Luftschutz durch alle: Die sächsische Miesrian-Kampagne 1938

Ein weiteres Kapitel Propaganda. Ein weiteres Mal NS-Propaganda. Eine weitere Analyse eines Kernelements modernen Lebens, entsprechend weit vorher einsetzend, bis heute öffentliches, ja wieder alltägliches Thema. Es wird um Luftschutz gehen, den hierzulande, nicht den in der Ukraine, in Russland, in den laufenden und den kommenden Kriegen. Den Luftschutz, der während des Ersten Weltkrieges als Thema aufkam, Ende der Weimarer Republik vielfach gefordert und gefördert wurde. Der im nationalsozialistischen Reichsluftschutzbund dann zur öffentlichen, zur völkischen Aufgabe mutierte, verpflichtend grundsätzlich für jedermann, jedefrau. Und natürlich um die damit geschaffenen Außenseiter, die Miesmacher und Kritikaster, die Miesriane, alle die, die nicht mitziehen wollten. Und die deshalb die Luftschutzgemeinschaft, die Volksgemeinschaft störten, unterminierten. Die zwingend belehrt und bekämpft werden mussten. Argumentativ, denunzierend, ausgrenzend.

Wir werden chronologisch-zwiebelhaft in mehreren Schritten vorgehen: Den neuartigen Luftschutz, dessen Ausgestaltung bis zur Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung, ihn gilt es eingangs vorzustellen, insbesondere dessen gesellschaftliche Folgewirkungen. Da alle mitziehen mussten, um die Abwehr leistungsfähig auszugestalten, musste man Abweichler integrieren. Das aber war schwierig, gab es doch Kritik und Verweigerung. Staatliche Propaganda zielte auf innere Kohäsion, grenzte Störenfriede aus, vom Ersten Weltkrieg bis hin zum Reichsluftschutzbund. Dessen Geschichte ist anschließend genauer darzustellen, sein Janusgesicht zwischen der Verteidigung des Elementaren und der für einen Angriffskrieg erforderlichen Wehrhaftigkeit. Übungen zunehmend größerer Teile der Bevölkerung waren dafür unabdingbar, denn der Feind, der äußere, würde keinen Fehler verzeihen. Um die damit einhergehende Dynamik, um die für das Gelingen unabdingbare Gefolgschaft näher einzufangen, werden wir dann eine bisher unbekannte Propagandakampagne aus Sachsen genauer analysieren. Kurz nach der Okkupation Österreichs, vor der Besetzung des Sudetenlandes, schließlich der Tschechoslowakei, schien das nötig, denn Widerstand konnte nicht ausgeschlossen werden. Diese Miesrian-Kampagne präsentierte eine der vielen (imaginären) Negativfiguren, von denen die NS-Propaganda, doch nicht nur sie, übel reich ist. Der Miesrian zog nicht mit. Die Kampagne benannte ihn, materialisierte die bösen Gedanken vieler, den Unwillen sich einzugliedern. Es geht also um den modernen Menschen, einen, der wählen kann – und dessen Wahlmöglichkeiten vom modernen Staat strikt begrenzt wurden.

Luftschutz als neue Aufgabe der Zivilverteidigung der Zwischenkriegszeit

Der erste Weltkrieg war zwar ein Krieg auch zwischen Luftstreitkräften, doch kein Bombenkrieg. Die fast 200.000 produzierten Militärflugzeuge wurden meist frontnah als Jagd- und Aufklärungsmaschinen eingesetzt. Der Krieg gegen das Hinterland war auch aus technischen Gründen limitiert, einzig die deutschen Zeppeline begannen seit Ende 1915 mit ihren insgesamt 124 Angriffen auf Großbritannien, seit 1917 folgten zudem Bomber. Der Aufwand für die Luftabwehr und die Verluste an (eigenem) Kriegsmaterial waren immens, doch auf der Insel wurden „nur“ 1414 Personen getötet und die Zerstörungen von Hafen- und Industrieanlagen blieben relativ gering. Französische, britische und US-amerikanische Bomberbesatzungen töteten im Westen des Deutschen Reichs parallel 729 Menschen (Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, Bonn 2011, 29). Auch dies hatte keine strategische Bedeutung, Transport- und Produktionskapazitäten blieben intakt. Wichtiger fast waren die propagandistischen Wirkungen, denn Erfolge und Verluste wurden auf allen Seiten genutzt, um den Feind zu benennen, Hass zu schüren, zum Durchhalten zu motivieren. Der Bombenkrieg kroch in die Köpfe, die Imagination der Vernichtung aus der Luft nahm zunehmend Gestalt an.

Bombenkrieg gegen Großbritannien; Beerdigung getöteter Kinder in Karlsruhe (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 6, 16 (l.); Die Wochenschau 8, 1916, 1001)

Der Versailler Friedensvertrag von 1919 hielt nicht nur die Reichswehr bewusst klein, sondern untersagte auch den Aufbau von Luftstreitkräften, ebenso weiteren aktiven Luftschutz durch Erdabwehrkräfte, Flugabwehrkanonen und Flakscheinwerfer. Für die Militärs, aber auch breite Teile der deutschen Öffentlichkeit, war dies demütigend, empfand man sich angesichts der weiter bestehenden und vielfach ausgebauten Luftflotten der Alliierten doch schutzlos. Während der zivile Flugzeug- und Luftschiffbau breite öffentliche Resonanz fand, Transport- und Passagierflugzeuge von Fokker und Junkers für eine neue Mobilität und globale Zukunftsmärkte standen, war man offiziell von der militärischen Entwicklung abgeschnitten. Die geheime Kooperation insbesondere mit der Sowjetunion erlaubte den Anschluss an die technische Entwicklung, doch schien man abgehängt, stand nicht an der Spitze. Die Amerikafahrt von LZ 127 „Graf Zeppelin“ unterstrich 1928 zwar die Weltgeltung der deutschen Ingenieurskunst. Doch trotz der im Januar 1926 erfolgten Gründung der Luft Hansa blieb der Makel der halbierten Luftmacht prägend (Botho von Römer, Die Deutsche Luft Hansa, Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 373-377). Während nicht nur Techniker schon über Raketentechnik und Raumfahrt sinnierten, die Populärkultur derartige Träume neu zu erschließender Räume aufgriff und multiplizierte, war die weitere Entwicklung von der Gnade der Garantiemächte des Versailler Vertrages abhängig.

Das Pariser Luftfahrtabkommen vom Mai 1926 lockerte einige der 1919 festgeschriebenen Beschränkungen, ermöglichte den Ausbau der zivilen Luftfahrt und eines zivilen Luftschutzes. Militärs und Politiker bestimmten die öffentliche Debatte, die sich einerseits auf die imaginierte Bedrohungslage konzentrierte, anderseits auf die daraus zu ziehenden institutionellen und organisatorischen Konsequenzen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923-1939, Phil. Diss. Freiburg i.Br. 2001 (Ms.), 125-207 (mit zahlreichen Quellen)). Luftschutz war eine Querschnittsaufgabe, die an sich funktional ausdifferenzierte Subsysteme der modernen Gesellschaft in einen neuen Zusammenhang bringen wollte. Luftschutz war eben nicht an Experten zu delegieren, sondern erforderte den Einsatz aller. Derartige Mobilisierung erforderte Propaganda, um ein begründetes Arsenal von „strengen, präzisen und erwiesenen Regeln“ festzuschreiben (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt a.M. 2021 (ebook), 21). Diese Propaganda richtete sich an alle, an die Masse – zugleich aber an jeden Einzelnen. Es ging, in den bereits vorgepreschten Staaten der früheren Entente, doch auch in den nun nachholenden Ex-Mittelmächten, um die freiwillige Konditionierung von Menschen in einem Bedrohungs- und Handlungskollektiv – wie etwa zeitgleich im vom Automobil umgestalteten Straßenverkehr. Jeder hatte dabei eine Funktion, seine quasi unverzichtbare Aufgabe. Doch Erfolg konnte er nur in der Gruppe haben, entsprechend umfassend war der Zwang zum Mitziehen, zur Zustimmung. Die Propaganda zielte entsprechend darauf, dem Individuum keine Möglichkeit zu geben, sich vermeintlichen Sachlogiken zu entziehen (Ellul, 2021, 25).

Aggressives Ausland, schutzloses Deutsches Reich: Militärflugzeuge in Europa 1928 (Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1153-1154)

Für unser Fallbeispiel im Sachsen des Jahres 1938 sind die weitreichenden Folgen der während der Weimarer Republik entwickelten Grundkonzeption entscheidend, nicht die Unterschiede zwischen den nach dem Pariser Luftfahrtabkommen gegründeten privaten Interessenverbänden, vorrangig dem Verein Deutscher Luftschutz (1927) und der Deutschen Luftschutzliga (1931). Das Reichskabinett hatte sich 1927 für passive Schutzmaßnahmen ausgesprochen, rechtfertigte dies mit der „Fürsorge gegen öffentliche Notstände“ der Polizeibehörden. Es herrschte ein Kult der Sachlichkeit, der Überparteilichkeit. Pointiert hieß es: „Die Durchführung solcher Maßnahmen ist weder eine militärische noch eine politische Angelegenheit“ (Vorbereitung des zivilen Luftschutzes, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1932, Nr. 62 v. 2. März, 1).

Im Vordergrund der Propaganda stand in immer neuen Variationen die vermeintliche Schutzlosigkeit des Deutschen Reiches. Wie schon vor 1914 hieß es „Feinde ringsum!“, der Ruhrkampf 1923 hatte die aggressiven Ziele insbesondere Frankreichs scheinbar unter Beweis gestellt. Dem Kult der Sachlichkeit entsprach eine vor allem von Militärs getragene Aufklärung über die Gefahrenlage, über die mögliche Prävention. Die strukturelle Analogie zum Ernährungs- und Gesundheitssektor ist offenkundig. Es hieß, nicht der vielbeschworene Gaskrieg sei die eigentliche Gefahr, sondern die Verwüstung der ökonomischen Basis, der Infrastruktur und des persönlichen Besitzes. Das sei Folge des „Abrüstungsverrats“ der Ententemächte, des Völkerbundes ([Constantin] v. Altrock, Luftkrieg und Luftschutz, Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1155-1156, hier 1156). Passend zur „Verständigungspolitik“ unter Außenminister Gustav Stresemann (1878-1929) wurde der Luftschutz als defensiv präsentiert, entsprach der Versöhnungsrhetorik der Vernunftrepublikaner. Die konservativ-nationalsozialistische Regierung konnte ab 1933 mit Forderungen nach „Gleichberechtigung“ daran unmittelbar anknüpfen.

Angst vor den Wirkungen: Frankreichs Prototypen des geplanten Bombers „Dyle et Bacalan“ als Drohkulisse (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 737)

Polizei-Hauptmann Rudolf Pannier (1897-1978), späterer Standartenführer der Waffen-SS, betonte entsprechend Anfang 1933: „Wir haben die Pflicht, die deutsche Bevölkerung vor einer ihr möglicherweise drohenden Gefahr, die den Charakter einer ungeheuren Katastrophe haben wird, durch vorbeugende Maßnahmen zu schützen und durch ihr Vorhandensein den Anreiz zu Luftangriffen auf deutsches Gebiet abzuschwächen“ (Deutschland in Luftnot, Hamburgischer Correspondent 1933, Nr. 59 v. 4. Februar, 5). Der private Luftschutz unter amtlicher Leitung popularisierte bereits während der Präsidialdiktatur entsprechend umfangreiche Eingriffsverpflichtungen (Für Schaffung des zivilen Luftschutzes, Wilhelmsburger Zeitung 1932, Nr. 12 v. 15. Januar, 5). Der Luftschutz des NS-Regimes intensivierte anfangs ohnehin laufende Maßnahmen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939, München 2005, 98-101). Das neu gegründete Luftfahrtministerium übernahm, eine neue Spitzenorganisation bündelte die bestehenden Luftschutzvereine im April 1933. Die Abwehrmittel schienen begrenzt, doch durch präzise Verhaltensroutinen, durch einen Gleichklang der Abwehr könne man den Gefährdungen trotzen. „Luftangriffe sind eine Nervenprobe!“, der aufgeklärte Einzelne würde daran nicht zerbrechen. Das Ziel war eine Umformung der Nation, des Volkes, passend zu den die Weimarer Republik prägenden Utopien des Neuen Lebens, des Neuen Wohnens: „Die Vielgestaltigkeit der im Luftschutz zu leistenden Kleinarbeit erfordert ein hohes Maß von uneigennützigem Leistungseifer bei allen Führern und Helfern“ ([Alfred] Richter, Nationaler Staat und Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 251 v. 14. Oktober, 9).

Luftschutzübung bei der Oranienburger Auergesellschaft im Juni 1931 (Richard Roskotten, Ziviler Luftschutz, Düsseldorf 1932, vor 17)

Kritik und Rückfragen

Während der Weimarer Republik und der Zeit der Präsidialdiktatur war der Luftschutz jedoch (noch) keine Massenbewegung. Pazifisten, Mitglieder von DDP und Zentrum, insbesondere aber Sozialdemokraten kritisierten ihn zudem als Teil einer umfassenden Militarisierung der Gesellschaft: Die wachsende Zahl öffentlicher Luftschutzübungen rief stetig Kritik hervor: „Es wurde Krieg gespielt. In Kiel stand die ganze Stadt unter dem Eindruck der Uebung. Schulkinder erhielten Mullbinden um den Mund und wurden so ins Freie geführt, Hunderte von Angestellten eines Warenhauses mußten die Flucht in bombensichere Keller üben, die Sirenen heulten, und am Abend wurde die Stadt völlig verdunkelt – alles wie im Kriege. […] Man bereitet sich würdig vor auf den nächsten Ausbruch des Wahnsinns. […] Es geht von solchem Kriegsspiel, das nach dem Vorbild anderer Länder nun auch in Deutschland geübt wird, eine psychologische Wirkung aus, die dem Willen zum Frieden und zur Verständigung der Völker schweren Abbruch tut. Dies Kriegsspiel setzt einen Feind voraus, der unter Bruch der Verträge zum Kriege schreitet und den Krieg mit den grausamsten Mitteln des Gaskrieges aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung führt“. Deutlich benannten die Kritiker die in Technokratie und militärischer Logik eingebundenen Vorannahmen: „Diese Spiele legen Zeugnis ab von wachsendem Mißtrauen, nicht von wachsender Verständigung! Das ist nicht moralische Abrüstung, sondern unmoralische Aufrüstung, und es wäre die Aufgabe einer wirklichen Abrüstungskonferenz, solche Kriegsspiele international zu verbieten“ (beides nach Luftkrieg. Die Perspektive zum nächsten Krieg, Vorwärts 1932, Nr. 423 v. 8. September, 3).

Derartige Kritik war auch im Ausland weit verbreitet. Versuche der rechtlichen Einhegung der neuen Gefahren begannen schon vor dem Abheben erster Motorflieger: Bereits vier Jahre vor dem Flug der Gebrüder Wright erließ die Haager Friedenskonferenz 1899 ein nach fünf Jahren wieder ausgelaufenes Verbot des Luftbombardements der Zivilbevölkerung. 1907 fügte man der Haager Landkriegsordnung einen neuen Artikel 25 hinzu, der die unterstützende Bombardierung angegriffener Städte zuließ, nicht aber Luftangriffe im Hinterland. Wesentlich umfassender war die Haager Luftkriegskonvention von 1923, die nicht nur die „Terrorbombardierung“ von Nichtkombattanten (Art. 22) untersagte, sondern auch eine „unterschiedslose Bombardierung der Zivilbevölkerung“ (Art. 24) (Heinz Marcus Hanke, Die Haager Luftkriegsregeln von 1923 […], Revue Internationale de la Croix-Rouge 42, 1991, 139-172, hier 144-145). Der Rechtstext wurde allerdings nicht ratifiziert, dies hätte die Luftflotten radikal limitiert, hätte man doch gegnerische Städte und Infrastruktur als solche kaum mehr angreifen können. Dennoch unterstrich die Konvention, dass es Alternativen zur aktiven und passiven Luftrüstung hätte geben können. Die Kritiker des neuen deutschen Luftschutzes nahmen dies auf, hinterfragten die immensen Kosten und den unklaren Nutzen der öffentlichen und privaten Aufwendungen. Und sie hoben stetig hervor, dass Luftschutz nur Teil der „Propaganda für Deutschlands Aufrüstung in der Luft“ sei (Luftschutz? Neue Organisation, neue Zeitschrift, neue Kosten, Vorwärts 1931, Nr. 447 v. 24. September, 2).

Der Luftkrieg wurde in der Zwischenkriegszeit angesichts leistungsfähigerer Flugzeuge und Bomben also nicht nur radikaler als zuvor durchgespielt, erschien nicht nur als eine neue Phase möglicher Destruktion und des Sieges aus der Luft, ohne den Einsatz der Landheere. Man versuchte zugleich, ihn rechtlich einzuhegen und die Gründe für einen umfassenden Luftschutz abzuschwächen. Doch das waren Minderheitenpositionen. Schon lange vor der Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung gab es einen gesellschaftlichen Konsens über eine passive Wehrhaftigkeit. Auch Sozialdemokraten unterstützten und förderten. Die im Luftschutzgedanken angelegte Dynamik nahm nun Fahrt auf: Der Blick wurde anfangs auf den Feind von außen gerichtet. Danach ging es um die Festigung im Innern. Und schließlich begann der Kampf gegen den inneren Feind.

Miesmacher vor den NS-Kampagnen

Diesen inneren Feind kannte man – aus dem Ersten Weltkrieg. Er erschien in vielen Formen, bedrohte den Sieg, das Durchhalten. Und die Dolchstoßlegende sah in ihm die Ursache für die unerwartete Niederlage. Die Heimat, nicht das unbesiegte Heer, habe die Nerven verloren, den Sieg verschenkt, den Dolch in den Rücken der Soldaten gestoßen. Abstrus, denn die Oberste Heeresleitung selbst hatte seit dem 28. September 1918 auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen gedrungen, andernfalls würde die Front in absehbarer Zeit zusammenbrechen (Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 4. durchges. Aufl., München 2014, 877-878). Deutschland und seine Verbündeten waren militärisch besiegt worden, wenngleich die Kämpfe (noch) nicht auf deutschem Boden tobten.

Der innere Feind hatte viele Gesichter, viele Namen. Besonders bekämpft wurden die „Miesmacher“, eine Antigeneralisierung des Rückfragens, der Unterminierung der Zuversicht: „Die Miesmacher sind wieder an der Arbeit. Sie tuscheln, es müsse doch ziemlich schlecht stehen, wir kämen ja gar nicht vorwärts; sie hätten zuverlässige Kunde von ‚furchtbaren Verlusten‘“ (Die Entscheidungsschlacht, Coburger Zeitung 1914, Nr. 262 v. 7. November, 1). Der Miesmacher diente anfangs als Blitzableiter, war Projektionsfläche angesichts des ausbleibenden raschen Sieges der deutschen Armeen. Wurde anfangs noch an die patriotische Pflicht erinnert, „die Stimmung in den Schützengräben zu verbessern“ (Gegen die Miesmacher, Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 663 v. 28. Dezember, 2), so setzte schon Ende 1914, trotz millionenfacher Liebesgaben, eine wachsenden Kritik am fehlenden Verständnis der Heimat ein. Der Chemnitzer Sozialdemokrat Hugo Poetzsch (1863-1946) schrieb „von einem heiligen Zorn […] gegen die Miesmacher und Schwarzseher, die mit ihrer Schreiberei im Inland und in der ausländischen Presse […] dazu beitragen, daß der Krieg verlängert, die Leiden unserer Genossen vergrößert werden.“ Für ihn ging es um „den Willen und die Fähigkeiten […] durchzuhalten, mitzuhelfen, [und so, US] den Kämpfern, die sich für uns opfern, die Nervenkraft und die Seelenstärke bis zu einem dauernden Frieden zu erhalten“ (Pulsnitzer Wochenblatt 1915, Nr. 18 v. 9. Februar, 2).

Die Miesmacher als Stimmungstöter (Lustige Blätter 145, Nr. 45, 10)

Schon Anfang 1915, als nach dem Scheitern der Offensive im Westen und dem Beginn des Grabenkrieges intern um die Gründe für die Fortsetzung des Krieges gerungen wurden, wuchs die Parade der inneren Feinde: Flau- und Miesmacher, Pessimisten, Skeptiker, Bierphilister, Besserwisser und Stubenhocker – sie alle glaubten Lügen, verbreiteten Gerüchte an Stammtischen und beim Klatsch (Prospekt, Jugend 20, 1915, 31). Die Vorstellung einer einheitlich zusammenstehenden Nation wurde nicht als kurzfristige Aufwallung und imaginäre Fiktion verstanden, sondern trotzig hochgehalten, völkisch weiter aufgeladen: „Nie lebte in einem kämpfenden Volk ein gleiches Vertrauen! Und dennoch – Es leben unter uns die ‚Miesmacher‘; also genannt nach einem jüdischen Ausdruck von seltsam zutreffendem Wortklang. Wirklich: schon der Wortklang sagt uns, mit welcher Art Leute wir es zu tun haben.“ Dabei blieb es nicht, denn im Kampf, im Krieg sind Differenzierungen unerwünscht. Stattdessen wandte man sich denunzierend gegen die inneren Feinde: Sie „bedeuten eine Gefahr, die bekämpft werden muß. Denn ihre, gelinde ausgedrückt, melancholischen Betrachtungen und Erwägungen wirken wie eine ansteckende Krankheit. Bazillenträger sind sie. Ihr Zustand ist pathologisch, sie sind seelisch nicht recht normal“ (beide Zitate n. Die Miesmacher. Plauderei des Meergeistes, Daheim 51, 1914/15, Nr. 30, 13). Die Miesmacher erschienen als alte selbstbezügliche Männer mit begrenztem Horizont: „Mit euch könnt’s man nicht wagen, / Solch Weltenschlacht zu schlagen, / Hinweg von hier, ihr Drohnen, / Sonst möcht‘ ich’s bös euch lohnen!!‘“ (H[ermann] Stockmann, Roland und die Miesmacher, Fliegende Blätter 142, 1915, 164-165, hier 165). Der deutsche Volkskörper schien gefährdet, es drohte „Ansteckung und Uebertragung. […] Wenn erst in den Adern deiner Söhne dies Gift zu wirken beginnt, dann sieh zu, wer dein Schwert tragen soll“ (Maria Diers, Der Schwarzseher deutscher Nation, Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 60 v. 3. Februar, 2).

Der Miesmacher als vielgestaltige Negativfigur während des Ersten Weltkrieges (Fliegende Blätter 145, 1916, 136 (l.); Lüner Zeitung 1917, Nr. 104 v. 31. August, 6)

Entsprechend verschärfte sich der Ton spätestens als Mitte 1915 klar wurde, dass der Krieg deutlicher länger und härter werden würde. Der Kampf gegen den inneren Feind wurde nun auch zu einem aktiven Akt der inneren Hygiene. Nicht Geldstrafen, nicht Freiheitsstrafen seien angemessen, sondern „die beste Kur für diese Nörgler, Hetzer und Miesmacher“ sei das Stahlbad an der Front (Drei Wochen Schützengraben, Münchener Stadtanzeiger 1915, Nr. 37 v. 11. September, 3). All dies weitete die Entfremdung von Front und Heimat, denn „an der Front ist man der vergiftenden Luft aller Wehleiderei, der Besserwissenwoller, der Eigensüchtigen und Miesmacher entrückt, da herrscht Größe, weiter Blick, freies Aufatmen“ (Erich Deetjen, Schützengraben-Betrachtungen, Daheim 52, 1915/16, Nr. 20, 23-24, hier 24).

