 8. März, 2; Volksstimme 1947, Nr. 98 v. 26. April, 3; Wiener Kurier 1947, Nr. 10 v. 14. Juni, 2). Hoher Nährwert und lange Haltbarkeit waren wie für den Schwarzmarkt gemacht – wobei solche bereits während des NS-Regimes bestanden.

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Viel begehrt – leider knapp! Milei Werbung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (Stuttgarter Rundschau 2, 1947, H. 6, 32 (l.); Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 9, 28)

Zugleich begannen frühere Produktionsstätten die Herstellung auf eigene Rechnung. In Österreich, der früheren Ostmark, setzte nach Kriegsende die Molkerei Stainach der Landesgenossenschaft Ennstal ihre Arbeit fort, um insbesondere für den Winter Reserven aufzubauen (Neue Steierische Zeitung 1945, Nr. 97 v. 18. September, 5). Das führte zu Sonderzuteilungen von zehn Volleiersubstituten und Freude bei den darbenden Konsumenten (Ebd., Nr. 140 v. 8. November, 8). Mitte 1946 musste der Betrieb jedoch eingestellt werden, da die Milchzufuhr aufgrund von Zwangsablieferungen zu gering war (Neue Zeit 1946, Nr. 178 v. 8. August, 3). Die Milei GmbH klagte gegen die Produktion des vermeintlichen neuartigen Stainacher Milcheiweis V und S, musste jedoch vor Gericht schließlich eine Niederlage einstecken (Wiener Zeitung 1946, Nr. 186 v. 11. August, 7; Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4). International waren Kramers Patentrechte ohnehin seitens der Alliierten kassiert worden (Official Gazette of the United States Patent Office 550, 1943, xxxvi; ebd., 552, xxxix).

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Erst im Gewerbe, dann im Haushalt (Bäcker-Zeitung für Nord- und West-Deutschland 2, 1948, Nr. 33, 11 (l.); ebd., Nr. 37, 14; Der Spiegel 1948, Ausg. v. 6. November, 16 (r.))

Nach Gründung der Bundesrepublik und dem zunehmenden Abbau der Rationierung war Milei gängiger Gast etwa auf Fachmessen, wo es gleichrangig neben Suppen- und Soßenpräparaten, Mayonnaisen, Aspikpulver und anderem stand (Südkurier 1949, Nr. 116 v. 1. Oktober, 5). Seine Qualität wurde in altbewährter Manier gepriesen, der Phrasenschatz der NS-Zeit war noch bekannt: „Milei ist also kein chemisches Erzeugnis, sondern setzt sich aus den natürlichen Bausteinen der Milch zusammen. Hochwertiges Milcheiweiß – dem Hühnereiweiß biologisch gleichwertig – finden wir in Milei wieder. Freuen wir uns, daß es unseren Milchforschern gelungen ist, ein so hochwertiges Erzeugnis zu entwickeln. Dadurch kann man im Haushalt viel Geld einsparen und billiger kochen, braten und backen“ (Durlacher Tageblatt 1949, Nr. 117 v. 17. Dezember, 3).

In der Tat investierte die Milei GmbH nicht nur in den Fortbetrieb, sondern auch in neue Technik. 1946 wurden leistungsfähigere Rolltrockner eingeführt (Holmes und Kefford, 1946, 5). Karl Kremers, mittlerweile in Eislingen a.d. Fils ansässig, arbeitete kontinuierlich an der Produktionstechnik. Noch 1953 wurde ein Verfahren zur Gewinnung eines schlag- und backfähigen Milcheiweißes patentiert (Fette, Seifen, Anstrichmittel 53, 1953, 561). Weitere Patente folgten (Chemisches Zentralblatt 127, 1956, 138).

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Weiterhin Sparsamkeit (Südkurier 1949, Nr. 138 v. 22. November, 7 (l.); ebd., Nr. 146 v. 10. Dezember, 7)

Dennoch konnte sich Milei in der Nachkriegszeit als Markenartikel immer schlechter behaupten. Man kaufte und verarbeitete es, teils dankbar, war zugleich aber dessen überdrüssig und wollte wieder „richtige“ Eier haben. Leicht angeekelt hieß es Anfang 1949 etwa in Salzburg: „In diesem Aufruf kommen daher wieder die berühmten ‚Marshall-Fette‘ und das ‚Milei‘ zur Ausgabe als Ersatz für unsere heimischen Eier und Butter“ (Salzburger Tagblatt 1949, Nr. 28 v. 4. Februar, s.p.). Obwohl begehrt, wurde Milei auch als „künstliches Ersatzmittel“ (Neue Zeit 1948, Nr. 237 v. 10. Oktober, 4) verdammt. Die Milei-Werbung hielt dagegen, verwies auf den „großen Kraftquelle der Milch“ und auf dessen „zauberhafte Verwandlungen“ durch moderne Technik (Was ist eigentlich Milei?, Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 2, 1948, 194). Doch all das war nur Imagination, denn Einkommen und die Höhe der Eierpreise sollten über die künftige Marktstellung von Milei entscheiden. Auch die Neugestaltung der Milei-Werbung durch Anton Stankowski brachte Anfang der 1950er Jahre keinen durchschlagenden Erfolg bei den Verbrauchern (Neuburg, 1951). Die Gewissheit der NS-Planer trog, die schon früh darauf gesetzt hatten, dass Milei „auch in kommenden Friedenszeiten seine Bedeutung weiter behalten und besonders Deutschlands Einfuhrabhängigkeit an Trockenei beseitigen“ werde (Neue Entwicklungen in der Nahrungsmittelwirtschaft der Welt, Die deutsche Volkswirtschaft 10, 1941, 542-543, hier 542).

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Milei als Dachmarke bewährter Spezialartikel (Deutsche Lebensmittel-Rundschau 44, 1948, Nr. 11, V)

Die Milei GmbH erweiterte nach Gründung der Bundesrepublik ihre Produktpalette, fügte Zwischenprodukte für Nachspeisen und Karamellwaren hinzu. Die mit gleichem Namen bezeichneten Präparate veränderten sich auch durch neue Maschinen, Verfahren und Zusatzstoffe. In der Werbung ließ man dies durchaus anklingen, schrieb von neuen Milcheiweiß-Erzeugnissen (Die Küche 49, 1953, Nr. 3, II). Angesichts der wachsenden Verfügbarkeit von frischen Eiern, steigenden Eierimporten aus den Niederlanden und Dänemark und einer langsam wachsenden Kaufkraft konzentrierte sich die Milei GmbH jedoch verstärkt auf gewerbliche Zwischenprodukte. 1954 bewarb man etwa Milei WS für „Negerküsse“ und Waffelfüllungen, Milei G III E für „sahniges, zartes und geschmeidiges Eis“ (Bäcker-Zeitung für Nord-West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 16, 27; ebd., Nr. 50, 27). Als Markenartikel endete die Geschichte von Milei in den 1950er Jahren. Im gewerblichen Bereich, in Form von Zwischenprodukte konnte sich die Dachmarke jedoch weit länger behaupten. Milei wurde weiter konsumiert, doch die Konsumenten wussten nicht, was in ihren Produkten enthalten war – und kümmerten sich darum auch nicht wirklich.

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Billiger als Eier: Milei-Werbung für Bäckereien und Konditoreien 1949 (Die Küche 53, 1949, Nr. 1, IV (l.); ebd., Nr. 2, II)

Wie bewerten?

Milei war eine der erfolgreichsten Lebensmittelinnovationen der NS-Zeit. Anders als ähnliche Eier-Austauschstoffe wurde es zu einem Markenartikel, zu einem allseits bekannten Hausnamen. Verbraucher lernten mit dem weißen Pulver umzugehen und die Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu mildern. Milei blieb jedoch mit der Aura der Notzeiten verbunden und verschwand in den 1950er Jahren langsam aus den Regalen, um in anderer Form doch im Magen der Konsumenten zu landen.

Milei war ein Paradebeispiel für den Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte in der Zwischenkriegszeit. Obwohl ohne die massive staatliche Förderung kaum denkbar, war es kein prototypisch nationalsozialistisches Konsumgut, sondern eine Konsequenz der durch den Ersten Weltkrieg vielfach zerbrochenen internationalen Arbeitsteilung, die in den 1920er Jahren nicht wieder etabliert werden konnte und durch die Weltwirtschaftskrise vollends zerbarst. Er steht für nationale Kraftanstrengungen, wie es sie nicht nur im Deutschen Reich gegeben hat.

Staatliche Stellen förderten preiswerte und genießbare Austauschstoffe nicht erst seit 1933. Die systematische Erforschung heimischer Ressourcen charakterisierte schon die 1920er Jahre. Volkswirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen dominierten, an Krieg dachten die meisten Protagonisten dabei nicht. Eier-Austauschstoffe wurden in dieser Zeit nicht nur denkbar, sondern standen im Kontext der sich damals rasch entwickelnden Eiweiß- und Vitaminforschung. Sie standen für neuartige Strukturen wissenschaftlicher Forschung, für die Verbindung agrarwissenschaftlicher, chemischer, biochemischer und lebensmitteltechnologischer Arbeit. Und sie standen für eine verstärkte Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion, die sich unter dem Druck von Auslandsware vielfach als nicht wettbewerbsfähig erwiesen hatte.

Milei war demnach ein typisch „modernes“ Produkt, das es auch ohne die nationalsozialistische Machtzulassung gegeben hätte; in etwas anderer Form, vielleicht etwas später. Und doch war Milei auch ein nationalsozialistisches Konsumgut. Es diente nicht als beliebiges Zwischenprodukt, als schlichtes preiswertes Angebot für Konsumenten. Es diente von Beginn an der Rückendeckung einer kriegerischen Machtpolitik, als Garant für den Herrschaftsanspruch des NS-Regimes. Milei profitierte vom Kriegsbeginn, ohne diesen wäre das deutsche und europäische Produktions- und Vertriebsnetzwerk nicht denkbar gewesen. Milei stand für deutschen Forschergeist, war die zivile Seite einer Expansion, die von den genagelten Stiefeln der Wehrmacht geprägt war, von Gewalt und Destruktion der Schergen. Die Firma folgte in die eroberten Gebiete, nutzte sich bietenden ökonomischen Chancen in West- und Osteuropa.

Milei wurde mittels Werbung sehr unterschiedlich präsentiert. Das war nicht nur Folge eines uncharismatischen Konsumgutes, eines weißen Pulvers ohne eigene Attribute. Das spiegelte auch die unterschiedlichen Facetten eines Regimes, das Normen- und Maßnahmenstaat zugleich war, dessen Konsumgütermärkte sich analog zu denen der westlichen Kriegsgegner entwickelten, zugleich aber zeittypische Unterschiede aufwiesen. Milei wurde als wissenschaftliches Präparat beworben, seine Anwendung musste erlernt und vermittelt werden. Diese Anstrengung erfolgte angesichts der Enge einer effizienten und zugleich auf Raub ausgerichteten Lebensmittelrationierung. Sie programmierte Hausfrauen und Feldköche hin auf Zubereitungsformen und eine völkische Kraftanstrengung, appellierte nicht nur an das Mitmachen, sondern bot rationale Gründe hierfür. Einmal etabliert wurde Milei zu einem wichtigen Alltagsgaranten, einem verlässlichen Alltagshelfer. Dies wurde genutzt, um mit der Werbung nicht nur wirtschaftliche Ziele zu erreichen, sondern eine Mobilisierung der Bevölkerung im Sinne des Krieges, im Sinne der Bewährung und des Weitermachens bis zum (für die meisten Deutschen) bitteren Ende.

Milei konnte sich in der Nachkriegszeit behaupten, denn es war ein preiswertes, nahrhaftes und funktionales Produkt. Doch es konnte sich als Markenartikel nicht festsetzen, denn Konsumgütermärkte folgen nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) rationalen Überlegungen. Obwohl das Milei-Eiweiß billiger war als das gackernder Hühner, war es doch mit der Enge und Not der Kriegszeit verwoben. Das Hühnerei, ein morgendlicher Proteinschub am Frühstückstisch und Symbol für eine neue alte Normalität, war anders bewertet, Ausdruck einer prosperierenden neuen alten Zeit. Es dauerte einige Zeit, bis die Massenproduktion von Eiern und dann Geflügel auch in deutschen Landen einsetzte – doch das sah man weder dem Ei, noch dem Gefrierhuhn an.

Milei verschwand als sichtbarer Markenartikel, blieb als Zwischenprodukt jedoch unsichtbar präsent. Hier kommen vielleicht wir mit ins Spiel, wir, die wir nicht recht wissen, was wir vom Einkauf schließlich mit nach Hause tragen. Name, Preis und ansatzweise der Geschmack des Gekauften sind bekannt. Doch von der Herkunft der Ingredienzien und Zwischenprodukte wissen wir wenig, von ihrer Geschichte noch weniger. Wir essen willig und fügsam, folgen den so unterschiedlichen Suggestionen der Werbung, die uns andere Geschichten nahebringen, solche, die wir hören sollen, denen wir gerne lauschen, um zu werden, was wir gerne wären – getragen von der Sehnsucht nach einer verlorenen Herkunft, nach Trittfestigkeit des eigenen Lebensweges oder einfach, weil wir all dies nicht an uns heranlassen wollen.

Uwe Spiekermann, 17. April 2021

Wachstum ohne kulinarische Tradition: Die Käseindustrie in Deutschland 1930-2020

Periodisierungen sind immer umstritten. Das gilt auch für die Geschichte der Agrarwirtschaft, in der gemeinhin eine politische Agenda dominiert. Die meisten Historiker heben die Bedeutung der nationalsozialistischen Machtzulassung 1933 hervor, während eine Minderheit mit guten Argumenten den Aufstieg eines außerparlamentarischen Präsidialregimes seit 1930 in den Mittelpunkt rückt. In der noch enger zu fassenden Agrarpolitik war dieses gewiss der wichtigere Einschnitt. Zölle wurden angehoben, direkte und indirekte Subventionen eingeführt und die Milchwirtschaft als erster Agrarsektor in einen planwirtschaftliche Korporatismus überführt. Diese, auch in vielen anderen Staaten zum „Schutz der Landwirtschaft“ getroffenen Maßnahmen, wurden während der NS-Zeit fortgeführt und auf andere Branchen übertragen.

Die Milchwirtschaft – im Deutschen Reich 1930 mit einem höheren Umsatz als Bergbau und Stahlerzeugung zusammen – war von der internationalen Agrarkrise 1925/26 schwer getroffen worden. Milchprodukte standen unter Marktdruck: Der Käseverbrauch der Arbeiter ging ab 1928 zurück, der allgemeine Verbrauch folgte 1929, die Käseproduktion 1930. Während der Weltwirtschaftskrise verlagerte sich der Konsum von teuren auf billigere Sorten. [1] Hartkäse und Camembert verzeichneten die größten Einbußen, während der Verbrauch des preiswerten Sauermilchkäses bis 1931 anstieg. Die Importzahlen stürzten insgesamt ab, doch der billige holländische Edamer gewann auf Kosten des teureren deutschen Tilsiters und Emmentalers. Die wirtschaftlichen Probleme der meisten der knapp 10.000 Sauermilchkäsefirmen vergrößerten sich 1930, da die noch steigende Produktion Folge sinkender Preise war, denen keine entsprechenden Gewinne folgten. Die Anbieter begannen ihre Gestehungskosten weiter zu drücken, das Gewicht des noch per Stück verkauften Sauermilchkäses wurde reduziert, manchmal von 25 auf 15 Gramm, um trotz allgemeiner Deflation den Absatz zu stabilisieren. [2] Parallel nahmen die Klagen über schwindende Qualität zu. Die strukturellen Probleme einer vorrangig kleinbetrieblichen Produktion wurden offenkundig. Im Westen des Reiches steigerten die holländischen Großkäseproduzenten ihren Absatz trotz einer 20%igen Zollbelastung. Ein „mörderischer Preiskrieg“ [3] begann, und der Staat intervenierte rigoros.

Marktordnung nach dem Milchgesetz von 1930

Das Milchgesetz von 1930, das ab 1932 in Kraft trat, führte verbindliche Qualitätsstufen und die Zwangspasteurisierung ein, reorganisierte zudem die Struktur der Molkereien in Deutschland. Regionale Milchwirtschaftsverbände wurden gegründet, Milchbauern dadurch gezwungen, ihre Milch an bestimmte Molkereien zu verkaufen, die wiederum das gesamte Angebot ihrer Region abnehmen mussten. Einkaufs- und Verkaufspreise wurden festgelegt, die Zahl der Milchbauern, Händler und Produzenten begrenzt. Auf Grundlage des Milchgesetzes wurden 1934 standardisierte Hart-, Weich- und Schmelzkäsesorten festgelegt und deren Gesamtzahl auf 48 gedeckelt. [4]

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Deutsche Käsesorten ab 1934 (Käse, o.O. 1938 (Ernährungs-Dienst F. 21), 11 (l.), 17)

Die NS-Regierung machte zudem die bereits 1924 in Württemberg und Bayern eingeführten Landesmilchgesetze verpflichtend. Das Deutsche Reich beließ es nicht mehr bei staatlich geförderten Selbsthilfemaßnahmen, die ehedem freiwilligen Maßnahmen wurden nun vielmehr erzwungen, um Produktion, Groß- und Einzelhandel zu rationalisieren. Viele flankierende Maßnahmen folgten, darunter neue Handelsmarken und eine verbindliche Kennzeichnung des Käses. Die Zahl selbständiger Betriebe wurde reduziert, staatliche Transferzahlungen an Qualitätsstandards, aber auch an politische Verlässlichkeit und rassische Zugehörigkeit gebunden. [5] Das Deutsche Reich stand mit diesen Maßnahmen nicht allein, ähnliche Interventionen erfolgten in vielen, auch demokratisch regierten Staaten, um die Agrarkrise und ihre Folgen ansatzweise bewältigen zu können. Multilaterale Abkommen ergänzten daher die nationalen Maßnahmen: Während der deutsche Markt durch steigende Zölle geschützt wurde, konnten die Käsekontrolle, Produktdefinitionen und auch die Käsekennzeichnung durch internationale Abkommen harmonisiert werden. [6] Die NS-Funktionäre argumentierten, dass das neue System Gerechtigkeit im Milchsektor schaffe und allen Akteuren faire Bedingungen, verlässliche Gewinne und eine bessere Transparenz für die Verbraucher biete. [7] Sie vergaßen zu erwähnen, dass die Landwirtschaft zugunsten der Konsumenten bevorzugt wurde und die Rationalisierungsanstrengungen immer auch strategisch erfolgten, also einer möglichen Kriegsvorbereitung dienten.

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Genossenschaftliche und private Unternehmen der Milchwirtschaft im Deutschen Reich 1932-1938 (Daten n. Gerhard Nitsch, Das deutsche Molkereigenossenschaftswesen. Aufbau, Aufgaben und Leistungen, Marburg 1957, 36)

Charakteristisch für die neue Marktordnung waren nicht zuletzt Importbeschränkungen. Devisen sollten für Rohstoffe von strategischer Bedeutung verwendet werden, nicht aber für vermeintlichen Luxuskonsum. Deutschland nutzte dazu seine starke Stellung auf dem Weltmarkt – 1934 machten die bereits massiv reduzierten Importe noch 14 % des weltweiten Käsehandels aus – um günstigere Bedingungen im Außenhandel zu erhalten. Pointiert formuliert: Die Niederlande und die Schweiz kooperierten mit ihrem großen Handelspartner zu Gunsten der deutschen Wiederaufrüstung. Die staatlichen Interventionen zielten allerdings nicht auf eine strikte Planwirtschaft: Mit der Gründung regionaler Molkereiverbände wurde vielmehr ein flexibles System von Kontrolle und Wettbewerb geschaffen. Während die Bauern eine bestimmte Menge Milch mit definiertem Fettgehalt produzieren mussten, hatten die Händler Mindeststandards bei Lagerung, Kühlung und Umsatz zu garantieren. [8] Die Erzeuger waren in regionale Kontrollnetzwerke eingebunden. Wenn sie die Standards verfehlten oder zu viel Ausschussware produzierten, konnte ihr Betrieb geschlossen werden. Die neue Marktordnung ermöglichte und forcierte die Produktion regionaler Spezialitäten, etablierte zugleich aber nationale Vergleichsmargen. Auch regionale Absatzgebiete und weiterhin bewusst eingeräumte Gewinnchancen halfen dabei, die Produktion zu rationalisieren und auszuweiten. Der durch den Zollschutz verringerte Importdruck, Festpreise sowie garantierte Gewinnspannen regten die Herstellung von Hart- und Schnittkäse in den bisher von Importen dominierten sowie den eher verbrauchsarmen Regionen an. Zugleich setzten sich etablierte „deutsche“ Sorten nun reichsweit stärker durch, etwa der ostpreußische Tilsiter, der nun sowohl in Schleswig-Holstein als in auch Deutschlands Süden zu einem gängigen Verkaufsartikel wurde. [9] Deutscher Edamer und Gouda wurden gleichermaßen im Süden, Norden und Westen populär, auch deutscher Roquefort etablierte sich ab 1930 als Handelsmarke. Obwohl die Agrarpolitik die Zahl der Käsesorten reduziert hatte, erhöhte sich dadurch das regionale und lokale Angebot. Dies war erwünscht – und die Käseproduzenten wurden gezielt geschult, um steigende Mengen standardisierter Ware herzustellen.

Strukturveränderungen der Sauermilchkäseindustrie

Die beträchtlichen Folgen der Marktordnung lassen sich besser noch an den Veränderungen in der Sauermilchkäseindustrie studieren. Die selbständigen Betriebe wurden 1934 in das allgemeine System integriert, standen nun unter gleichem Anpassungsdruck wie die Molkereien. Letztere steigerten nicht nur ihre Produktion von normalem, an Konsumenten abgesetztem Quark von 33.711 Tonnen im Jahr 1932 auf 40.196 Tonnen im Jahr 1934 und 59.152 Tonnen im Jahr 1936, sondern produzierten auch die für die Sauermilchkäseproduktion notwendigen Mengen. [10] Diese hatte 1933/34 Rekordwerte von ca. 100.000 Tonnen erreicht, doch die neue Ordnung erforderte beträchtliche Investitionen. Die Produktion wurde nun statistisch präzise erfasst, verpflichtend vorzulegen war ein monatlicher Bericht über die Quarkversorgung, die Produktion und die Preise. Letztere wurden auch durch die zunehmende Einlagerung des Quarks stabilisiert – ähnlich, wie in anderen Branchen, etwa der Eierwirtschaft.

03_Die Kaese-Industrie_09_1936_p40_ebd_11_1938_p15_Kaeseproduktion_Sauermilchkaese_Maschinenbau_Kaesereimaschinen_Alfred-Luebbers_Langensalza

Leistungsfähigere Maschinen für kleinere Betriebe (Die Käse-Industrie 9, 1936, 40 (l.); ebd. 11, 1938, 15)

Die Produktion der Rohware erreichte im Herbst ihre jährlichen Spitzenwerte, doch durch die zeitliche Streckung der Weiterverarbeitung konnten die saisonalen Preisschwankungen verringert werden. Lagerhaltung, intensivierte Kontrollen und die neuen Produktstandards erhöhten allerdings die Fixkosten. Im Jahr 1935 stellten offiziell 1.700 Betriebe – viele Kleinstbetriebe wurden statistisch nicht erfasst – 90.000 Tonnen Sauerkäse her. [11] Zwei Jahre später war die Zahl der Firmen auf 1.200 gesunken, deren Produktion auf 65.000 Tonnen. [12] Obwohl Sauermilchkäse immer noch die wichtigste Käsesorte im Deutschen Reich war, erzwangen der Kapitalmangel und das recht rigide Kontrollsystem die Schließung zahlreicher kleinerer Betriebe, die den neuen Standards nicht genügen konnten. [13] Firmen, die nicht in der Lage waren, kriteriengemäß marktfähige Ware zu produzieren, wurden ebenfalls geschlossen. Die Marktordnung diente einer politisch-ideologischen Gleichschaltung, zielte darauf, „daß unzuverlässige Elemente ausgeschaltet werden und daß alle Betriebe […] gemeinsam, willig und gern an den gesteckten Zielen mitarbeiten.“ [14] Im Jahr 1937 hatte sich die Branche stabilisiert, 75.000 Tonnen Sauermilchkäse wurden damals von 1.256 Firmen hergestellt. [15] Dennoch erreichte die Branche nie wieder eine ähnliche Position wie in der Zeit vor der Marktbereinigung. Lokale und regionale Sorten ließen eine wirklich einheitliche Produktqualität kaum zu, und die Behörden drohten weiterhin: „Wer nicht hält Schritt, kommt nicht mit!“ [16]

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Sensorische Qualitätsprüfung von Käse (Die Käse-Industrie 9, 1936, 72)

Schmelzkäse und Kriegsplanungen

Charakteristisch für die Zeit des Nationalsozialismus war demnach eine reduzierte Zahl von Käsesorten und einer allgemeinen Abkehr von Sonderwünschen seitens der Verbraucher (natürlich mit Ausnahme von NSDAP-Funktionären und Günstlingen des Regimes). [17] Dennoch waren Produktinnovation weiterhin zentral für Umfang und Struktur des Konsums. Der in den 1920er Jahren sehr erfolgreich eingeführte Schmelzkäse wurde in den 1930er Jahren noch wichtiger. [18] Der aufnahmefähige deutsche Markt zog nun vermehrt ausländische Investoren an: 1934 errichtete die US-amerikanische Kraft Cheese Company eine neue Schmelzkäsefabrik in Lindenberg im Allgäu. [19] Sie produzierte seit 1937 mit Velveta den bekanntesten und umsatzstärksten Markenartikel der Branche, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg Marktführer in der Bundesrepublik Deutschland blieb. Auch dieses Produkt hatte strategische Bedeutung: Schmelzkäse wurde von Wehrmachtvertretern und Vertretern der immer stärker ausgebauten Gemeinschaftsverpflegung gegenüber anderen Sorten bevorzugt, denn er war leicht zu handhaben, verursachte nur geringe Verluste und war einfach zu lagern.

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Schmelzkäsewerbung während des Zweiten Weltkrieges (NS Frauen-Warte 10, 1941/42, 14)

Die Kriegsplanung von NS-Regime und Wehrmacht ging von einem gespaltenen Käsemarkt aus. Einerseits war der Käse ein wichtiger Faktor, um die noch in großen Mengen verfügbare Magermilch für die menschliche Ernährung zu nutzen. Als solcher gewann er in der Gastronomie und im Haushalt an Bedeutung. Billiger Koch-, Sauermilch-, Weich- und Hüttenkäse wurden beliebter und als gesunde Nahrungsmittel beworben. [20] Andererseits war haltbarer und nahrhafter Hartkäse – neben dem Schmelzkäse – integraler Bestandteil der Wehrmachtsverpflegung. Die massiv geförderte Lebensmitteltechnologie entwickelte zudem gebrauchsfertigen Koch- und Schmelzkäse in Dosen sowie Käsepulver. All dies wurde durch beträchtliche Forschungsanstrengungen umkränzt und ermöglicht, durch die insbesondere Produktions- und Reifezeiten beschleunigt werden konnten. [21] Den Verbrauchern war jedoch nicht zu vermitteln, warum sie auf die gehaltvolleren Käsesorten verzichten sollten: 1938 wurden pro Kopf immerhin 2,19 Kilogramm Hartkäse verzehrt, also 40 % des durchschnittlichen Gesamtverbrauchs von 5,5 Kilogramm. [22]

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Auslage eines Milchfachgeschäftes 1938 (Die Käse-Industrie 11, 1938, 84)

Käsewerbung in tradierten Formen

Die staatlich unterstützte Käsewerbung wurde auch während der NS-Zeit fortgesetzt, nationale Gemeinschaftswerbung durch regionale Kampagnen ergänzt, ab und an auch einzelne Sorten gezielt vermarktet. [23] Daneben lief die privatwirtschaftliche Werbung weiter, mochte sie mangels starker Markenartikel (Ausnahme: Schmelzkäse) auch nicht sehr breitenwirksam war. Käse wurde zudem in rassistisch begründete Gesundheitskampagnen integriert. [24] Neuartige und kleinere Verpackungen kamen weiterhin auf, wurden genutzt, um neue Verbrauchergruppen anzusprechen. [25] Insgesamt konnte der Käse seine Stellung in der täglichen Kost während der 1930er Jahre weiter ausbauen. Er galt immer noch als Beikost, wurde nun aber sowohl zum Frühstück als auch zum Abendessen verzehrt. Er wurde in die Gemeinschaftsverpflegung eingebunden, galt als strategisch wichtiges Gut und billigster tierischer Eiweißträger. Die Strukturreformen in der Molkereiwirtschaft hatten den Verbrauch dennoch nur moderat gesteigert. Von 1935 bis 1938 wurden lediglich 4 % der deutschen Vollmilch zu Käse und Quark verarbeitet, während der Butteranteil auf 53 % angewachsen war. [26]

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Käsewerbung während der Reichskäsewoche 1938 (Käse, 1938, I (l.); Die Käse-Industrie 11, 1938, 84)

Käseversorgung während des Zweiten Weltkrieges

Für das NS-Regime war jedoch entscheidend, dass sich die strikte Marktordnung der deutschen Milchwirtschaft während des Zweiten Weltkriegs bewährte. In den Molkereien stieg die deutsche Käseproduktion (Grenzen von 1938) von 138.800 Tonnen (66.600 Tonnen Hartkäse, 72.200 Tonnen Weichkäse) in den Jahren 1935/38 auf 180.600 (106.000, 74.700) 1941 und 200.000 (130.500, 69.500) im Jahre 1944. Parallel dazu wurde die bäuerliche Käseproduktion offiziell von 8.500 Tonnen (1935/38) auf 2.400 (1941) und 2.300 (1944) reduziert. Die Produktion von Sauermilchkäse blieb relativ stabil (56.000 Tonnen 1935/38, 53.000 (1941), 59.500 (1944)). Außerdem stieg die Quarkproduktion von 114.200 Tonnen (1935/38) auf 137.000 (1941) und 145.300 (1943; 1944 keine Angaben). [27] Noch 1944 wurden fast 80 % der deutschen Vollmilch von Molkereien verarbeitet, der Erfassungsgrad konnte also deutlich erhöht werden. Für die Stabilität der vielbeschworenen Heimatfront war es ferner wichtig, dass im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg der Käsekonsum der Zivilbevölkerung nicht einbrach. Obwohl die Herstellung von Fettkäse zu Beginn des Krieges verboten wurde [28], blieb der Gesamtverbrauch bis 1944 auf einem relativ hohen Niveau: Im Jahr 1939/40 verbrauchten die Deutschen (in den Grenzen vom 31. August 1939) 5,5 Kilogramm pro Kopf, gefolgt von 5,4 1940/41, 5,2 1941/42, 5,0 1942/43, 4,9 1943/44 und schließlich 4,4 kg 1944/45. Dieser über das Rationierungssystem per Karte zugeteilte Käse wurde zunehmend aus entrahmter Milch hergestellt, wurde also fettärmer. [29] Während des Zweiten Weltkrieges gewann zudem die häusliche Käseproduktion wieder an Bedeutung. [30] Die dezentral angesiedelte Industrie selbst war bis zum Frühjahr 1945 in der Lage, Hartkäse an die Wehrmacht zu liefern. [31]

Wiederaufbau und verstärkter Importdruck

Die totale Niederlage des Deutschen Reichs im Mai 1945 änderte nichts an der Struktur der landwirtschaftlichen Produktion. Die Planwirtschaft des Reichsnährstandes wurde bis 1948 fortgeführt und dann durch ein komplexes korporativ organisiertes Produktionssystem ersetzt, dessen Hauptziel eine erhöhte Produktion von Lebensmitteln und Rohwaren war – und das deshalb recht großzügig subventioniert wurde. Wie in den Jahrzehnten zuvor war die Fett- und Eiweißproduktion unzureichend. Dies führte trotz hoher Zusatzlieferungen der Alliierten 1946/47 zu allgemeiner Mangel- und Unterernährung.

In den ersten Jahren des im Mai 1949 gegründeten neuen westdeutschen Staates versuchten die amerikanische Besatzungsmacht und liberale Politiker noch, die Landwirtschaft im Allgemeinen und die Käseproduktion im Besonderen zu deregulieren. Die Rationierung sah bis Juni 1949 eine monatliche Lieferung von 125 g Käse pro Kopf vor, ab Juli wurde diese auf 250 g verdoppelt – und endete dann bereits im September 1949. Dies gab einen starken Anreiz für eine Produktionssteigerung, doch nach einem kurzen Boom 1949 flachten Herstellung und Absatz 1950 deutlich ab. [32] Hohe Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Zahl von Streiks standen am Anfang des fast zwei Jahrzehnte währenden „Wirtschaftswunders“. Es schien daher konsequent, mit dem Milchgesetz von 1951 die Marktstruktur der NS-Zeit wiederherzustellen. Die Milchpreise wurden neuerlich festgesetzt, Lieferung, Anlieferung und Außenhandel von Milch und Milchprodukten blieben eng reguliert – und selbst die Zahl der Käsesorten blieb konstant. Die meisten Fachleute waren bewährte (und ab und an verbrecherische) NS-Experten, die wie zuvor auf eine striktere Rationalisierung nach staatlichen Vorgaben setzten, einschließlich einer weiteren Reduktion der Zahl der Käsesorten im Verbrauchermarkt. [33]

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Nachkriegsidyllen und Schmelzkäse (Die Stimme der Frau 1, 1948/49, H. 10, 29 (l.); ebd., H. 8, 31)

Aber es gab Anfang der 1950er Jahre einen wichtigen Unterschied zur Präsidialdiktatur und der NS-Zeit: Auf Drängen vornehmlich amerikanischer Fachleute blieb die Liberalisierung des Außenhandels ein zentrales, auch die Agrarpolitik prägendes Thema. Westdeutschlands Devisenmangel und der strukturelle Zwang, angesichts unzureichender Nahrungs- und Futtermittel Industriegüter exportieren zu müssen, führten zu Zugeständnissen im Bereich der Landwirtschaft, die auch von der weiterhin starken Agrarlobby nicht verhindert werden konnten. Die Zollschranken fielen langsam, aber merklich: Im April 1953 wurde die Einfuhr von Schnittkäse liberalisiert. Obwohl die 30%igen Importzölle noch in Kraft blieben, fielen nun Mengenbeschränkungen bzw. Importquoten. [34] Niederländische und dänische Importeure gewannen rasch größere Marktanteile, obwohl deutscher Käse billiger war. Die importierte Ware war von höherer und standardisierter Qualität, die ehedem deutsch besetzten Länder konnten ihre bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Wettbewerbsvorteile rasch wieder ausspielen. Ihre Angebote setzten die größeren Produzenten aus dem Rheinland, Norddeutschland und dem Allgäu unter starken Wettbewerbsdruck. [35]

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Werbung für Importkäse 1958 (Ratgeber für Haus und Familie 52, 1958, 459)

Agrarischer Wettbewerb fand im vermeintlich vom Ordoliberalismus geprägten Westdeutschland jedoch in einem engen staatlichen Rahmen ab. Der 1955 implementierte Landwirtschaftsplan sah massive und kontinuierliche Subventionen vor, um einerseits die Produktion von Getreide, Fleisch und Milch zu steigern, um andererseits die Einkommenssituation der Landwirtschaft zu stabilisieren. Eine marktwirtschaftlich gebotene Schocktherapie für die personell überbesetzte und im Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn wenig effiziente Landwirtschaft wurde aus sozialpolitischen Gründen verworfen. Die künstlich hochgeschraubten Preise mussten letztlich die Verbraucher zahlen. Diese setzten sich durchaus zur Wehr, doch selbst Milchboykotte entfalteten keine Wirkung. [36] Allerdings stritt man öffentlich weniger um Käse, sondern – wie bis heute – vorrangig um Milch- und Butterpreise. [37] Die neue Marktordnung und der Importdruck hielten die Verbraucherpreise tendenziell stabil und machten Käse dadurch vergleichsweise billig(er).