In diesem Ton ging es auch 1916/17 weiter, „Herr Angstmeier, Fräulein Zitterig und Tante Miesmacher“ wurden immer wieder beschworen, um Menschen Zustimmung abzuverlangen, sich ihr Geld anzueignen (Aber wie ist es mit der Sicherheit der Kriegsanleihen?, Erzgebirgischer General-Anzeiger 1916, Nr. 210 v. 9. September, 7). Der innere Feind kam parallel auf die Bühne, war Teil der staatlichen zensierten Populärkultur. Reichsweit spielten Theater „Kriegs-Einakter“, darunter auch „Die Miesmacher oder der Krieg am Stammtisch“ (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 13, 8). Otto Reutter (1870-1931) sang eben nicht nur melancholisch nachdenkliche Lieder auf seinen im Mai 1917 in Verdun gefallenen Sohn, sondern auch Propagandaschlager, darunter „Das sind die Richtigen, die hab‘ ich gern (Gegen die Miesmacher)“ (Dortmunder Zeitung 1917, Nr. 126 v. 10. März, 7). 1918, kurz vor der Niederlage, gab es schließlich eine neuerliche Konjunktur des Kampfes gegen die Miesmacher, die späteren „Novemberverbrecher“ ließen grüßen. Hohenzollernprinz Heinrich (1862-1929) warnte vor ihrer seelenvergiftenden Kraft, lokale Militärkommandeure verschärften angesichts von Streiks, Hungerkrawallen und Friedenssehnsucht die Strafbestimmungen (Prinz Heinrich gegen die Schwarzseher, Coburger Zeitung 1918, Nr. 183 v. 7. August, 2; Gegen die Miesmacher, ebd., Nr. 201 v. 28. August, 1). Und während Hindenburg und Ludendorff die Niederlage längst eingestanden hatten, zogen Pfarrer gegen die „Miesmacher und Bauchwehpolitiker“ zu Felde: „Wen es gelüste, die ‚Dummheit der Parlamentarisierung‘ in Berlin mitzumachen, brauche nur nach Rußland zu schauen“ (Rosenheimer Anzeiger 1918, Nr. 220 v. 24. September, 2).

Miesemanns untergründige Zersetzungsarbeit (Illustrierte Zeitung 151, 1918, 521)

Überraschend ist, dass der „Miesmacher“ auch nach dem Ende des Kaiserreichs nicht verschwand (dies und vieles andere ignoriert Stefan Scholl, An den Rändern der Zugehörigkeit verorten: Meckerer und Märzgefallene als Grenzfiguren der >Volksgemeinschaft<, in: Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, T. 1, Göttingen 2022, 103-144). Im Gegenteil etablierte er sich just während der Weimarer Republik. Manches davon konnte noch als Wiederspiegelung der schlechten alten Zeiten dienen: Erwin Kern (1898-1922), rechtsextremer Mörder des deutschen Außenministers Walther Rathenau (1867-1922), konterte etwa die Kritik seiner Mittäter an den neben den Maschinenpistolen mitgeführten Handgranaten mit dem Freikorpsspruch: „Ihr seid ja alle Miesmacher“ (Die Rathenaumörder vor Gericht. (Fortsetzung.), Freie Presse für Ingolstadt 1922, Nr. 236 v. 13. Oktober, 1-2, hier 1). Doch der Miesmacher machte weiter Karriere, wurde demokratietauglich, mutierte zum pluralistischen Abgrenzungs- und Denunzierungsbegriff. Was immer geschah, die Miesmacher waren präsent, kritisierten die neue Rentenmark, die Nominierung Hindenburgs zum Reichspräsidentenkandidaten, die Verhandlungen um ein Ende der Rheinlandbesetzung (Coburger Zeitung 1923, Nr. 279 v. 28. November, 1; Rosenheimer Anzeiger 1925, Nr. 90 v. 21. April, 1; AZ am Abend 1926 v. 21. September, 1). Und da die Miesmacher immer die anderen waren, vermerkte man achselzuckend, dass „deren Geschlecht nicht umzubringen ist!“ (AZ am Morgen 1925, Nr. 129 v. 23. April, 3) Wie zuvor im Krieg hatte dies selbstdisziplinierende Folgen, wollte man doch nicht als Miesmacher verschrien werden (Ingolstädter Anzeiger 1925, Nr. 237 v. 17. Oktober, 2). Dennoch wurde er zu einer Art anthropologischen Konstante, denn „Menschen, die einem das Leben verekeln können“ gab es allüberall (Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 266 v. 11. Februar, 4). Man richtete den Blick daher in andere Richtung, propagierte stattdessen Optimismus, Lebensmut und Tatendrang. Selbstoptimierung sollte den eigenen Miesepeter überwinden – was man auch heutzutage in dutzenden bedruckten Papierhaufen nachlesen kann, die sich explizit gegen Miesmacher wenden.

Doch der Begriff kann und konnte jederzeit wieder autoritär aufgeladen werden. „Miesmacher“ war und ist eben ein antimoderner Begriff der Eindeutigkeit, der kulturellen Hegemonie, des gezähmten Widerworts. In modernen Gesellschaften sind öffentliche Sachverhalte jedoch kontingent, können so, aber auch anders gehandhabt, müssen daher auch kontrovers diskutiert werden. Im politischen und wirtschaftlichen Meinungskampf der Weimarer Demokratie war der Miesmacher ein negatives Flaggenwort der (ersehnten, im Kleinen geduldeten) Diktatur, des Schweigebanns gegenüber Andersdenkenden. Seine gezielte Neuaufladung während der NS-Zeit verdeutlichte zugleich den langen Schattenwurf des Ersten Weltkrieges auf den Nationalsozialismus (vgl. Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010).

Der Reichsluftschutzbund

Die während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur etablierten Strukturen und Prinzipien dienten dem nationalsozialistischen Luftschutz ab 1933 als zu überwindendes Vorbild (Lemke, 2021, 126). Die bestehenden Organisationen gingen in dem am 29. April 1933 gegründeten Reichsluftschutzbund auf, verloren damit ihre begrenzte Unabhängigkeit (Paul Eduard Schriebl, Der Luftschutz im Deutschen Reich von 1933-1945, Diplomarbeit Graz 2021 (Ms.), 36-46). Sachlich-rational hieß es: „Der neue Bund wird auf nationaler Grundlage dem deutschen Volk die lebenswichtige Bedeutung des zivilen Luftschutzes vor Augen führen und streben, jeden Deutschen zu tätiger Mitarbeit zu gewinnen. Neben der Aufklärung und Werbung für den Luftschutz hat der Bund die Vorbereitung und Durchführung des Selbstschutzes der Zivilbevölkerung und die personelle Ergänzung des behördlichen Luftschutzes zur Aufgabe“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die neue Dachorganisation unterstand allerdings dem NS-geführten Reichsluftschutzministeriums, dessen Leiter, der frühere Kampfflieger Hermann Göring (1893-1946), weitere Ziele in den Vordergrund rückte: Der Reichsluftschutzbund „soll in den breiten Massen die sittlichen Kräfte wecken, die zu selbstloser Arbeit und zu Opfern begeistern. Er soll in allererster Linie die moralischen Voraussetzungen schaffen, ohne die ein Volk nicht fähig ist, einen modernen Luftkrieg zu ertragen. Denn nur eine festgeschlossene, von unbeugsamem Lebenswillen beseelte Nation wird diesen Gefahren widerstehen können. […] Ein Volk, das sich untätig und willenlos feindlicher Willkür preisgibt, hat seine Existenz verwirkt. Ein Volk aber, das den eisernen Willen zur Selbsterhaltung in sich trägt, wird auch den Gefahren aus der Luft erfolgreich trotzen“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die NSDAP hatte den passiven Luftschutz zuvor zwar immer gefordert, doch für sie hatte „ein aktiver Luftschutz unter Verwendung von Kampfflugzeugen, Bomben und Gasen aller Art“ Vorrang. Passiver Luftschutz sei hilfreich, erfordere aber eine geistige Mobilisierung der „ganzen Bevölkerung, weil der Krieg der Zukunft durch die Luftwaffe an keine schmale Front gebunden ist“ (beides n. Luftkrieg und Luftschutz, Völkischer Beobachter 1932, Nr. 119 v. 28. April, 5). Es ging um mentale Gleichschaltung, um Akzeptanz fremdgesetzter Vorgaben.

Schutz und Wehrhaftigkeit als Ziele (Edgar Winter, Luftschutz tut not, Berlin 1933, 1 (l.); Knipfer und Burkhardt, 1935, 79)

Mit staatlicher Unterstützung wurden die bestehenden Strukturen ausgebaut. Seit 1935, parallel zur Gründung der Luftwaffe, intensivierte man dann die Werbung für den Reichsluftschutzbund, er mutierte kurz danach hinter der Deutschen Arbeitsfront und vor der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zur zweitgrößten Massenorganisation des NS-Staates (Jörn Brinkhus, Ziviler Luftschutz im „Dritten Reich“ – Wandel seiner Spitzenorganisation, in: Dietmar Süß (Hg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007, 27-40). Der Aufbau des aktiven und passiven Luftschutzes erfolgte anfangs in kleinen Schritten. Ein Blick in meine Heimat, dem Hochsauerland, kann dies verdeutlichen. In der Kreisstadt Brilon präsentierte im August 1933 der Luftschutztrupp Ekkekard nach herzlicher Begrüßung durch Bürgermeister Sauvigny im Rathaus die Aufgaben und Ziele des „deutschen Luftschutzes“ (Sauerländische Zeitung 1933, Nr. 183 v. 11. August, 7), es folgte ein Vortrag, praktische Lehrgänge, dann die Ausbildung eines Lehrtrupps. Am 24. September feierte man im katholischen Vereinshaus die neu gegründete Ortsgruppe Brilon-Thülen des Reichsluftschutzbundes. NSDAP-Ortsgruppenführer Linhoff übernahm die Führung, Sauvigny wurde erster Stellvertreter, Feuerwehr, SA, SS und die Repräsentanten des Gymnasiums Petrinum waren im erweiterten Vorstand präsent (Ebd., Nr. 225 v. 29. September, 7). Kurz zuvor etablierte sich auch der Deutsche Luftsportverband in Brilon. Mit der vom Bürgermeister zugesagten Unterstützung wurde ein Flugplatz geplant und wenig später auch errichtet (Ebd., 1933, Nr. 202 v. 2. September). Luftabwehr und Pilotenrekrutierung gingen Hand in Hand. Josef Paul Savigny (1875-1967), rechter Zentrumsmann und aufgrund des Aufnahmestopps erst später NSDAP-Mitglied, war der bis heute stolz erinnerte Großvater des passionierten Fliegers Friedrich Merz (Merz: „Fliegen war schon immer der Traum meiner Jugend“, SZ.de 2022, Ausg. v. 3. August; Patrik Schwarz, Merz’ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied, taz 2004, Ausg. v. 22. Januar). Brilon war typisch für kleinteilige Veränderungen im gesamten Deutsche Reich.

Diese banden allerdings beträchtliche (Human-)Ressourcen. Männer hatten vorrangige Aufgaben in Produktion und Wehrmacht, Frauen und die noch nicht waffenfähige Jugend sollten die Lücken schließen: „Deren Erziehung und Schulung im Frieden für ihre Aufgaben im Krieg erweitert den Aufgabenkreis des Staates auch in geistig-ethischer Hinsicht. Jeder Staatsbürger muß von dem selbstlosen Pflichtbewußtsein und Opferwillen zum Wohle des Volksganzen durchdrungen sein, nicht nur der männliche Teil der Bevölkerung […]“ (Winneberger, Der Luftschutz als staatspolitische Aufgabe, Bergedorfer Zeitung 1933, Nr. 246 v. 19. Oktober, 9). Luftschutz war zudem ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Experten, denn Planungsaufgaben wurden zentralisiert, der Städte- und Wohnungsbau erhielt neue Impulse, die urbane Verdichtung von Industrie und Bevölkerung war zu durchbrechen. Nicht länger sollte „das holde Chaos des Friedens“ herrschen, der Einparteienstaat konzentrierte sich auf seine Kernaufgabe: „Im Krieg begründet sich der Staat als Staat, und durch die beständige Bereitschaft zu ihm begründet er sich beständig neu“ (Hans Freyer, Der Staat, 2. Aufl., Leipzig 1926, 140, 143).

Standardslogans in den Tageszeitungen (Westfälischer Kurier 1938, Nr. 4 v. 6. Januar, 4 (o.); Tremonia, Ausg. F 1938, Nr. 42 v. 19. Februar, 12)

Das wurde im Sommer 1935 deutlich, als die „Luftschutzpflicht für alle Deutschen“ eingeführt wurde. Das Luftschutzgesetz vom 26. Juni bedeutete nicht nur eine Verreichlichung, also eine Zentralisierung und eine am Führerprinzip ausgerichtete Reorganisation. Paragraph 2 bestimmte auch, „daß alle Deutschen zur Dienst- und Sachleistung sowie zu sonstigen Handlungen, Duldungen und Unterlassungen verpflichtet sind, die zur Durchführung des Luftschutzes erforderlich sind.“ Damit gewann der NS-Staat Zugriffsrechte auf alle Personen und jedes Grundeigentum, die folgenden Entrümpelungsaktionen der Vorgärten und Dachböden unterstrichen dies praktisch (Die Luftschutzpflicht der Bevölkerung, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 307 v. 9. Juli, 5). Der federführenden Polizei, zunehmend aber auch den Amtsträgern des Reichsluftschutzbundes war Folge zu leisten, Zuwiderhandlungen standen unter Strafe. Schon im Februar 1935 war das Heimtückegesetz ausgeweitet worden, so dass jegliche Sabotage und Verächtlichmachung des Reichsluftschutzbundes und seiner Amtsträger strafrechtlich verfolgt werden konnte. Auch das Jedermann-Festnahmerecht nach § 127 der Strafprozessordnung erlaubte ein Vorgehen gegen Meckerer und Miesmacher. Nichtteilnahme an den immer häufigeren Schulungen konnte geahndet werden, symbolisch verhängte Haftstrafen unterstrichen dies (Luftschutz ist Pflicht!, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 567 v. 9. Dezember, 4). In den Folgejahren erweiterten Verordnungen und Ausführungsbestimmungen sowohl die Eingriffsrechte als auch die Strafmöglichkeiten (Neugliederung der Aufgaben im zivilen Luftschutz, Wilhelmsburger Zeitung 1937, Nr. 77 v. 3. April, 3). All das wurde umrahmt von einer drängenden, mit Hilfe detaillierter Hauslisten durchgeführten Mitgliederwerbung. Hinzu traten jährliche Werbewochen im Frühsommer, die von einer zweitägigen Haus- und Straßensammlung begleitet wurden (Aufruf des Reichsstatthalters, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 117 v. 20. Mai, 6). Formal war alles freiwillig, doch der Druck zum Mitmachen war wesentlich schneller spürbar als bei der Winterhilfe. All das waren zugleich Steilpässe für Maßnahmen gegen frei definierbare Miesmacher oder Miesriane, stellte Kritik – auch ohne Prügel – zunehmend still.

Werbung für den Reichsluftschutzbund

Der Reichsluftschutzbund warb anfangs weiter mit der Bedrohung aus dem Ausland, mit dem Zwang einer möglichst effizienten Gefahrenminderung: „Wir dienen unserm Vaterland, / zum Schutz für Heim und Haus / vor Fliegerangriff, Bomben, Brand / und giftger Gase Graus…“ (Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Entsprechend überrascht nicht, dass die Mitgliedzahlen im Westen und Norden des Reiches rasch anstiegen. In Hamburg war Ende 1934 bereits ein Fünftel der Bevölkerung Mitglied des Reichsluftschutzbundes (Luftschutz ist Selbstschutz!, Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 318 v. 17. November, 29). In Mittel-, Süd- und Ostdeutschland sowie den Mittel- und Kleinstädten und auf dem Lande lagen die Anteile jedoch deutlich niedriger (Der Luftschutz in unserer engeren Heimat, Bergedorfer Zeitung 1936, Nr. 114 v. 16. Mai, 9).

Der schützende Aar: Mitgliederwerbung des Reichsluftschutzbundes (Hildener Rundschau 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 8 (l.); Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1933, Nr. 189 v. 15. August, 5)

Nach dem Luftschutzgesetz intensivierte man nicht nur die Mitgliederwerbung, sondern forderte sie zunehmend ein: „Alle Volksgenossen haben die Pflicht, die militärischen Verteidigungsmaßnahmen durch ‚Selbstschutz‘ zu unterstützen. Bei einem Angriff ist die Zivilbevölkerung im Grenzlande ebenso großen Gefahren ausgesetzt, wie der Frontkämpfer im Schützengraben.“ Schließlich mache das Schutzkollektiv „jedem etwaigen Angreifer den Versuch eines Angriffes auf das deutsche Volk zu einer aussichtslosen Sache“ (Luftschutz ist Selbstschutz!, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 260 v. 7. November, 5). Bedrohung, Angst, Pflicht, dann auch Zwang; dies waren die Grundlagen für einen bemerkenswerten Rekrutierungserfolg.

Option für das Mitmarschieren (Illustriertes Tageblatt 1937, Nr. 176 v. 31. Juli, 6)

Im Jahr nach der Gründung hatte der Reichsluftschutzbund offiziell fast 2000 Ortsgruppen und etwas mehr als 2,5 Millionen Mitglieder (Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 100 v. 30. April, 14). Bis Ende 1936 war die Zahl auf etwa sieben Millionen hochgeschnellt, viereinhalb Millionen hatten Schulungsmaßnahmen durchlaufen. Parallel wuchs die Infrastruktur, etwa 2200 Schulen wurden von einer wachsenden Schar ehren- und hauptamtlicher Kräfte bespielt (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 2 v. 3. Januar, 3). Mitte 1936 tönte es dann fanfarenhaft von zehn Millionen, vier Jahre nach Gründung schließlich von zwölf Millionen Mitgliedern (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 166 v. 21. Juli, 5). Reichsweit zählte man damals 3400 Luftschutzschulen, 65.000 Dienststellen, 490.000 meist ehrenamtliche Amtsträger sowie viereinhalb Millionen voll ausgebildete Selbstschutzkräfte. Und doch: „Bis zur vollkommenen Luftschutzbereitschaft des deutschen Volkes ist noch ein weiter Weg“ (Vier Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 128 v. 5. Juni, 5). Die vielfach nicht verlässlichen Zahlen waren Teil einer Propaganda immer neuer Superlative. Bei Kriegsbeginn sprach man von 14 Millionen Mitgliedern. Sie wurden technisch eingewiesen, hatten Verantwortung für ein Haus, auch eine Nachbarschaft, ergänzten idealiter Polizei und Feuerwehr. Die 1938 ca. 27.000 „Luftschutzlehrer und -lehrerinnen“ – der Nationalsozialist genderte – zielten zugleich auch auf die Ausbildung von nationalsozialistischen Kämpfern: „Dem Gedanken, ihn seelisch zu härten und ihn damit in seiner eigenen Ueberzeugung zu wappnen für die Stunde der Gefahr, sei die gesamte Ausrüstung unterstellt. Front und Heimat würden in Zukunft nicht mehr Einzelgruppen sein, sondern eine geschlossene Kampfgemeinschaft mit dem unerschütterlichen Willen, auch das Letzte für den Bestand des Volkes und der Nation einzusetzen“ (beides nach Erfolge des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 50 v. 1. März, 1).

Der Reichsluftschutzbund: Fachzeitschrift und Abzeichen (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 26 v. 30. Januar, 4 (l.) Jenaer Volksblatt 1933, Nr. 251 v. 26. Oktober, 8)

Da wir eine sächsische Kampagne genauer untersuchen werden, ist der Beitrag dieses „Grenzlandgaus“ von besonderem Interesse (peinlich verkürzt Stephan Dehn, „Die nationalsozialistische Propaganda in Sachsen 1921-1945“, Phil. Diss. Leipzig 2016 (Ms.), 293-294). Insgesamt waren in diesem wichtigen Industrieland etwa 300.000 Häuser zu verteidigen. 1936 gab es 700.000 Mitglieder, etwa vierzehn Prozent der Bevölkerung (Drei Jahre Reichsluftschutzbund in Sachsen, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 119 v. 23. Mai, 9). Gemeinden und Reichsluftschutzverband kooperierten bei der Erstellung von Hauslisten zur gezielteren Werbung (Statistische Erhebung für den Zivilen Luftschutz, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 225 v. 25. September, 5). Ende 1936 lagen die Mitgliedszahlen bei 825.000 Personen, Mitte 1938 dann bei mehr als 1,1 Millionen (Fünf Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 137 v. 21. Juli, 7). Besonderer Wert wurde auf die Humanressource Frau gelegt: Ende 1936 waren 73.000 der 185.000 Luftschutzhauswarte und zwei Drittel der 75.000 Hausfeuerwehrleute weiblich, weitere 135.000 Laienhelferinnen standen parat. Bei den geschulten Amtsträgern betrug der Frauenanteil allerdings lediglich acht Prozent (Luftschutzarbeit in Sachsen, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 2 v. 2. Januar, 2). Sie alle sollten Schulter an Schulter mit der NSDAP den „Geist der Heimat halten“ und den NS-Staatsgedanken stützen (Die Parole des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 80 v. 5. April, 3).

(Übertriebene) Masse als Werbeargument (Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 125 v. 2. Juni, 6)

Jede(r) ein(e) Kämpfer(in): Propaganda der klaren Aussagen

Gruppendruck und Zwang waren gewiss wichtige Elemente für diesen immensen Zuspruch. Doch zugleich zogen die Argumente der Verantwortlichen, zog die Propaganda: Ein sozialdemokratischer Bericht aus Bayern betonte im Sommer 1935, „dass ein grosser Teil der indifferenten Bevölkerung die deutsche Aufrüstung positiv beurteilt. Man bringt Verständnis dafür auf, dass Deutschland in der Umgebung hochgerüsteter Staaten ebenfalls aufrüstet. Der Pazifismus hat keine Anhänger mehr. Die Anordnungen des Luftschutzes werden mit grosser Disziplin befolgt und die Menschen, ob für oder gegen Hitler, sehen darin eine lebenswichtige Aufgabe“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 9, A-7). Man ging davon aus, dass „ein Krieg früher oder später“ kommen würde (Ebd., A-8).

Wenngleich in anderen Regionen auch andere Einschätzungen zu hören waren, so fand die seit der Weimarer Republik betriebene Propaganda doch offenkundig Resonanz. Die anfängliche Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungsschichten nahmen die Verantwortlichen sehr wohl wahr, reagierten darauf aber im Sinne der sich entwickelnden Werbewissenschaft: „Jede Propaganda, die Erfolg haben soll, ist […] so zu gestalten, daß sie die persönliche Anteilnahme derjenigen weckt, auf die sie wirken soll“ (Hartmann, Aufklärung im Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 256 v. 19. Oktober, 16, auch nachfolgend). Gefahrensensibilisierung und der Appell an den Beschützerinstinkt gingen Hand in Hand. Dagegen setzte man erstens „Aufklärung durch Wort“, also Vorträge und Rundfunkfeatures, zweitens eine „Aufklärung durch Bild“. Sachliche Werbeplakate sollten weder übertreiben, noch beunruhigen, ebenso die wachsende Palette von Diapositiven in den Kinos, Klischees für Zeitungen und Theaterprogramme sowie Schaubilder und Fotos von der Luftrüstung anderer Nationen, insbesondere Frankreich, Großbritannien und der UdSSR. Drittens schließlich gab es „Aufklärung durch sonstige Mittel“. Dazu zählten Luftschutzausstellungen, Flugveranstaltungen, die im urbanen Raum präsenten Bombenattrappen. Luftschutz wurde Pflichtfach im Schulunterricht.

Zudem konfrontierte man die Bevölkerung immer stärker mit Vorstellungen eines totalen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung geführten Krieges: „Ein künftiger Krieg wird nicht mehr sein wie einst, ein Kampf von Armee gegen Armee, er wird ein Volkskrieg sein“. Der zivile Luftschutz wurde als Truppe der Heimat geadelt, als „Bestandteil unserer Wehrmacht, […] genau so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist, wie die Aufstellung neuer Truppenkörper“. Alle hätten „die heilige Pflicht, […] eure Heimat im Innern so zu verteidigen und in der Heimat so zu kämpfen, wie der Soldat in der vordersten Linie kämpft und sein Leben für euch und uns alle opfert“ (Zitate aus Werdet Mitglieder des Reichsluftschutzbundes!, Wilhelmsburger Zeitung 1936, Nr. 126 v. 2. Juni, 3). Die Berichterstattung über den seit 1934 laufenden Bombenkrieg Japans in China, den Giftgaskrieg Italiens gegen die abessinische Bevölkerung und den Einsatz der Luftwaffen im spanischen Bürgerkrieg verwies immer wieder auf die hierzulande erforderliche Vorsorge, den aktiven und freiwilligen Einsatz beim Reichsluftschutzbund. Das galt zumal für Frauen. Göring betonte: „‚Deutschland kann – wenn es einmal angefallen wird – keine schwachen und entnervten Frauen brauchen. Sie werden es um so leichter haben, in der Stunde der Gefahr die Nerven zu behalten, je eher und umfangreicher sie über alle Gefahren und über das, was sie dagegen zu tun haben aufgeklärt sind!‘“ (Deutsche Frau, bist Du bereit?, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 247 v. 22. Oktober, 3). In der Verteidigung des eigenen Heims, der eigenen Familie könne die Frau ihren Mann stehen.