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Camembert, Edamer und Tilsiter: Angebote aus den frühen 1950er Jahren (Heinz Mahn, Der Käsemarkt in Deutschland, Frankfurt a.M. 1952, 57)

Der Trend zu mehr und preiswertem Käse

Der Käsekonsum war in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgegangen und erreichte 1948/49 nur noch 3,1 Kilogramm pro Kopf. Doch die Mengen stiegen rasch wieder an, schon 1950/51 schlugen 5 Kilogramm pro Kopf zu Buche. Dabei dominierte Hartkäse, gefolgt von Schmelzkäse. Sauermilchkäse hatte an Bedeutung verloren, Quark war dagegen wieder auf dem Vormarsch. [38] 1952 erreichte der Verbrauch die Vorkriegszahlen, und das folgende Jahrzehnt verzeichnete einen Anstieg um 40 % auf 7,7 kg pro Kopf im Jahr 1962. [39] Dies war allerdings nicht eine quasi natürliche Folge der höheren Reallöhne, sondern Folge eines nun einsetzenden strukturellen Wandels im Käsekonsum: Die deutsche Produktion von Hart-, Schnitt-, Weich- und Sauermilchkäse stieg zwischen 1952 und 1962 lediglich um 5,5 %. Die Herstellung von billigem Quark und Frischkäse verdoppelte sich dagegen. Leichtere und fettärmere Sorten gewannen also an Bedeutung. Parallel verzeichneten aber auch fette und teurere Sorten, wie Emmentaler und Camembert, ein überdurchschnittliches Wachstum. Schnittkäse, insbesondere Tilsiter, Edamer und Gouda, konnte mit der Importware nicht wirklich konkurrieren. Stark riechende Käsesorten mit geringem Fettgehalt, wie Limburger, Romadur und auch Sauermilchkäse, verloren deutlich an Boden, denn Käse entwickelte sich zu einer eher moderaten Speise. Insgesamt profitierte die Käseproduktion auch von den überdurchschnittlich steigenden Preisen für Schinken und Wurstwaren. Beim Käse gab es also ein „Wirtschaftswunder“, doch der Aufschwung betraf vorrangig die unteren, weniger die mittleren Segmente des Marktes. Der Importkäse, der Anfang der 1960er Jahre fast die Hälfte der deutschen Käseproduktion erreichte, war nämlich billig, Resultat zunehmender Massenproduktion in mittleren und großen Unternehmen. [40] Angesichts des Wachstums auch bei teureren Sorten haben wir es also mit einer frühen Polarisierung des Marktes zu Lasten der mittleren Preissegmente zu tun. Dies passt nicht recht zum Mythos des Aufschwungs für alle – und so blieb eine Nahrungsinnovation das wichtigste mit dieser Zeit verbundene Käseprodukt: Kraft führte 1956 die Scheibletten ein, die allgemein zum Toasten oder Überbacken verwendet wurden und auch die wachsende Grillleidenschaft befeuerten. Schmelzkäse, dessen Verbrauch Anfang der 1960er Jahre bei etwa ein Kilogramm pro Kopf und Jahr stagnierte, war auch der erste deutsche Käse, der auf internationalen Märkten erfolgreich war. 1957 wurden 3.500 Tonnen exportiert, 1962 bereits 12.000 Tonnen. [41] Während der Milchverbrauch in den 1950er Jahren zurückging, der Butterverbrauch stagnierte und der Käseverbrauch angesichts seines relativ geringen Anteils an der Milchwirtschaft hier kaum Abhilfe schaffen konnte, wurde der Export seither zu einem wichtigen Element, um die immer weiter wachsende Milchproduktion zu bewältigen.

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Markterfolg Scheibenkäse – hier von der Scheibletten-Konkurrent Milkana (Der Verbraucher 18, 1964, 175)

Käsesorten als Begriffshüllen

Kraft stand zugleich für eine weitere wichtige Änderung des Marktes: Eine Revision der Käseverordnung hatte 1957 festgelegt, dass Emmentaler nur noch aus mäßig erhitzter Rohmilch hergestellt werden durfte. Drei Konkurrenten, die außerhalb des Allgäus produzierten und für ihren „Emmentaler“ pasteurisierte Milch verwendeten, klagten gegen diese Vorschrift – und waren nach langen Gerichtsprozessen erfolgreich. [42] Während der „Allgäuer Emmentaler“ auf traditionelle Art hergestellt werden musste, konnte für die Herstellung von Käse à la Emmentaler pasteurisierte oder technisch anders verarbeitete Milch eingesetzt werden. Dies war Folge der wachsenden technologischen Möglichkeiten bei der Käseproduktion, die vorrangig von größeren Molkereien und Käsefirmen genutzt wurden. Die Käsesorten selbst wurden Anfang der 1950er Jahre durch das Stresa-Abkommen harmonisiert, das international anerkannte Kategorien von Frischkäse, Sauermilchkäse (oder Käse mit Milchgerinnung, der ohne Lab hergestellt wird), gereiftem Käse, Käse aus Molke oder Buttermilch und Schmelzkäse festlegte. [43] Die Definition regionaler Sorten war eine weitere zentrale Harmonisierungsaufgabe, denn keine der in Europa dominierenden Käsesorten war im 19. Jahrhundert als Handelsmarke geschützt worden. Deutsche Produzenten konnten daher mit Fug und Recht darauf verweisen, dass Emmentaler, Edamer, Gouda, Limburger, etc. bereits im späten 19. Jahrhundert im Deutschen Reich hergestellt wurden. [44] Verbessere Produktionstechnologien sowie Zusatz- und Austauschstoffe machten einschlägige Definitionen noch schwieriger. Damals machte man aus der Not eine Tugend und schützte nunmehr regionale Spezialitäten durch Herkunftsbezeichnungen. Die wichtigsten Käsesorten konnten aber weiterhin ohne größere Einschränkungen der Kennzeichnungen verkauft werden. Käse emanzipierte sich also zunehmend sowohl von tradierten Herstellungsweisen und Rohstoffen als auch von bestimmten Produktionsräumen – sieht man von einem kleinen höherwertigen Angebot ab.

Defizitäre Marketingorientierung

Die Emmentaler-Debatte verdeutlichte ein weiteres Kernproblem der deutschen Käsewirtschaft in der Nachkriegszeit. Für die meisten Produzenten war die Käseherstellung immer noch ein Handwerk, eine „handwerkliche Kunst” [45]. Zwar wurden die Käsereien in den 1950er Jahren modernisiert, doch die neuen Maschinen waren meist verbesserte Ersatzgeräte, standen also nicht für veränderte Produktionsweisen. [46] Dies war keineswegs Folge eines kruden Traditionalismus, sondern ließ sich auch auf die große Zahl von Käseproduzenten zurückführen, die aus den östlichen Teilen des Deutschen Reiches vor allem nach Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Oldenburg gekommen waren und dort ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Aus westdeutscher Perspektive gingen durch die Gebietsverluste und die Gründung der DDR etwa 50 % der Hartkäse-, 25 % der Weichkäse- und 60 % der Sauerkäseproduktion verloren. [47] Wichtiger waren jedoch unterschiedliche Zielsetzungen der Agrarpolitik. Nach 1930 hatte man durch Rationalisierung versucht, die Zahl der Produzenten zu reduzieren, um dadurch Größenvorteile nutzen zu können. Die Allparteienkoalition der westdeutschen Agrarpolitiker versuchte dagegen, den wirtschaftlichen Wandel der Landwirtschaft zu bremsen und sozial zu befrieden. Auch dadurch waren die meisten Milch- und Käseproduzenten nicht in der Lage, modernes und eigenständiges Marketing zu betreiben. 1950 wurde in Frankfurt/M. daher der Verein für Förderung des Milchverbrauchs gegründet, dessen Jahresetat anfangs drei, 1969 dann acht Millionen DM betrug. [48] Die Broschüren und Plakate knüpften an die Vorgänger der späten 1920er und 1930er Jahre an – und waren entsprechend folgenlos. Die regionalen Verbände der Milchwirtschaft gaben parallel jährlich weitere 20 Millionen DM pro Jahr aus, doch mangels starker Marken verbanden sich zumeist Appelle für mehr Konsum mit einschlägigen Zubereitungsweisen (wobei ich bei alledem die Förderung von Milchbars, Milch- und Kakaoautomaten und Schulmilch außer Acht lasse).

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Alles gut – Gemeinschaftswerbung für Käse 1963 (Der Volkswirt 17, 1963, 2382 (l.); ebd., 2470)

Die neue alte europäische Milchmarktordnung

Die westdeutsche Milchmarktordnung hielt bis 1964 – und wurde dann durch die Verordnung über die Schaffung einer gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse durch die Europäische Wirtschaftgemeinschaft (EWG) auf eine neue Stufe gehoben. [49] Die neue Ordnung wurde anfangs als Maßnahme präsentiert, die bestehende Milcherzeugung in ein wettbewerbsfähiges Marktsystem zu überführen. Sie schuf einen gemeinsamen EWG-Milchmarkt, legte Preisempfehlungen für Milch und ein Subventionssystem fest, führte vor allem aber ein Interventionssystem ein, um einen bestimmten Butterpreis zu garantieren, eine europaweite Lagerhaltung zu initiieren und neue Zollschranken für Nicht-EWG-Mitglieder zu errichten. [50] Damit setzte die EWG lukrative Anreize für eine höhere Produktion von Milch und Milchprodukten. Auf diese Art transformierte sie Kernelemente der früheren deutschen Milchordnungen in ein europäisches System. [51] Die wirtschaftlichen Folgen lagen auf der Hand: Nun war ein steter Rohstofffluss gewährleistet. Angesichts des stagnierenden Milch- und Butterverbrauchs und abgesehen von der Herstellung von Milchpulver oder technischen Produkten bot Käse die einzige wirkliche Chance für Wachstum innerhalb der Milchwirtschaft. Der Importdruck durch die übermächtigen EWG-Partner würde zugleich weiter anhalten, ja tendenziell zunehmen. Entsprechend waren gravierende Änderungen in Produktion und Marketing unabdingbar, um massive Verluste innerhalb der heimischen Käseindustrie zu vermeiden. Die dänische und schweizerische Konkurrenz war zwar vorübergehend ausgeschaltet, aber die EWG-EFTA-Verhandlungen würden schließlich zu Kompromissen und anhaltendem Importdruck führen. Andererseits bot die EWG insbesondere für Deutschland neuartige Exportchancen, war man doch das Mitgliedsland mit dem niedrigsten Milch- und Käsepreisniveau. Aufgrund der EWG-Mindestpreisgarantien war der Export in Nicht-EWG-Mitgliedsländer gleichsam erzwungen, wollte man sich denn im Markt behaupten.

Es ist hier nicht der Ort, die katastrophalen Folgen dieses Kernelements der europäischen Agrarpolitik zu diskutieren, die neue Begriffe wie „Milchsee“ oder „Butterberg“ rasch auf den Punkt brachten. In unserem Zusammenhang wichtig ist, dass für die Käseindustrie neue unternehmerische Chancen geschaffen wurden, mochten diese auch zu Lasten der Verbraucher resp. der Steuerzahler gehen. Dabei war das Kernproblem der hiesigen Anbieter die nach wie vor einseitig dominierende Produktorientierung. Qualität war seit 1930 zum Mantra der Molkereifachleute geworden, während die garantierten Preise die Marketingperspektive des Geschäfts vernachlässigen ließen. [52] Es war eben kein Zufall, dass nicht zuletzt die Werbung in den 1950er und auch noch Anfang der 1960er Jahre altmodisch war und in überkommen Bahnen verlief.

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Aufholen der deutschen Molkereien: Milram, 1963 eingeführt (Der Verbraucher 1976, Nr. 16, 43)

Marktchancen in einem einseitig regulierten Markt

In den 1960er Jahren erkannten jedoch private Käseproduzenten und zunehmend auch große Genossenschaften ihre Marktchancen. Ein gutes Beispiel dafür war 1964 das „delicando“-Programm von Hamburgs größtem Käseproduzenten, dem Milch-, Fett- und Eierkontor. Es konzentrierte sich auf Schnittkäse, eine Stärke der niederländischen und dänischen Importeure. Natürlich verbesserte man erst einmal die Qualität des eigenen Angebotes und führte strenge Qualitätskontrollen ein. Zugleich aber schuf man eine neue Handelsmarke und reduzierte das Angebot auf nur vier gängige Sorten. [53] Delicando war auch eine Antwort auf die neuen Selbstbedienungs-Supermärkte, die in den frühen 1960er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. In diesem Fall schlossen sich letztlich 42 mittelständische Käseproduzenten zusammen, mit 28 % der westdeutschen Schnittkäseproduktion. Weitere regionale Verbände führten ähnliche Programme ein, zum Beispiel „frischli“ in Niedersachsen. Diese Molkereien folgten dabei ähnlichen Handelsmarkenprogrammen wie etwa die der Einkaufsgenossenschaften Edeka oder Rewe. Wie schon während der NS-Zeit hieß es nun wieder diesen Programmen zu folgen oder aber aus dem Geschäft auszusteigen.

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Käseprodukte für die neue Welt der Supermärkte: Frischkäsemarken Cheesy und frischette (Der Verbraucher 1974, Nr. 4, 13 (l.); ebd., Nr. 20, 5)

Die Folge war ein schneller und stetiger Anstieg der Größe der bestehenden Molkereien. Das erforderte Fusionen von Molkereien und Molkereiverbänden – und eine wachsende Zentralisierung der Käseproduktion. Im Jahr 1967 fusionierten beispielsweise fünf südwestliche Verbände, die zusammen mehr als 120 Produktionsstandorte umfassten. [54] Massive Schließungen kleinerer Hersteller folgten. Damit traten die westdeutschen Käseproduzenten in eine neue Ära des nationalen und internationalen Wettbewerbs ein. Es war vielleicht kein Zufall, dass Ende der 1960er Jahre auch die Eigenproduktion von Käse an ein Ende kam, als die Molkereien beschlossen, an die Milchbauern keinen Quark mehr zu liefern. [55]

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Wachsende Warenvielfalt in neuartigen Kühlregalen (So baut man heute an der Ruhr, Rheydt 1960, s.p.)

Käse in einer neuen Welt des Güterabsatzes

Doch in den 1960er Jahren veränderten sich nicht nur die für einen wachsenden Käsekonsum in Deutschland und potenziellen Auslandsmärkten zentralen politischen Rahmenbedingungen. Damals setzte sich zudem die Kühltechnik sowohl im Handel als auch in den Haushalten durch. [56] Frischkäse gewann dadurch neue Marktchancen, und zugleich sanken die nicht geringen Warenverluste in den Geschäften und zu Hause. Der Aufstieg der Supermärkte führte zu größeren Verkaufsstätten und einer immensen Sortimentserweiterung gerade bei Milchprodukten. Von 1963 bis 1969 stieg deren Zahl in den Supermärkten von durchschnittlich 127 auf 309. [57] Parallel mit der Einbindung in rasch expandierende Selbstbedienungssysteme änderte sich das Erscheinungsbild des Käses neuerlich: Plastikverpackungen erlaubten den direkten Blick auf die Ware, schützten zudem den immer häufiger vorgeschnittenen Inhalt.

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Vorgeschnittene „Natur“-Käsescheiben in transparenter Plastikfolie 1960 (Kristall 16, 1960, 381)

Vielleicht noch wichtiger als derartige Veränderungen im Gesichtsfeld der Konsumenten waren die Rückwirkungen der modernen Verpackung auf die Wertschöpfungsketten: Verpackungsmaschinen und hygienische Warenflüsse erforderten Kapital – und damit größere Firmen und koordinierte Lieferketten. [58] Der Wandel des Einzelhandels verstärkte also den politisch initiierten Druck auf Molkereien und Käsehersteller. Die Nachfragemacht des Handels erforderte Angebotsmacht – enge Kooperationen und Fusionen waren die rationale ökonomische Antwort. Darüber hinaus profitierte der Käsekonsum von der immer stärkeren Verwendung von Käseprodukten in der Lebensmittelproduktion: Fertiggerichte und Pizza ebneten den Weg für einen rasant steigenden Einsatz von Reibekäse und Pasta Filata. Schließlich gaben die EWG-Erweiterung und Produktinnovationen wichtige Anreize für die Vervierfachung des deutschen Käsekonsums von 1960 bis 2000. Neue Sorten, etwa Mozzarella, Feta oder Leerdamer, wurden in die deutsche Esskultur integriert – und sofort von deutschen und anderen Käseproduzenten kopiert. [59] Der deutsche Frischkäse- und Quarkverbrauch verdoppelte sich von 2,6 Kilogramm pro Kopf im Jahr 1962 auf 5,1 im Jahr 1973. [60] Der Gesamtkäseverbrauch stieg 1973 auf 10,6 Kilogramm, lag 1983 bei 14,7 Kilogramm und überschritt 1996 die 20-Kilogramm-Marke (mit 20,1 Kilogramm pro Kopf). [61]

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Strukturwandel der Käseproduktion in Bayern 1950-2019 (Statistik der Bayerischen Milchwirtschaft 2019, hg. v. d. Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft, Freising 2020, 28)

Käseexport als Wachstumsmotor

Für dieses Wachstum entscheidend war der Außenhandel. Die Bundesrepublik Deutschland war bereits in den 1960er Jahren der zweitgrößte Käseimporteur der Welt. Hauptnutznießer waren die Niederlande – sie lieferten 90 % der westdeutschen Schnittkäseimporte – und Frankreich, das die Weichkäseimporte vollständig dominierte. [62] Vor den EWG-Milchmarktreformen waren die deutschen Exporte niedrig und wurden von Schmelzkäse (bzw. der Firma Kraft) dominiert. 1963 betrug der Weltmarktanteil westdeutscher Käseexporte nur 3,5 %. Doch nun begann ein rasantes Wachstum: Die Ausfuhren stiegen zwischen 1963 und 1973 von 18.900 auf 81.900 Tonnen. [63] Italien wurde das mit Abstand wichtigste Zielland, gefolgt von den USA. Schmelzkäse blieb wichtig, wurde aber in den 1960er Jahren von Hart-, Schnitt- und Weichkäse übertroffen. Mit anderen Worten: In Deutschland ansässige Firmen drangen mit Produkten und Strategien in die italienischen Märkte ein, die zuvor von niederländischen Produzenten in Deutschland genutzt wurden. Es waren vor allem Anbieter aus dem bayerischen Allgäu, die billigen und massenindustriell gefertigten Käse in einen wachsenden nahe gelegenen ausländischen Massenmarkt exportierten.