Suggestion von Sicherheit: Die Volksgasmaske (Hamburger Fremdenblatt 1938, Nr. 201 v. 23. Juli, 37 (l.); Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 207 v. 5. September, 6)

Der 1937 beginnende Verkauf der „Volksgasmaske“ manifestierte nicht nur den sorgenden Staat, sondern machte die immer wieder betonte Gefahr auch leiblich spürbar. Objektiv war sie kaum effektiv, ihr Vertrieb musste zudem wiederholt aufgrund von Rohstoff- und Vertriebsproblemen unterbrochen werden (Karen Peter (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 6/I: 1938, München 1999, 849). Das galt ebenso für den aus Kostengründen vernachlässigten Bunkerbau. Doch die Propaganda, die regelmäßigen Schulungen, Appelle und Übungen im unmittelbaren Umfeld, zielte eben nicht vorrangig auf militärische Effizienz, sondern auf die Schaffung einer Luftschutzgemeinschaft, die auch den Wehrmachtssoldaten ihren Kriegsdienst einfacher machen sollte: Sichere Heimatfront, erfolgreicher Eroberungskrieg. Dieses geistige Band sei im „totalen Krieg von ausschlaggebender Bedeutung“ (Buersche Zeitung 1938, Nr. 58 v. 1. März, 1).

Einübung des Ernstfalls: Verdunkelungsübungen

Die Miesrian-Kampagne 1938 unterstützte all dies, doch sie war zugleich Teil der wohl eindringlichsten Kontroll- und Werbemaßnahme des Reichsluftschutzbundes, den Verdunkelungsübungen. Bombenkrieg wurde antizierend durchgespielt. Erst ging es um einzelne Industrie- oder Hafenanlagen, einzelne Nachbarschaften, dann um urbane Zentren, schließlich um ganze Regionen. Die Verdunkelung wurde lange vor ihrer militärischen Umsetzung während des Zweiten Weltkrieges zu einem in der Presse stetig präsenten Alltagsphänomen. Anfangs war man darüber noch erstaunt, so wenn etwa Gewährsleute berichteten, dass in Bielefeld „die ganze Stadt, mit Ausnahme des Bahnhofs, völlig verdunkelt werden musste. Auch der Verkehr war stillgelegt“ (Deutschland-Berichte 1, 1934, Nr. 10/11, A-7). Dieses Erstaunen legte sich rasch, mochte der „Luftschutzrummel“ auch immer wieder Unbehagen und Versuche des Wegduckens hervorrufen (Deutschlands-Berichte 3, 1936, Ebd., Nr. 4, A-63).

Für die Propagandisten hatten die Verdunkelungsübungen besonderen Wert, „da sie einem großen Personenkreis vor Augen führt – soweit dies übungsmäßig möglich ist –, in welchem Maße Deutschland luftempfindlich ist, wie sehr jeder einzelne und alles, was ihn persönlich angeht, im Falle eines Luftangriffes bedroht und gefährdet wird“ (Hartmann, 1933, 16). Die Effizienz der Luftschutzmaßnahmen konnte augenscheinlich überprüft werden. Wichtiger noch war der rechtsverbindliche Zugriff auf die Bevölkerung und ihre Grundstücke, Häuser und Wohnungen. Unabhängig von einer Mitgliedschaft beim Reichsluftschutzbund hatten die „Volksgenossen“ die für die Verdunkelung erforderlichen Hilfsmittel aus eigener Tasche zu bezahlen und präzisen Verhaltensroutinen zu entsprechen. Der Luftschutz gebar zugleich eine wachsende Zahl von kleinen Führern und Führerinnen, die in Haus und Nachbarschaft bedingte „Polizeifunktion und Befehlsgewalt“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17) besaßen, die Abweichungen unmittelbar weitermelden konnten. Der „Volksgenosse“ war unter dauerhafter Beobachtung, denn schließlich konnte die Verdunkelung an der Nachlässigkeit Einzelner scheitern.

Geschäftsfeld Luftschutzgemeinschaft (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 432 v. 18. September, 26)

Seit 1936, nach dem einseitig aufgekündigten Ende der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages, wurden die Übungen weiter intensiviert: „Ganze Landstriche werden verdunkelt, bis in die entlegensten Gehöfte“ (Deutschland-Berichte 3, 1936, Nr. 8, A-3). Parallel intensivierte man den Luftschutz in größeren Betrieben (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17-A-18). Oppositionelle Beobachter sprachen von Kriegsvorbereitung, von Maßnahmen, die in den anderen Ländern nicht ihresgleichen hätten (Kriegsvorbereitung, Neuer Vorwärts 1936, Nr. 162 v. 19. Juli, 8). Sie wurden jedoch, wie auch die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen, generell willig akzeptiert. Aus München hieß es, „dass die Teilnehmer, selbst solche die sehr skeptisch die Arbeit des RLB beurteilen, durch die Vorträge von der Wichtigkeit einer wirksamen Abwehr gegen Luftangriffe überzeugt wurden und zum Teil die grossartige Organisation des RLB bewundern“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-16). Auch die verpflichtende Einberufung der gesamten jüngeren Bevölkerung für den Luftschutzdienst lief relativ reibungslos. Diese Rekrutierungserfolge überdeckten jedoch Fragen nach der Effizienz all dieser Maßnahmen, denn Verdunkelungsübungen erfolgten mit längerem Vorlauf. Alarmübungen zeigten dagegen oft gravierende Defizite. Ein sächsischer Großbetrieb war angesichts plötzlich anfliegender Bomber der Luftwaffe nicht verdunkelt: „Alles flüchtete hilferufend. […] Vielfach hörte man Rufe wie: ‚Die Russen kommen!‘ Von Luftschutz war in dieser Panik nichts zu spüren“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 6/7, A-06).

Für die Verantwortlichen bedeutete dies Schulungsbedarf und eine stete Verfeinerung der Verdunkelungsübungen: In Leipzig begannen sie 1934, fanden dann in meist jährlichem Abstand statt (Noch nicht dunkel genug?, Deutsche Freiheit 1934, Nr. 232 v. 6. Oktober, 7; Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 10, A-13). Anfangs beschränkte man die Übungen auf kurze Zeitspannen und ließ Straßenverkehr und Reichsbahn großenteils unbehelligt. Die gängigen Zeitungsartikel betonten anspornend: „Alle waren mit Feuereifer und Disziplin dabei“ (Die Reichshauptstadt im Dunkeln, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 67 v. 20. März, 5). Das traf nicht wirklich zu: Bei der Dresdner Verdunkelungsübung stellte der Übungsleiter ernüchtert mangelnde Mitarbeit der Bevölkerung mit: „Es sei erstaunlich, […] daß es im Dritten Reiche noch immer Leute gibt, die nicht begreifen, um was es geht“ (Dresdner Bevölkerung macht Kriegsübungen nicht mit, Sozialdemokrat 1935, Nr. 254 v. 1. November, 2). Die Verdunkelungsübungen wurden auch deshalb zeitlich und räumlich deutlich ausgeweitet, weil man dann direkt intervenieren konnte. Berlin wurde im September 1937 gleich sechs Tage hintereinander verdunkelt (Pulsnitzer Anzeiger 1937, Nr. 221 v. 22. September, 2). An die Seite der Luftschutzverbände traten nun auch die zunehmend aufgebauten Luftschutzeinheiten der Wehrmacht. Anfangs brach das den Elan der Massenschulung, da viele davon ausgingen, dass die Destruktionsspezialisten Sicherheit garantieren würden. Dagegen aber wandte sich die Propaganda, belebte schon lange vor Kriegsbeginn die Vorstellung einer neuerlich bestehenden „Heimatfront“. In der Zeitungsdatenbank Zeit.Punkt NRW fand sich dieser Begriff 1933 ganze 64 Mal, 1935 dann 653 und 1938 424 Mal. Mit Beginn des Weltkrieges wurde er dann wieder ubiquitär (1939 2202 Nennungen).

Reichsweit ähnliche Vorgaben für Verdunkelungsübungen, hier im schlesischen Gleiwitz (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 3, 1936, H, 6, A-11)

Der innere Feind, der Miesmacher

„Miesmacher sind auszurotten, genau so wie die vielen Parteien und Verbände, die sich uns entgegenstellen“ (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 181 v. 22. Juli, 7). So hieß es während der bis zum Sommer 1933 reichenden Machtergreifungsphase, in der es nicht nur darum ging, konkurrierende Parteien zu verbieten, bestehende Institutionen zu besetzen und neue Organisationen zu schaffen. Es ging um das Stillprügeln der Opposition, das Stillstellen von Widerspruch und ein Ende der Meinungsfreiheit. Politische Meinungsäußerungen wurden nun als „Grober Unfug“ geahndet, zunehmend aber auch als Heimtücke, Vorbereitung zum Hochverrat und als Wehrkraftzersetzung. Die NSDAP und ihre Organisationen wurden unter besonderem Schutz gestellt, auch wenn sich die Verfolgung der „Äußerungsdelikte“ anfangs vorrangig gegen Mitglieder der KPD richtete (Gunther Schmitz, Wider die »Miesmacher«, »Nörgler« und »Kritikaster«, zur strafrechtlichen Verfolgung politischer Äußerungen in Hamburg 1933 bis 1939, in: »Für Führer, Volk und Vaterland …« Hamburger Justiz im Nationalsozialismus, hg. v.d. Justizbehörde Hamburg, Hamburg 1992 (ND 2019), 290-331).

Miesmacher hatte es während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur noch auf allen Seiten des politischen Spektrums gegeben, wechselseitig benannte man so Andersdenkende. Das Begriffsfeld war weit, neben die Miesmacher traten Meckerer, Nörgler, Kritikaster, Besserwisser, Kümmerlinge, Reaktionäre, Spießer, Saboteure, Störer, Stänkerer, etc. Doch 1933 wurde der Bedeutungskorridor wieder inhaltlich verdichtet. Der Miesmacher wurde Teil der staatlichen Sprache, bezeichnete Gegner der NSDAP und ihres vermeintlichen Aufbauwerkes, ebenso alle Zweifler, Widerredner, Witzereißer, alle Seitensteher (Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin und New York 2000, 403-404). Während in der Literatur die irrige Auffassung vorherrscht, dass die Miesmacher und Kritikaster erst durch die von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) im Mai 1934 initiierten Propagandakampagne „gegen Miesmacher, Kritikaster und Nörgler“ zum öffentlichen Negativthema wurden, gehörten derartige Negativbezeichnungen bereits seit Mitte 1933 zum Standardrepertoire. Die NSDAP verkörpere schließlich das Volk in seiner ganzen Breite, während der wöchentlichen Ausspracheabende ständen die ehrenamtlichen NS-Leiter Rede und Antwort, böten eine basisdemokratische Alternative zum Parlamentarismus (H. Dilcher, Die Schulungsabende der NSDAP, Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 100, 1933, 542). Negativversprechen folgten, gegen die „Miesmacher werde unerbittlich vorgegangen werden“ (Die Mobilmachung des Mittelstandes, Pfälzer Bote für Stadt und Land 1933, Nr. 157 v. 12. Juli, 3).

Das diente gewiss auch der Beruhigung der NS-Aktivisten. Doch schon im Juni 1933 hieß es in einem Runderlass des preußischen Ministerpräsidenten und Ministers des Innern Hermann Göring: „Es ist in letzter Zeit verschiedentlich beobachtet worden, daß Beamte, Angestellte und Arbeiter in der Unterhaltung mit anderen Personen Aeußerungen bekunden, die geeignet sind, Unzufriedenheit über die von der nationalen Regierung getroffenen Maßnahmen zu erzeugen und Mißtrauen zu säen. Es handelt sich um Personen, die man mit dem Ausdruck ‚Miesmacher‘ treffend kennzeichnen kann. Ich bitte, jegliche Beamten, Angestellten und Arbeiter darauf hinzuweisen, daß künftig in solchen Methoden eine Fortsetzung der marxistischen Hetze erblickt wird und Miesmacher als verkappte Marxisten angesehen werden, die sich auf diese Weise noch immer im marxistischen Sinne betätigen“ (Bekämpfung des Miesmachertums, Volksgemeinschaft 1933, Nr. 156 v. 28. Juni, 2). Derartige Miesmacher mussten durch ihre Vorgesetzten gemeldet werden, dies zu unterlassen wurde „als betonte Solidaritätserklärung mit solchen Wühlern und Hetzern“ betrachtet. Kritik hatte zu unterbleiben, andernfalls konnte die berufliche Existenz rasch zerstört werden. Zeitgenossen werteten dies teils als Wiederkehr entsprechender Regelungen des Kaiserreichs, des Kulturkampfes, des Sozialistengesetzes, der Maßnahmen gegen Majestätsbeleidigungen und der strikten Zensur während des Ersten Weltkrieges (Miesmacher hinaus!, Die Stunde 1933, Nr. 3089 v. 1. Juli, 5). Auch symbolisch publizierte Verhaftungen deutete man als Wiederkehr des Alten, des Morschen (Miesmacher in Schutzhaft genommen, Eibenstocker Tageblatt 1933, Nr. 154 v. 4. Juli, 3).

Handgreifliches Vorgehen gegen den inneren Feind (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 957)

Doch im völkischen Staat handelte es sich nicht mehr länger um Maßnahmen, die man durch begrenztes Wohlverhalten stillstellen konnte. Die Schaffung einer „gesunden“ Volksgemeinschaft schloss Minderheiten systematisch aus. Das galt für Juden, für „Erkranke“, für „Asoziale“, Homosexuelle, für Sinti und Roma, für ernste Bibelforscher, für „Arbeitsscheue“ und „Berufsverbrecher“, für alle, die dem Ideal der zu schaffenden Gemeinschaft nicht entsprachen. Negativbegriffe wie der Miesmacher, die Miesriane, verwiesen auf den schmalen Grat zwischen Gemeinschaft und „Gemeinschaftsfremden“. Die sprachlich ubiquitäre Verwendung während der NS-Zeit machte deutlich, dass grundsätzlich alle nicht nur Einvernehmen zeigen mussten, sondern dass es praktischer Taten bedürfe, um sich als Mitglied der Gemeinschaft, auch der Luftschutzgemeinschaft zu präsentieren. 1934 handelte es sich um berechtigte Kritik vorwiegend konservativer Kräfte, „die heimlich wühlende Reaktion“ (Unser Wille und Weg 4, 1934, 183; vgl. Hans Kröger, Gestern und heute. Die Kampfbroschüre gegen Miesmacher und Kritikaster, Leipzig 1934). Doch das Verdikt konnte grundsätzlich Jeden treffen, die während der Kampagne tausendfach gezeigten Transparente „Miesmacher sind Landesverräter! Nicht meckern, sondern arbeiten!“ (Kurt Pfeil, Wie wir unsere Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster organisierten, Unser Wille und Weg 4, 1934, 226-230, hier 228) unterstrichen dies.

Der Maßnahmenstaat ruft sich in Erinnerung (Bremer Zeitung 1934, Nr. 133 v. 15. Mai, 6)

Die Negativfigur des Miesmachers unterstrich zugleich die relativ beliebige Reichweite der Ausgrenzungen, die nicht länger an klar definierte rassistische, biologisch-eugenische, politische oder soziale Kriterien gebunden waren. Sie repräsentierte den Maßnahmenstaat, den vorbeugenden Verbrecherschutz, forderte mehr als passives Einreihen, stand für eingeforderte Bejahung, den Kampf, die Tat. Die Miesmacher sollten einen inneren Läuterungsprozess durchmachen, entsprechend erhielten sie Mahnungen und Zeit zur Einkehr. Das war die Gnade des moralisch handelnden NS-Staats, der seine Machtmittel moderat einsetzte, um die „sittlich-seelischen Energien des gesamten Volkes“ zu mobilisieren und in jedem Einzelnen zu verankern: „Der einheitliche Wille also, geboren aus der Erkenntnis des Notwendigen für Volk und Nation, wird dieses Reich festigen, und daß jeder die Notwendigkeiten erkenne, darum geht es in diesem Kampf“ (Adolf Kriener, Um die Erkenntnis der Notwendigkeiten. (Zu dem Kampf der Bewegung gegen Miesmacher und Kritikaster.), Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 101, 1934, 457-458, hier 458).

Dem Miesmacher, der auch nach der 1934er Kampagne nicht nur nicht verschwand, sondern in immer wieder neuen Formen den Alltag verbal und visuell begleitete, stand entsprechend immer etwas Positives entgegen. In dessen Ablehnung lag bereits die Rechtfertigung für das Einschreiten und die Abwehr der Mehrzahl, der Gemeinschaft. Nationalsozialismus war Lebensfreude, nicht Muckertum, nicht umsonst war der schon im Kaiserreich zum Pflichtkanon der Grundschule zählende Rundgesang „Freut euch des Lebens“ auch Motto der Organisation Kraft durch Freude. Nationalsozialisten agierten öffentlich, Miesmacher und Miesriane dagegen im Dunkel, im Hintergrund, „um im ‚geeigneten‘ Augenblick ihre mißtönenden Stimmen desto lauter ertönen zu lassen“ (Dämpfling, Meck meck meck…!, Die Bewegung 4, 1936, Nr. 46, 9). Die „Meckerer und Miesmacher schließen Türen und Fensterländen vor dem Sturm der Geschichte, kochen ihr Süppchen auf kleiner Flamme, klammern sich an das Glück im Winkel. Unfähig, ihre Herzen und Hirne der mythischen Volksgemeinschaft zu öffnen, bleiben sie Gefangene des eigenen, kleinen Ich“, so das frühere BDM-Mädel Eva Sternheim-Peters (1925-2020) (Habe ich denn allein gejubelt. Eine Jugend im Nationalsozialismus, München 2016 (ebook), s.p.). Im Dunkel aber agierten die Schädlinge, die während des Karnevals 1936 staatsnah hervorgehobenen „Wühlmäuse“ (Karneval in Mariadorf, Aachener Anzeiger 1938, Nr. 28 v. 3. Februar, 4), die öffentlich stetig bekämpften Hamster. Miesmacher wurden von den staatlich geduldeten Narren ohnehin NS-brav bekämpft, so etwa vom Weiß Ferdl (1883-1949) in seiner Kölner Büttenrede 1935 (Kölnische Illustrierte Zeitung 10, 1935, 245).

Der Meckerer – im Gegensatz zum bejahenden Herrn Froh, als Zielobjekt für die Verachtung der Mehrheit (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 1 v. 1. Januar, 14; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1936, Nr. 15637 v. 12. September, 5)

Die Verdunkelungsübung in Dresden, Leipzig und Bautzen 1938

Damit haben wir den historischen Rahmen gesteckt, um uns nun der sächsischen Miesrian-Kampagne vom März 1938 gezielt zu widmen. Sie führt uns in den Alltag dieser Zeit; so alltäglich, dass sie selbst von reflektierenden Zeitgenossen übergangen wurde. Am 20. März 1938 schrieb der in Dresden lebende Romanist Victor Klemperer (1881-1960) in sein Tagebuch: „Die letzten Wochen sind die bisher trostlosesten unseres Lebens“ (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, 6. Aufl., Berlin 1996, 399). Er bezog sich damit auf die Integration Österreichs in das Deutsche Reich, wachsenden Antisemitismus sowie ihn persönlich betreffende Vertragsverletzungen deutscher Geschäftspartner. Die anstehende Verdunkelungsübung erwähnte er nicht; und dass, obwohl er als „Jude“, so die NS-Bezeichnung für den konvertierten Protestanten, noch Bestandteil der deutschen Luftschutzgemeinschaft war. Erst im Oktober 1938 wurde er ausgeschlossen, nur in vorrangig von Juden bewohnten Häusern durfte diese zunehmend ausgegrenzte Minderheit noch Luftschutz leisten (Lemke, 2001, 378).

Wie oben schon angedeutet, hatte es in den vier Luftschutzgauen des Staates Sachsen bereits regelmäßige Verdunkelungsübungen gegeben, die eine ganze Reihe wiederkehrender Mängel feststellten. Die künstliche Dunkelheit besaß ihren eigenen Reiz, Jugendliche und junge Erwachsende scherten sich vielfach nicht um die Vorgabe, das übliche Leben fortzuführen, sondern strömten in Innenstädte und nach Aussichtspunkten, um dem Schauspiel direkt beizuwohnen (Luftschutzübungen, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 228 v. 9. September; Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Der Beginn der Übung blieb vielfach unklar, die Sirenensignale ebenso. Die Bevölkerung verdunkelte zwar das eigene Wohnzimmer, nicht aber die anderen Räume, so dass bei jedem Hin und Her der Lichtschein sichtbar wurde. Zudem dachten viele von der Straße her, verdunkelten die Fronten, nicht aber die Hinterhöfe. Lichtschleusen wurden anfangs nur selten berücksichtigt, so dass Licht beim Verlassen und Betreten der Häuser sichtbar wurde. Besondere Probleme bereitete der Straßenverkehr, bei dem Fahrräder, Automobile, der öffentliche Nahverkehr und teils auch die Eisenbahn rigide abblenden mussten. Die passive Sicherheit der Passanten ließ zu wünschen übrig, immer wieder rannten Fußgänger ineinander, kollidierten mit Fahrrädern oder gar Autos (Dippoldiswalde im Dunkel, Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 61 v. 13. März, 1). In der Tat bedeutete die Verdunkelung ein Abstreifen zentralen Errungenschaften der modernen Daseinsvorsorge. Die Einführung der Straßenbeleuchtung erfolgte in Leipzig bereits 1701.

Verdunkelte Stadt während einer Luftschutzübung (Unsere Frauen und die Jugend im Luftschutz, Düsseldorf s.a., 32)

Zugleich aber musste die Luftschutzgemeinschaft ihre virtuelle Höhle mit modernen Mitteln sicherstellen. Jedes Haus, teils jede Etage musste ein Alarmsignal, eine Klingel haben, die Alarmsirenen allein reichten nicht aus. Die Dachböden mussten entrümpelt sein, Sandsäcke enthalten, Hacke, Axt und Schaufel waren für jedes Haus verpflichtend. Die Bewohner hatten eine Hausapotheke einzurichten, insbesondere Verbandsmaterial vorrätig zu halten. In jedem Haus gab es Verantwortliche für den Erste-Hilfe-Einsatz. Wassereimer mussten gefüllt und an zuvor festgelegte Plätze gebracht werden. Auch wenn es keine Uniformpflicht gab, so hatte doch der Hauswart imprägnierte Kleidung und für den Ernstfall geeignetes Schuhwerk zu tragen. Volksgasmasken waren nur bei Gasalarm aufzusetzen, doch auch die Bewohner sollten gefahrenadäquat ausgestattet sein, möglichst Stahlhelme parat haben (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 12, A-08). All dies konnte von den Luftschutzhauswarten und -amtsträgern kontrolliert werden, Abweichungen wurden kritisiert, eventuell sanktioniert. Die Polizei war mit ihren vielfach aus SA-Leuten bestehenden Hilfskräften mobilisiert und sollte bei Fehlverhalten „strengstens“ eingreifen. Verdunkelungsübungen waren Bewährungsproben der Luftschutzgemeinschaft: „Von allen Kreisen der Bevölkerung wird erwartet, daß sie diese Übung, die ausschließlich im Interesse des Gesamtwohls der Bevölkerung abgehalten wird, das notwendige Verständnis entgegenbringt und sie durch sachgemäßes Verhalten und gute Verdunkelungsdisziplin wirksam unterstützt“ (Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaft Dresden-Bautzen, Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 23 v. 3. Februar, 8).