Der Exporthandel wurde von größeren und effizienteren Firmen dominiert. Zum einen fusionierten viele Molkereien zu größeren Einheiten. Die Zahl der Molkereien halbierte sich von mehr als 800 im Jahr 1970 auf rund 400 im Jahr 1980. Im Jahr 1991 gab es im vereinigten Deutschland 379 milcherzeugende Betriebe, davon 207 genossenschaftliche Molkereien. Bis 2003 sank diese Zahl auf 230, davon 106 Kapitalgesellschaften, 2015 betrug die Gesamtzahl 102. [64] Begleitet wurde dieser Wandel von einer zunehmenden Spezialisierung. Während multinationale Konzerne – etwa Danone oder Unilever – die gesamte Produktionspalette von Milchprodukten anboten und weltweit vermarkteten, etablierten sich parallel Hersteller von Markenprodukten und Handelsmarken. Erstere, etwa Bauer oder Hochland, produzierten Premiumprodukte mit relativ hohem Mehrwert für einen internationalen Markt. Die zweite Gruppe etablierte keine Markenidentität, sondern konzentrierte sich auf den unteren, den preiswerteren Bereich des Marktes. Alle diese Unternehmen kooperierten eng mit führenden deutschen Einzelhändlern, die innerhalb Europas und im letzten Jahrzehnt auch in den USA eine führende, teils dominierende Stellung einnahmen. Ähnliche Muster entwickelten sich auf regionaler Ebene, wo regionale Akteure entweder versuchten, eine starke Markenidentität zu etablieren, oder sich mittelständische Unternehmen auf massenhaft hergestellte Billigprodukte für regionale Märkte konzentrierten. [65]

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Kraft-Fabrik Schwabmünchen 1958 (Der Spiegel 1958, Nr. 16, 25)

Dieser rasche Wandel wäre ohne beträchtliche ausländische Direktinvestitionen nicht möglich gewesen. Nur drei deutsche Unternehmen – Deutsches Milchkontor, Müller und Arla – waren 2018 unter den zwanzig global führenden Molkereien. Aber zehn dieser zwanzig Unternehmen produzierten an insgesamt 37 Standorten in Deutschland. [66] Es ist daher eine typische semantische Illusion, von „deutschem“ Käse zu sprechen. Dabei ist der Molkereimarkt hierzulande wettbewerbsintensiv, besitzen doch mehr als ein Dutzend Firmen Marktanteile von über 3 %. [67] Acht Unternehmen – Deutsches Milchkontor, Müller, Hochwald, Arla, Hochland, FrieslandCampina, Fude + Serrahn und Zott – hatten 2017 einen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro. [68] Es ist sehr wahrscheinlich, dass weitere Fusionen zu noch kapitalkräftigeren nationalen und multinationalen Unternehmen führen werden.

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Quintessenz moderner Milchverarbeitung: Müller-Standort Leppersdorf (https://www.muellergroup.com/die-gruppe/standortportraits/leppersdorf/ [Abruf: 23.02.2021])

Die Bundesrepublik Deutschland blieb der zweitgrößte Käseimporteur der Welt. Doch 1987 wurde es vom Nettoimporteur zum Nettoexporteur. [69] Im Jahr 2018 wurden 49 % der deutschen Käseproduktion exportiert. Fast 90 % gingen in andere Länder der Europäischen Union (EU), doch zunehmend boten auch Nicht-EU-Märkte Marktchancen. Russland, ehedem größter Abnehmer, wird seit einigen Jahren aus politischen Gründen nicht mehr beliefert, doch die Schweiz, Japan, die USA und Südkorea, Balkanstaaten und die arabische Welt können und werden wahrscheinlich wachsende Mengen „deutschen“ Käses importieren. Anderseits wurden 2018 41 % des deutschen Käsekonsums importiert, fast durchweg aus der EU. Die Verbraucherpreise sind relativ niedrig – und die Bundesbürger können alle Käsesorten dieser Welt genießen. [70] All dies veränderte den ökonomischen Stellenwert von Käse massiv: Er ist seit den frühen 1960er Jahren die treibende Kraft des Milchmarktes. Heute wird mehr als ein Drittel der hierzulande produzierten Milch zu Käse verarbeitet.

Zwei Aspekte sind zu ergänzen: Zum einen ist Deutschland heute der zweitgrößte Markt für Bio-Lebensmittel weltweit. Deutscher Bio-Käse wurde in den letzten zwei Jahrzehnten stark subventioniert, blieb jedoch ein Nischenprodukt. Sein Marktanteil wuchs lange Zeit, vor allem in Süddeutschland, lag aber mit 2,4 % im Jahr 2016 und nur mehr 2,2 % im Jahr 2019 weit unter dem durchschnittlichen Anteil von Bio-Lebensmitteln in Deutschland. [71] Auf der anderen Seite hat sich Analogkäse zu einer wichtigen und günstigen Alternative zu Käse entwickelt. Im Jahr 2015 wurden ca. 100.000 Tonnen produziert, also knapp 5 % der gesamten Käseproduktion. Die meisten dieser nicht immer präzise abzugrenzenden Ersatzprodukte werden exportiert, zumal sie hierzulande als Zugabe zu Pizza, Lasagne oder Käsebrötchen gekennzeichnet werden müssen. [72] Veganer bevorzugen solche Imitate und es ist mehr als wahrscheinlich, dass solcher Kunstkäse in Zukunft Marktanteile gewinnen werden. Vermeintlich „gesunde“ Ernährungsweisen knüpfen damit an Entwicklungen an, die vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Reich scheiterten.

Käse – und die Aufgabe des Historikers

Es war ein langer Weg vom Aufstieg der deutschen Molkereien und Sauerkäsereien bis zur heutigen globalen Präsenz von „deutschem“ Käse. Im Gegensatz zu Staaten mit einer reicheren kulinarischen Tradition der Käseherstellung haben „deutsche“ Produzenten gelernt, die Kernbedürfnisse des modernen Massenmarktes zu bedienen. Doch obwohl eine unüberschaubare Anzahl von Kochbüchern und Lebensmittelhandbüchern veröffentlicht wurde, um den nuancierten Geschmack dieses Milchprodukts zu preisen, ist dies nicht mehr als die ästhetische Fassade einer Lebensmittelversorgung, die vor allem von soliden, schmackhaften und standardisierten Sorten geprägt ist. Deutschland hat die meisten seiner traditionellen Spezialitäten, insbesondere Tilsiter, Sauermilchkäse und viele süddeutsche Weichkäse, bereits in den 1940er und 1950er Jahren verloren oder modifiziert. Von ausländischen Molkereien lernend, die fortschrittlichen Produktionstechnologien des Auslandes kopierend, konnte Deutschland eine hybride „deutsche“ Käseproduktion entwickeln, die dann in der Lage war, ausländische, ja Weltmärkte zu erobern. Das Fehlen und der Verlust von kulinarischen Traditionen war ein wichtiges Element für diesen Erfolg.

Dieser erstaunliche Wandel wäre ohne eine entsprechende Agrarpolitik und ohne traditionslos erfolgreich agierende Unternehmer nicht möglich gewesen – und doch standen sie in der Tradition der Molkereiexperten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die kleine, bestenfalls mittelständische Molkereien und Käsereien etablierten, um die wachsende Zahl von Menschen in Dörfern und städtischen Zentren zu versorgen. Klare Definitionen und Offenheit für ausländische Innovationen halfen, ein immenses Netzwerk von kleinen und mittleren Betrieben zu schaffen, das schon vor dem Ersten Weltkrieg als „deutsche“ Käseindustrie wahrgenommen wurde, sich selbst aber erst seit den 1920er Jahren so bezeichnete. In dieser Zeit versuchten Staat und Molkereifachleute, die Industrie zu rationalisieren. Doch von Importmacht und Wirtschaftskrisen bedrängt, schlossen sie den Markt, um die Käseproduktion nach ihren eigenen Bedingungen zu entwickeln. Nach 1930 wuchsen Verbrauch und Produktion, aber die damaligen Angebote brachten die Verbraucher nicht dazu deutlich mehr Käse zu konsumieren. Das System der kontrollierten Verbesserung begünstigte die Produzenten, und die Interessen der Agrarindustrie waren ausschlaggebend für die Wiedereinführung ähnlicher Systeme der Marktordnung in den frühen 1950er Jahren in Westdeutschland und 1964 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Solche Systeme waren funktional, um eine Branche mit fast 15.000 Firmen oder Molkereien (1930) in eine Gruppe von heutzutage etwa 100 regionalen, nationalen und globalen Akteuren zu verwandeln. Diese Firmen können alle Käsesorten zu einem erschwinglichen Preis produzieren. Parallel dazu erzählen sie den Verbrauchern aber abstrus anmutende Geschichten von der traditionellen bäuerlichen Hausproduktion. Und sie waren sehr erfolgreich darin, Vorstellungen garantierter Herkunftsorte und spezialisierter Angebote in aufnahmefähigen Exportmärkten zu etablieren.

Die heutige deutsche Käseindustrie ist das Ergebnis eines erstaunlichen Wandels. Sie bedient die Bedürfnisse des modernen Massenmarktes und vermittelt eine fortwährende Chimäre von hochwertiger Käseproduktion durch Bauern und Senner, von einer ruhigen und stabilen Landwirtschaft, von Natur und Mensch in Harmonie. Ich mag solche Geschichten, besonders beim Genuss von vollmundigem Hartkäse und eines nuancierten Rotweins. Die Geschichtswissenschaft verweist jedoch auf eine deutlich andere Geschichte – und es ist die nüchterne Aufgabe von Historikern, just diese zu verbreiten.

Uwe Spiekermann, 27. März 2021

Anmerkungen und Nachweise

[1] Rolf Schrameier, Entwicklungstendenzen am deutschen Käsemarkt, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 3, 1932/33, 85-91, hier 87.
[2] Vgl. Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Käse-Industrie, Die Käse-Industrie 3, 1930, 74-75; Kurt Kretschmer, Existenzfragen der Käse-Industrie, ebd., 97-99, hier 97; Im Kampf auf dem Käsemarkt, Die Käse-Industrie 5, 1932, 49-50, hier 49.
[3] A[rtur] Schürmann, Nachfragewandlungen am Käsemarkt des Rhein.-Westf. Industriegebietes, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62, 1933, 33-36, 47-50, hier 48.
[4] G[ustav] Rieß und W[alter] Ludorff, Die Verordnung über die Schaffung einheitlicher Sorten von Butter und Käse, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1934, 25-27, 42-44.
[5] Vgl. Hugo Teßmer, Die neue Verordnung über den Zusammenschluß der deutschen Milchwirtschaft, Die Käse-Industrie 9, 1936, 84-86; [Oswalt] Vopelius, Neue Grundlagen des deutschen Käsemarktes, Mitteilungen für die Landwirtschaft 53, 1937, 301.
[6] Internationales Abkommen zur Vereinheitlichung der Methoden für die Entnahme von Proben und die Untersuchung von Käse. (Rom, den 26. April 1934.), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 49-53.
[7] G[erhart] Rudolph, Steigende Selbstversorgung Deutschlands mit Käse, Zeitschrift für Volksernährung 10, 1935, 140-141, hier 141.
[8] Vgl. Nathusius, Die Reform der Milchgeschäfte durch das Reichsmilchgesetz, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62, 1933, 285-286.
[9] Heinz Mahn, Der Käsemarkt in Deutschland, Frankfurt a.M. 1952, 49.
[10] Der Quarg und seine Verwendung, Die Käse-Industrie 11, 1938, 34-37, hier 34.
[11] Kurt Kretschmer, Rückblick und Ausblick auf die Lage der Sauermilchkäsereien, Die Käse-Industrie 9, 1936, 1-3; Die Sauermilchkäserei in der Statistik, Die Käse-Industrie 11, 1938, 168-169, hier 168.
[12] Kurt Kretschmer, Die Aufgaben der Fachuntergruppe Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 20-21, hier 20.
[13] E. Oelkers, Sauermilchkäse-Pflichtprüfung und Fachschaftstagung der Hersteller von Sauermilchkäse im MWV. Hannover, Die Käse-Industrie 11, 1938, 22; G. Schwarz und H. Döring, Vereinheitlichung der Untersuchungsmethoden von Sauermilchquarg, ebd. 29-32. Zu ähnlichen Kontrollsystemen anderer Käsesorten s. Vorschriften und Grundsätze für das Richten von Käse beim Preiswettbewerb der Reichsnährstandsausstellung, Die Käse-Industrie 9, 1936, 29-33.
[14] Kurt Kretschmer, Aufgaben der Sauermilchkäsereien, Die Käse-Industrie 9, 1936, 141-142, hier 142.
[15] Kurt Kretschmer, Beitrag zur Verbrauchslenkung für Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 152-153.
[16] K[urt] Kleinböhl, Rückblick auf die Reichsprüfung für Quarg und Sauermilchkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 132-134, hier 134.
[17] Georg Bergler, Absatzmethoden des Einzelhandels von vorgestern, gestern und heute, Deutsche Handels-Warte 1934, 102-106, 129-133, hier 105.
[18] Walter Ludorff, Schmelzkäse, seine Herstellung und Bedeutung für Ernährung und Wirtschaft, Reichs-Gesundheitsblatt 13, 1938, 245-247; Erzeugung von Schmelzkäse im Jahre 1937, Die Käse-Industrie 11, 1938, 763-764.
[19] Zum ersten Male der volle Wert der Milch im Käse, Die Zeit 1952, Ausg. v. 6. November.
[20] Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. […], 4. überarb. und erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 212; Kurt Kretschmer, Die Herstellung von Kochkäse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 111-115; G. Stamm, Über Schichtkäse, Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 66, 1933, 593-599.
[21] Vgl. Kochkäse in Dosen, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 108-109; Scheiben-Käse in Dosen, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 67, 1938, 260-261; W[ilhelm] Henneberg, Die Herstellung des Käses aus pasteurisierter Milch, Der Forschungsdienst 1, 1936, 371-377.
[22] Mahn, 1952, 39.
[23] Werbung für deutschen Käse, Die Käse-Industrie 11, 1938, 9; K. Noack, Werbung für Sauermilchkäse, ebd., 54-55, 71-73; O[swalt] Vopelius, Wege und Mittel der Käsewerbung, ebd., 62-63; Erfolgreiche Werbung für den Mehrverbrauch von Käse, ebd., 84-85; Werbefeldzug für den Mehrabsatz von Käse, Die Ernährung 3, 1938, 139.
[24] Vgl. J.F. Hußmann, Käse als Nahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 16, 1941, 306-307, 381-383; Hermann Ertel, Die Bedeutung des Käses für die menschliche Ernährung, Die Käse-Industrie 11, 1938, 63-64.
[25] Kurt Kretschmer, Die Kleinpackung in der Käse-Industrie, Die Käse-Industrie 11, 1938, 17-18.
[26] Kurt Häfner, Materialien zur Kriegsernährungswirtschaft 1939-1945, Abschnitt: Entwicklung der Versorgung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, s.l. s.a. (Ms.), 30.
[27] Ebd. s.a., 2. S. n. 30.
[28] Verbot bestimmter Fettkäsesorten und Herabsetzung des Fettgehaltes für Käse, Deutsche Lebensmittel-Rundschau 1939, 207.
[29] Häfner, s.a., Abschnitt: Nahrungsmittelverbrauch, 10.
[30] Hanni Stein, Käsebereitung aus Magermilchquark, Zeitschrift für Volksernährung 18, 1943, 68.
[31] Häfner, s.a., Abschnitt: Entwicklung, 32.
[32] Die Agrarmärkte in der Bundesrepublik. Aufbau, Arbeitsweise und bisherige Arbeitsergebnisse der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle der Deutschen Landwirtschaft G.m.b.H., Neuwied 1951, 43.
[33] Mahn, 1952, 13.
[34] C[arl] Stoye, Zur Ernährungsdebatte, Der Verbraucher 6, 1952, 27-30, hier 30.
[35] G. Mehlem, Milchpreisdebatte im Bundestag, Der Verbraucher 7, 1953, 701.
[36] Wilhelm Merl, Die Ohnmacht der Verbraucher, Gewerkschaftliche Monatshefte 7, 1956, 547-551.
[37] 1958 war eine Ausnahme, da niederländische und dänische Importeure ihre Preise reduzierten. Eine auf Druck der Milchlobby erzielte Einigung zwischen den drei Staaten stabilisierte dann wieder das ursprüngliche Preisniveau. Vgl. Käsepreise. Das Frühstückskartell, Der Spiegel 12, 1958, Nr. 32, 18-20.
[38] Die Referenzwerte für 1948/49 waren 1,2 kg Hartkäse, 1,1 kg Schmelzkäse, 0,3 kg Sauerkäse, 0,5 kg Quark resp. für 1950/51 2,7 kg Hartkäse, 0,7 kg Schmelzkäse, 0,5 kg Sauerkäse, 1,1 kg Quark (Mahn, 1952, 39).
[39] Bärbel Heinicke, Nahrungs- und Genußmittelindustrie. Strukturelle Probleme und Wachstumschancen, Berlin-West und München 1964, 74-75 (für den gesamten Absatz).
[40] Zur Lage auf dem Milchmarkt im Bundesgebiet, Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 25, 1958, 123-124, hier 124.
[41] H[einz] Mahn, Wachsende Bedeutung der Schmelzkäse-Industrie in der Bundesrepublik Deutschland, Die Ernährungswirtschaft 11, 1964, 163-165, hier 164.
[42] Emmentaler. Die Käsegrenze, Der Spiegel 12, 1958, Nr. 16, 25-26.
[43] Die Käse-Konvention von Stresa und die Zusatzprotokolle von Stresa und Den Haag, Die Milchwissenschaft 7 (1952), 286-291; M[ax] E[rnst] Schulz, Klassifizierung von Käse, ebd., 292-299.
[44] Oscar Langhard, Internationale Vereinbarungen zum Schutz von Käsenamen, Die Milchwissenschaft 8, 1953, 221-223.
[45] Mahn, 1952, 24.
[46] Ebd., 25-26. Armin Boeckeler, Der Strukturwandel in der Hartkäseproduktion in Deutschland beim Übergang von der handwerklichen zur industriellen Fertigung, Konstanz 1971, 16, betonte, dass die Technologie der Weichkäseproduktion im Allgäu zwischen 1910 und 1959 stagniert habe.
[47] Berechnet n. Mahn, 1952, 30.
[48] Ebd., 35; Tribut für Cema, Der Spiegel 23, 1969, Nr. 39, 106-107, hier 106.
[49] Vgl. Wilhelm Magura (Hg.), Chronik der Agrarpolitik und Agrarwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland von 1945-1967, Hamburg und Berlin (W) 1970, 110-112. Für eine breitere Perspektive s. Kiran Klaus Patel, Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955-1973, München 2009.
[50] Hermann Bohle, Schutz für den EWG-Käse, Die Zeit 1964, Ausg. v. 24. Juli.
[51] Vgl. die Diskussion in H[ans] J[ürgen] Metzdorf, Der westdeutsche Fettmarkt, Agrarwirtschaft 11, 1962, 188-192, hier 191-192.
[52] Rudolf Hilker, Der Käsemarkt in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg und Berlin (W) 1967, 8-9.
[53] Hans Lukas, Der Deutsche Raiffeisenverband. Entwicklung, Struktur und Funktion, Berlin (W) 1972, 95-96.
[54] Max Eli, Die Nachfragekonzentration im Nahrungsmittelhandel. Ausmaß, Organisation und Auswirkungen, Berlin (W) und München 1968, 39.
[55] Ernst Esche und Manfred Drews, Der Europäische Milchmarkt, Hamburg und Berlin (W), 146; Frank Roeb, Käsezubereitung und Käsespeisen in Deutschland seit 1800, Phil. Diss. Mainz, Mainz 1976, 192.
[56] Zu den allgemeinen Trends im westdeutschen Einzelhandel dieser Zeit s. Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, insb. 99-116.
[57] Die Hoffmann Studie, FfH-Mitteilungen NF 4, 1963, Nr. 11, 1-3; Explosive Sortiments-Entwicklung, dynamik im handel 1970, Nr. 5, 3-15.
[58] Vgl. Hubert Bentele, Moderne Käsereien: Technische Konzeption aus gegenwärtiger Sicht, Die Ernährungswirtschaft/Lebensmitteltechnik 17, 1970, 340, 342, 344.
[59] Vgl. Tobias Piller, Mozzarella aus Deutschland?, Frankfurter Allgemeine Zeitung 2008, Nr. 280, 8. Über Feta und die Prozesse über die Verwendung des Begriffes s. Peter Holler, Als Standardprodukt etabliert, Lebensmittelzeitung 2006, Nr. 35, 50-51.
[60] G[erd] Ramm, Produktion und Verbrauch von Käse in der BRD seit 1960 und Vorausschätzungen für 1975 und 1980, Braunschweig 1974, 14.
[61] Agrarmärkte. Jahresheft 2000, Schwäbisch Gmünd 2000, M – 11.2.
[62] Ramm, 1974, 11-12.
[63] Ebd., 4.
[64] Marlen Wienert, Integrierte Kommunikation in Milch verarbeitenden Unternehmen, Wiwi. Diss. TU München, München 2007, 17. Höchst informative Karten zu diesen Veränderungen finden sich in Helmut Nuhn, Veränderungen des Produktionssystems der deutschen Milchwirtschaft im Spannungsfeld von Markt und Regulierung, in: ders. et al., Auflösung regionaler Produktionsketten und Ansätze zu einer Neuformierung. Fallstudien zur Nahrungsmittelindustrie in Deutschland, Münster 1999, 113-166 und Cordula Neiberger, Standortstrukturen und räumliche Verflechtungen in der Nahrungsmittelindustrie. Die Beispiele Molkereiprodukte und Dauerbackwaren, in: ebd., 81-111.
[65] Roland Rutz, Die deutsche Milchwirtschaft, in: Karsten Lehmann (Hg.), Wertschöpfungsketten in Deutschland und Polen – das Beispiel Milch und Gemüse, Berlin 2010, 69-82, hier 78.
[66] Richard Riester, Corina Jantke und Amelie Rieger, Milch, in: Agrarmärkte 2019, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2020, 209-238, hier 214.
[67] Andrea Wessel, Die Käsebranche formiert sich neu, Lebensmittelzeitung 2001, Nr. 39, 51-52; Cheese in Germany. Industry Profile, hg. v. Datamonitor, New York u.a. 2004, 13.
[68] Riester, Jantke und Rieger, 2020, 231.
[69] Petra Salomon, Die Märkte für Milch und Fette, Agrarwirtschaft 39, 1990, 421-439, hier 435. Zusätzliche Informationen über die Zeit des Übergangs enthält L[utz] Kersten, Die Märkte für Milch und Fette, ebd. 34, 1985, 395-409 (oder andere Ausgaben dieser Jahresüberblicke).
[70] Riester, Jantke und Rieger, 2020, insb. 233.
[71] Die Bio-Branche 2017. Zahlen, Daten, Fakten, hg. v. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Berlin 2017, 15; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1774443/umfrage/käse [Abruf: 23.02.2021]. Der neueste Bericht wies lediglich den insgesamt unterdurchschnittlichen Marktanteil von Milchrahmerzeugnissen aus (4,8 %), nicht aber den gesunkenen Marktanteil von Biokäse (Branchen Report 2020 Ökologische Lebensmittelwirtschaft, hg. v. Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, Berlin 2020, 23).
[72] Agrarmärkte 2016, hg. v. d. Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der Ländlichen Räume und Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft, Schwäbisch-Gmünd und Freising-Weihenstephan 2016, 241.

Der lange Weg zur Marktreife. Käseproduktion in Deutschland 1850 bis 1930

Käse hat heutzutage eine wichtige Stellung in der deutschen Esskultur und der Agrarwirtschaft: Der jährliche Verbrauch hat sich im letzten Jahrhundert von jährlich 4 auf fast 25 Kilogramm pro Kopf versechsfacht. Käse ist heute Frühstücksspeise, teils Abschluss einer warmen Mahlzeit, begleitet das Weintrinken am Abend, wird vielen Fertigspeisen zugefügt. Mehr noch: Deutschland, beim Käse traditionell von Importen aus den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz abhängig, ist inzwischen der größte Käseexporteur der Welt und der zweitgrößte Käseproduzent. Für ein Land ohne ausgeprägte kulinarische Käsetradition und mit nur wenigen „deutschen“ Käsesorten ist das eine wahrlich überraschende Entwicklung.

Die Käserei als landwirtschaftliches Nebengewerbe

In der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es weder eine Käseindustrie noch einen deutschen Staat. Die landwirtschaftliche Produktion hatte von den liberalen Reformen profitiert, die die Landnutzung kommerzialisierten und die gebundene Arbeit aufhoben. [1] Die rechtlichen Strukturen und Produktionsweisen waren allerdings weiterhin sehr unterschiedlich. Während die Regionen östlich der Elbe von Großbetrieben dominiert wurden, und Getreide und Kartoffeln für den nationalen und den Exportmarkt produzierten, waren die Höfe im Westen und Süden wesentlich kleiner. Im Nordwesten Deutschlands und in Teilen des Südens stabilisierte das Anerbenrecht – der Älteste erbte – eine eigenständige und stärker marktorientierte Bauernschaft, während sich in den Realteilungsgebieten – jedes Kind erhielt seinen Teil – die Zahl von Kleinstbetrieben deutlich erhöhte. Um das Auskommen zu sichern, trat neben die landwirtschaftliche Produktion ein Hausgewerbe, Hausiererei oder aber ein Nebenerwerb.

Die deutsche Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts konnte eine kontinuierlich wachsende Zahl von Konsumenten versorgen. [2] Milch und Butter wurden zu wichtigen Handelsgütern, vor allem im Umland der städtischen Märkte. Käse hingegen war Mitte des 19. Jahrhunderts auf den städtischen Märkten nicht sehr präsent. Hartkäse war immer noch ein Luxusgut für die bürgerliche Kundschaft, während billigerer Weichkäse und Quark saisonale Produkte blieben, da Kühleinrichtungen und Transportmöglichkeiten auch für den regionalen Handel kaum entwickelt waren. Die Käseherstellung war damals meist ein Nebengeschäft der Milchviehhaltung. [3] Milch wurde gemeinhin für den Eigenbedarf und die Kälberfütterung verwendet, zusätzliche Milch zu Butter verarbeitet und verkauft. Käse war nur ein Zusatz von geringer Bedeutung. Doch es gab wichtige regionale Ausnahmen. Die Alpenregionen, insbesondere das Allgäu, das Rheinland, das westliche Holstein und Ost- und Westpreußen waren Mitte des 19. Jahrhunderts bereits käseproduzierende Regionen. Dort war die lokale Milchwirtschaft stärker entwickelt als anderswo in deutschen Landen; und dort gab es kompetente Zuwanderer aus den Niederlanden, der Schweiz und Dänemark. Diese Pionierregionen konzentrierten sich auf Hart- und Weichkäse, kopierten dabei zumeist die Käseherstellung im Ausland. In Mitteldeutschland, vom Harz bis nach Oberschlesien, dominierte dagegen Sauermilchkäse, ein zumeist hausgemachtes Produkt, das auf lokalen Märkten Absatz fand.

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Schwerpunkte der Sauermilchkäseproduktion in Deutschland (Die Käse-Industrie 11, 1938, 36)

Übersehende Dominanz: Die Sauermilchkäseproduktion

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Produktionsstrukturen, wobei mindestens zwei verschiedene Wege zur „modernen“ Käseproduktion zu unterscheiden sind. Zum einen wurde die Sauermilchproduktion stärker kommerzialisiert. [4] Was als Selbstversorgung oder als Nebenverdienst der Bäuerin begann, wurde als Heimindustrie, dann als selbständiger Betrieb, schließlich als kleine Fabrik professionalisiert. Manuelle Käseformmaschinen drangen in den 1890er Jahren vor und legten den Grundstein für eine spezialisierte Maschinenbauindustrie nach 1900. [5] Bauern und Fabrikbesitzer verkauften ihren Sauermilchkäse auf lokalen und regionalen Märkten, private Sauermilchkäse-„Fabriken“ wurden typisch für Mitteldeutschland.

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Sauermilchkäseverkauf als landwirtschaftliches Nebengewerbe um 1900: Hausiererin und Transportwagen (Die Käse-Industrie 1, 1927/28, 79)

Größere Firmen aus dem Harz und der Mainzer Gegend belieferten mit Hilfe des aufkommenden Versandhandels zunehmend auch städtische Verbraucher. Sauermilchkäse war relativ billig und wurde daher schon vor der Jahrhundertwende zu einem typischen Produkt für Arbeiter und Kleinbürger zumal in Mitteldeutschland. Die Sauermilchkäse-„Fabriken“ waren noch klein, aber die Mechanisierung hatte begonnen. Zudem entstanden feste Vertriebsnetze, so dass kostengünstiger an Großhändler geliefert werden konnte, die dann Kleinhändler belieferten. Das führte schon vor dem Ersten Weltkrieg zu Schwanengesängen einer langsam endenden heimischen Produktion: „Der individuelle deutsche Käs, der Handarbeit war, ist leider auch Fabrikarbeit geworden. In großen Käsereien entsteht er jetzt. Ihn formt nicht mehr die zärtliche Hand, er preßt jetzt zu Tausenden die Maschine.“ [6] Derartige Klagen spiegelten zwar die allgemeine Entwicklung der Käseproduktion, doch auch im frühen 20. Jahrhundert war die bäuerliche Käsebereitung noch ein zentrales Element der Belieferung der ländlichen Räume und der Kleinstädte.

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Versandhandel von Harzer Käse (Fliegende Blätter 82, 1885, Nr. 2059, Beibl., 2; ebd., Nr. 2080, Beibl., 3)

Aufstieg der Molkereien

Die bisherige Forschung hat diesen Aufschwung der Sauermilchkäseproduktion vernachlässigt und sich stattdessen auf den Aufstieg der Molkereien konzentriert. [7] Zumeist genossenschaftlich organisiert, entstanden sie ab den 1870er Jahren in ausgeprägten Milchregionen, in denen Sauermilchkäse nicht beliebt und Labkäse verbreiteter war. Angeregt durch dänische und holländische Vorbilder stärkten die Bauern in Schleswig-Holstein, Oldenburg, Mecklenburg, West- und Ostpreußen sowie im Allgäu ihre Marktfähigkeit, indem sie die Milchviehhaltung verbesserten, Zentrifugen kauften und ihre Milch an die neu gegründeten Molkereien lieferten. Diese organisierten den Vertrieb, führten Kontrollmaßnahmen ein, und begannen Butter und, wenngleich in weit geringerem Maße, Käse zu produzierten.

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Schemazeichnung einer Molkerei (W[ilhelm] Kirchner, Handbuch der Milchwirtschaft aus wissenschaftlicher und praktischer Grundlage, 3. neubearb. Aufl., Berlin 1891, 589)

Der Erfolg der Molkereien war frappierend: Er war verbunden mit dem Aufstieg des deutschen Nationalstaates und der Schaffung moderner Staatlichkeit im Zeitalter des Nationalismus. [8] Nach der Rübenzuckerproduktion und der Müllerei wurde die Milchproduktion zu einem weiteren industrialisierten Zweig der Agrarwirtschaft. Eine zweite Welle von Molkereigründungen setzte ab 1890 ein – damals waren bereits 639 Genossenschaften gegründet worden [9] – und bis 1930 waren Molkereien im gesamten Deutschen Reich etabliert. Und doch: Vor dem Ersten Weltkrieg produzierten nur 15 % davon Käse; und nach wie vor verarbeiteten und verteilten die Molkereien weniger als Hälfte der Milchproduktion. [10] Von der Molkereimilch wurden damals 47 % zu Butter verarbeitet, 43 % als Milch verkauft, 7 % für die Viehzucht verwendet und nur 3 %, ca. 7.000 Tonnen, für die Käseproduktion. [11]

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Erfolgreiche Durchsetzung: Molkereien und Käseproduzenten im Allgäu 1929 (Die Lage der deutschen Milchwirtschaft. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Landwirtschaft (II. Unterausschuß), Bd. 15, Berlin 1931, 19)

Käse als regionales Produkt

Das qualitative und quantitative Wachstum der Sauermilchkäsereien und Molkereien erfolgte in der Fläche, führte zugleich aber zur Bildung regionalen Cluster der Käseproduktion. [12] Das württembergische und bayerische Allgäu entwickelten sich zu Zentren des Weichkäses nach Schweizer Art, während sich Ostpreußen zunehmend auf Tilsiter konzentrierte. Verlässliche Daten sind rar, aber 1908 produzierten die Molkereien in Bayerisch-Schwaben 34.883 Kilogramm Käse, vor allem Emmentaler, Limburger, Romadur, Backstein und Kräuterkäse. Weichkäse wie Camembert, Brie und Neuchatel wurden damals in Sachsen und Niedersachsen populär, drangen also in die mitteldeutschen Sauermilchkäseregionen vor. [13]

Der ab den 1870er Jahren allgemeine einsetzende Aufstieg der deutschen Milchwirtschaft hatte also beträchtliche regionale Folgen. Milch-, Butter- und Käsecluster wurden zu Produktionszentren, die für gute Produkte und zuverlässige Qualität standen. Sie wurden schon vor dem Ersten Weltkrieg mit bestimmten Käsesorten verbunden. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man Milchprodukte üblicherweise nach ihrer Herkunft, oft nach Städten und Regionen benannt und als solche zunehmend in den regionalen und internationalen Handel integriert. Die Entwicklung größerer und kapitalkräftigerer Molkereien und Käsereien machte es seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch möglich, derartig vermeintlich lokale und regionale Produkte auch an anderen Orten herzustellen. Herkunftsbezeichnungen wurden zu Gattungsbezeichnungen – und deutsche Produzenten, Spätstarter im Käsegeschäft, nutzten etablierte ausländische Käsebezeichnungen, um ihren relativen Rückstand aufzuholen und Umsätze und Gewinne weiter zu erhöhen. [14]

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Käseangebot eines Berliner Feinkostgeschäftes und Werbung für Camembert aus Hessen (Berliner Tageblatt 1878, Nr. 11 v. 13. Januar, 12 (l.); Kladderadatsch 53, 1900, Nr. 1, 8)

Dennoch verloren die deutschen Anbieter zunehmend Marktanteile. Verbesserte Transportmöglichkeiten, wachsende Kaufkraft und eine noch raschere Entwicklung der Milch- und insbesondere der Käsewirtschaft im benachbarten Ausland ließen das Deutsche Reich zu einem immer wichtigeren Käseimporteur werden. Während die deutschen Exporte von 1880 bis 1913 von 4.340 Tonnen auf 730 Tonnen zurückgingen, versechsfachten sich die Importe von 4.140 Tonnen auf 26.270 Tonnen. Sie kamen vorrangig aus den Niederlanden, gefolgt von Frankreich und der Schweiz [15]. Die Folge waren beträchtliche Zuordnungsprobleme, wussten die Konsumenten doch häufig nicht wirklich, was unter holländischem oder Schweizer Käse zu verstehen war. Die Kennzeichnung von Käse war daher bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein kontrovers diskutiertes internationales Thema. Gütliche Einigungen konnten nicht erzielt werden, auch eine Anfang der 1920er Jahre vom Weltmilchkongress eingerichtete Kommission scheiterte mit ihrer Empfehlung Käsesorten und Herkunftsgebiete miteinander verbindlich zu koppeln. [16] Deutsche Firmen produzierten weiterhin Schweizer, Emmentaler, Ragniter, Holländer, Gouda, Edamer, Munster, Limburger, Harzer, Mainzer, Nieheimer, Thüringer, Brie, Camembert und Neuchateller und viele weitere profitable „Laden-Sorten“. [17] Dies war keineswegs Zeichen der Stärke der deutschen Anbieter, mochten einzelne auch in der Lage sein, ähnlich hochwertige Produkte wie das Ausland zu produzierten. Insgesamt war das Qualitätsniveau bestenfalls mittelmäßig. [18]

Käsekonsum vor dem Ersten Weltkrieg

Die regionale Struktur der Käseproduktion war aber nicht nur produktabhängig, sondern resultierte auch aus den regionalen Verzehrsgewohnheiten. Käse war vorrangig eine Beilage, die in der Regel kalt, als Brotbelag und am Abend gegessen wurde. Nur bürgerliche Kreise aßen ihn als Dessert zum Mittagessen oder am Nachmittag. Käse wurde kein eigenständiges Gericht oder aber eine Hauptspeise. Nur in Bayern und einigen ländlichen Sauermilchkäseregionen Mitteldeutschlands akzeptierte man ihn als leichte Mahlzeit. Das Milchprodukt musste im Deutschen Reich stets mit der Wurst konkurrieren. Eine höhere Produktion war also auch davon abhängig, ob die Anbieter zusätzliche Verzehrmöglichkeiten im deutschen Ernährungssystem finden konnten.