Luftschutz als Markt: Spezialversandgeschäft (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 124 v. 15. März, 13)

Die Wiederholungen schufen ansatzweise Ablaufsicherheit, doch die zeitliche Ausweitung der Übungen und auch die langsam verminderten Vorwarnzeiten stellten immer wieder neue Herausforderungen. Gefordert wurden „wirkliche Verdunkelungs-Maßnahmen“, so dass das Ausschalten des Lichtes und ein frühes Schlafengehen nicht ausreichte (Merkblatt für die Verdunkelungsübung, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 225 v. 26. September, 5). Abblendmaterial musste vorliegen, ebenso Blenden und Kappen für die Verkehrsmittel. Parallel zeigte der Maßnahmenstaat seine Zähne: Jede Verdunkelungsübung wurde offiziell bekanntgemacht, das Luftschutzgesetz und die regionalen Polizeiverordnungen erlaubten nicht nur Geld-, sondern auch Haftstrafen. Die Übungen wurden durch exemplarisches Strafen begleitet, wobei man auch Haus- und Gutsbesitzer vorführte (Wegen ungenügender Verdunkelung verurteilt, Sächsische Volkszeitung 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 6). Begleitet wurde all dies schon lange vor der Miesrian-Kampagne durch Kampfansagen an die Miesmacher. Göring betonte wiederholt: „Wir wollen jenen den Kampf ansagen, die glauben, daß sie miesmachen und kritisieren könnten in einer Zeit, in der das ganze Volk in unsagbarer Hingabe an die Arbeit für die Zukunft wirkt“ (Für Deutschlands Sicherheit, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 278 v. 29. November, 7). Das war allerdings eine Gradwanderung, denn die Übungen zielten ja auf Kritik an den Vorkehrungen, an den „Volksgenossen“. Kritik, so hieß es stets, sei erforderlich, doch sie müsse positiv, konstruktiv sein. Wo die Grenze verlief, darüber entschieden die NS-Granden. Hier lag ein strukturelles Problem des NS-Staates, denn Regime mit abgedämpfter Kritik sind weniger leistungsfähig als offene Gesellschaften, da sie immer nur nach wenigen regimetreuen Richtungen hin optimieren können.

Öffentliche Erinnerung an die anstehende Verdunkelungsübung – und gereimte Begleitpropaganda (Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 56 v. 8. März, 3 (l.); Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 133 v. 20. März, 5)

Die „schlagartige“ Verdunkelungsübung im März 1938 wurde am 28. Februar 1938 bekannt gegeben (Bekanntmachung Betr.: Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaften Dresden-Bautzen und Leipzig, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 49 v. 28. Februar, 5). Die Standardanforderungen wurden verschriftlicht, die Defizite früherer Übungen explizit angesprochen. Das betraf die Hinterhofbeleuchtung, die Lichtschleusen, die Einstellung vermeidbaren Fußgängerverkehrs. Besonderes Augenmerk legte man auf die Regulierung des Straßenverkehrs. Die Kenntnis der erlaubten „Nichtlampen“ war eine Wissenschaft für sich, gab es doch regelmäßig Verbesserungen seitens der quirlig-interessierten Industrie. Parallel schwang man die Werbetrommel für neue Mitgliedschaften im Reichsluftschutzbund, für den Kauf der Volksgasmaske (Jeder braucht –, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 52 v. 3. März, 1; Jeder erwirbt die Volksgasmaske!, Ebd., Nr. 66 v. 19. März, 1).

Der Ankündigung der Übung folgte dann Mitte März eine stete Erinnerung an den Terminkorridor (Ein Mittel des Selbstschutzes, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3; Dass., Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 33 v. 19. März, 12). Der Termin selbst blieb erst einmal in der Schwebe, die Mobilisierung erhielt ein Spannungsmoment. Die Presse begleitete diese Zwischenzeit mit präzisen Anforderungen, mit Appellen gegen unsolidarische „Bequemlichkeit“ (Ratgeber für die Verdunkelung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 9). „Strengste Disziplin“ wurde gefordert, die Luftschutzaktivisten gebührend belobigt: Niemand dürfte sich „widerspenstig, gleichgültig oder unverständig“ zeigen, da er ansonsten „das Leben Tausender von Mitmenschen“ auf Spiel setzte. Licht an falscher Stelle sei „Verrat für ein ganzes Stadtgebiet“ (Zitate n. Warum Verdunkelungsübung?, Dresdner Neuste Nachrichten 1938, Nr. 66 v. 19. März, 6). Zugleich aber lockte man, denn bei reibungslosem Verlauf müsse künftig seltener geübt werden. Und schließlich hatte das Warten ein Ende: Am 21. März 1938 hieß es, dass die Verdunkelungsübung am morgigen Dienstag von 18 bis 23 Uhr in den beiden Kreishauptmannschaften (und Luftschutzgauen) Dresden-Bautzen und Leipzig stattfinden würde.

Amtliche Veröffentlichung des Verdunkelungstermins am 22. März 1938 (Ottendorfer Zeitung 1938, Nr. 34 v. 22. März, 1)

Die Miesrian-Kampagne

Eine der Verkürzungen der historischen Analyse der nationalsozialistischen Propaganda ist der Glaube an den just propagierten zentralistischen Führerstaat. Hitler auf dem Reichsparteitagsgelände, auf dem Bückeberg, vor der Ewigen Wache. Goebbels im Sportpalast, beim Reichspresseball, bei Ansprachen vor den Kulturschaffenden. Die neue Medienwelt von Wochenschau und Rundfunk hat derartige Bilder in unseren Köpfen verankert – und diese propagandistischen Ereignisse wurden gezielt choreographiert und genutzt, um den „schönen Schein der Diktatur“ schauerlich-anschaulich einzubrennen. Dieses Zerrbild des Großen ist jedoch auch irreführend, lenkt ab von der Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda. Mit dem digitalen Zugriff auf die lange ignorierte Bild- und Textwelt der Zeitschriften und Zeitungen wird diese jedoch zunehmend greifbar. Die großen Kampagnen fanden nicht nur ihren Widerhall am Frühstücktisch, beim Friseur und beim Feierabend, sondern sie wurden in der Regel erweitert und spezifiziert. Kampagnen wie Kampf dem Verderb oder Groschengrab bestanden eben nicht nur aus den häufig reproduzierten Plakaten, sondern auch und gerade aus kleinteiligen Artikeln, Bildmotiven, Comicserien, Appellen, Rezepten etc. Die NS-Propagandaforschung blickt auf die Spitze des Eisberges, kann dessen Weite aber nicht einschätzen, denn derartige Forschung fehlt. Dabei waren dezentrale, vielfach nur auf einzelne Regionen und Städte begrenzte Maßregeln für den Erfolg der allgemeinen Vorgaben und Appelle von hoher Bedeutung. Derartig kleinteiligere Propaganda war passgenauer, erläuterte die Reden und Vorgaben der NS-Granden. Dadurch wurden sie nachvollziehbarer, praktischer. Die Miesriam-Kampagne ist dafür ein Beispiel – und ihre Analyse kann helfen, die Zerrbilder des Großen zu hinterfragen. Der Alltag der propagandistischen Lockung, Unterhaltung und Lenkung war konturenreicher als es uns die gängigen Bilder in unseren Köpfen nahelegen. Erst mit ihrer Hilfe ist das nicht nur willige, sondern vielfach auch freudige Mitmachen und Tun der meisten Deutschen angemessen zu erklären.

Der Miesrian war eine in der Forschung bisher nicht bekannte regionale Variante des reichsweit bekannten Miesmachers. Solche gab es auch andernorts, etwa Herrn Mieslich, der 1936/37 mehrfach im Ruhrgebiet und im Münsterland auftauchte ((Elli Haese, Jungmädel in der Jugendfilmstunde, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1936, Nr. 286 v. 17. Oktober, 10; Was wir täglich mit Füßen treten, Münsterischer Anzeiger 1937, Nr. 408 v. 7. September, 5). Den Begriff Miesrian konnte ich abseits der hier vorgestellten Kampagne nur noch ein weiteres Mal finden, nämlich bei einem von Reichsinnenminister Heinrich Himmler (1900-1945) im Mai 1938 veröffentlichten Erlaß gegen die eifrig bekämpfte Waldbrandgefahr: „Immer und überall werden wir ihm hart auf den Fersen bleiben, wenn er sich unterstehen sollte wieder einmal einen Bummel in unseren Wald zu machen. Bei der geringsten Gelegenheit werden wir diesen Miesrian beim Schlafittchen nehmen und ihn dorthin bringen, wo er hingehört!“ (Herr Mieslich… mal sonntags früh… Kennen Sie den Waldbanausen?, Der Neue Tag 1938, Nr. 144 v. 27. Mai, 7)

Genauere Forschung dürfte das Feld jedoch weiten. Schließlich bieten die recht unvollständigen Digitalisierungen der NS-Zeitungen und Zeitschriften nur eine Scheinsicherheit des Rechercheergebnisses. Die für die Miesrian-Kampagne eigentlich einschlägige Datenbank Sachsen.digital ergibt bei Volltextrecherche lediglich eine Nennung, beredter Ausdruck sowohl der völlig unzureichenden Digitalisierungsqualität der eingescannten Mikrofiches als auch der eingesetzten OCR-Technologie. Miesrian wurde von deutsch-amerikanischen Sprachwissenschaftlern jedenfalls auch als typisch nationalsozialistische Parole der seit 1933 laufenden Erzeugungsschlacht der deutschen Landwirtschaft präsentiert: „‚Nicht meckern!‘ ‚Kein Miesrian sein!‘ auch wenn Butter und Eier mitunter knapp sind […]“ (Harry W. Pfund, Kleine Sprachwanderung – Neue Wörter in Neuer Zeit, Monatshefte für Deutschen Unterricht 31, 1939, 41-45, hier 44). Als Teil der vielen Neologismen des Luftschutzes nannte man ihn allerdings nicht.

Motive 1 und 2 (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 58 v. 10. März, 3 (l.); Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 60 v. 11. März, 4)

Nun aber blicken wir ihm endlich ins Gesicht, dem Herrn Miesrian, dessen griesgrämiges Konterfei nichts Einladendes hatte. Er wurde  den Lesern denn auch so präsentiert, wie sie ihn aus den vielen bereits erwähnten Tiraden der Kritik und der Ausgrenzung kannten: „Herr Miesrian, der Pessimist / Ein ‚Prachtstück‘ seiner Gattung ist. / Ein rückständiger, negativer / Mensch, so blicket er nicht tiefer / In die Erfordernisse ein, / Die für’s Volksganze nötig sein. / Wie stellt sich denn Herr Miesrian / Bei ‚ner Verdunklungsübung an? / Du sollst nun hier ab morgen hören / Von einem, der nicht zu belehren.“ Bild und Gedicht standen am Beginn einer zehnteiligen Serie, die am 10. sowie am 11. März 1938 in den führenden Tageszeitungen der Kreishauptmannschaften Leipzig und Dresden-Bautzen erschien. Sie war Begleitpropaganda der große Verdunkelungsübung. Allerdings fehlte sie in vier durchaus ordentlich digitalisierten Tageszeitungen der nicht direkt betroffenen Kreishauptmannschaft Chemnitz, nämlich dem Eibenstockener Tagblatt, dem Erzgebirgischen Volksfreund, dem Frankenberger Tageblatt, dem Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger. Auch in anderen Regionen fand sie keinen Widerhall.

Die Serie erscheint Tag für Tag, so dass Zeitgenossen den Termin der Verdunkelungsübungen im Vorfeld fast hätten erraten können. Aufgrund unterschiedlicher Erscheinungsweisen endete die Geschichte von Herrn Miesrian in drei Fällen erst am 23. März, also nach Ende der Übung. Die als „dunkle“ Geschichte in 10 Bildern überschriebene Serie war moralisch, zeigte die Fährnisse und Abwege eines gemeinschaftsfremden Außenseiters, der beim Verdunkeln außen vor blieb, sich gegen das Volksganze stellte. Die einzelnen Episoden waren analog aufgebaut, folgten den wachsenden Verstrickungen des sich selbst ausgrenzenden Herrn Miesrian. Den Blickfang bildete stets eine Zeichnung: Achtmal war der negative Held zu sehen, dreimal Ordnungskräfte als Verkörperung der Autorität des nationalsozialistischen Staates. Die Bilder waren zumeist durchnummeriert, Ausnahmen gab es lediglich beim ersten und zweiten Motiv. An den Blickfang schloss sich im Land der Dichter und Denker durchweg ein Gedicht an. Die Einführung war zehnzeilig, dann folgten acht Sechszeiler, schließlich am Ende ein Vierzeiler. Ergänzt wurden sie ab dem zweiten Motiv durch ein mit erhobenem Zeigefinger geziertes zweizeiliges Motto, das bei Motiv 10 gar vierzeilig auswaberte. Während die Zeichnungen des von mir nicht identifizierten „Roland“ dem üblichen Standard der Zeit entsprachen, insbesondere Licht und Schatten gut einfingen, galt dies nicht für die Gedichte und Motti, deren sprachliche Qualität weit unter der üblichen Reimpropaganda lag.

Doch es ging nicht um künstlerische Werte, sondern um die ahndungswürdigen Fehler im Umfeld der Verdunklungsübung. Miesrian wurde im zweiten Bild durch den uniformierten Amtsträger an seine Pflicht erinnert, doch er wies die ausgestreckte Hand des Sendboten der Luftschutzgemeinschaft schnöde zurück: „Der Luftschutzhauswart klopfet an / Beim Zeitgenossen Miesrian: / ‚S’wird bald Verdunklungsübung sein / Drauf richten bitte Sie sich ein!‘ / Doch der sagt: ‚Kommt ja nich in Frage / Sowas, auf meine alten Tage!‘ / Motto: Zur bittren Wahrheit ward’s schon vielen: Wer nicht hören will, muß fühlen!“

Motive 3 und 4 (Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 31 v. 15. März, 11 (l.); Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 67 v. 21. März, 10)

Das dritte Motiv bringt uns den Negativhelden etwas näher. Miesrian hieß Emil, war ein mittelständischer Händler, der in seinem kleinen Laden „Bedarfsartikel für Meckerer u. Spießer“ verkaufte. Das war plumpe Häme, spielte aber auf gängige Nachlässigkeiten nicht nur dieses Inhabers an: „Miesrian schließt Laden ab / Und setzt nach Hause sich in Trap. / Dieweil sie heut Verdunklung üben, / Will er nichts sehen mehr nach sieben.– / Ei, was wird wohl der Schutzmann meinen, / Sieht er die Firm’beleuchtung scheinen?? / Motto: Laß leuchten weit Dein Licht hinaus – / Doch zur Verdunklung schalt es aus!“ Wie schon beim zweiten Motiv finden wir unterschiedliche Verantwortlichkeiten, unterschiedliche Adressaten. Der Sechszeiler präsentierte und erläuterte das Fehlverhalten des negativen Individuums, zeigte Miesrian als nachlässigen Zeitgenossen, nicht interessiert an völkischen Notwendigkeiten. Das Motto weitete jedoch den Einzelfall, richtete sich an alle Leser. Sie sollten sich selbst erkennen, ihre innere Fahrlässigkeit überwinden, sich eingliedern in die achtsame Luftschutzgemeinschaft.

Unser Negativheld wurde aber nicht nur bildlich als eine schlaffe schmerbäuchige Person ohne Haltung präsentiert. Emil war zwar noch ein gängiger Vorname, wurde aber immer seltener vergeben, hatte seine besten Zeiten bereits hinter sich. Er spiegelte also die alte, die durch den Nationalsozialismus überwundene Zeit. Und er war zudem sprechend, stand er doch nicht nur für eine heutzutage wieder hervorgehobene Eifrigkeit, sondern im Gefolge von lateinisch aemilius im Umfeld von Eifersucht und Konkurrenz. Emil M. neidete seinem Umfeld ihren Erfolg, erhob sich über andere „Volksgenossen“, bewertete sie und ihre Taten abschätzig. Wichtiger aber war sein Nachname, vor allem die erste Silbe, das kennzeichnende „mies“. Sie war jiddischen Ursprung, bezeichnete etwas Hässliches, Verachtenswertes, etwas Unangenehmes, Widerliches. Hinzu kamen Bedeutungsnuancen von krank und kränklich (Hans Peter Althaus, Chuzpe, Schmus & Tacheles. Jiddische Wortgeschichten, 5. Aufl., München 2024 (ebook), 129-134). Mies reichte zurück ins frühe 19. Jahrhundert, war damals schon in Berlin verbreitet (https://www.dwds.de/wb/mies?o=Mies). Als Abgrenzungs- und Klagebegriff war mies deutlich älter als der Miesmacher, der erst um 1900 als Teil der Soldatensprache aufkam. Festen Tropen gab er Gehalt, beim miesen Hund, beim miesen Schwein, auch bei der miesen (Börsen-)Stimmung. Das Assoziationsfeld war sprechend, ließ Begriffe wie boshaft, bösartig, garstig, gehässig, gemein, niederträchtig, ruchlos, schäbig, schändlich, übel und verrucht hervorscheinen. Ja, Emil Miesrian trug ein schweres Erbe. Und es fehlte ihm offenbar die spätere Leichtigkeit des Wiener Miesmachers, der sich aller Denunzierung zum Trotz im Flüsterwitz stolz und mannhaft zum Gegenhalten bekannte: „Achtung! Achtung! Ich muß mich nicht nennen / Sie werden mich sowieso erkennen. / Ich bin der Mann, der bescheidene Mann, / der den Goebbels zum Rasen bringen kann, / gegen den der Göring am meisten bellt, / gegen den der Hitler in Tobsucht fällt. / Ich bin einer von den Millionen, / die nicht in Wolkenschlössern wohnen, / die nicht jeden Schmäh‘ und jeden Dreh‘ / und jede Meldung des OKW / für Wahrheit halten und nicht wie die Narren / den Hitlerdreck und den Goebbelsschmarren / und die ganze Propaganda fressen / und jedes Versprechen sofort vergessen / und jeden Schwindel mit Wonne schlucken / anstatt ihn kräftig auszuspucken. / Mich macht man nicht blöd, mich haut man nicht hin. / Also, Sie wissen schon wer ich bin; ein Miesmacher“ (Franz Danimann, Flüsterwitze und Spottgedichte unterm Hakenkreuz, Wien, Köln und Graz 1983, 75).

Emil M. hatte im März 1938 ganz andere Sorgen, war er doch augenscheinlich wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten: „Miesrian kommt an zu Hause / Begibt sich gleich in seine Klause / Überlegt, was tun er könnt.— / Am Wagen noch das Standlicht brennt. / Ein Schupomann notiert die Nummer; / Für Miesrian ein neuer Kummer!“ / Motto: Ein Auto mit ‚nem Glorienschein / Darf bei Verdunklung niemals sein!“

Motive 5 und 6 (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 64 v. 17. März, 20 (l.); Der Freiheitskampf 1938, Nr. 76 v. 18. März, 8)

Während draußen die Polizei Meldung über Miesrians Fahrlässigkeit machte, begann dieser in seinem Heim zu lamentieren: „Herr Miesrian flucht Stein und Bein: / ‚wie schränkt man uns die Freiheit ein! /Man kann nich mal – ich seh’s ja hier – / Heut abend zum gewohnten Bier!! / Die Kneipen finster, weil verschlossen…‘ / So meckert Miesrian verdrossen. / Motto: Um Deine Lippe zu beleuchten / Brauchts Gasthaus nicht nach außen leuchten.“ Verfehlter Freiheitsdrang war den Nationalsozialisten ein steter Dorn im Auge, hatten sie doch ihre eigene Vorstellung von Freiheit, nämlich eine völkisch gebundene, eine der nicht stillzustellenden Idee ehrlichen Kampfes. Und das Lamento war offenkundig unbegründet, vorausgesetzt man wusste, wie man richtig verdunkelte. Niemand hatte schließlich die Kneipen geschlossen, verwehrte den arbeitenden Menschen ihr verdientes Feierabendbier.

Und doch, weiteres Ungemach nahte für den unleidlich hadernden Miesrian. Denn vor lauter innerem Groll hatte er abermals die Verdunkelung vergessen. Das Auge des Gesetzes aber wachte: „In seiner Wohnung macht jetzt Licht / Herr Miesrian.– Das darf er nicht!! / Weil, ohne Fenster abzublenden / Viel Lichtstrahl sie nach außen senden. / Zur Straße fällt der helle Schein – – / Mensch, Miesrian, was fällt Dir ein!?“ Motto: Willst straflos Du bei Lichte sitzen, / Mußt Du verdichten alle Ritzen!“ Miesrian wollte es nicht besser wissen, schmollte einsam vor sich hin. Der fröhlich geduzte Volksgenosse aber hatte noch die Chance auf Übungsbewährung. Er würde seine Fenster, seine gesamte Wohnung vorschriftsmäßig verdichten, für ihn war die Polizei nicht Gegner, sondern der vielbeschworene Freund und Helfer.

Motive 7 und 8 (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 19. März, 9 (l.); Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3)

Noch waren zwei, drei Tage Vorlauf bis zur Übung, noch konnte man lernen, sich den Kundigen anschließen. Selbst Miesrian bequemte sich gezwungen zum Verdunkeln; um gleich den nächsten Fehltritt zu begehen: „Als Miesrian, nach vielem Drängen / Nun seine Fenster tat verhängen – / Fand er’s zu Hause nicht mehr schön, / Und wollt mal auf die Straße gehen; / Macht Licht im Flur, macht auf die Tür, / Ein Lichtstrom flutet draus herfür! / Motto: Ne Lichtschleuse ist stets vonnöten, / Will ‚finster‘ man ins Freie treten!“ Ja, die Lichtschleuse, eines der schönen neuen Wörter des Luftschutzes. Das war ein kleiner Zwischenraum, durch schwere Vorhänge leicht zu erstellen, in den man aus einem hellen Raum trat und diesen verschloss, bevor man sich in den nächsten Raum oder auch in die Dunkelheit begab.

Miesrian aber dachte nicht mit, würde dem feindlichen Bomberpiloten im Ernstfall durch seinen Lichtschein den Weg zur Zerstörung weisen. Als ignoranter Alter konnte er sich nicht vorstellen, dass selbst ein Kerzenschein in der Finsternis strahlen könne, war für ihn doch alles grau, alles trübselig. Und folgerichtig lenkte er neuerlich der Feinde Anflug: „Voll Neugier läuft er kreuz und quer / In der stockdunklen Stadt umher. / Der Appetit auf-was zu rauchen / Läßt einen Lichtschein auf jetzt tauchen / Mensch, Miesrian, bist du verrückt?? / Hat denn der Teufel dich gezwickt??? / Motto: Im Ernstfall wird’s dem Feinde weisen, / Wo er die Bombe hinzuschmeißen!“ Miesrians Tun war unachtsam, Ausdruck fehlender Selbstzucht und einer selbstbezüglichen Genusssucht. Der Polizist, der mahnende und verwarnende „Volksgenosse“ wurde zwar nicht mit gezeichnet, doch würden auch sie die glimmende Nikotinröhre sehen, würden ihn zur Rechenschaft ziehen.

Motive 9 und 10 (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 68 v. 22. März, 1 (l.); Illustriertes Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8)

Am Ende der dunklen Geschichte stand neuerlich Ignoranz und Selbstbezüglichkeit: „Miesrian sieht Autos nahn, / Die beleuchtet fahrn heran. / ‚Die machens auch wie ich, die Leute.‘ Miesrian stellt’s fest mit Freude. / Doch gleich darauf merkt er verdattert, / Daß – Polizei vorüberrattert! / Motto: Mit Parklicht fahrn gestattet sei / Nur Feuerlösch- und Schutzpol’zei!“ Im nationalsozialistischen Volksstaat gab es durchaus Privilegien, doch sie waren Ausdruck höherer Verantwortung. Die Rettungs- und Ordnungskräfte würden im Ernstfall ihre Knochen hinhalten müssen, nicht aber Miesrian. Und daher war ihre fordernde Aufgabe kein Blindflug, denn ohne ein schwaches Licht würde die rettende und ordnende Tat die Gefahr nur vergrößern. Jeder verstand dies, jeder, der sich in eine Hierarchie einordnen konnte. Miesrian aber beharrte darauf, dass ihm die gleichen Rechte hätten zugestanden werden müssen; obwohl sein Handeln zuvor gemeinschaftsgefährdend war.