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Stilisierte Darstellung eines Essens mit Käsenachtisch (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7505)

Den Käsekonsum selbst können wir nur schätzen, fehlen doch zuverlässigen Verbrauchsdaten. [19] Vier Kilogramm pro Kopf und Jahr vor dem Ersten Weltkrieg scheinen jedoch realistisch. Der Verbrauch stieg ab den 1890er Jahren langsam an. Wachsende Reallöhne und die stetig steigende Zahl städtischer Milchläden erhöhten die Nachfrage und ermöglichten ein breiteres Angebot. In mehr als 200 deutschen Städten regelten lokale Milchregulative den Absatz von Milch und Milchprodukten und versuchten meist erfolgreich, Standards für eine hygienische Versorgung mit Milch, Butter und Käse festzulegen. [20] Käse wurde jedoch nicht nur in größeren Mengen verkauft. Fettere – und damit teurere – Sorten legten überdurchschnittlich zu, während der Absatz von Angeboten mit geringerem Fettgehalt stagnierte. Noch hatte Käse ein Doppelgesicht, war teils kleiner, nährender Happen, teils aber auch Genussmittel. Auch aus diesem Grunde konnten sich billige und innovative Alternativen, etwa so genannter Margarinekäse oder Kunstkäse, nicht auf dem deutschen Markt etablieren. Eigentlich überraschend, denn Butter verlor seit den 1880er Jahren relative Marktanteile durch den rasch steigenden Verbrauch billigerer Margarine. [21]

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Versand von Holsteiner und Holländischem Käse aus Schleswig-Holstein (Fliegende Blätter 128, 1913, Nr. 3539, Beibl., 9)

Derartige allgemeine Trends wurden durch den Ersten Weltkrieg rasch gebrochen. Hart- und Weichkäse wurden vorrangig an das deutsche Heer und die Marine geliefert, waren für die große Mehrzahl immer seltener verfügbar. Einzig Sauermilchkäse auf Magermilchbasis gewann als Ersatz für Fleischprodukte und Butter an Boden. Quark wurde immer stärker beschlagnahmt und an neu errichtete Sauermilchkäsereien geliefert, wodurch dieses „deutsche“ Milchprodukt eine breitere Akzeptanz auch abseits der bisherigen Konsumzentren gewann. [22]

Nach der Ernährungskatastrophe: Der Zwang zur Rationalisierung

Die Ernährungskatastrophe des Ersten Weltkrieges legte die Schwächen der deutschen Landwirtschaft schonungslos offen. Der Wiederaufbau konnte daher nicht einfach das Bestehende fortführen, sondern es bedurfte struktureller Änderungen, um die Agrarproduktion wieder anzukurbeln und einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung mit heimischen Agrarprodukten zu versorgen. Zudem fielen aufgrund des Versailler Vertrages die Zollschranken, so dass die ausländische Konkurrenz deutlich billiger liefern konnte als zuvor. Während die deutschen Anbieter zumeist noch in lokalen und regionalen Marktstrukturen dachten, erforderte die internationale Konkurrenz nun andere Denkweisen. Produkte und Sorten mussten definiert, Qualität stärker geprüft werden. Abstrakte Normen und Gütemarken wurden zu Schlüsselfaktoren des Markterfolges. Die Milch- und – in geringerem Maße – die Butterproduktion hatten von den Erkenntnissen vor allem der bakteriologischen Forschung profitiert, nutzten einfache Maschinen, wie Separatoren und Filter, zunehmend aber auch die noch in den Kinderschuhen steckende Kältetechnik. Auch das Tagesgeschäft war wissenschaftlich geprägt, mochten Routineüberprüfungen des Fett- und Wassergehalts der Milch auch nicht sehr elaboriert gewesen sein. Die Käseproduktion profitierte von alledem, doch die meisten Käser arbeiteten noch auf recht traditionelle handwerkliche Weise. Während der 1920er Jahre änderte sich dies: Obwohl die meisten Produzenten noch an lokale und regionale Märkte gebunden waren, führten heftige interne Debatten und die weit verbreitete Rationalisierungsbewegung zu einem neuen Ordnungsrahmen, der die agrarische Planwirtschaft der NS-Zeit vorwegnahm, und damit das Denken in regionalen, nationalen und gar europäischen Kategorien.

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Professionalisierung der Branche: Titelblatt einer neuen Fachzeitschrift (Die Käse-Industrie 1, 1927/28, Nr. 7, I)

Neue Institutionen, verstärkte Forschung

Wirtschaftliche und machtpolitische Überlegungen waren dabei eng verbunden, zudem ging es darum, weiterhin den Einfluss agrarischer Interessen sicherzustellen. Da die Niederlage Deutschlands auch auf der relativen Rückständigkeit seiner Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion beruht hatte, waren institutionelle Reformen elementar. Dies führte nicht nur 1919 zur Gründung eines neuen Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, sondern auch zu einer noch intensiveren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Molkereien und Sauermilchkäsereien und dem Staat. [23] Ziel war dabei die „Erhöhung der Erzeugung durch Geistesarbeit“ [24]. Die landwirtschaftliche und ernährungswissenschaftliche Grundlagenforschung erhielt beträchtliche Investitionsmittel , zahlreiche staatliche Forschungseinrichtungen wurden neu gegründet. 1922 waren das etwa die Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Kiel und die Süddeutsche Versuchs- und Forschungsanstalt für Milchwirtschaft in Weihenstephan, gefolgt von vielen landwirtschaftlichen Laboratorien auf regionaler Ebene. [25] Auch die Milchwirtschaft, die noch 1930 einen höheren Umsatz als Bergbau und Stahlerzeugung zusammen hatte, modernisierte ihre Organisationsstrukturen. 1919 löste der Deutsche Milchwirtschaftliche Reichsverband den Deutschen Milchwirtschaftlichen Verein ab, die 1874 gegründete Interessenvertretung der Molkereien. Private Unternehmen vertrat dagegen seit 1906 der Reichsverband deutscher Molkerei- und Käsereibesitzer und Pächter, kommunale Firmen gründeten 1913 den Verein Städtische Milchgroßbetriebe Deutschlands. Diese Organisationen vertraten vorrangig die Interessen der Milch- und Butterproduzenten, doch nun etablierte auch die Käseindustrie eigene Institutionen. Der neue Reichsverband deutscher Käse-Industrieller finanzierte seit 1927 eine neue Zeitschrift, „Die Käse-Industrie“ und gründete 1930 ein spezialisiertes Forschungsinstitut in Seesen im Harz. [26] Abseits der für alle Molkereifachleute offenen Milchfachzeitschriften hatten Käseerzeuger und Wissenschaftler nun ein spezialisiertes Forum, um die Probleme der Branche zu diskutieren und Forschungsergebnisse rasch zu verbreiten. [27] Dies ging einher mit der immer stärker beschworenen Idee einer „deutschen“ Käsewirtschaft, die es zu entwickeln und zu schützen galt. Während die Marktversorgung auch weiterhin lokal und regional erfolgte und es an nationalen Käsesorten und Markenartikeln mangelte, bildete sich in den 1920er Jahren doch eine neue „deutsche“ Identität der Erzeuger heraus. Auch der Käse wurde „deutsch“ – zumindest verbal.

Erhöhte und standardisierte Käsequalität

Die Rationalisierung der Käseproduktion in den 1920er Jahren griff in sehr unterschiedlichen Sektoren. Sie war erst einmal produktorientiert. Das Produkt Käse stand im Mittelpunkt, dieses musste definiert, kontrolliert und verbessert werden. Die Folge waren Standardisierungsdebatten, die eine verwissenschaftlichte Produktion vorantrieben, und neue und effizientere Maschinen propagierten. Obwohl noch nicht durch ein allseits gefordertes Reichsmilchgesetz gestützt, erfolgte diese Rationalisierung in enger Zusammenarbeit des „eisernen Dreiecks“ von Wissenschaftlern, landwirtschaftlichen Interessenvertretern und staatlichen Vertretern. Je später, je mehr nahm jedoch auch die Marktorientierung der Käseindustrie zu. Obwohl die Marktforschung noch unterentwickelt war, versuchten die Molkereien und Sauermilchfabriken, ihren Markenauftritt, ihre Werbung und ihre Verpackungen zu verbessern. Trotz weiterhin eher mäßiger Produktionsleistungen, beschleunigte dies die Produktdifferenzierung. Neue und auf unterschiedliche Alltagsbedürfnisse und Zielgruppen zugeschnittene Angebote ermöglichten es, neue Kundengruppen ansprechen und Käse auch in bisher kaum zugänglichen Nischen des täglichen Essens zu verankern. Für die Käsebranche war die Weltwirtschaftskrise, wie für die gesamte Agrarwirtschaft, jedoch ein schwerer Schlag, unterminierte sie doch die Rationalisierungsbemühungen. Der Käsekonsum sank, die Rationalisierungsbemühungen wurden in Frage gestellt, zugleich aber nahm der 1925 schon wieder stark merkliche Zollschutz nun deutlich zu – und blieb es für die nächsten zwei Jahrzehnte. Die damit einhergehenden Preisvorteile erlaubten es, ausländische Käsesorten erfolgreicher zu kopieren. Es entstand ein dualer Markt mit „deutschen“ Produkten für den Massenmarkt und wieder schwindenden Importen für anspruchsvollere und zahlungskräftigere Verbraucher. Die Qualität des „deutschen“ Käses blieb dadurch jedoch relativ gering.

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Sorten statt Marken: Käsewerbung des Berliner Warenhauses Wertheim 1925 (Berliner Volkszeitung 1925, Nr. 204 v. 1. Mai, 4)

Käse gehörte zu den ersten gleichsam offiziell definierten Nahrungsmitteln. Während Nahrungsmittelchemiker und Interessenvertreter der Industrie über den Gehalt und die „natürliche“ Beschaffenheit vieler Güter vielfach keinen Konsens erzielen konnten, akzeptierten beide die 1913 vom Reichsgesundheitsamt vorgeschlagenen Richtlinien. [28] Ähnlich wie bei Milch und Butter wurden Qualität und Sorten von Käse eng an den jeweiligen Fettgehalt gekoppelt. Dagegen spielten Marktbezeichnungen, etwa Herkunfts- oder Handelsnamen eine nur untergeordnete Rolle. [29] Die Richtlinien etablierten eine duale Kontrollstruktur. Während die offiziellen Vorgaben Mindeststandards festlegten, bestand für die Produzenten weiterhin Raum für vermehrte und stärker spezialisierte Angebote. Höherwertige Angebote wurden also gefördert, während einer möglichen Negativdynamik zunehmend schlechterer Qualitäten ein Riegel vorgeschoben wurde. Dies war im Sinne der leistungsfähigeren Anbieter, auf deren Initiative schon 1896 jährliche Käseprüfungen eingeführt worden waren. Sie wurden von der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft unabhängig durchgeführt, einschlägige Prämierungen dienten als Qualitätsgarant gegenüber Großhandel und Kunden. [30] Diese Prüfungen nutzten ein detailliertes Punktesystem, um mit Hilfe von geschultem Testpersonal vorrangig die Textur und den Geschmack zu kontrollieren. Das erlaubte nicht nur Auszeichnungen der hochwertigen Angebote, sondern gab den Anbietern geringerer Qualität zugleich genaue Hinweise, wo sie nachbessern konnten. Die Kompetenz dieser Prüfer, der Nahrungsmittelchemiker und Agrarwissenschaftler war zwar hoch, doch sie waren nicht in der Lage das Verbraucherverhalten sowie möglichen Markterfolg einzuschätzen. [31] Die Käsetests belegten in den 1920er Jahren eine sich ständig verbessernde Produktqualität, doch parallel stiegen die Käseimporte stark an: Trotz steigender Qualität im Inland entschieden sich die Verbraucher für ausländischen Käse, wenn sie ihn sich leisten konnten. [32] Die Folge war eine zunehmend zersplitterte Kontrollinfrastruktur: Regionale, im internationalen Wettbewerb stehende Molkereien, z.B. im Allgäu, etablierten umfassendere und detailliertere Tests, während die von Importen nicht direkt bedrohten Sauermilchkäsehersteller lange Zeit nur den Fett-, Wasser- und Metallgehalt kontrollierten, es also bei der Garantie von Minimalstandards beließen. [33]

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Laboratorium der Käsefabrik Dürren 1929 (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 84)

Um den damit verbundenen Problemen für den „deutschen Käse“ zu entgehen und den Konsumenten von der Qualität der heimischen Produkte zu überzeugen, begannen die deutschen Hersteller ab 1923 mit zusätzlichen und freiwilligen internen Kontrollen. Der Käse wurde aber auch extern geprüft und anschließend mit einem Siegel oder einer Marke gekennzeichnet. [34] Derartige Markenverbände etablierten sich zuerst im Rheinland und in Schleswig-Holstein, die meisten anderen Regionen folgten binnen weniger Jahre. Landwirtschaft und Agrarindustrie etablierten damit korporative Systeme der „freiwilligen Verpflichtung“ [35] zur Erhöhung der Produktqualität – wie etwa parallel auch die Eierwirtschaft und andere konsumnahe Branchen. Beim Käse betrafen diese Verpflichtungen vor allem die Sauermilchkäseindustrie, denn dort waren sensorische Prüfungen bisher kaum verbreitet und wurden im Falle eines Falles recht uneinheitlich durchgeführt. [36] Insgesamt setzen die Kontrollsysteme Dynamik frei, waren also erfolgreich. [37] Butter- und Käseproduzenten wurden zu Pionieren einer freiwilligen Produktkontrolle in der Agrarwirtschaft. Milch-, Kartoffel-, Obst-, Gemüse-, Honig- und Fleischanbieter folgten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.

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Bedeutungsgewinn der Zwischenprodukte: Anzeigen für Fermente und Käsefärben (Milchwirtschaftliches Zentralblatt 54, 1925, 48 (l.); ebd. 52, 1923, 72)

All diese Kontrollsysteme dienten einem Hauptziel, nämlich der Standardisierung des Angebots. Die große Zahl der Käsesorten – 1932 gab es etwa 500 Handelsnamen – sollte reduziert werden, um anschließend Größenvorteile nutzen zu können. Käse war jedoch ein komplizierteres Produkt als Butter oder aber Milch. Fettgehalt, verwendete Bakterien, Säuregehalt, Feuchtigkeitsgehalt und Reifedauer führten zu recht unterschiedlichen Produkten mit ganz unterschiedlichen Aromen und Texturen. Daher zielte man im Wesentlichen darauf, Hauptsorten zu definieren; so, wie das in den USA bei Cheddar gelungen war. In Deutschland und in den meisten anderen käseproduzierenden Ländern wurden vergleichende Wertungssysteme eingeführt, um mit Hilfe weniger Indikatoren die wichtigsten marktgängigen Käsesorten kontrollieren und verbessern zu können. Die deutschen Länder boten hierbei Rückendeckung, Bayern und Württemberg erließen schon 1924 einheitliche Vorgaben, die vorrangig auf dem Fettgehalt der Käsesorten basierten und bis 1934 noch freiwillig waren. [38] Diese recht lange Zeitspanne verweist auf die erheblichen Probleme, auch einfache Kontrollsysteme durchzusetzen: Viele Molkereien war schlicht nicht in der Lage, Käse mit einem verlässlich standardisierten Fettgehalt zu produzieren. [39]

Der Blick auf den Markt: Anfänge der Marketingorientierung

Die Standardisierung zielte auf eine verbindliche Produktqualität. Doch so wichtig Produktorientierung auch sein mochte, in modernen Konsumgesellschaften mussten Anbieter auch andere Aufgaben erfüllen, um erfolgreich im Geschäft zu bestehen. [40] Gute Ware allein reichte nicht aus. Wie viele Konsumgüterhersteller mussten Molkereien und Sauermilchkäseproduzenten daher auch eine Marketingorientierung entwickeln: „Die Absatzfrage gehört in der heutigen Zeit mit zum Dienst am Kunden. Die Konkurrenz auf allen Gebieten macht es heute den Fabrikanten zur Pflicht, die Verbindung mit den Abnehmern zu pflegen und alles zu tun, um den Wünschen der Abnehmer in allen Teilen gerecht zu werden.” [41] Doch derartige Aussagen überzeugten viele Milchexperten nicht. Sie waren weiterhin überzeugt, dass es vorrangig um bessere Produkte gehen müsse. Sie kritisierten „Verbrauchervorurteile“ und träumten davon, Marketing zur Lenkung des Konsums zu nutzen, hin auf die eigenen Angebote. Der Konsument galt als recht willfährig und einfach steuern – und wurde beschimpft, wenn er sich als eigensinnig und widerstrebig erwies. Doch in den späten 1920er Jahre stellten viele Praktiker durchaus eine allgemeine Verfeinerung des Verbrauchergeschmacks fest und sahen darin auch Chancen für bessere Produkte und eine höhere Wertschöpfung. [42]

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Vorzeigebetrieb: Die Sauermilchkäsefabrik Sangerhausen 1927 (Die Käse-Industrie 1, 1927/28, 6 (l.) und 7)

Die ambivalente Grundhaltung der meisten Produzenten gegenüber dem Marketing hatte durchaus Gründe. Eine einheitliche Marke für Sauermilchkäse hätte dessen Bekanntheitsgrad außerhalb der Konsumzentren in Mitteldeutschland gewiss verbessert. Doch für diesen erst einmal abstrakten Vorteil waren viele Produzenten nicht bereit, ihre etablierten regionalen Marken zu ändern. Sauermilchkäse wurde daher nicht nur als Harzer oder Mainzer Käse beworben, sondern als Ostpreußischer Glumse (Ostpreußen), Baudenkäse, Koppenkäse (Schlesien), Westfälischer Sauer-Käse (Westfalen), Märkischer Presskäse (Brandenburg), Sächsischer Schimmelkäse (Sachsen), als Lothringer Käschen (Elsass-Lothringen), Hopfenkäse, Kräuterkäse, Bierkäse (Bayern) oder auch Pimp-Käse (Mecklenburg). [43] Eine Reduktion der Marken gelang nur auf regionaler Ebene. [44]

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Gemeinschaftswerbung für Milchprodukte (Kladderadatsch 82, 1929, Nr. 9, s.p. (l.); Gebrauchsgraphik 9, 1932, H. 8, 49)