Emil Miesrian verblieb allein, verdattert ob der um ihn herum laufenden Schutzmaßnahmen. Er verstand nicht, musste entsprechend auf Linie gebracht werden: „Jetzt kommt das dicke Ende nach! / Miesrian besieht bei Tag / Den Haufen zudiktierter Strafen, / Die die ‚Belohnung‘ für den ‚Braven‘!“ Das war ein letzter Wink für den Gemeinschaftsfremden. Er traf ihn empfindlich, in seinem Geldbeutel. Und er würde wissen, dass danach die Haft drohte. Das war der langmütige Selbstschutz der Volksgemeinschaft. Selbst Pimpfe wussten das. Sie, auch andere, würden den Wandel aber auch erzwingen. Denn Miesrian hatte ja gewiss über die letzte Sonnenwendfeier in Altenberg gelesen, in denen drei Strohpuppen ins Feuer geworfen wurden, „den Miesmacher, den Neunmalweisen und den Neider“ (Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 72 v. 2. Juni, 3). Wer seine Nachbarn, wer sein Volk fahrlässig dem Brandtod anheim gab, musste damit rechnen, dass ihm andere zuvorkommen würden. Die Leser aber würden aus Miesrians teuren Verfehlungen die richtigen Konsequenzen ziehen: „Motto: Wer ‚contra‘ gibt, hats nie bequem, / und teuer ist es außerdem. – / Drum, Volksgenossen, seid ‚auf Draht‘, / Wenn die Luftschutzübung naht!!“

Miesrian wurde strafrechtlich gezüchtigt; und so würde es allen Miesrianen, allen Miesmachern geschehen. Während die Arbeiter, die Angestellten, die Bauern und Landarbeiter, Jugendliche und Hausfrauen ihre Pflicht erfüllten, gab es immer noch bürgerlicher Überbleibsel aus liberalistischer Zeit, die allen Mahnungen zum Trotz einem verfehlten, sein Volk gefährdenden Individualismus frönten. Die Propaganda gegen die Miesriane, gegen die Miesmacher endete damit nicht. Sie fand in den Folgejahren immer neue Formen, zu nennen sind die wesentlich breiter gefassten Kampagnen über Herr und Frau Spießer 1939/40, über Herrn Bramsig und Frau Knöterich 1941/42 sowie die in Rundfunk und Wochenschau erfolgreiche Liese-Miese-Kampagne von 1943/44. Bis Kriegsende zog die NS-Propaganda gegen die Miesmacher, die Spießer, die Nörgler und Besserwisser zu Felde. Beide deutschen Nachfolgestaaten schlossen daran an, entwickelten und bekämpften ihre neuen strukturell ähnlichen Feindbilder. Und daran hat sich bis heute nur wenig geändert.

Doch leisten wir uns noch etwas mehr Distanz. Victor Klemperer überlebte die Judenverfolgung durch Nationalsozialisten und Mitbürger. Er hatte nicht nur in seinem Tagebuch Zeugnis abgelegt, sondern der Germanistik mit seiner Sprachkritik des Nationalsozialismus neue, nur zögerlich beschritte Wege eröffnet. Er verwies auf die vielen neuen Worte, summierte, „der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“ (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 21) Der Fachmann für romanische Literatur des 17. bis 19. Jahrhundert unterschätzte dabei allerdings zweierlei: Die NS-Sprache nutzte erstens vielfach Wendungen und Worte aus der Kriegszeit und auch der Weimarer Republik, mochten sie dann auch umgedeutet werden. Winterhilfe und Eintopf sind dafür gute Beispiele – und ganz gewiss der chamäleonhafte Begriff des Miesrians, des Miesmachers. Zweitens wurden diese neuen Worte nicht unbedingt aufgezwungen, sondern vielmehr teils lustvoll aufgegriffen, verwendet und fortentwickelt. Die als Begriffe und Imaginationen weiterlebenden Propaganda-Figuren Groschengrab und Kohlenklau unterstreichen dies ebenso wie die seit einem Jahrzehnt ja wieder modischen „Volks“-Begriffe in der Produktwerbung. Die LTI, die Sprache des Dritten Reiches, war zudem keineswegs immer „die Sprache des Massenfanatismus“ (29). Im Gegenteil waren viele dieser Worte Ausdruck moderner Markttechniken, präzise zugespitzt auf klar definierte Zwecke. Nicht Atavismus kam hierin zum Ausdruck, sondern der Gestaltungswille formal gebildeter Experten. Der Luftschutz bot dafür zahlreiche Beispiele.

Evaluation einer Verdunkelungsübung

Die Miesrian-Kampagne hatte eine dienende Funktion, sollte Verdunkelungsübungen optimieren, Fehler vorab „ausmerzen“. Entsprechend wurde weit stärker als bei früheren Übungen über die lokalen Geschehnisse in der Presse berichtet. Dies waren, gewiss, geschönte Beschreibungen durch willfährige Journalisten. Doch in diesem Fall gab es eine Gegenöffentlichkeit, denn die Bewohner konnten selbst sehen und urteilen. Und so dürften wir in den sieben eigenständigen Berichten über Bischofswerda, Dippoldiswalde, Dresden, Leipzig und Riesa doch einen Lichtschein der Wahrheit erhaschen… (Fünf Stunden Verdunkelung, Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8; Oertliche Eindrücke von der Verdunkelungsübung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 69 v. 23. März, 3; Ost- und Nordsachsen 5 Stunden verdunkelt, Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1; Ganz Nord- und Ostsachsen lag im Dunkeln, Der Freiheitskampf 1938, Nr. 81 v. 23. März, 5; Fünf Stunden Dresden ohne Licht, Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 138 v. 23. März, 4; Wohlgelungene Verdunkelungsübung, Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 70 v. 23. März, 2; Heidenauer und Dresden-Pirnaer Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1).

Die Negativfigur hatte ihre Aufgabe offiziell erfüllt (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1)

Die lokalen Berichte präsentierten die Verdunkelungsübung am 22. März 1938 als ein spannendes Ereignis mit durchaus offenem Resultat. War man vorbereitet? Wird alles klappen? Die Artikel waren fast durchweg chronologisch aufgebaut, setzten am späten Nachmittag ein, beschrieben die anlaufende Verdunkelung, die einbrechende Dämmerung, schließlich die freudig erwartete und öffentlich gefeierte Entdunkelung um 23 Uhr. Atmosphäre wurde geschildert, ein geplantes Geschehen mit offenen Elementen. Anders also als die Appelle, Belobigungen, das Fahnensenken und Fahnenhissen im ritualisierten Ablauf des NS-Terminplans vor Ort.

Grundsätzlich dominierte das Lob an die Teilnehmer, wurden Fortschritte gegenüber früheren Übungen gerne konzediert. Und doch gab es auch mittlere Bewertungen, abhängig auch vom Zackigkeitsgrad der Berichterstatter. Das Lob war summarisch, doch die kleinen Vergehen, die Fahrlässigkeiten vor Ort dominierten die Zeilen. Die Übung begann vor Eintritt der Dunkelheit, bot also eine gewisse Übergangszeit, die von vielen weidlich genutzt wurde, ehe um 19 bis 19.30 Uhr all dies hätte wirklich sichtbar werden können. Nutzten die Volksgenossen diesen Freiraum aus, trotz virtuell angreifender Bomberflotten? Wie strikt wurde kontrolliert, wenn die Verdunkelung erst langsam, nicht schlagartig einsetzte? Trotz klarer Ansagen im Vorfeld, trotz explizierter Präsentation in der Miesrian-Kampagne, gab es weiterhin Licht in den Hinterhöfen, beleuchtete Firmenschilder, weit scheinende Lichtschleusen. Die Journalisten bewegten sich im urbanen Raum, entsprechend eingängig berichteten sie über den abgeblendeten Verkehr, über kleinere Zwischenfälle und durchaus vorkommende Unfälle. Vor Ort gewannen sie auch einen Eindruck von der Art der Verdunkelung. Neben den fachgerechten Auskleidungen der Fenster und Türen gab es doch eine größere, nicht zu quantifizierende Zahl von Bewohnern, die im dunklen Heim verweilten, das Licht ausgeschaltet ließen oder früh ins Bett gegangen waren. Kritik gab es an den vielen, allzu vielen Passanten, den Gaffern und Schaulustigen auf den Straßen.

Bordsteinanstrich als Orientierungshilfe (Kurt Knipfer und Werner Burkhardt, Luftschutz in Bildern, Berlin s.a. [1935], 63)

Die Beschreibungen waren wertend, vielfach moralisch. Lichtverbrecher und Verräter wurden benannt, zugleich aber die pflichtbewusste Arbeit der Helfer und Amtsträger des Luftschutzbundes anerkennend belobigt. Die Journalisten waren nur selten allein unterwegs, sie berichteten „embedded“, nahmen an Kontrolltouren der Verantwortlichen Teil, sahen den offiziellen Kontrolleuren gleichsam über die Schulter. Dadurch sahen sie mehr als die Passanten, die Bewohner in ihren Wohnungen. Sie besetzten die Höhen, schauten auf die Städte hinunter, vom Weißen Hirsch auf Dresden, vom Völkerschlachtdenkmal auf Leipzig, von Wassertürmen und Anhöhen. Das war Pressedienst für die Leser. So präzise manche Einzelbeobachtung auch war, so tönte doch zugleich eine uneigentliche Sprache, verpackte Kritik in freundlichen Worten. Zugleich aber klang durch die Schilderungen die nicht explizite Rückfrage, ob die Übung nicht nur eine Simulation der Abwehrbereitschaft im Ernstfall sei, sondern die Übung selbst eine Simulation der Übung. Die Menschen agierten wie von ihnen gefordert, doch sie nutzten die begrenzten Freiräume, spielten eine Rolle in einer öffentlichen Inszenierung. Eine Bruchlinie bildeten die wenigen Zuwiderhandlungen, die klar benannt und rasch sanktioniert wurden. Hervorgehoben wurden die stets präsenten Ordnungskräfte und Strafandrohungen, die latenten Drohungen waren in die Reportagen eingewoben. Am Ende aber stand Zufriedenheit, Lob, Freude ob des gemeinsam Erreichten, Freude an der zunehmend wirklichen Luftschutzgemeinschaft eines wieder stolzen und wehrhaften Volkes. Zuversichtlich hieß es: „Aus dem 98prozentigen Erfolg, wie er gestern war, wird dann ein hundertprozentiger werden“ (Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8). Es bedurfte daher kaum der solchen Ereignissen immer nachgereichten offiziellen Bewertungen, die da lauteten – gähn –, daß die Verdunkelungsübung „ein voller Erfolg“ gewesen sei (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 144 v. 26. März, 5).

Defensivparolen für aggressive Wehrhaftigkeit (Die Umschau 43, 1939, 1075)

Auch des Miesrians wurde nochmals gedacht, mochte er auch bereits über alle Berge sein. Er rieb sich bei einzelnen Zwischenfällen „gewiß schmunzelnd die Hände“, manches erinnerte an „eine kleine miesrianische Episode“ („Miesrian“ war über alle Berge…, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1). Gleichwohl war dies eine Ausnahme, denn Miesrian gehörte nach diesem Erfolg der Vergangenheit an, war überwunden. Die verachtens- und bemitleidenswerte Propagandafigur hatte sich selbst erledigt, mochten auch weitere Übungen folgen.

Nicht vergessen werden sollte, dass fast zeitgleich in Mittelböhmen eine ähnliche, von einem virtuellen Luftangriff auf Prag eingeleitete Luftschutzübung stattfand. Die Beanstandungen verdoppelten die jenseits der nördlichen Grenze (Bomben und Finsternis, Sozialdemokrat 1938, Nr. 70 v. 24. März, 4). Sozialdemokratische Gewährsleute waren angesichts dieser Übungen vom baldigen Einmarsch in die Tschechoslowakei überzeugt (Deutschland-Berichte 5, 1938, H. 5, A-24g). Der aber erfolgte anders als erwartet. Auf der Münchener Konferenz vom 29. September 1938 – kurz zuvor hatte in der Kreishauptmannschaft Chemnitz eine weitere Verdunkelungsübung stattgefunden, die sich erstmals am „Dauerzustand“ des Alarms ausrichtete (10 Gebote für Verdunkelungsübungen, Frankenberger Tageblatt 1938, Nr. 212 v. 12. September, 7) – wurde das tschechische „Sudetenland“ dem Deutschen Reich zugesprochen, auch Polen und Ungarn besetzten Teile des Staatsgebietes. Dadurch war keine sinnvolle Verteidigung der zerbrechenden Tschecho-Slowakei mehr möglich, der Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 in die westlichen Restgebiete erfolgte ohne militärischen Widerstand, ohne denkbare Luftangriffe. Für die früheren Bündnispartner Frankreich und Großbritannien bot das Münchner Abkommen allerdings einen wichtigen Zeitgewinn. Die damals eingeleiteten Rüstungsanstrengungen waren grundlegend für den Abwehrerfolg Großbritanniens in der Luftschlacht um England 1940/41.

Spiegelungen – der virtuelle und der reale Krieg

Wann beginnen Kriege? Der Rückblick auf den „passiven“ Luftschutz, auf die damit unmittelbar verwobene Miesrian-Kampagne, kann ein Anlass sein, die Periodisierungen der Kriege zumindest etwas in Frage zu stellen. Reichsluftschutzbund, Luftwaffe und Wehrmacht hatten seit Jahren den Krieg in den Köpfen durchgespielt, im Informationsraum hatte man ihn schon fast sicher gewonnen, mochte man den eigenen Friedenswillen auch immer beschwören.

Der Zweite Weltkrieg wurde in Europa wiederum von den Landheeren dominiert, doch er war von Anbeginn der direkten Kriegshandlungen immer auch ein Bombenkrieg. Am 1. September 1939 wurde das polnische Wielun bombardiert, es folgten Angriffe der Luftwaffe auf mehr als 150 polnische Städte ohne Truppen. Das Flächenbombardement von Warschau währte vom 24. bis zum 26. September 1939, und die Bomberbesatzungen töten mehr als 10.000 Menschen (Thomas Hirschlein, Deutsche Luftangriffe auf polnische Städte im Herbst 1939, in: Karin H. Grimme, Stephan Horn und Stephan Lehnstaedt (Hg.), Die Luftwaffe im „Dritten Reich“. Verbrechen, Zwangsarbeit, Widerstand, Berlin 2022, 62-74). Kurz vor der Kapitulation der Niederlande erfolgte am 14. Mai 1940 aufgrund von Übertragungsfehlern ein Bombenangriff auf Rotterdam, mehr als 800 Personen kamen dabei um. Daraufhin begann die britische Royal Air Force (RAF) Bombenangriffe auch auf Ziele östlich des Rheins.

Freude am Bombenkrieg der Luftwaffe – Abscheu gegenüber dem Bombenkrieg von RAF und US-Air Force (Simplicissimus 45, 1940, 493 (l.); ebd. 48, 1943, 239)

Der Miesmacher tauchte nun auch in den noch wenigen Luftschutzräumen auf, typologisch begleitet vom Gerüchtemacher, dem Witze-Reißer, dem Luftschutz-Superspezialist, dem Spaßvogel, dem Stänkerer (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 288 v. 7. Dezember, 9). Noch konnte man lachen, glaubte an die Effizienz der eigenen Luftabwehr. Erste recht wirkungslose Angriffe auf deutsche Städte, insbesondere auf die Reichshauptstadt Berlin, boten der deutschen Führung seit Mitte August 1940 dann den Anlass für Nacht- und schließlich auch Tagesangriffe auf London und zahlreiche weitere Industrie- und Hafenstädte. Sie führten bis zum Ende regelmäßiger Bombardierungen im Mai 1941 unter beträchtlichen eigenen Verlusten zu etwa 43.000 Toten. Die deutsche Presse, auch große Teile der Bevölkerung, bejubelten diese Attacken, sahen in ihnen nicht nur eine berechtigte Vergeltung, sondern auch Vorboten des nahen Sieges. Begriffe wie „ausradieren“ oder „coventrieren“ unterstrichen den mitleidslosen Jubel über den Tod der anderen.

Technische Fortschritte unterminierten derweil die Handlungsroutinen der Verdunkelungsübungen. Seit 1941 wurden die britischen Bomberflotten zunehmend durch Radarnavigation gelenkt, so dass der Lichtschein am Boden an Bedeutung verlor. Die mechanische Verdunkelung konnte seit 1942 auch durch Infrarotgeräte ausgehebelt werden, die Wärmestrahlung auffingen (Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, 3. Aufl., München 2002, 414-415). Und doch spielte man weiter das Spiel von Sehen und Gesehenwerden, wollte kein Ziel sein: „Mit der Allgegenwart am Himmel hatte der Feind freie Sicht erobert. Wie Gottes strafendes Auge sah er alles, […]. Dies auszuhalten ist schwer, und vermutlich gab das gemeinsame Sinken in die Höhlenfinsternis die Illusion eines Fürsichseins zurück“ (Ebd., 415).

Die Luftschutzgemeinschaft in der Bewährung (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 221 v. 16. August, 5 (l.); Illustrierter Beobachter 18, 1943, Nr. 34, 2)

Die deutschen Abwehrmaßnahmen waren bis 1942 an sich erfolgreich, denn den Briten gelang es nicht, die industriellen und militärischen Strukturen des Deutschen Reiches substanziell zu gefährden. Der aktive Luftschutz, die Kombination aus Früherkennung, Luftwarnung, Flak- und Jägereinsatz erlaubte der RAF einzig den Einsatz der Bomberflotten gegen weiche Ziele, also Flächenbombardements von Groß- und Mittelstädten aus großer Höhe. Auch wenn insbesondere die kombinierten Angriffe der britischen und US-amerikanischen Bomberflotten während der Luftschlacht um Hamburg vom 24. Juli bis 3. August 1943 zu verheerenden Schlägen gegen Hafen und Industrie führten, etwa 34.000 Menschen töteten und mindestens 125.000 verletzten, so blieb dies noch eine Ausnahme. Die Verluste der rasch expandierenden deutschen Rüstungsindustrie lagen 1943 lediglich bei etwa fünf Prozent der Kapazität, im ersten Halbjahr 1944 noch darunter (Werner Wolf, Luftangriffe auf die deutsche Industrie 1942-45, München 1985, 135). Die höchsten Produktionswerte wurden im Herbst 1944 erreicht. Die Grundlagen der Rüstungsproduktion wurden erst durch relativ präzise Angriffe der US-Air Force auf die Metallverarbeitung, die Treibstoffversorgung und das Verkehrsnetz zerbrochen – also durch die Angriffe, die die RAF 1942 aufgegeben hatte. Anders gewiss die Bilanz für die Zivilbevölkerung: „Männer, Frauen und Kinder in Nachthemden, in panischer Angst um ihr Leben in die Keller rennend, sollten die prägenden Gestalten der kommenden Realität darstellen und nicht die uniformierten, unter dem Luftschutzhelm ruhig hervorblickenden Kämpfer“ (Lemke, 2005, 331).

Der Bombenkrieg war unerbittlich, unterstrich die sittliche Verrohung aller Seiten. Die erfolgreicheren Luftwaffen der Alliierten kämpften den Luftschutz nieder. Noch im August 1944 verfügte das Deutsche Reich über 39.000 Luftabwehrbatterien, die von mehr als einer Millionen Menschen bedient wurden (Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkrieges, überarb. Neuaufl., Hamburg 2002, 619). Doch ohne angemessene Jägerunterstützung und angesichts fehlenden Treibstoffs und knapper Munition wurde die Abwehr zertrümmert. Noch aber ertönte die Propaganda des passiven Luftschutzes, etwa aus dem fast täglich bombardierten Ruhrgebiet: „Wenn die Nächte gellen: Alarm, Alarm! / Wenn die Mütter reißen ihr Kind in den Arm, / dann steigt aus der Roten Erde / grimmig der Ruf empor: / Vorwärts ihr Bombenkämpfer, / wir siegen trotz Tod und Terror“ (K. Kränzlein, Lied der westfälischen Bombenkämpfer, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 7 v. 10. Januar, 5). Doch der Reichsluftschutzbund war nicht in der Lage, die Zerstörungen der Häuser wirksam zu begrenzen. Die Vorkehrungen haben jedoch, in Kombination mit dem unzureichenden Bunkerbauprogramm, zahllose Menschenleben gerettet. Dennoch zerstob das Parolengeschwätz von Wehrhaftigkeit und größtmöglicher Sicherheit schnell, wurde von funktionierender Apathie ersetzt.

Gewiss, militärisch einzubeziehen sind auch die beträchtlichen Verluste der Angreifer, erst auf Seiten der Luftwaffe, dann auf Seiten der Alliierten. Letztere wurden auf bis zu 9.000 Flugzeuge geschätzt, auf mehr als 158.000 vielfach hochqualifiziertem „Personal“ (Wolf, 1985, 136-137). Das lag über den Verlusten der alliierten Landstreitkräfte seit der Invasion am 6. Juni 1944. Der eigentliche Beitrag der alliierten Luftstreitkräfte lag in der Verkürzung des Landkrieges. Das hat diesem Land den Einsatz von Atomwaffen erspart, die anfangs für einen Einsatz hierzulande entwickelt worden waren. Doch nicht nur dieses neue Waffensystem falsifizierte die Annahmen der Kriegstheoretiker der Zwischenkriegszeit vom Bombenkrieg. Ein strategischer Luftkrieg konnte den Gegner alleine nicht zur Kapitulation drängen. Gleichwohl zeigten die Bombardements, dass riesige Luftstreitkräfte einen relevanten Beitrag zum Sieg besteuern konnten, wenn sie mit den tradierten Verfahren des Land- und Seekrieges kombiniert wurden. Luftschutz konnte das lediglich verzögern.

Die Zahl der im Deutschen Reich im Luftkrieg getöteten Menschen ist exakt nicht zu beziffern. Gesamtdarstellungen gehen von ca. 600.000 Personen aus, davon etwa 40.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene (Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, 503). Die Fachpublikationen schwanken zwischen 380.000 und 635.000 Menschen. In Großbritannien fielen etwa 60.000 Personen den deutschen Bomben- und Raketenangriffen zum Opfer (Süß, 2011, 14-15).

Aufgeschichtete Kriegsopfer auf dem Altmarkt in Dresden, wohl 24./25. Februar 1945 (Bundesarchiv, Bild 183-08778-0001 / Hahn – Wikipedia)

Blicken wir am Ende wieder auf die Heimat des Miesrians, auf Sachsen. Die Bombenangriffe vom 13. bis 15. Februar 1945 auf Dresden, knapp sieben Jahre nach den hier näher analysierten „erfolgreichen“ Verdunkelungsübungen, wurden zum Massaker aus der Luft. Zwischen 22.000 und 25.000 Menschen starben, lediglich sechs britische Lancaster-Bomber wurden abgeschossen (Rolf-Dieter Müller, Nicole Schönherr und Thomas Widera (Hg.), Die Zerstörung Dresdens am 13./15. Februar 1945, Göttingen 2010). Doch der Krieg endete nicht, bis zum 8./9. Mai 1945 starben weitere Zivilisten, alliierte und täglich ca. 10.000 deutsche Soldaten. Die deutschen V2-Angriffe auf Rotterdam endeten erst am 28. März. Die Propaganda hatte derweil andere Töne angeschlagen, sang aber weiter das Lied der trotzigen Luftschutzgemeinschaft, der unbesiegbaren Volksgemeinschaft: „Der Menschheit Würde ist auch in unsere Hand gegeben, darum ist das viel zitierte und oft mißbrauchte Schlagwort ‚Sieg oder Untergang‘ zur schmucklosen Wahrheit und nicht mehr und nicht weniger als der Weisheit letzter Schluß für uns geworden“ (Hans Hauptmann, „Der Menschheit Würde…“ Gedanken zu Dresdens Schändung, Mittagsblatt 1945, Nr. 41 v. 17. Februar, 2).

Wann beginnen Kriege? Wenn man die Miesmacher und Miesriane zur Seite drückt, wenn man glaubt Kriege gewinnen zu können und nicht verhindern zu müssen.