Des Käses neues Kleid: Verpackungsinnovationen

Und doch: Während ein konsequentes Marketing der Käsebranche im Großen und Ganzen scheiterte, wurde Käse in den 1920er Jahren langsam zu einem anderen Produkt. Dies resultierte aus technologischen Innovationen, vorangetrieben durch die größeren Anbieter und eine wachsende Zahl von Zulieferern der chemischen Industrie und des Maschinenbaus. Für sie war die Verpackung schon länger ein Schlüsselproblem – und damit die vielfältigen unternehmerischen Aufgaben bei Produktion, Transport und Warenpräsentation. Käse, insbesondere große Hartkäselaibe, wurde bis dahin meist als lose Ware verkauft, die vom Handel in kleinere Stücke geschnitten, also detailliert wurde. Vor dem Ersten Weltkrieg drehten sich die Verpackungsdiskussionen vor allem um die gängigen Holzkisten für den Transport – so wie etwa parallel in der Obst- und Gemüsebranche. Weichkäse wurde zwar auch in größeren Kisten ausgeliefert, aber um die Ware zu schützen und Verbraucher anzusprechen, nutzte man zudem kleinere Papp- und Holzspankisten als Verkaufsverpackungen. [52] Selbstbedienung gab es zwar noch nicht, doch in Milch- und Lebensmittelgeschäften wurde Käse durchaus in gläsernen Verkaufsvitrinen präsentiert. Weichkäseproduzenten setzten schon vor dem Ersten Weltkrieg Aluminiumfolie ein, die größere Marktanteile jedoch erst in den 1920er Jahren gewann. Wichtiger war das aus Zinn gefertigte Stanniol. Es ermöglichte verzehrsfertige Miniaturverpackungen, war aber nicht „atmungsaktiv“ und hygienisch heikel. [53] Sauermilchkäse und auch Weichkäse profitierten von der Einführung des Cellophans, einem frühen „Kunststoff“ auf Zellulosebasis. Ab den späten 1920er Jahren erlaubten wasserabweisende Varianten des neuen Materials eine kontinuierliche Reifung, gaben einen direkten Blick auf das Produkt frei und verhinderten starken Geruch. Doch die neuen Verpackungsmaterialien schufen auch neue Herausforderungen: Temperatur- und Farbveränderungen stellten Produzenten und Wissenschaftler vor neue Aufgaben, verpackten Käse länger attraktiv erscheinen zu lassen. Stanniol und Cellophan schufen eine neue Ästhetik des Käses, distanzierter und zugleich hygienischer. Viele Verbraucher trauten solchen Produkten allerdings nicht: Händler wurden oft aufgefordert, selbst kleine Verpackungen zu öffnen, um einen Blick auf mit Stanniol überzogenen Käse zu werfen oder an den in Cellophan gehüllten Sorten zu riechen und sie zu berühren. [54] Doch die neuen Verpackungsmaterialien setzten sich durch, mochten die damit verbundenen Rationalisierungseffekte noch begrenzt gewesen sein. Langfristig unterstützten sie jedoch die Etablierung größerer Betriebe mit mechanisierter Produktion und standardisierten Verpackungen. Festzuhalten ist aber auch, dass die Transportverpackungen weiterhin große Probleme bereiteten, da deren mangelnde Standardisierung Lagerhaltung schwierig machte. [55]

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Werbung für Transparit-Wetterfest und für Holz-Span-Schachteln (Die Käse-Industrie 11, 1938, 69 (l.); Deutsche Handels-Rundschau 28, 1935, 285)

Neue Produkte: Schmelzkäse und mehr

Wichtiger als die neuen Verpackungsmaterialien waren daher verbesserte Technologien der verarbeiteten Industrie. Milch wurde immer stärker zum Zwischenprodukt: Milchzucker, Kasein, Molke und Kondensmilch fanden breite Verwendung in der Nahrungsmittelproduktion und der Tierfütterung. [56] Magermilch diente der Herstellung von Kochkäse, der während des Ersten Weltkriegs wieder populärer geworden war und in den 1920er Jahren vom häuslichen Produkt zu einer gängigen Ware vieler Molkereien und Sauermilchkäsereien mutierte. [57] Die wichtigste Innovation war jedoch der Schmelzkäse. Er wurde 1911 von den Schweizer Industriellen Walter Gerber (1879-1942) und Fritz Stettler (1865-1937) entwickelt. [58] Der so geschaffene homogene und recht haltbare Käse bestand ursprünglich auf Emmentaler, emanzipierte sich jedoch rasch von derartigen Rohwarenengführungen. Das Erhitzen und Mischen von Naturkäse erlaubte eine neue Virtuosität der Käseproduktion, denn der Käsemasse konnten verschiedene Sorten, vor allem aber neue Zutaten beigemengt werden. Käse wurde zum Mischprodukt, wohlfeil ergänzt um Kräuter oder Schinken. Schmelzkäse war zugleich ein Industrieprodukt. Seine Erfindung und Markteinführung markierten den Übergang von der mechanisierten handwerklichen zur industriellen Käseproduktion. In Deutschland wurde die erste Fabrik 1922 von den Gebrüdern Wiedemann in Wangen gegründet. [59] Ein Jahrzehnt später stellten fast sechzig Fabriken Schmelzkäse her, Bayern und Württemberg bildeten Produktionszentren. Obwohl Kapitalmangel während der Weltwirtschaftskrise zu vielen Konkursen führte, konnten derartige Rückschläge volkswirtschaftlich schnell kompensiert werden. Schmelzkäse war eine Erfolgsgeschichte, 1929/30 wurden bereits 40.000 Tonnen produziert, mehr als 17% des Gesamtmarktes. [60] Im Jahr 1934 stellten 90 Fabriken bereits ein Fünftel der deutschen Käseproduktion her. [61] Schmelzkäse war leicht zu handhaben, hatte relativ geringe Verderbraten und ließ sich gut portionieren. Kleine Stanniolverpackungen wurden zu einem wichtigen Element, um Käse in das Frühstück zu integrieren und als Brotaufstrich zu vermarkten. [62]

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Mechanisierung: Anlagen einer Schmelzkäsefabrik aus einer Hand (Süddeutsche Molkerei-Zeitung 50, 1929, Festschrift, 65)

Zwischen häuslicher Produktion und Importdruck: Strukturwandel des Käsemarktes

Die dennoch insgesamt noch begrenzte Rationalisierung der Käsebranche zeigte sich auch am Mangel an verlässlichen Daten. Wir müssen uns mit Schätzungen begnügen. Die Sauermilchkäseproduktion gewann unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg an Boden und erreichte ihren höchsten Ausstoß wahrscheinlich 1921/22, also vor der Hyperinflation. Zu dieser Zeit sank jedoch die Qualität von Milch und Quark zunehmend. Der wachsende Verbrauch resultierte also nicht aus hoher Qualität, sondern aus niedrigen Preisen. [63] 1929/30 produzierten etwa 9.000 meist kleine Betriebe 90.000 t Sauermilchkäse, also fast 40 % der deutschen Käseproduktion. [64] Die Molkereien litten noch Anfang der 1920er Jahre unter den Wirren der Rationierungspolitik und der schwer abzubauenden Zwangswirtschaft: Immense Qualitätsproblemen und ein deutlicher Rückgang des Milchverbrauchs waren die Folge. Zudem verdoppelte sich der Margarineverbrauch in den 1920er Jahren und setzte die Butterproduktion unter Druck. Im Jahr 1927 produzierten die Molkereien ca. 43% oder 80.000 t der deutschen Käseproduktion. [65] Durch die Rückgänge bei Milch und Butter wurde Käse für die Molkereien wichtiger, doch Umsätze und Erträge lagen immer noch weit unter denen der Butterproduktion. Von 1926 bis 1928 verarbeiteten die Molkereien 53% der Milchmenge zu Butter und 8% zu Käse. [66] Doch diese Zahlen verdecken die statistisch kaum zu erfassende häusliche Produktion vor allem von Quark und Sauermilchkäse. Eine erste nationale Schätzung der verschiedenen Kanäle der deutschen Milchproduktion ging 1926/28 davon aus, dass zwei Drittel des deutschen Käses noch häuslich hergestellt (und statistisch nicht erfasst) wurden, zumeist von bäuerlichen Haushalten. Diese standen in enger Verbindung zu den örtlichen Molkereien, die oft Quark und Magermilch lieferten und derart die häusliche Herstellung förderten. Rechnet man diese Mengen mit ein, so stammten damals 85% des Käseverbrauchs aus heimischer Produktion, während 15% importiert wurden. [67] Die amtliche Statistik stellte dagegen 290.600 t inländischen Käse gegen 129.640 t (31%) Importware.

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Folkloristisches Äußeres, überlegene Strukturen: Käsemarkt im holländischen Alkmaar (Das Magazin 4, 1927/28, Nr. 43, 2011)

Der hohe Anteil ausländischen Importkäses wurde öffentlich wieder und wieder thematisiert, da dadurch die deutsche Volkswirtschaft hohe Devisenabflüsse hatte. Die deutschen Käseexporte lagen nur bei einem Siebtel der Importe. Diese bestanden vor allem aus teurem und haltbarem Hartkäse. Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Niederlande (70,4%) und die Schweiz (24,8%) die dominierenden Importländer. Ab 1924 stiegen die Einfuhren stark an, doch die Niederlande verteidigten ihre Dominanz im deutschen Markt (67,2% zwischen 1926/28). Die Schweizer Importe verloren dagegen an Boden (13,4%), während der dänischen (7,4%) Anteile gewannen. Die Weichkäseimporte erreichten nur noch ein Zehntel der Hartkäseimporte, doch deren Struktur veränderte sich massiv. Vor dem Ersten Weltkrieg dominierten die französischen Einfuhren (fast 75 %), gingen aber zwischen 1926/28 auf ein Sechstel zurück, mochten die Nettoimporte auch stabil geblieben sein. Finnland, Dänemark, die Tschechoslowakei und die Schweiz wurden zu wichtigen Konkurrenten. [68] Wie bei fast allen Gütern bildete die Weltwirtschaftskrise einen tiefen Einschnitt. Die Menge an importiertem Käse sank von 66.483 Tonnen im Jahr 1929 auf 62.350 Tonnen im Jahr 1930 und 54.615 Tonnen im Jahr 1931.

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Mittagsessen in einem Breslauer Arbeiterhaushalt: Brot, Kartoffeln, Käse und Salz (Der Arbeiter-Fotograf 3, 1929, 14)

Kaum verändert: Käseverzehr in den 1920er Jahren

Der Käsekonsum blieb in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem relativ niedrigen Niveau. 1929 erreichte der Pro-Kopf-Verbrauch 4,2 kg, Vergleichszahlen in der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden lagen bei 10,6, 6,1 und 5,6 kg. [69] Käse blieb hierzulande eine Beilage. Traditionelle Zwischenmahlzeiten mit Käse verloren an Bedeutung, wurden aber durch die vermehrte Verwendung von Käse als Frühstücksbelag kompensiert. Sauermilchkäse und Kochkäse blieben weiterhin Speisen der ländlichen und ärmeren Bevölkerung, Hart- und Weichkäse wurden dagegen vornehmlich von Konsumenten mit höheren Einkommen konsumiert. Angesichts des hohen Anteils häuslich hergestellten Käses handelt es sich bei alledem natürlich nur um Näherungswerte. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Weltwirtschaftskrise zu einem erhöhten Konsum von billigerem und selbst hergestelltem Käse führte, auch wenn eine Schätzung von 5,4 kg Käse pro Kopf im Jahr 1930 zu hoch erscheint. [70]

Die bemerkenswerten Rationalisierungsmaßnahmen der 1920er Jahre hatten zwar die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Käseproduktion deutlich erhöht, doch die Marktergebnisse waren nach einem Jahrzehnt Strukturveränderungen ernüchternd. Produktion und Konsum erhöhten sich, doch der Druck der weiterhin überlegenen ausländischen Konkurrenz blieb massiv. Das Jahr 1930 bildete dennoch einen Bruch, denn durch das damals erlassene Milchgesetz kamen die Rationalisierungsbestrebungen einerseits zu einem verpflichtenden Ende, entstand andererseits eine Blaupause für die nicht immer eindeutig nationalsozialistische NS-Agrarpolitik, die trotz einiger gravierender Unterschiede auch die Agrarpolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Union prägte. Doch das ist eine andere Geschichte, die in einem weiteren Beitrag behandelt werden wird.

Uwe Spiekermann, 27. Februar 2021

Anmerkungen und Nachweise

[1] Vgl. Ortstermine. Revolution von oben – Die preußischen Agrarreformen, hg. v. Museumsverband des Landes Brandenburg, Berlin 2001.
[2] Uwe Spiekermann, The retail milk trade in transition: a case study of Munich, 1840-1913, in: Patricia Lysaght (Hg.), Milk and milk products. From Medieval to Modern Times, Edinburgh 1994, 71-93 sowie ders., Milchkleinhandel im Wandel. Eine Fallstudie zu München, 1840-1913, Scripta Mercaturae 27, 1993, 91-144.
[3] Frank Roeb, Käsezubereitung und Käsespeisen in Deutschland seit 1800, Phil. Diss. Mainz, Mainz 1976.
[4] Ove Fassa und Ursula Heinzelmann, Sour skimmed-milk cheeses, in: Catherine Donnelly (Hg.), The Oxford Companion to Cheese, New York 2016, 666-667 ignorieren diesen Aspekt. Auch Ursula Heinzelmann, Germany, in: Ebd., 313-315, bietet nicht mehr als eine unstrukturierte Kompilation.
[5] [Lübbers] 1909-2009. 100 Jahre Firmengeschichte, Bad Langensalza 2009.
[6] Zit. n. Roeb, 1976, 190.
[7] Vgl. Die Milch. Geschichte und Zukunft eines Lebensmittels, hg. v. Helmut Ottenjann und Karl-Heinz Ziessow, Cloppenburg 1996; A[dalbert] Rabich, Ein Jahrhundert Molkereiwesen. Die Geschichte des technisch-ökonomischen Strukturwandels in der Milch- und Molkereiwirtschaft, in: Die deutsche Milchwirtschaft im Wandel der Zeit, Hildesheim 1974, 11-208.
[8] Vgl. Charles S. Maier, Leviathan 2.0. Inventing Modern Statehood, Cambridge und London 2012, v.a. Kap. 2.
[9] H. von Schwerin-Löwitz, Die deutsche Landwirtschaft, in: S[iegfried] Körte et al. (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Bd. 2, Berlin 1914, 468-483, hier 473.
[10] W[ilhelm] Fleischmann, Lehrbuch der Milchwirtschaft, 5. überarb. Aufl., Berlin 1915, 506-507.
[11] W[alther] v. Altrock, Milchwirtschaft und Molkereiwesen, in: Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. überarb. Aufl., Bd. 6, Jena 1925, 576-582, hier 578. Die geringe Bedeutung der Käseproduktion spiegelt sich in vielen Überblickdarstellungen der Agrarwirtschaft, in denen sie schlicht ignoriert wurde, etwa K[arl] von Buchka, Die landwirtschaftlichen technischen Gewerbe, in: Körte et al. (Hg.), 1914, 495-506.
[12] Ueber den Käseverkehr zwischen der Schweiz und Frankreich, Kempter Zeitung 1863, Nr. 58 v. 8. März, 251.
[13] Fleischmann, 1915, 495.
[14] Die Benennung der Käsesorten im internationalen Handel, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 54, 1925, 41-42.
[15] Fleischmann, 1915, 494.
[16] Diese als „Fälschung“ zu bezeichnen, ist jedoch ahistorisch (so etwa Barbara Orland, Emmentaler, in: Donnelly (Hg.), 2016, 249-250, hier 249). Deutsche, aber auch Schweizer und holländische Produzenten behaupteten eben nicht Emmenthaler „Emmentaler“ herzustellen, sondern ein legales, ähnliches und häufig preiswerteres Substitut. Der Gebrauch falscher Herkunftsangaben wurde von der deutschen Nahrungsmittelkontrolle zudem als Betrug geahndet.
[17] Diese Käsesorten finden sich in Entwürfe zu Festsetzungen über Lebensmittel, H. 4: Käse, hg. v. Kaiserlichem Gesundheitsamt, Berlin 1913, 28.
[18] Fleischmann, 1915, 496.
[19] Hans J. Teuteberg, Der Verzehr von Nahrungsmitteln in Deutschland pro Kopf und Jahr seit Beginn der Industrialisierung (1850-1975). Versuch einer quantitativen Langzeitanalyse, in: Ders. und Günter Wiegelmann, Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung, Münster 1986, 225-279, hier 274.
[20] Uwe Spiekermann, Zur Geschichte des Milchkleinhandels in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Ottenjann und Ziessow (Hg.), 1996, 91-109.
[21] Kunstkäse, hergestellt aus Resten der Margarineproduktion, wurde vorrangig von der Hamburger Firma A.L. Mohr und einigen Betrieben in Holstein produziert. Vgl. A[dolf] Beythien, Über Kunstkäse, Die Käse-Industrie 5, 1932, 21-22.
[22] Tilo Brandis, Die Herstellung von Quarg und Sauermilch-Käse, 3. Aufl., Hildesheim 1922, 3.
[23] Vgl. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, insb. Kap. 4.2.
[24] Otto Eisinger, Die Ernährung des deutschen Volkes eine Organisation der Erzeugung, Berlin 1921, 112.
[25] W[aldemar] Ohlmer, Die Bedeutung der Landwirtschaftswissenschaften für die Volksernährung, Fortschritte der Landwirtschaft 3, 1928, 169-172. Zur allgemeinen Entwicklung vgl. Ulrike Thoms, Vom Nutzen der Wissenschaft für den Staat. Ressortforschung im Bereich der Milchwirtschaft, in: Christine Pieper und Frank Uekötter (Hg.), Vom Nutzen der Wissenschaft. […], Stuttgart 2010, 115-141.
[26] K. Drewes, Zweck und Ziel des neuen Reichsverbandsinstituts i. Seesen, Die Käse-Industrie 3, 1930, 17-18.
[27] Am wichtigsten waren Milchwirtschaftliches Zentralblatt (seit 1872), Der bayerische Senn (seit 1880) und die Molkerei-Zeitung (seit 1887), allesamt auf die Interessen der Molkereien ausgerichtet.
[28] Entwürfe, 1913, insb. 21. Diese Festlegungen wurden bis in die frühen 1950er Jahre befolgt, vgl. O[tto] Mezger und J. Umbrecht, Käse, in: A[loys] Bömer, A[dolf] Juckenack und J[oseph] Tillmans (Hg.), Handbuch der Lebensmittelchemie, Bd. III, Berlin und Heidelberg 1936, 308-422, hier 308. Die Lebensmittelindustrie verwandte recht ähnliche Produktdefinitionen, s. Deutsches Nahrungsmittelbuch, hg. v. V[alentin Gerlach] im Auftrag d. Bundes Deutscher Nahrungsmittelfabrikanten und -Händler E.V., 3. überarb. und erw. Aufl. Heidelberg 1922, 71-74.
[29] Heinrich Fincke, Welche Anforderungen sind an den Fettgehalt von Käse zu stellen? Zeitschrift für öffentliche Chemie 19, 1913, 430-433; Adolf Reitz, Nahrungsmittelchemisches, Der Zeitgeist 6, 1913, 272-278.
[30] Rabich, 1974, 31.
[31] Kurt Kretschmer, Verwertung des Überschusses an Sauermilchquarg, Die Käse-Industrie 4, 1931, 73-75, hier 73.
[32] [Kurt] Teichert, Käse, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft 39, 1924, 562-563, hier 563.
[33] Georg Roeder, Ziele und Bedeutung einer einfachen Betriebskontrolle im Käsereibetriebe, Die Käse-Industrie 2, 1928/29, 80-84. Der Sauermilchkäse war jedoch von relativ geringer Qualität, vgl. K. Drewes, Statistische Untersuchungen über die Beschaffenheit der z. Zt. im Handel befindlichen Käsequargsorten, Die Käse-Industrie 3, 1930, 125-126, hier 125.
[34] L. Müller, Niederrheinische Käsekontrolle, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 52, 1923, 78-82.
[35] Kneuttinger, Die amtliche Käsekontrolle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holstein, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 53, 1924, 175-176, hier 176.
[36] Fabrikationsgarantie durch Kontrolle, Die Käse-Industrie 4, 1931, 54-56; Mißstände im Quarghandel, Die Käse-Industrie 4, 1931, 90.
[37] Geert Koch-Weser, Die Stan­dardi­sie­rung in der Milchwirtschaft, Landw. Diss. Berlin, Langensalza 1931.
[38] Vgl. Marie Philippi, Die Standardisierung von Käse, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 3, 1932/33, 54-60, 107-119.
[39] [Kurt] Teichert, Käsetechnische Rundschau, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1925, 269-271, hier 270.
[40] Vgl. Uwe Spiekermann, „Der Verbraucher muß erobert werden!“ Marketing in Landwirtschaft und Ein­zel­handel in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtech­nik, Frankfurt/M. und New York 2007, 123-147.
[41] Kurt Kre[tschmer], Das Absatzproblem im Käsehandel, Die Käse-Industrie 3, 1930, 151-152, hier 151 (auch für das nächste Zitat).
[42] Kurt Georg, Absatzfragen in der Sauermilchkäseindustrie, Die Käse-Industrie 2, 1928/29, 1-2, hier 2.
[43] Tanax, Zum Standortproblem in der Sauermilchkäse-Industrie, Die Käse-Industrie 1, 1927/28, 124-126, hier 124.
[44] Kurt Kretschmer, Die Bedeutung der Markenquargbewegung für die deutschen Käsereien, Die Käse-Industrie 4, 1931, 109-111.
[45] Für Details s. Die Lage der deutschen Milchwirtschaft. Verhandlungen und Be­richte des Unterausschusses für Landwirtschaft (II. Unterausschuß), Bd. 15, Berlin 1931.
[46] Vgl. Die Aufklärungs- und Werbetätigkeit des Reichsausschusses für Förderung des Milchverbrauchs (Reichsmilchausschuß), Milchwirtschaftliches Zentralblatt 59, 1930, 405-409; Richter, 5 Jahre Reichsmilchaus­schuß­bewegung, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 60, 1931, 171-172 und – allgemeiner – Barbara Orland, Milchpropaganda vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Konvergenzen zwischen Wissen­schaft, Wirtschaft und Ernährungsre­form, in: Manfred Rasch und Dietmar Bleidick (Hg.), Technik­geschichte im Ruhrgebiet, Essen 2004, 909-933.
[47] Vgl. Perlitius, Das Notprogramm der Reichsregierung, Ernährungswirtschaft 2, 1928, 105-106.
[48] Die Sauermilchkäse-Industrie und der Staat, Die Käse-Industrie 2, 1928/29, 75-76.
[49] Trendtel, Die Bedeutung des Käses für die Ernährung des Menschen unter besonderer Berücksichtigung wirtschaftlicher Verhältnisse, Die Käse-Industrie 2, 1928/29, 46-49.
[50] Kurt Kretschmer, Die vielseitigen Formen und Größen der Sauermilchkäse und ihre Bewertung im Handel, Die Käse-Industrie 4, 1931, 26-28, hier 28.
[51] Der rollende Tilsiter Käse in Hildesheim, Die Käse-Industrie 5, 1932, 70-71.
[52] Tr[augott] Baumgärtel, Pappdose oder Holzspanschachtel als Verpackungsmaterial für Edelpilzkäse, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62 (1933), 304-308. Im Allgäu hatten die Molkereien 1906 eine „Freie Käsevereinigung“ gegründet, die mit einer Gütemarke versehene patentierte Verpackungen nutzte (Fleischmann, 1915, 495).
[53] Vgl. Kurt Kretschmer, Verpackungsmaterial und Verpackungsarten für Käse, Die Käse-Industrie 2, 1928/29, 205-207. Genauere Informationen über die Verpackung von Schmelzkäse enthält Curt Siegert, Die Rationalisierung der Normung und Verpackung in der deutschen Margarine- und Milchprodukten-Industrie. Ihre wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, Borna-Leipzig 1936.
[54] F.W. Spiecker, Die durchsichtige Käseverpackung, Die Käse-Industrie 3, 1930, 6; Kretschmer, 1931.
[55] Tanax, Verpackungsmaterial für Sauermilchquarg, Die Käse-Industrie 1, 1927/28, 112-113.
[56] Vgl. L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927.
[57] Brandis, 1922, 29; H[ans] Butenschön, Herstellung von Kochkäse, Die Käse-Industrie 5, 1932, 39-41, hier 39.
[58] Dazu gab es natürlich schon zuvor vielfältige Debatten und auch Patente vgl. Ulrich Neuhaus, Des Lebens weisse Quellen. Das Buch von der Milch, Berlin (W) 1954, 173.
[59] [Willi] Meysahn, Süddeutsche Maschinen und Apparate für die Schmelzkäsefabrikation, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 62, 1933, 332-336, hier 332.
[60] Rolf Schrameier, Entwicklungstendenzen am deutschen Käsemarkt, Blätter für landwirtschaftliche Marktforschung 3, 1932/33, 85-91, hier 88.
[61] Mezger und Umbrecht, 1936, 309.
[62] Eine moderne Schmelzkäseverpackungsmaschine, Die Käse-Industrie 3, 1930, 8-9.
[63] Wie kann der Konsum von Sauermilchkäse gehoben werden?, Die Käse-Industrie 1, 1927/28, 47-48.
[64] Schrameier, 1932/33, 87.
[65] Lage, 1931, 99.
[66] Ebd., 58.
[67] Ebd., 59.
[68] Ebd., 5.
[69] Schrameier, 1932/33, 85.
[70] Von Wittke, Die Käseerzeugung in der Provinz Hannover, Die Käse-Industrie 4, 1931, 99-100, hier 9.

„Trank gegen Trunk!“ Bürgerliche Alternativen zum Alkoholkonsum der Arbeiter

Der Alkoholismus, so kurz nach der Jahrhundertwende der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn (1869-1931), verdiene „wegen seines überaus häufigen Vorkommens, seiner Bedingtheit durch soziale Zustände und seiner Rückwirkung auf diese ebensosehr den Namen einer Volkskrankheit, wie die großen Endemien der Tuberkulose und der Syphilis.“ Nach spektakulären Entdeckungen etwa Robert Kochs (1843-1910), Paul Ehrlichs (1854-1915) und Sahachiro Hatas (1873-1938) konnten Tuberkulose und Syphilis zwar nicht beseitigt, wohl aber erfolgreich eingedämmt werden. Der medizinische Kampf gegen den Alkoholismus aber blieb ohne entsprechende Erfolge. Gewiss, plakativ-erzieherische Aufklärung und das breite Geflecht der „Trinkerfürsorge“, also von Beratungsstellen und Heilanstalten, verwiesen auf das übliche Janusgesicht von Marktbildung und Krankenfürsorge. Und die sich seit den späten 1890er Jahren durchsetzende Interpretation des Alkoholismus als Krankheit zeugte von einem wachsenden Rationalitätsgewinn im Umgang mit den Süchtigen. Doch ein Durchbruch im Kampf gegen den Alkoholismus stand aus.

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Auszug aus einer Werbung für ein Antitrunksuchtmittel (Das praktische Blatt 24, 1905, Nr. 7, 32)

Noch in den 1880er Jahren, nach der Wiederbelebung der frühen Abstinenzbewegung der frühen 1840er Jahre durch den 1883 gegründeten „Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“, dominierte die moralische Verdammung des Alkoholabhängigen als haltloses, charakterloses, der Erziehung der Gesellschaft anheimgegebenes, potentiell gefährliches Subjekt. Durchaus konsequent, waren die meisten medizinisch-gesellschaftlichen Maßnahmen daher repressiv. Es galt, den „Trinker“ wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Vornehmlich bildungsbürgerlich geprägt, konzentrierten sich die Mäßigkeitsvereine fast durchweg auf das Trinkverhalten der „Minderbemittelten“ (und der Männer). Der Kampf gegen den Alkoholismus war lange Zeit Sozialtherapie mit harter Hand, ein Kampf gegen den potentiell umstürzlerischen, politisch anders denkenden Arbeiter. Der allseits habitualisierte, absolut eher höhere Alkoholkonsum des Bürgertums wurde dagegen selten thematisiert. Neben repressive (und durchaus wirksame) Maßnahmen — etwa härtere Strafgesetze, höhere Alkoholsteuern und restriktivere Konzessionsvergabe — traten aber schon seit den 1880er Jahren „positive“ Alternativen zum Alkoholkonsum. Kirchen, Wohlfahrtspfleger, Sozialwissenschaftler und Statistiker verwiesen immer wieder auf schlechte Wohnverhältnisse und die Enge von Familie, Verwandtschaft und Schlafgängertum, die Arbeiter gerade nach Feierabend in die warme, von Freunden und Bekannten besuchte Schankwirtschaft trieben. Konnte man deren Quasimonopol für Feierabend und Wochenende jedoch durchbrechen, so der Umkehrschluss, so war dies ein wichtiger Sieg im Kampf gegen die „Trunksucht“. Vereinzelt wurden daher Schankstätten neuen Typus gegründet, in denen der gefährliche Trunk durch einen labenden Trank erst ergänzt und dann ersetzt wurde.

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Kaffeeausschank bei Kathreiner, München (Die freiwillige soziale Fürsorge in Deutschlands Gewerbe, Handel und Gewerbe 1883-1913, hg. v. Hansa-Bund, Halle/S. 1913, 196*)

Warmgetränke dominierten in den „Kaffeeschenken“ in vielfach kirchlicher oder freier Trägerschaft, die in den 1880er Jahren vermehrt entstanden: Dort wurden –  neben (Ersatz-)Kaffee und Tee – zumeist heiße Suppen angeboten, der fehlenden häuslichen Wärme also ein karitatives Angebot entgegengesetzt. Doch die Erfolge blieben lokal begrenzt, hingen ab vom Engagement der Wenigen. Umfassendere Angebote kamen zeitgleich in größeren Fabriken an, deren Arbeitsablauf durch Alkohol vielfach beeinträchtigt wurde. Die repressiven Branntwein- bzw. Alkoholverbote der Fabrikordnungen wurden ergänzt durch Offerten von teils verbilligtem, teils kostenlosem Kaffee, dann auch von (Mineral-)Wasser. Beide Getränke waren bürgerlich konnotiert, verwiesen auf normative Ideale von Nüchternheit und moderater Stimulation. „Bürgerliche“ Getränke sollten die „Minderbemittelten“ nicht nur vom Alkohol weg-, sondern auch zu einem neuen Lebensstil hinführen, die Tür öffnen zur abgeklärten, rechenhaften Idealwelt des Bürgertums. Bürgerliche Ideologie und innerbetriebliche Rationalisierung verschmolzen im Angebot von teils selbst mit Kohlensäure angereichertem Wasser, von heißem Ersatz- und wohlschmeckendem Röstkaffee. Innerhalb der Gewerbebetriebe sank der Alkoholkonsum vor allem aufgrund höherer Preise, steter Anhaltungen und regelmäßigen Drucks. Die erhoffte Verbürgerlichung der häuslichen Trinkgewohnheiten blieb jedoch aus. Das Alltagsleben war nicht zu kontrollieren, eine entscheidende Schwachstelle der Antialkoholbewegung. Der notwendig öffentliche Alkoholkonsum in Gaststätten und Kneipen konnte durch innerbetriebliche Wohlfahrtseinrichtungen kaum begrenzt werden. Deren Getränkeangebote standen – ebenso wie die der Kaffeeschenken – unter dem Odium eines zweckorientierten Almosens.

Wagner_1885_p006_Erfrischungshäuschen_Berlin

Wesentlich erfolgreicher waren demgegenüber Trinkhäuschen und Trinkhallen. Ihre Anfänge lagen in den 1820er Jahren, nachdem künstliches Mineralwasser in angemessener Qualität hergestellt werden konnte. In frühen Trinkkuranstalten wurde vor allem Heilwasser aufgepeppt, um den Widerwillen des Kurgastes zu verringern, während die erfrischende Wirkung „künstlichen“ Mineralwassers erst in den 1840er Jahren an Bedeutung gewann – und damit zum Prestigeprodukt des Bürgertums mutierte. Auch billigeres Eiswasser mit Citronensäure oder Zusätze von Sirup boten keine Alternative zu „König Alkohol“, sondern eine Ergänzung im Sommer. Die Zahl der Trinkhäuschen nahm erst seit den späten 1880er Jahren stärker zu. Flüssige Kohlensäure hatte die Mineralwasserproduktion wesentlich verbilligt und die Reallohnzuwächsen seit Mitte der 1890er Jahre ließen auch Teile der Arbeiterschaft die Häuschen frequentieren. Sie tranken dort Wasser und Limonaden, verzehrten Speiseeis. Die rasch steigende Zahl der Buden manifestierte jedoch keinen Wandel gegenüber dem Alkohol. Sie etablierten sich als Orte privater Kommunikation und individueller Freiheit. Nicht die Erfrischung stand im Vordergrund, sondern ein Plausch mit Kollegen, vor allem aber mit der Frau oder Freundin, die in der zumal in Nord- und Mitteldeutschland männerdominierten Gaststätte kaum ihren Platz hatte. An der meist privat betriebenen Bude konnte sich (fast) jeder selbst darstellen, seine Sorgen und Freuden mit anderen teilen. Neue Gründungen, etwa die nach 1900 aufkommenden „alkoholfreien Gaststätten“ im ländlichen Ostdeutschland, griffen dieses Moment auf, waren zugleich aber als dörfliche Gemeinde- und Vereinshäuser konzipiert.

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Karikatur zum Berliner Bierboykott (Der Wahre Jacob 11, 1894, 1776)

Die gegenüber Geselligkeit nachrangige Bedeutung des Getränkes zeigte sich auch beim Erfolg der Milchhäuschen. Milch schien anfangs kaum zur Bekämpfung des Alkohols geeignet, galt sie doch als typische Säuglings-, Kinder- und Frauennahrung, nicht aber als Getränk des erwachsenen Mannes. Doch das war keine grundsätzliche Ablehnung. Ansonsten wäre es unverständlich, warum kurz vor der Jahrhundertwende viele Fabriken ihr Getränkeangebot erfolgreich auf Milch und Kakao ausdehnen konnten. Schneller als beim Mineralwasser folgte ein öffentliches Angebot, teils kommerziell, teils gemeinnützig. Allein die „Gemeinützige Gesellschaft für Milchausschank“ besaß Ende 1913 258 Milchhäuschen vorrangig im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und gab in diesem Jahr ca. 20 Mio. Getränke und Kleinspeisen aus. Die folgende Statistik unterstreicht die beträchtliche und in den 1920er Jahren nochmals stark gestiegene Bedeutung aller alkoholfreien Schankstätten.Zahl der alkoholfreien Schank und Erfrischungsstätten in DDie Milchhäuschen stehen aber auch für den tiefen Bruch, den der Erste Weltkrieg für die bürgerliche Mäßigkeitsbewegung bedeutete – und der zugleich den Weg hin zur späteren „Bude“, zum „Kiosk“ einläutete. Während in der Armee Alkohol trotz medizinischer Vorbehalte regelmäßig als Stimmungsheber und Erduldungsration verausgabt wurde, brach an der sog. Heimatfront die regelmäßige Milchzufuhr fast vollends zusammen.

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Fahrbares Milchhäuschen in Berlin (Blätter für Volksgesundheitspflege 27, 1927, 32)

Um Häuschen offen zu halten, wurde das Angebot während und vor allem nach dem Kriege grundlegend neu ausgerichtet: An die Stelle der Milch traten Kunst-Limonaden, Wasser oder neuartige Angebote, wie die Milchsäurelimonade Chabeso. Zudem gab es nicht allein einfaches Gebäck, sondern eine begrenzte Speisenauswahl. Auch die Seltersbuden zogen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach. Billige und öffentlich konsumierbare Erfrischungen wurden Teil des Sortiments: Neben die antialkoholischen Getränke traten Süßwaren, Zigaretten, Zeitungen und Illustrierte. Zwischen Getränkebuden und Kiosken konnte kaum mehr unterschieden werden. Die Häuschen verloren zunehmend ihren reformerischen Anspruch, erweiterten sie doch den Markt für neue, teils gesundheitsschädliche Genüsse. Gerade billige Zigaretten waren Teil des Lebensgefühls der 1920er Jahre, auch hieran hatte die Armeeverpflegung einen beträchtlichen Anteil. Die Buden emanzipierten sich zugleich von ihren bürgerlichen Anfängen, die sog. kleinen Leute fanden hier durchaus eine Alternative zur Gaststätte. Während der sich nach 1900 langsam einbürgernde, in den 1920er Jahren stark wachsende Flaschenbierkonsum für die langsame Verhäuslichung des Alkoholkonsums stand, manifestierte die zunehmende Zahl alkoholfreier Schankstellen die parallele langsame Enthäuslichung nichtalkoholischen Genusses. Inwieweit daran lebensreformerische Konzepte oder aber neue Freizeitformen dank reduzierter Arbeitszeit Anteil hatten, ist kaum abzuschätzen. Der im Gefolge der Rationalisierungsdiskussionen der 1920er Jahre gegenüber der Vorkriegszeit weiter sinkende Alkoholkonsum am Arbeitsplatz verweist eher auf strukturelle Veränderungen, die den Stellenwert des Alkohols auch am Feierabend und in der Freizeit neu definierten. Neuartige Brausen, Limonaden und Fruchtsäfte erhöhten zudem die Attraktivität antialkoholischer Produkte. Die frühen Vorschläge der bürgerlichen Mäßigkeitsbewegung hatten zwar anregend gewirkt, doch ihre Umsetzung erfolgte teils marktgetrieben, teils eigenbestimmt und sicherlich nicht im Sinne einer erhofften und idealisierten Verbürgerlichung des Alkoholkonsums der Arbeiter.

Uwe Spiekermann, 16. Mai 2018