Uwe Spiekermann, 4. Oktober 2025

Dieser Artikel ist dem Andenken meines Großvaters Lorenz Hammer gewidmet (Entnazifizierung NRW Abteilung Rheinland, SBE Hauptausschuss Landkreis Brilon NW 1095, Nr. 9374). Er schwieg über den Weltkrieg, doch die Ausnahme bildete der Einsatz seiner Einheit – er war nach eigenen Aussage Stabsfeldwebel bei den Pionieren – im bombardierten Dresden nach dem Massaker aus der Luft vom 13. und 14. Februar 1945. Er sagte immer, dass sein von Kindheit an verkrüppelter kleiner Finger Folge einer Kriegsverletzung gewesen sei – und hob ihn dann zur Anklage gen Himmel, von dort, wo damals der Tod herkam. Ich habe ihm nicht ein Wort geglaubt; doch diese Anklage überschattete das Leben seiner Familie, inklusive meiner heute vor 87 Jahren geborenen Mutter.

Verbrauchslenkung vor dem Zweiten Weltkrieg: „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ im Kontext

Das Volk, der große Lümmel – so klang es ironisch gebrochen in Heinrich Heines Wintermärchen, so klingt es bis heute in den Stuben von Gelehrsamkeit, Macht und Transformationswillen. Dort kennt man die Zukunft, weiß, warum sie nur so und nicht anders zu gestalten ist. Da die eigenen Händchen aber zu schwach zu deren Ausgestaltung sind, setzt man immer neue, alle möglichen Hebel in Bewegung, um den großen Lümmel in die zwingend richtige Richtung zu lenken. Dabei helfen Krisen und Kriege, denn dank ihnen können Traditionen und Routinen einfacher gebrochen werden. Und so schaffen und verstärken moderne Wissensgesellschaften immer neue Krisen und Krisennarrative, um Menschen zu motivieren und sie in eine lichte Zukunft zu lenken. Von den öffentlich propagierten Idealen pluraler Problembewältigung bleibt wenig übrig, wenn die Erde brennt, die Seuche Gegenmaßnahmen erfordert, Geld an allen Ecken und Enden fehlt, die russischen Dampfwalze alles planiert und die amerikanischen Freunde die vermeintlich gemeinsamen Werte nicht mehr teilen.

Was für eine Zeit der vermeintlichen „multiplen Krisen“ oder der „Multikrise“ gilt, galt ebenso während der Mobilisierungsdiktatur des Nationalsozialismus. Krisen wurden geschaffen und ausgerufen, mussten bekämpft und überwunden werden. Das Volk, das deutsche, schien willig zu sein, doch es bedurfte der Anleitung. Dabei stand, stärker noch als heute, die Transformation der Ernährung im Mittelpunkt, für die damals noch 40 bis 50 Prozent des Einkommens ausgegeben wurden.

Auf dem Weg zur „freiwilligen“ Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung bedeutete in den 1930er Jahren erst einmal eine Nationalisierung der Ernährung. Das deckte sich durchaus mit den Zielen der Agrar- und Wirtschaftspolitik während der Weimarer Republik, mit dem teils von amerikanischen Werbemethoden geprägten Agrarmarketing, das den Kauf deutscher Milch, deutschen Weins, deutscher Zigaretten, etc. propagierte (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen, 2018, 332-351). Nicht nur nationale Kreise forderten: „Bau‘ eigenen Weizen dir zum Brot; / Drauf streich‘ die eigene Butter; / Der deutschen Erde Glück und Not / Sei deine Nahrungsmutter!“ (Merkbüchlein für den deutschen Michel, Kladderadatsch 83, 1930, Nr. 44, 18)

Die Präsidialkabinette intensivierten diese Anstrengungen ab 1930, kokettierten mit Ideen der Autarkie, die seit den massiven Zollerhöhungen 1925 in der deutschen Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert wurden (Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984). Der Börsenkrach von 1929, vor allem aber der US-amerikanische Smoot-Hawley Zolltarif vom Juni 1930 verengten die handelspolitischen Freiräume weiter. Die US-Maßnahmen schränkten die Exporte deutscher Investitionsgüter massiv ein, verschärften die ohnehin prekäre Devisenlage des Deutschen Reiches und nahmen den Reparationszahlungen die ökonomische Grundlage (Kris James Mitchener, Kevin Hjortshoj O’Rourke und Kirsten Wandschneider, The Smoot-Hawley Trade War, The Economic Journal 132, 2022, 2500-2533). Das zuvor zumindest theoretisch noch hochgehaltene Prinzip der Meistbegünstigung fiel 1931, bilaterale Handelsabkommen gewannen weiter an Bedeutung. Während die Zölle stiegen, wurde die Devisen zunehmend staatlich bewirtschaftet, parallel wickelte man den Außenhandel vermehrt über Clearing-Systeme ab, ging also teilweise zum Tauschhandel über (Ralf Banken, Die wirtschaftspolitische Achillesferse des „Dritten Reiches“ […], in: Albrecht Ritschl (Hg.), Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit, Berlin und Boston 2016, 111-232, insb. 161-175). Der deutsche Konsum wurde dadurch stark beeinflusst: Menge und Wert der importierten Genussmittel und Frischwaren sanken, auch die für die Milch- und Mastwirtschaft zentralen Futtermitteleinfuhren nahmen schon während der autoritären Phase zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus drastisch ab. Parallel begünstigten die Präsidialregierungen deutsche Agrarprodukte: Seit 1930 musste Margarine immer auch deutsches Fett und zwischen 1931 und 1934 Backwaren vier bis fünf Prozent deutsches Kartoffelstärkemehl und Magermilch enthalten.

Importabhängigkeit des Deutschen Reiches 1931 (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 15, V)

Das NS-Regime führte diese Maßnahmen großenteils weiter. Es profitierte von der bereits 1932 offenkundigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, setzte zugleich aber auf zuvor undenkbare und mit Schulden finanzierte Maßnahmen zur Reduktion der Arbeitslosigkeit, kommunizierte diese mit zuvor unbekannter Wucht (Christoph Buchheim, Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56, 2008, 383-414). Die finanz- und wirtschaftspolitischen Argumente für eine möglichst hohe Selbstversorgung galten weiter, wurden aber zunehmend ergänzt durch die rüstungs- und machtpolitischen Zielsetzungen des Regimes. Die schon aufgrund der notorischen Devisenschwäche des Deutschen Reiches kaum zu umgehende strikte Regulierung des Außenhandels wurde 1933 innenpolitisch ergänzt durch eine offensiv propagierte „Erzeugungsschlacht“, die propagandistisch überhöht auf „Nahrungsfreiheit“ zielte, auf eine Intensivierung der heimischen Agrarproduktion, auf eine Mobilisierung des ländlichen Arbeitskräftepotentials. Es galt, heimische Alternativen zur „Auslandsware“ zu fördern, die Milchwirtschaft, die Käseproduktion, den vernachlässigten Obst- und Gemüsesektor, die Herstellung pflanzlicher Öle und vieles mehr. Diese Maßnahmen wurden in ein neues regulatives und institutionelles Korsett gepresst: Der im September 1933 entstandene Reichsnährstand war ein vielfach begrüßter Zwangszusammenschluss der gesamten Ernährungswirtschaft, also der Landwirtschaft, des verarbeitenden Gewerbes und des Einzelhandels. Diese „größte Wirtschaftseinheit der Welt“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 226) zielte auf die korporatistische Regulierung und Koordinierung der Erzeugung, des Absatzes, der Preise und Preisspannen.

Begrenzte Erfolge wurden erzielt, doch Selbstversorgung blieb unerreichbar. Agrarimporte kosteten 1936 3,5 Mrd. Reichsmark, machten 35,5 Prozent aller Einfuhren aus (Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus […], Frankfurt/M. 1988, 235). Ohne die Zufuhren wäre die Eiweißversorgung gefährdet gewesen, war die „Fettlücke“ auch nicht ansatzweise zu schließen. Seit 1936, seit dem Übergang zum zweiten Vierjahresplan, traten daher die schon zuvor durch Deutsche oder Braune Wochen oder auch die Kampagne „Deutsche Weihnacht! Deutsche Gaben!“ adressierten Konsumenten verstärkt in den Blickpunkt der Funktionseliten: „So scherzhaft es klingt, es ist bitterer Ernst: das deutsche Volk braucht einen politischen Magen“ (Der politische Magen, Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz 1936, Nr. 256, Bl. 1). Neben die Erzeugungsschlacht trat mit der Propagandakampagne „Kampf dem Verderb“ eine vorwiegend von den Hausfrauen umzusetzende „Erhaltungsschlacht“ zur möglichst umfassenden Nutzung der heimischen Ressourcen. Ersatzmittel wurden als Austauschprodukte gefördert, die Vorratswirtschaft intensiviert. Lange vor Kriegsbeginn begann eine „freiwillige Verbrauchslenkung“ (Gesunde Vorratswirtschaft, Nachrichten für Stadt Elsfleth und Umgebung 1936, Nr. 16 v. 6. Februar, 3). Die später im Detail zu analysierende Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ spiegelte die Breite der nun tagtäglich eingesetzten propagandistischen Mittel. Schon während der Weimarer Republik und der Präsidialkabinette begonnene Maßnahmen wurden fortgeführt und intensiviert, die militärischen und politischen Ziele mündeten in einen aufeinander bezogenen Kranz von „Aufklärung, Werbung, Propaganda, Reglementierung und schließlich Zwang“ (Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 355). Die explizite Lenkung der Konsumenten hieß aber auch, dass sich die anvisierte Selbstversorgung „als eine Utopie erwiesen“ habe (Die Reichsspeisekarte, Der Deutsche in Polen 4, 1937, Nr. 4, 11).

Nationaler Einkauf zwischen Ehrenpflicht und neuen Güte- und Herkunftszeichen (Schwarzwald-Bote 1933, Nr. 257 v. 3. November, 4; Bremer Nationalsozialistische Zeitung 1933, Nr. 73 v. 21. März, 5)

Diese begriffliche Differenzierung ist wichtig, um den Wandel der staatlich-korporatistisch eingesetzten Mittel einzufangen. Festzuhalten ist jedoch, dass mit Ausnahme der ja schon vor dem Krieg einsetzenden Rationierungen, die Wirtschafts- und Konsumpolitik mit Propaganda engstens verwoben war. Der Begriff selbst war Anfang der 1930er Jahre noch positiv besetzt, nicht nur bei den politischen und akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Propaganda war eben nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern wurde als ein notwendiges Grundelement moderner technischer Gesellschaften verstanden (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war (und ist) in einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft strukturell notwendig, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Kernpunkte der eben nur teilweise „nationalsozialistischen“ Verbrauchslenkung auch die heutige Ernährungs- und Gesundheitspolitik prägen. Begründungen verändern sich, zielgerichtete hierarchische Interventionen werden fortgeführt. Das Volk, der große Lümmel.

Verbrauchslenkung als Maßnahmenbündel

Zielsetzungen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196)

Die Verbrauchslenkung, die es auch für andere Gütergruppen und Dienstleistungen gab, zielte auf eine aus Sicht des NS-Regimes wünschenswerte Erhöhung resp. Verminderung des Konsums bestimmter Lebens- und Genussmittel. Sie galten als Stoffträger, die Bedarfsrechnungen der Ernährungswissenschaften standen Pate, die seit den 1920er Jahren zunehmend akzeptierte „neue“ Ernährungslehre hatte die Bedeutung gerade von Mineralstoffen und Vitaminen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit folgenreich unterstrichen (Spiekermann, 2018, 412-418). Darauf baute man auf, zielte auf einen im Systemsinne möglichst effizienten Umgang mit den verfügbaren Ressourcen.

Eine vom Institut für Konjunkturforschung entwickelte und im Dezember 1936 verbreitete Übersicht der erforderlichen Umstellungen diente machtpolitisch einer möglichst blockadefesten Selbstversorgung des Deutschen Reiches. Sozialpolitisch zielte sie auf einen staatlich festgesetzten „fairen“ Ausgleich der Ansprüche innerhalb der Wertschöpfungsketten sowie einer auch rassenpolitisch erwünschten Stärkung von Land und Landwirtschaft. All dies bedeutete eben nicht „eine mehr oder weniger offensichtlich durchgesetzte Rationierung“ (Utz Maas, Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen 1984, 32), denn mögliche Erfolge resultierten just aus der propagierten Glaubwürdigkeit, der Fairness, der Akzeptanz der neuen Konsumweisen. Der Lebensmittelverbrauch sollte möglichst heimisch sein, möglichst saisonal, möglichst gesund, auskömmlich und schmackhaft. Tierische Produkte waren keineswegs verpönt, doch insbesondere Rindfleisch und animalische Fette sollten weniger verzehrt werden. Der Anteil pflanzlicher Kost, insbesondere von Kartoffeln, Kohl- und Wurzelgemüse, sollte deutlich gesteigert werden. Die immer wieder diskutierten, schon während der Weltwirtschaftskrise offenkundigen Eiweißdefizite sollten durch verstärkten Verzehr von Seefisch, Magermilch und Milchprodukten verringert werden. Angesichts des außer Kraft gesetzten marktwirtschaftlichen Preismechanismus bedurfte eine derartige Verbrauchsumgestaltung zugleich allgemeiner Geschichten, steter Propaganda. Aufrüstung und Kriegsziele wurden nicht diskutiert, angesichts der immer wieder hervorgehobenen Bedrohung durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges waren die vermeintlich friedenswahrenden Gegenmaßnahmen des Deutschen Reiches jedoch allseits bekannt. Die Verbrauchslenkung wurde nicht plump aufgedrängt, sondern nutzte die generelle Bereitschaft der Bevölkerung, sparsam, national, regional und im Sinne der machtpolitischen Ziele des Regimes zu konsumieren. Allein bei den kolonialen Massengütern Kaffee und Tabak gab es deutliche Differenzen. Angesichts der wachsenden Einkommen führten sie zu steigenden Importen und gefährdeten tendenziell Aufrüstung und Kriegsbereitschaft.

Saisonale Umstellung der deutschen Ernährung: Reichspeisekarte und propagandistische Präsentation eines saisonalen Frühgemüses (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196 (l.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 120 v. 5. Mai, 1)

Die Blaupause für die „freiwillige“ Verbrauchslenkung lieferte die vom Institut für Konjunkturforschung, dem heutigen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, vorgestellte „Reichsspeisekarte“ (A[lfons] Moritz, Wertvolle Ergänzungen der Erzeugungsschlacht, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 68, 1939, 57-62, hier 57). Eine Selbstversorgung des Deutschen Reiches schien demnach weiter möglich. Angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Warenaustausches und der Klima- und Produktionsbedingungen der deutschen Agrarproduktion könne der Verbraucher aber nicht länger verlangen, „daß ihm zu jeder Zeit alle Nahrungsmittel lediglich seinen persönlichen Wünschen entsprechend zur Verfügung stehen“ (Volksernährung aus deutschem Boden. Richtlinien für die Verbrauchslenkung auf dem Gebiete der Ernährung, Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 195-196, hier 195). Wichtig sei jedoch nicht nur die Grobsteuerung – mehr pflanzliche Lebensmittel, weniger (tierisches) Fett – sondern insbesondere eine Abfederung saisonaler Angebotsschwankungen (dies ignoriert Hartmut Berghoff, Methoden der Verbrauchslenkung im Nationalsozialismus. Konsumpolitische Normensetzung zwischen totalitärem Anspruch und widerspenstiger Praxis, in: Dieter Gosewinkel (Hg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M. 2005, 281-316, hier 310).

Strukturelles Problem Saisonalität: Eier als Beispiel (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 289 v. 25. Juni, 9)

Die gegenüber heute deutlich stärker ausgeprägte Saisonalität des Angebotes war ein zentrales Problem der damaligen Versorgungsketten. Massive Forschungsinvestitionen sollten helfen: Verbesserte Konservierungstechniken, neue Verpackungen, Lager- und Vorratshaltung streckten das Angebot zeitlich, vereinfachten jegliche Verbrauchslenkung. Die „Erhaltungsschlacht“ der Hausfrauen, insbesondere das massiv propagierte Einmachen von Obst und Gemüse bot Flankenschutz, doch bei anderen saisonalen Lebensmitteln wie Eiern oder Fleisch begrenzten der veränderte Geschmack oder auch der fehlende häusliche Lagerraum die haushälterischen Gegenmaßnahmen. Die Saisonalität war anderseits ideologisch wichtig, denn sie half Konsumwelten temporärer Fülle zu präsentieren. Zumindest propagandistisch konnten so die offenkundigen Versorgungsdefizite in der Fett- und Eiweißversorgung ummäntelt werden. Seit Ende 1935 wurden für erste Fette Kundenlisten angelegt und Bezugsscheine ausgegeben, Ende 1936 betraf das alle Fette. Zeitweilig wurde die Herstellung von Wurst und Schinken untersagt, Schlagsahne kontingentiert (Spiekermann, 2018, 370). Die Saisonalität des Angebotes band zugleich Stadt und Land, Bauern, Arbeiter und Angestellte zusammen, imaginierte die Vorstellung einer aufeinander angewiesenen Volksgemeinschaft. Sie bot daher wichtige Ansatzpunkte für einen langsamen Wandel der Verbrauchlenkung auf der „Grundlage der Verbrauchsfreiheit“, bei der es galt, „durch psychologische Einwirkungen die für eine bestimmte Zeit gegebene Verbrauchsstruktur zu verändern“ (Werbung beeinflußt den Verbraucher, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 33 v. 8. Februar, 6) – so der seit 1923 als Präsident des Statistischen Reichsamtes tätige, 1933 flugs in die NSDAP eingetretene Ernst Wagemann (1884-1956). Die gezielte Nutzung und Neuschöpfung regionaler Traditionen und Speisen waren Teile dieser Lenkungsanstrengungen.

Die damaligen Medien präsentierten den Verbrauchern ein im Detail realistisches, insgesamt aber schönfärberisches Bild der Versorgungssituation (Corni und Gies, 1997, 355-357). Das spiegelte auch die fortwirkende Presseanweisung zu dem vom Institut für Konjunkturforschung ausgearbeiteten Lenkungsbündel: Es galt, „bei der weiteren Behandlung des ganzen Themas nicht jedesmal von Verbrauchslag((e)) und Verbrauchsregelung zu schreiben, sondern dann einfach nur noch ueber die konkreten einzelnen Themen, etwa ueber Fisch- und Kaeseverbrauch usw., was gerade aktuell sei. Die Tatsache einer geregelten Verbrauchslenkung sei also nicht stets besonders hervorzuheben. […] Bei der Verwertung des Aufsatzes soll kein Wort ueber den Vierjahresplan gesagt werden, intern aber seien die Redaktionen an die Richtlinien dieses Aufsatzes aufs strengste gebunde((n.))“ (NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 4: 1936, T. I, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert, München et al. 1993, 1526). Unmittelbar drängende Versorgungsprobleme wurden angesprochen, begründet und zur Aufgabe erklärt, die grundsätzlichen Probleme der Kriegsvorbereitung und der Vorbereitung einer mit strukturellem Zwang arbeitenden Rationierung jedoch nur indirekt thematisiert. Der große Lümmel sollte gelenkt, nicht erzürnt werden.

Institutionell war die Verbrauchslenkung nicht eindeutig zuzuordnen. Formal war das Agrarmarketing, waren auch entsprechende Propagandakampagnen Aufgaben der Reichshauptabteilung III des Reichsnährstandes (Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.), 73-74; Corni und Gies, 1997, 357). Im Reichsernährungsministerium wurde der Generalplan festgelegt, monatliche Runden der dort angesiedelten Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung sorgten für den Feinschliff. Sie war korporatistisch zusammengesetzt, bündelte die Interessen des Reichspropagandaministeriums, der Reichspropagandaleitung, der Wehrmacht, des Reichsnährstandes, des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, des Deutschen Frauenwerks, der Deutsche Arbeitsfront, des Lebensmittelhandels, des Gaststättengewerbes und des Fleischer-, Bäcker- und Konditorenhandwerks. Staatssekretär Herbert Backe (1896-1947) verstand die Verbrauchslenkung als „Gemeinschaftsarbeit aller Volksgenossen“, bei der die Mitwirkung um so ehrenvoller sei, „je weniger sie in Erscheinung“ trete (Herbert Backe, Verbrauchslenkung, Der Vierjahresplan 1, 1937, 203-205, hier 204). Eine eng hierarchische Vorstellung von Propaganda unterschätzt entsprechend die zahlreichen in die Verbrauchslenkung einbezogenen Institutionen von Staat, Partei und Privatwirtschaft. Schon die damals gängige Aufgliederung der Propaganda in wirtschaftliche Aufklärung, wirtschaftspolitische Propaganda, Gemeinschaftswerbung und die privatwirtschaftliche Einzelwerbung verweist auf zahlreiche zusätzliche Akteure, die immer auch ihre Eigeninteressen verfolgten (Alfred Helzel, Werbung und Politik, Werben und Verkaufen 23, 1939, 263-265, hier 263). Das galt insbesondere für den Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, eine Unterabteilung des Deutschen Werberates. Gemeinhin ignoriert wird auch der durchaus eigenständige Beitrag des Handels. Der Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel Edmund von Sellner (1898-1939) begrüßte die vielen Artikel und Plakate, doch erst vor Ort, im kleinen Geviert des Einkaufs, würde sich der Erfolg der Maßnahmen einstellen – und es sei Aufgabe des Handels, „die Wünsche des Verbrauchers in die richtigen Bahnen zu lenken, mit falschen Vorstellungen zu brechen, aufklärend zu wirken und das Interesse des einzelnen für neue Waren zu wecken“ (Einkaufs- und Verbrauchslenkung, Deutscher Reichsanzeiger 1936, Nr. 287 v. 9. Dezember, 3).

Das NS-Regime war zugleich bemüht, Sorgen über die staatliche Bevormundung des Einkaufens und Essens aufzunehmen und umzudeuten: „Unser Ziel ist nicht: Gleichmachung aller Verbrauchsbedürfnisse, sondern: Steigerung der Lebenshaltung auf Grund einer Entfaltung der Persönlichkeit. Unser Ziel ist nicht der schematisierte Einheitsverbraucher, sondern der persönlichkeitsbewußte Kulturträger. Wenn der Nationalsozialismus stärker als seine politischen Vorgänger den Verbrauch zu lenken und zu organisieren versucht, so allein deswegen, um die Aufgaben, die über die Kraft des einzelnen hinausgehen, im Rahmen der Gemeinschaft für das Volk zu lösen“ (Robert Ley (Hg.), Lebenshaltung! Ein Beitrag zur Frage der Lebenshaltungspolitik und der Verbrauchslenkung, Berlin 1937 (Ms.), 80). Nicht Verzicht wurde propagiert, sondern eine neue reflektierte Form des (Haus-)Wirtschaftens. Die vermeintlich überholten Hausfrauentugenden, die während der Weimarer Republik vom planlosen Kauf ausländischer Angebote und dem massenhaften Wegwerfen an sich noch brauchbarer Nahrungsgüter überwölbt worden seien, müssten daher revitalisiert werden (Ebd., 82). Dadurch könnten auch viele gesundheitliche Probleme gemildert werden (Karlheinz Backhaus, Der deutsche Speisezettel. Was ist richtig – was ist falsch?, Wille und Macht 5, 1937, H. 18, 8-11, insb. 10).

Sich der Hausfrau nähern: Propagandamittel der Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung erschöpfte sich nicht im Schreiben und Dekretieren. Der Appell an die nationalsozialistische Moral, an den Stolz und imaginierten Wertekanon der Hausfrau, auch an die praktischen Vorteile eines regimekonformen Verbrauchs, spiegelten sich in einer Kaskade von kleinen Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen. Verbrauchslenkung war eine Herausforderung: „Aus dem Vollen schöpfen ist keine Kunst. Erst das Einteilen, das richtige Einkaufen, die kluge und geschickte Anpassung an die jeweilige Ernährungslage, und vor allem auch Sparenkönnen am rechten Platz, macht hausfrauliches Können aus“ (Zeitspiegel der Frau, Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 465 v. 6. Oktober, 8).

Die ästhetisierte Ernährungsrichtline: Genügend Auswahl auch im kargen Monat Februar (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 56 v. 3. Februar, 7)

Zu Beginn jedes Monats gab erstens eine Ernährungsrichtlinie des Reichsernährungsministeriums einen allgemeinen Überblick der Versorgungslage. Die Richtlinie zeigte „Ia bei welchen Nahrungsmitteln ein verstärkter Verbrauch allgemein erwünscht ist, Ib inwieweit darüber hinaus gewisse Nahrungsmittel besonders zu bevorzugen sind, II bei welchen Nahrungsmitteln ein gleichbleibender Verbrauch möglich ist, III bei welchen Nahrungsmitteln ein verminderter Verbrauch nötig ist“ (Moritz, 1939, 58). Im Gegensatz der „Reichsspeisekarte“ des Instituts für Konjunkturforschung basierte sie auf den aktuellen statistischen Daten – und war damit deutlich präziser und umfangreicher. Die Ernährungsrichtlinie wurde vielfach in eine die Hausfrauen direkt ansprechende, einfach gehaltene und nachvollziehbare Form gebracht. Die Sprache war positiv, unterrichtete über Möglichkeiten, schwieg sich über konkreten Mangel allerdings aus.

Werbung für vorbildliches Einkaufen (Marbacher Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8)

Andere Visualisierungen präsentierten die Hausfrauen unmittelbar beim Einkauf, benannten die oben angeführten Kategorien, gaben aber keine Vorgaben für verminderten Verbrauch. Nach einer gewissen Laufzeit lernten die Leserinnen, dass Nichtbenennung Hinweischarakter hatte. Die einzelnen Zeitungen mussten die Ernährungsrichtlinien abdrucken, hatten bei der Gestaltung der Verbrauchsvorschläge aber einen gewissen Spielraum. Verbote fehlten auch in den insgesamt dominierenden Text-Meldungen (Wir notieren den Küchenzettel für Februar, Der Patriot 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8). Wenn dort von gleichbleibendem Verbrauch geschrieben wurde, so waren diese Lebensmittel zu reduzieren, zu verringernde dagegen oft gar nicht lieferbar. Die Abbildungen selbst wurden durch Materndienste reichsweit verbreitet (analoger Abdruck Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 10). Auflagenstärkere Zeitungen nutzten allerdings ihre Pressezeichner, um sich in diesem scheinbar einheitlichen Feld der Verbrauchslenkung zumindest visuell von der Konkurrenz abzuheben.

Groblenkung durch Küchenzettel (Durlacher Tagblatt 1938, Nr. 158 v. 9. Juli, 5)

Diese allgemeinen Hinweise zielten erst einmal auf den Einkauf – und es bestand auch bei folgsamen Hausfrauen grundsätzlich die Gefahr, dass sie mit den für sie ungewohnten Produkten nicht umgehen konnten, dass diese am Ende gar verdarben. Entsprechend veröffentlichten die Zeitungen mit dem Beginn der „Kampf dem Verderb“-Kampagnen Ende 1936 zweitens auch wöchentliche Küchenzettel, die Tag für Tag, mittags und abends Speisevorschläge enthielten. Anfangs handelte es sich um einfache Standardgerichte, zentral herausgegeben vom nationalsozialistischen Deutschen Frauenwerk. Angesichts tiefgreifender regionaler und sozialer Verzehrsunterschiede stieß dies jedoch auf Kritik. Die Deutsche Frauenschaft justierte nach, schließlich handelte es sich um eine ideale Professionalisierungschance. Die Rezepte wurden zunehmend regionalisiert, zudem gab es Küchenzettel für den normalen und für den sparsamen Haushalt.

Von Frau zu Frau: Neu errichtete Versuchsküche der NS-Frauenschaft, Gau Württemberg-Hohenzollern und ein schwäbischer Küchenzettel (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 462 v. 18. Oktober, 6 (l.); Marbacher Zeitung 1939, Nr. 267 v. 14. November, 6)

Die Verbrauchslenkung wurde drittens durch Rezepte ergänzt. Neue Speisen, wie Bratlinge oder Salate, wurden dadurch handhabbar, zugleich aber konnte man darin den Fett-, Eier-, Weizen-, Butter- und Fleischgehalt bekannter Speisen reduzieren. Rezepte halfen kurz vor dem Weltkrieg auch, neue Austauschprodukte wie DPM, Milei und Migetti bekannt zu machen. Das erleichterte deren Integration in die Ende August 1939 eingeführte Lebensmittelrationierung. Die Maschinerie lief im Großen und Ganzen glatt, gleichwohl nicht ohne Knirschen – und man kann bei den Gründen mutmaßen: Geringe Akzeptanz bei den Lesern, Nachlässigkeit und Desinteresse oder aber grundsätzlichere Bedenken gegenüber zunehmend strikten Vorgaben für die tägliche Kost. 1938 gab es jedenfalls 700 „Prüfungen bei den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen“, um „eine noch vollkommenere Einhaltung der Bestimmungen“ sicherzustellen (Aus dem Bericht des Werberates der deutschen Wirtschaft für 1938, Deutscher Reichsanzeiger 1939, Nr. 23 v. 27. Januar, 3).

Ausgearbeitete Vorgaben für die norddeutsche Küche (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 71 v. 13. März, 9)

Zu der Trias von Ernährungsrichtlinien, Küchenzettel und Rezepten gesellte sich dann lokal und regional eine vielgestaltige kleinteilige Ergänzung der Einkäufe und auch des häuslichen Kochens. Mittlerdienste leisteten auch Kochsendungen der verschiedenen Rundfunksender. Wesentlich wichtiger aber war der Einzelhandel. Vor Ort, auch in den üblichen Warteschlangen vor dem Verkaufstresen, konnten eventuelle Rückfragen zur Marktlage und zu Marktalternativen beantwortet werden. Verbrauchslenkungspropaganda war eben nicht allein medial, sondern immer auch konkret, Teil der Alltagsgespräche und der Haushaltspraxis.

Muster einer Schaufensterwerbung und an Händler gerichteter Marktbericht der Edeka (Deutsche Handels-Rundschau 30, 1937, 997 (l.); ebd., 250)

Die Verbrauchslenkung gründete demnach auf einem umfangreichen Angebot allgemeiner, letztlich im Haushalt verwertbarer Informationen. Getragen wurde sie aber immer auch von persönlichen Kontakten, vom Nachfragen vor Ort, im Laden, in der Nachbarschaft. Konflikte wurden vielfach dort ausgetragen, denn die Richtlinien wurden berücksichtigt, nicht aber direkt umgesetzt. Hinzu trat ein breites Netzwerk lokaler Einrichtungen des Reichsnährstandes, vor allem aber nationalsozialistischer Massenorganisationen wie dem Deutschen Frauenwerk, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der Deutschen Arbeitsfront. Sie organisierten Vorträge, publizierten und verteilten Broschüren, organisierten Ausstellungen, praktische Vorführungen, Schulungen und vor allem Kochkurse (Moritz, 1939, 60).

Verbrauchslenkung als Bildungsaufgabe: Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108, 4. März, 41)

Die regelmäßig angebotenen, billigen, teils kostenlosen Kochkurse vermittelten insbesondere jungen Frauen Grundkenntnisse im Kochen, waren zugleich eine wichtige Rekrutierungschance der einzelnen Institutionen. Die Verbrauchslenkung war Thema, ebenso das Hineinwachsen in die NS-Organisationen. In derartigen geselligen Veranstaltungen wurde die Erhaltungsschlacht erprobt, nahm die Heimatfront Gestalt an. Das galt auch für die insbesondere in Groß- und Mittelstädten üblichen hauswirtschaftlichen Ausstellungen. Sie waren ideologiegetränkt und parolenstark, hatten aber den Reiz des Anschaulichen. Typisch war das Verschwimmen der Grenzen zur Gesundheits- und Ernährungsaufklärung. Richtiges Konsumieren, richtiges Essen und richtiges Leben wurde gleichermaßen propagiert, glaubten die Funktionseliten doch, dieses bewerten und vorgeben zu können.

Weniger Fett, mehr Vielfalt. Schautisch einer Wanderausstellung (F.W. Terjung, Warum Verbrauchslenkung?, in: Ernährungspolitik und Schule, hg. v. Reichausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938, 7-26, hier 17)

All dies war nationalsozialistisch, all dies knüpfte aber an zuvor erprobte und etablierte Vorläufer während der Weimarer Republik, des Ersten Weltkrieges und auch schon des Kaiserreiches an. Damals aber waren sie marktgetrieben, Ausdruck des Sendungsbewusstseins der Lebensreformvereine, der öffentlichen Aufgaben von Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege, der Not. Die völkische Ideologie des Nationalsozialismus, die staatlichen Machtmittel und die Lenkung der veröffentlichten Meinung schufen neuartige Verpflichtungen auf (fast) allen Ebenen der Gesellschaft – und dienten zugleich dem bewussten Ausschluss unterdrückter Minderheiten. Doch selbst die sozialdemokratische Opposition, die Verbrauchslenkung als Vorwegnahme der Kriegswirtschaft deutete, konzedierte eine gewisse Breitenwirkung: „Und das Volk läßt sich auch auf diesem Weg ‚lenken‘; nicht ganz ohne Widerstand, aber doch bereitwilliger, als man früher angenommen hätte“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 4, 1937, 133).

Schaubilder zur Systematisierung der Verbrauchslenkung (Werben und Verkaufen 23, 1939, 407)

Die Verbrauchslenkung half dem NS-Regime die Aufrüstung weiter zu forcieren, die Wehrmacht kriegsfähig zu machen. Sie half zugleich bei der Bewältigung zahlreicher kleinerer Krisen, 1937/38 etwa mittels gezielter Kampagnen für den Konsum von Kohl, Äpfeln und Käse. Sie war ein wichtiges Hilfsmittel, um den Marmelade- und Zuckerkonsum zu erhöhen, Seefisch, Quark und auch Sauermilch zu allgemein akzeptierten Lebensmitteln zu machen. Die Verbrauchslenkung konnte die strukturellen Defizite der Lebensmittelversorgung allerdings nicht beseitigen oder gar eine Selbstversorgung sicherstellen. Im Sinne des NS-Regimes war sie dennoch systemrelevant, denn sie schloss für mehrere Jahre eine Fähigkeitslücke. Technisch-institutionell war die Verbrauchslenkung modern und in ihrer Vielgestaltigkeit innovativ. Sie war immer auch ein wissenschaftliches Projekt, das permanent reflektiert und verfeinert wurde (Erich August Goeggle, Untersuchungen zu Verbrauchslenkungen auf dem Gebiete der Ernährungswirtschaft in Deutschland, Diss. TH München 1938; Robert Oetker, Die betriebliche Werbung im Dienste des Vierjahresplanes. Eine Studie über die Aufgaben der betrieblichen Werbung als Mittel der Verbrauchslenkung im Dienste der Rohstoff- und Nahrungsfreiheit, Würzburg-Aumühle 1938; Hans Bliss, Verbrauchslenkung in der entfalteten Wirtschaft, Berlin 1942). Die „freiwillige“ Verbrauchslenkung war Teil der heute wieder so zackig beschworenen Kriegsbereitschaft und erlaubte einen direkten Weg in die nicht mehr freiwillige Verbrauchslenkung, in die Rationierungswirtschaft.

Die Grundkonturen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung sind damit umrissen. Wie aber wurde ein solch langfristig ausgerichtetes Maßnahmenbündel im Detail umgesetzt? Die kleine, in der Forschung höchstens erwähnte, nicht aber näher untersuchte Propagandakampagne „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ kann helfen, einen genaueren Eindruck von der praktischen Umsetzung der „freiwilligen“ Verbrauchslenkung zu gewinnen. Beginnen wir mit den Namen selbst, die wie bei so vielen vergleichbaren Kampagnen unmittelbar sprechend waren.

Sprechende Namen: Roderich, Schleckermaul und Gemahlin Garnichtfaul

Auch wenn die Hausfrau im Mittelpunkt der Ernährungspropaganda stand, so adressierte die Kampagne doch das eigentliche Problem der Verbrauchslenkung, nämlich den deutschen Mann. Seine Ernährung sollte im patriarchalischen Verständnis kräftig sein, insbesondere Fleisch enthalten. Genussmittel schienen unverzichtbar, zumal Alkoholika und die Importgüter Tabak und Kaffee. Neuem gegenüber, so die gängige Vorstellung, war er kaum aufgeschlossen, seinen „süßen Zahn“ befriedigte er häufig mit Schokolade, also importierten Kakaoprodukten.

Der Name „Roderich, das Schleckermaul“ spiegelte diese Problemlage. Roderich, der Ruhmreiche, war ein Name germanischen Ursprungs. Felix Dahns (1834-1912) 1875 veröffentlichtes Trauerspiel „König Roderich“ zeigte ihn in Aktion, als Anführer im Kampf des christlichen Europas gegen die muslimischen Araber, den er, der Westgotenkönig, in der Schlacht am Rio Guadalete 711 verlor, bei der er auch ums Leben kam. Die Folge war die maurische Eroberung eines Großteils der iberischen Halbinsel. Während Roderich hierzulande nurmehr selten ist – der Aufrüster Roderich Kiesewetter ist eine Ausnahme – sind Abwandlungen wie Rodrigo (Spanien), Rod oder Rory (Großbritannien) andernorts heute noch gängig. Doch die Kampagnenfigur erinnerte nur an einen vormals rechten Krieger, denn Roderich war ein gutmütiger und wohlsituierter, lenkbarer und begeisterungsfähiger Mann.

Roderich und seine Gemahlin (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 442)

Roderich war zudem Schleckermaul, ein Vorkoster der Nation, ein Erkunder ihm zuvor unbekannter kulinarischer Welten. Der Begriff steht heute einerseits für einen Feinschmecker und Genießer, anderseits für einen naschenden, bewusst wählenden Menschen (Heinz Köpper, Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache, Bd. 7, Stuttgart 1984, 2484; Synonym-Wörterbuch. Sinnverwandte Wörter, völlig neu bearb., Gütersloh und München 2001, 409). Im 19. Jahrhundert waren diese Nuancen noch vermengt, der Schlecker naschte, gern auch über die Grenzen des Schicklichen hinaus. Das Schleckermaul-Leckermaul wurde im frühen 19. Jahrhundert negativ bewertet, war nicht robust, verzärtelt, konnte Krisen nicht bestehen (Deutsches Schimpfwörterbuch oder die Schimpfwörter der Deutschen, Arnstadt 1839, 59; Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauche in Landschulen, 3. verm. Aufl., Nürnberg 1795, 51-52; Leckermaul, in: Lehrreiche Erzählungen für Kinder, Wien 1816, 16-17). Nicht der Mann, sondern Löwen, Schoßhündchen und insbesondere Bären galten als Schleckermäuler (Christoph v. Schmid, Der Tanzbär. (Ein Kinderlied.), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, Augsburg 1844, 72-73, hier 73; [Alfred Edmund] Brehm, Illustrirtes Thierleben, bearb. v. Friedrich Schödler, Bd. 1, Hildburghausen 1870, 122, 211, 334; Carl Lemcke, Populäre Aesthetik, 3. verm. u. verb., Leipzig 1870, 161). Kinder sollten vor dem Schleckern bewahrt werden, ihren Gelüsten nicht nachgeben, vielmehr mit Verstand auswählen und essen (Friedrich Harder, Theoretisch-praktisches Handbuch für den Anschauungs-Unterricht, 8. Aufl., Hannover 1884, 70-71). Ein Leckermaul war demnach kein echter Kerl, konnte auch eine Frau sein. Die sexuelle Doppeldeutigkeit von Lecken und Naschen war im 19. Jahrhundert jedenfalls präsent, die Psychoanalyse machte den Zusammenhang nach der Jahrhundertwende gar zeitweilig modisch (Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, bearb. v. Moriz Heine, Leipzig 1885, Sp. 486; Helene Böhlau, Eine kuriose Geschichte, Westermann Illustrierte Deutsche Monatshefte 74, 1892, 106-128, hier 116; Wilhelm Stekel, Die Sprache des Traumes, 2. verb. Aufl., München und Wiesbaden 1922, 198). Im 20. Jahrhundert wurde Schleckermaul dennoch zunehmend seltener verwandt, findet sich nach dem Zweiten Weltkrieg eher in Kinderliteratur, in den deutschen Übersetzungen etwa von Winnie Puuh, Disneys Lustigen Taschenbüchern oder Micky Maus. In der NS-Kampagne verwies Schleckermaul auf die stete Gefahr des Fehlessens, des völkischen Selbstmordes mit Messer und Gabel. Sie wies zugleich aber einen Ausweg, denn die staatspolitisch gebotenen Nahrungsmittel mussten nur ansprechend zubereitet und dargeboten werden, um Roderich zum Vorkämpfer guter deutscher Kost zu machen.

Seine Gemahlin war aus anderem Holz geschnitzt, denn sie war prinzipientreu, konnte sich an die neue, mit dem Vierjahresplan eingeleitete Zeit anpassen. Sie war das Gegenteil des altbekannten Zerrbildes der verschwenderischen Ehefrau: „Sie verdäntlet und verschächert alles / was ihr under die Händ kommet / kauffet darvon allerley Zucker und Schleckerwerck / sutzlet / küsslet und beisset den gantzen Tag wie die kleinen Kinder / ihr Schleckermaul hat den gantzen Tag kein Ruhe“ (J[ohann] J[oseph] P[ock], Ein Schlecker-Maul, in: ders., Gantz neu eröffneter reichlich und wol eingerichteter Glücks und Unglücks-Hafen […], Augsburg 1716, 126-129, hier 128). Der Name Garnichtfaul spiegelte demgegenüber ihre Flexibilität, ihre Erfinderinnengabe: „Die Eva, die list’ge, die war gar nicht faul, / und steckte dem Adam ‘nen Appel in’s Maul“ (Kneip-Bibel, hg. v. d. Turnkneipe zu Schönlinde, 2. verb. u. verm. Aufl., Schönlinde 1882, 64). Der Begriff Gemahlin wies zurück in frühmittelalterliche Zeiten, zielte jedoch weniger auf einen sozial höheren Status des Ehepaars, sondern auf deren Geistesverwandtschaft – prinzipientreu bei ihr, willig bei ihm. Die Gemahlin war Anvertraute, Bindeglied zwischen Gemeinschaft und dem eigenen Haus. Der im Verlöbnis, dem Eheversprechen, enthaltene rühmende und preisende Vorschuss war in ihrer Bezeichnung noch präsent, prägte die ganze Kampagne.

Die Charakterisierung Garǀnichtǀfaul tauchte in Kinderliedern oder populärer Lyrik vor der NS-Zeit vereinzelt auf, doch eher aufgrund des gefälligen Reimes auf Maul, Gaul und anderes (Heinrich Seidel, Der Hasel im Kohl, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. XI, Leipzig 1894, 181-182, hier 181; A. Haas, Volkstümliche Tänze und Tanzlieder in Pommern. (Fortsetzung.), Blätter für Pommersche Volkskunde 5 (1897), 177-181, hier 179). Als Name knüpfte dieser sprechende Vornamenersatz jedoch an die bereits während der 1920er Jahre aufkommenden, anschließend dann gängigen begrifflichen Charakterisierungen fiktiver, meist gezeichneter Personen an. Frau Knauserich und ihr Gatte scheuten die Ausgaben für ein Zeitungsabonnement, Frau Klar nutzte Geliermittel für das Marmeladekochen, parallel mit Garnichtfaul reinigte Frau Säuberlich die Wohnung mit Henkels IMI (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1934, Nr. 52 v. 22. Februar, 14; Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 142 v. 22. Juni, Beil., 1; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 81).

Gemahlin Garnichtfaul bezeichnete die fiktive Volksgenossin, die dem Führer strebsam zuarbeitete, die Vorbild war und in doppelter Liebe aufging, die zu ihrem Roderich und die zu ihrem Volk: „Nur die Frau, die Verständnis hat für das politische Ziel der Partei, für die politischen Aufgaben und die Tätigkeit ihres Mannes und auch ihrer Kinder innerhalb der Organisationen, kann und wird die ihr daraus erwachsenden Aufgaben innerhalb der Familie und Haushalt richtig erfüllen, und die nicht zu vermeidenden Opfer wie das Alleinsein, die vermehrte Arbeit mit Freuden auf sich nehmen. […] Die Frau welche die politischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten versteht, wird sich mit Selbstverständlichkeit in die Forderungen des Vierjahresplanes, der Verbrauchslenkung der Marktwaren finden“ (Appell an die Außenseiter!, Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 36 v. 21. Februar, 35). Frau Garnichtfaul brach mit dem alten Trott, war eine nationalsozialistische Gefährtin, Praktikerin einer neuen Zeit: „Sie bevorzugt Lebensmittel, die zur jeweiligen Jahreszeit reichlich und frisch vorhanden sind, und hilft nach Möglichkeit durch eine gesunde Vorratswirtschaft den Markt zu entlasten und vorübergehende Verknappungen zu überwinden“ (Die Hausfrau kämpft mit, Zeno-Zeitung 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 8). Gatte Roderich, das alte Leckermaul, wurde durch sie vor Abwegen bewahrt, auf den Pfad der völkischen Tugend, gar ins Rampenlicht einer Kampagne geführt.

Bilder und Gedichte: „Roderich, das Schleckmaul, und Gemahlin Garnichtfaul“

Die Propagandakampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war die erste zusammenhängende Begleitaktion zum ansonsten etablierten Instrumentarium der Verbrauchslenkung. Getragen wurde sie von den in der Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung vertretenen Institutionen. Sie schloss einerseits an die vielgestaltigen „Kampf dem Verderb“-Kampagnen an: „Kampf um 1 ½ Milliarden“ (1936/37), „Brot als kostbarstes Volksgut“ (1937/38) und vor allem „Groschengrab“ (1938/39) mobilisierten für die Erhaltungsschlacht, für eine neue deutsche Hauswirtschaft. Sie informierten, emotionalisierten und visualisierten zugleich ein zentrales staatspolitisches Problem: Die Kampagnen kreisten in immer neuer, immer wieder variierter Form um die Mobilisierung der Haushalte, der Hausfrauen, für die Wehr- und Kriegsbereitschaft des Deutschen Reiches, für die Bewältigung zeitweiliger Mangellagen. Sie alle griffen auf Zeichnungen und Comics, auf Parolen und Texte, auf Geschichten und Gedichte zurück. Nicht das eine Bild, die eine Serie, waren charakteristisch, sondern ein Beziehungsgeflecht unterschiedlicher ineinander übergreifender Einzelelemente. „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war der Versuch, ähnliches für die umfassendere Aufgabe der Verbrauchslenkung zu wagen.

Die neue Kampagne knüpfte zugleich an frühere Werbekampagnen für deutsche Nahrungsgüter an. Betrachten wir etwa Milcheiweißpulver: 1934 wurde es einem neuartigen Milcheiweißbrot beigemengt, im April 1938 als eigenständiger Austauschstoff aus heimischer Magermilch angepriesen. Plakate, Klischeezeichnungen, ein Rezeptdienst und ein Werbefilm ergaben eine breit gefächerte Werbung, die vom Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront, der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel und Vertretern der Milchwirtschaft getragen wurde (Käse, Berlin 1938 (Ernährungs-Dienst, Folge 21), 25). Solche Kampagnen hatten Gleichschrittcharakter, vermengten Markterschließung und unternehmerische Dienstbarkeit. Rewe-Aufsichtsratsvorsitzender Blohm feierte das Engagement seiner Einkaufsgenossenschaft als Ausdruck unternehmerischen Dienstes an der Gemeinschaft („Rewe“-Lebensmittel-Großhandel, Oberbergischer Bote, 1938, Nr. 101 v. 2. Mai, 9).

Motiv I: Kartoffeln und Motiv II: Quark, Sauerkäse, Trockenmilch (Der Führer 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 15)

Fünf Bilder und Gedichte bildeten den appellativen, allseits sichtbaren Teil der Kampagne. Sie waren einheitlich aufgebaut, erschienen dadurch als visuelle Einheit. Roderich und seine Gemahlin dienten jeweils als Hingucker, verdeutlichten auch, dass es hier um die tägliche Kost ging. Der jeweils gleiche Rahmen unterstrich dies. Er präsentierte die Fülle der deutschen, der heimischen Küche. Alle fünf Motive hatten eine identische Überschrift, endeten mit Verweisen auf ergänzende Informationen und Rezepte in dem jeweiligen Blatt. Die Serie gab Einblicke in einen Privathaushalt, Kinder fehlten. Das Gedicht widmete sich der Interaktion zwischen Roderich und seiner Gemahlin, folgte deren Gedanken. Das Paar kannte einander, die Vorlieben des Haushaltsvorstandes lenkten die Hauswirtschaft seiner Gattin. Und doch gab es abseits des kleinen Glücks noch eine andere Dimension: die des vernünftigen und sparsamen Wirtschaftens, die neuer preiswerter Lebensmittel und Speisen. Von Verbrauchslenkung oder den Anforderungen der Volksgemeinschaft war nicht die Rede, ging es doch vordergründig um die Befriedigung von Roderichs kulinarischen Vorlieben. Doch Frau Garnichtfaul wusste das Leckermaul mit der neuen Zeit zu versöhnen, kochte gute, einfache Speisen, verwandelte heimische Lebensmittel und verarbeitete Produkte in schmackhafte Gerichte, so recht im Sinne ihres Gatten. Die Gedichte mündeten daher in einen im damaligen Ehealltag eher seltenen Lobpreis. In fetter Type hieß es summarisch: „Leckermaul jedoch spricht froh: / ‚Teures Weib – nur weiter so!‘“.

Motiv III: Fisch und Motiv IV: Zucker (Stuttgarter Neues Tagblatt 1939, Nr. 96 v. 25. Februar, 9 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 26)

Was heimelig daher kam, hatte allerdings einen klaren Adressaten: Leser und Leserinnen wurden in vier der Gedichte direkt angesprochen. Jeweils in Klammer wurde gefragt, ob sie nicht ähnlich handeln wolle, ob sie nicht auch schon einmal solche Speisen probiert hätten. Das war die Quintessenz des allseitigen, allgemeinen, die Leser mit einbeziehenden Lobes der Klugheit und Sparsamkeit der Garnichtfaul.

Formal handelte es sich um ein zwölfzeiliges und vier zehnzeilige Gedichte. Die Sprache war einfach, ebenso der Paarreim, Fremdworte fehlten. Jedes Gedicht stellte andere Lebensmittel und Produkte vor und in den Mittelpunkt. Das Entree bildete die Kartoffel, ein kulinarischer Tausendsassa, wandlungsfähig, eiweißhaltig, der deutschen Erde abgerungen. Es folgten Milchprodukte, genauer Quark, Sauerkäse und Trockenmilch, allesamt Eiweißträger. Die Gemahlin lebte offenbar in einer arbeitsteiligen Konsumgesellschaft, griff auf verarbeitete Lebensmittel zurück, vertraute den Angeboten auch der Industrie. Sie war modern, wählte mit Bedacht, ging mit der Zeit. Es folgte der eiweißreiche Fisch, ebenfalls vielgestaltig, nicht nur frisch eine Leckerei, eine wohlfeile Alternative zum Fleisch. Die vorgestellten Produkte waren, mit Ausnahme von Quark und Sauerkäse, länger haltbar, konnten daher die Tafel dauerhaft prägen. Der Reigen wurde mit dem stärkenden Gaumenkitzler Zucker fortgesetzt, der physiologiewidrig als Fettsparer präsentiert wurde. Die Anzeigenserie endete süß, verlängerte den Einsatz des deutschen Rübenzuckers als Mahlbegleiter. Das neu geschaffene Deutsche Pudding-Mehl und das frühere Palmmarknährmittel Sago waren Kartoffelprodukte, schlossen den Reigen der heimischen Angebote. Man fand die von Garnichtfaul genutzten Waren nicht alle im umkränzenden Rahmen, denn dieser zeigte nur einen Ausschnitt der quasi unbegrenzten Möglichkeiten der deutschen Agrarwirtschaft, der deutschen Lebensmittelindustrie. Der Rahmen war Vermittler der gesunden, der richtigen Ernährung. Und angesichts der neuen und gewiss stetig verbesserten Austauschprodukte waren weitere Angebote nicht ausgeschlossen. Garnichtfaul würde darauf achten, Roderich wohlig genießen.

Motiv V: Deutsches Pudding-Mehl und Sago (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 84 v. 25. März, 6)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ wurde erstmals am Samstag, dem 28. Januar 1939 abgedruckt (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6; Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 11; Verbo 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 18; Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Der Start erfolgte reichsweit, in Tages- und Wochenzeitungen. Viele begannen die zwingend abzudruckende Serie erst am Sonntag, dem 29. Januar, vereinzelt auch später (Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 30 v. 3. Februar, 11; Stolles Blätter für Landwirtschaft, Gartenbau, Tierzucht 1939, Nr. 8 v. 19. Februar, 4; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 79 v. 1. April). Die fünf Motive erschienen alle zwei Wochen, entsprechend endete die Serie zumeist am 25. oder 26. März. Die vorgesehene Reihenfolge wurde fast durchweg eingehalten, ein doppelter Abdruck der gleichen Anzeige blieb Ausnahme (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 21; ebd., Nr. 41 v. 17. Februar, 7).

Die Serie stand allerdings nicht für sich alleine, die drei- bis vierzeiligen Verweise auf ergänzende Rezepte in den jeweiligen Druckwerken machten dies unmissverständlich klar. Sie fassten zugleich den Gegenstand des Gedichts zusammen, nannten nochmals die darin angesprochenen Lebensmittel und Produkte. Diese Verweise konnten von der jeweiligen Zeitschrift verändert werden. So verwies das Neue Wiener Tagblatt explizit auf die Folgerezepte in der jeweils mittwochs erscheinenden Rubrik Frau und Haushalt (Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 37). Zeitschriften lenkten das Interesse vielfach auf die Rezepte in den Tageszeitungen (Die Wehrmacht 3, 1949, Nr. 3, 22), konnte darauf aber auch verzichten (Fliegende Blätter 190, 1939, 187). Die Verweise waren mehr als Beiwerk, auch wenn in vielen Tageszeitungen entsprechende Rezepte nicht in der gleichen Ausgabe zu finden waren. „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war eben deutlich mehr als eine fünfteilige, nett anzusehende Werbeserie. Die hier präsentierten Zeichnungen glichen der Spitze eines Eisbergs, waren lediglich der direkt sichtbare Teil einer wesentlich umfangreicheren und vielgestaltigeren Verbrauchslenkung. Die namensgebenden „Sinnfiguren der ernährungswirtschaftlichen Erziehungspropaganda“ (Erich Kupke (Bearb.), Jeder denkt mit!, Berlin 1939, 37) standen für etwas Größeres, etwas Wichtigeres. Dazu gilt es, genauer hinzuschauen.

Narrative Vergemeinschaften: Roderich und Garnichtfaul als Marker

NS-Propaganda war Verbundpropaganda. Bleibt ihre Analyse bei den scheinbaren Kernmotiven stehen, so verkennt sie deren Funktion, missversteht das Teil als Ganzes. Bilder allein verniedlichten und verharmlosten NS-Propaganda, ignorierten die verschiedenen, eng miteinander verzahnten Ebenen der Einflussnahme. Bilder sind offener, interpretationsgefälliger, luden daher stärker ein als eindeutigere, stärker fordernde Texte. Die Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ enthielt solche einordnenden Begleittexte. Und sie bestand aus einer Kaskade ergänzender Texte und Bilder der in den Bild- und Gedichtanzeigen angesprochenen Lebensmittel und Produkten. Wie schon zuvor bei Groschengrab wurde auch diese NS-Propagandakampagne zudem durch Comics erweitert und gedoppelt. Die daraus resultierende Vielgestaltigkeit war charakteristisch für die NS-Propaganda, stand damit aber auch im Gefolge breiter gefasster Werbekampagnen der späten 1920er Jahre. Für die Funktionseliten war Wirksamkeit entscheidend, Akzeptanz und Aufgreifen völkisch vermeintlich notweniger Konsumweisen. Propaganda sollte gefällig dargeboten werden, durfte nicht langweilen. Blicken wir näher auf kleine Geschichten von Roderich und Garnichtfaul, die deren Bilder und Gedichte ergänzten.

Erinnerung an das Gesehene, an das Gelesene (National-Zeitung 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 11)

Die allmonatlichen Ernährungsrichtlinien, die wöchentlichen Küchenzettel und Rezepte griffen immer wieder über das haushälterische Feld hinaus, forderten den Gleichschritt: „Wir Frauen müssen wirklich denken, sollen wir nicht mitschuldig werden an gewissen kleinen Schwierigkeiten, die es überhaupt nicht gäbe, dächten alle Frauen logisch“ (Frauengeständnisse, Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 10). Solche unangemessenen Schuldzuweisen konnten jedoch auch freundlicher verpackt, Teil eines positiven Narrativs werden – ergänzende Geschichten über Roderich und seine Garnichtfaul zeigten dies. Kurz nach dem Beginn der Serie erschien reichsweit eine erste Home Story. Sie vertiefte das Thema der entrahmten Milchprodukte, nutzte vor allem aber das positive Vorbild der Gemahlin als völkisches und frauliches Ideal. Sie habe es als „Ergebnis langjähriger Bemühungen“ geschafft, ihrem Roderich typisch männliches Habenwollen ohne Bedacht abzugewöhnen. Dank ihr wisse er, dass jegliche Speise ihre Zeit habe, Eierkuchen nicht ganzjährig möglich seien. Von ihrer Klugheit inspiriert richte er sich nach „der Geberlaune der Natur“, die ihm „zu einer regelrecht strotzenden Gesundheit“ verholfen habe. Der eigens ausgesandte „Sonderkorrespondent für Gaumenkitzel“ berichtete auch über die Kunst der Garnichtfaul, aus einfachen Dingen wie Quark Genüsse zu zaubern. Roderich sei zufrieden, einer der nicht allzu zahlreichen „einwandfrei gefütterte[n] Männer“, die um gutes Essen als Grundlage „ihres ehelichen Glücks“ wussten. In ehelichem Einvernehmen habe Garnichtfaul, „die erst denkt und dann kocht“ jetzt gar mit einem Kochbuch begonnen, einer „Liebeserklärung an ihren lieben Roderich“. Sie gehe alle an: „Wer noch ein Herz hat, spitzt sein Ohr / wir stellen ihm als ‚Glücksfall‘ vor: / Herr Roderich das Leckermaul und seine Gattin Garnichtfaul!!“ (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 10; Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 29 v. 3. Februar, 3; Verbo 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 20; Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 33 v. 8. Februar, 9).

Dieser Text wurde fast überall gedruckt, dabei teils leicht variiert: Mal ohne das Schlussgedicht (Der Erft-Bote 1939, Nr. 22 v. 31. Januar, 7; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6), mal vermengt mit dem Lobpreis anderer Lebensmittel (Herner Anzeiger 1939, Nr. 34 v. 9. Februar, 7), mal aber auch schon mit nachfolgenden Rezepten. Festzuhalten ist der unterhaltende Ton der Propaganda, zugleich aber die gezielte Nutzung allgemeiner Gefühle, allgemeiner Sehnsüchte. Eheprobleme würden sich lösen lassen, Gleichgültigkeit könne der Liebe weichen, das tägliche Kochen geadelt werden – man müsse nur die ohnehin vom NS-Staat immer wieder propagierten Anregungen umsetzen. Derartige Lenkungsbestrebungen waren an sich einfach zu durchschauen; Männer dürften sich an der tumben Roderichrolle auch gestoßen haben. Doch war an der Geschichte nicht vielleicht doch etwas dran?

Freundlich wandten sich die nicht mit Namen zeichnenden Propagandisten auch an die vermeintlichen Trotzköpfe der Nation, unvernünftige Wesen fernab des Normalen. Sie wollten Blattsalat im Winter speisen, Eier im Spätherbst, beharrten auf Gänseschmalz, wo doch gerade Butter allgemein verfügbar war, bevorzugten ihr Fleisch gegenüber einer saisonal gebotenen vegetarischen Leckerei. Roderich hätte ihnen erzählen können, dass die „Natur“ auch das „verwöhnteste Leckermaul nicht Hunger leiden“ lasse, vorausgesetzt jemand gehe mit offenen Augen einkaufen und wisse, wie man aus dem Gebotenen einen Genuss bereiten könne (Die Speisekarte der Trotzköpfe, Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 21; analog Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 59 v. 11. März, 23; ohne das nachfolgende Gedicht Bremer Zeitung 1939, Nr. 77 v. 18. März, 14; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 61 v. 11. März, 4). Sorge nicht, lebe – das war die implizite Botschaft, natürlich nur auf Basis haushälterischer Kompetenz. Im völkischen Ringen setzte sich der Stärkere durch – und Gemahlin Garnichtfaul unterstrich dies mit ihrer sparsamen Klugheit, ihrem Dienst für die Belange sowohl ihres Gatten als auch der Volksgemeinschaft.

Gegen die Trotzköpfe: Vertrauen in die staatliche Agrar- und Ernährungspolitik (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5)

Das vierte Bild-/Gedichtmotiv wurde analog begleitet, war doch von Deutschland die Rede, Deutschland als der größten Markthalle der Welt. Hierzulande würde die Natur alles bieten „wonach der Gaumen verlangt“, Auslandsware sei nicht erforderlich. Frau Garnichtfaul wisse das, habe sich umgeschaut, liege nicht auf der Bärenhaut wie manch andere Hausfrau. „Renntierschinken mit Burgundertunke und anschließendem Bananensalat“ sei nicht möglich. Sie wisse aber, dass jegliches Lebensmittel seinen Stichtag habe, dass man die Natur nicht zwingen könne. Sich anzupassen sei die Kunst, dann aber könne sie zaubern, aus einfachen Dingen Freude bereiten (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 59 v. 10. März, 5; Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 22).

Weitere Geschichten um Roderich und Garnichtfaul gaben mehr von ihrem Glück preis, hatten sie doch einen geliebten und gehegten Stammhalter. Roderich war mit Säuglingsspeisen nach Ende des Stillens nicht recht vertraut, kritisierte daher das aus seiner Sicht gefährliche Verfüttern von Kartoffeln. Garnichtfaul aber beendete das nächtliche Schreien des hungrigen Babys mit einem wohlig schmatzend verzehrten süßen Brei. Roderich verstand nicht, wohl aber seine Gemahlin, denn diese hatte das Deutsche Pudding-Mehl, das neue Kartoffelstärkeprodukt, genutzt. Sie ließ ihren Gatten kosten und nun leuchtete es ihm ein: Es gab eine noch größere Vielfalt als herzhafte Brat-, Pell- oder Salzkartoffeln, als die unverzichtbaren Klöße und Kartoffelpuffer. Und freudig gedachte man – Propaganda braucht solche Legenden – des alten Fritzes, der doch die Kartoffel hierzulande heimisch gemacht hatte (Vom Säugling, der nach Kartoffeln schreit!, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 73 v. 27. März, 6; Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; gekürzt Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 72 v. 25. März, 7).

Die neuen Kartoffelprodukte mussten erklärt werden, entsprechend gab es weitere Geschichte mit den beiden Propagandafiguren. Sie erschienen nun bereits als gute Bekannte, als Alltagsbegleiter. Und angesichts des kommenden Osterfestes nutzte sie, die Gemahlin, DPM und Sago, um all den Anforderungen der Festzeit zu genügen. In der Geschichte selbst war das nicht mehr exotisch. Garnichtfaul war nun, nach Ende der Bilder und Gedichte, Teil einer breiten Hausfrauenschar, die jene belächtete, die von den neuen, den guten heimischen Dingen nichts wussten. Die Volksgemeinschaft freute sich daher zurecht auf „großartige Festtagskuchen“, deren „reichlicher Verbrauch nunmehr für alle Zeiten zur Selbstverständlichkeit wird“ (Gute Sachen, die alltags und festtags Freude machen, Die Glocke, Ausg. F, 1939, Nr. 98 v. 11. April, 5).

Texte wie diese verwiesen auf das Eigengewicht von Roderich und Garnichtfaul, die sich zwar noch nicht von den Grundmotiven der Serie emanzipiert hatten, die aber in neue Zusammenhänge gestellt wurden. Das galt auch für den letzten gedruckten Text mit dem glücklichen Ehepaar. Roderich schwelgte darin von „Schweinerem“, von Salami und Schmalz. Seine Gemahlin aber wusste, dass es der Gehalt machte, dass Fleisch durch Zucker bestens ersetzt werden konnte. So die Wissenschaft, so auch ihre Küche. Roderich war nicht ganz überzeugt, doch einen Pudding, schön süß, den wollte er sich durchaus munden lassen (Kein Krach um Jolanthe, Verbo 1939, Nr. 139 v. 19. Juni, 8).

Im Nachhinein mögen derartige Narrative nicht sonderlich ansprechend wirken, doch sie waren integraler Bestandteil dieser Propagandakampagne. Wie parallel beim Groschengrab gewannen die Figuren weitere Konturen, mit denen die Propagandisten weiterarbeiten konnten. Ein ungleiches, aber miteinander glückliches Ehepaar wie Roderich und Garnichtfaul hätte Serienheld werden können, doch der Krieg setzte anstelle der noch beschworenen „freiwilligen“ eine bald allgemein verpflichtende Verbrauchslenkung, die Rationierung. Nun bedurfte es der beiden nicht mehr, Lebensmittel wurden zugewiesen und aufgerufen. Doch Roderich und Garnichtfaul hatten bereits gängige Lebensmittel des Weltkrieges propagiert, ebenso Informationen und Rezepte, um aus diesen etwas Schmackhaftes zu machen.

Empfohlener Konsum: Text- und Rezeptmassen als Kern der Kampagne

Für die Propagandisten waren Roderich und Garnichtfaul Mittel zum Zweck, so wie die Mehrzahl der großen Lümmel, der willigen Deutschen für die NS-Oberen. Sie blickten schon weiter, hin auf die im Krieg unverzichtbaren Lebensmittel und Produkte, für die das glückliche Ehepaar freudig warb. Es ging den Funktionseliten um „unermüdliche, ständig wiederkehrende Hinweise“, darum, „die Menschen allmählich dazu zu erziehen, daß ihnen auf dem Gebiet der Nahrungsverwertung nichts mehr unwichtig erscheint“ (Gerstorfer, Die Propaganda im Dienste der Aufklärungsaktion „Kampf dem Verderb“, Unser Wille und Weg 6, 1936, 355-357, hier 356, auch unten). Eine einheitliche Propaganda war unverzichtbar, daher einheitliche Bilder und Gedichte, daher einheitliche ergänzende Texte. Doch die Propagandisten wussten um die Grenzen derartiger Vorgaben, daher waren auch Journalisten und praktische Hausfrauen gefragt, denn sie und nur sie kannten die Besonderheiten vor Ort: „Generalrezepte können dafür natürlich nicht gegeben werden, da es sich gerade darum handelt, unter keinen Umständen nach einer Schablone zu arbeiten, sondern die Aktion in dem vielfältigen Mosaik all der Kleinigkeiten, aus der sie sich zusammensetzt, unter ständig neuen Blickpunkten zu beleuchten“. Bilder, Gedichte und Ergänzungsnarrative bildeten daher nicht den Kern der Propagandaserie. Dieser bestand aus zahllosen dezentral publizierten und erstellten Texten und Rezepten. Wer die Kampagne als wenig „lokalbezogen“ charakterisiert, spiegelt die eigene Oberflächlichkeit (Hans Veigl und Sabine Dermann, Alltag im Krieg 1939-1945. Bombenstimmung und Götterdämmerung, Wien 1998, 32). Gewiss, auch die kleinteiligen Texte und Rezepte bewegten sich im vorgegebenen Rahmen und nutzten einheitliche Vorlagen. Ihre (bedingte) Überzeugungskraft gewannen sie aber aus der genaueren Kenntnis und Darstellung lokaler Fährnisse, lokaler Konsummuster. Dies gilt es genauer in den Blick zu nehmen, auch um einen Eindruck von der Alltagspropaganda kurz vor Kriegsbeginn zu erhalten.

Stete Lenkung, schon vor Roderich-Garnichtfaul-Kampagne 1938 (Ernährungsdienst 1938, Nr. 20, 1)

Anfang 1939 war die Versorgungslage im Deutschen Reich weiterhin angespannt. Butter, Eier, Fleisch und vielfach auch Gemüse fehlten, verbrämt wurde dies mit der „anomalen Witterung im Dezember und Januar“. Die Alltagspropaganda griff dies auf, sah dieses als paradoxen Widerhall der Erfolge der NS-Regimes, denn das Ende der Arbeitslosigkeit und die moderat steigende Lebenshaltung hätten den „Verbrauch verfeinerter Nahrungsmittel“ deutlich erhöht (Hat die Verbrauchslenkung versagt?, National-Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 15 für beide Zitate). Versorgungsschwierigkeiten seien Übergangserscheinungen auf dem Weg hin zu besseren Zeiten, zur entwickelten nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Meckern sei unangemessen: „Wir vergessen oft sehr schnell, wenn es uns einmal schlecht gegangen ist und richten dafür unsere Aufmerksamkeit um so härter auf die Ereignisse und damit natürlich auch auf Unzulänglichkeiten des Augenblickes“ (Unsere Ernährung im Februar, Bremer Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 10). Verglichen mit der immer wieder in Erinnerung gerufenen Zeit der Hungerblockade und der Weltwirtschaftskrise war das zwar richtig, lenkte vom Problem aber ab.

Die Kartoffel als wichtigstes deutsches Lebensmittel (Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Die allwöchentliche, allmonatliche Verbrauchslenkung hielt längst gegen, die Ernährungsrichtlinie empfahl für den Februar mehr Fisch, Käse und Quark, Butter und Trockenmilch (Fett, Fleisch, Eier. Dinge, an denen wir sparen müssen – Dafür Käse, Fisch, Kartoffeln, Herforder Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Das erste Bild und Gedicht der Roderich-Kampagne propagierte zudem vermehrt Kartoffeln – und die Knollenfrucht wurde nun gesondert empfohlen. Dazu dienten erstens Artikel, in denen ihre stoffliche Zusammensetzung (Eiweiß, Nährsalze und Vitamine) ebenso gepriesen wurde, wie ihre vielgestaltige küchentechnische Verwendung. Als Ergebnis beträchtlicher, propagandistisch übertriebener Ertragssteigerungen müsse auch der Konsument seinen Beitrag leisten: „Der 15prozentigen Erzeugungssteigerung muß eine ebensolche Verbrauchssteigerung folgen“ (Die Kartoffel in der Ernährung, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 10). Der Reichsnährstand hatte dazu einen Rezeptdienst ausgearbeitet, die Zeitungen verbreiteten zudem Teile einer vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung erstellten illustrierten Broschüre, um Kartoffeln mittags, aber auch abends „zum Hauptträger unserer Mahlzeiten“ werden zu lassen (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Die Zeitungen präsentierten sich als Dienstleister, als Freund und Helfer (Schwerter Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 4; Altenaer Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 28. Januar, 11; Sächsische Elbzeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Haushaltsparole war: „Die wahrhaft kluge Hausfrau spricht: ‚Verachtet die Kartoffeln nicht!‘“ (Gevelsberger Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 15).

Nur geringe regionale Verzehrsunterschiede: Kartoffelkonsum 1908/09, 1927/28, 1937 (Spiekermann, 1997, 278)

Kartoffeln waren damals das wichtigste Lebensmittel im Deutschen Reich. 1938 wurden ca. 174 Kilogramm pro Kopf und Jahr verzehrt, die regionalen Verzehrsunterschiede waren vergleichsweise gering (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg et al., Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, 247-282). Doch die Rekordwerte der Vorkriegszeit mit rechnerisch mehr als fünf Zentnern, fast 700 Gramm täglich, erreichte man nicht mehr. Außerdem wurden Kartoffeln vor dem Zweiten Weltkrieg bereits zunehmend verarbeitet, verdrängten als staatlich gefördertes Kartoffelwalzmehl vielfach Getreide, waren als Kartoffelstärke Alltagsgut. Die in der Propaganda klar dominierenden Speisekartoffeln machten nur ein gutes Viertel der Ernte aus, Pflanz- und vor allem Futterkartoffeln mehr als die Hälfte. Die deutsche Landwirtschaft deckte den kompletten Kartoffelbedarf, so dass die Kartoffel immer stärker nationalisiert wurde und auch das öffentlich geehrte und geheiligte Brot, insbesondere das aus importierten Weizen, teilweise substituieren sollte.

Auf diese Struktur baute die Begleitpropaganda zu Roderich und Garnichtfaul vierfach auf. Erstens wurde versucht, den Verzehr insgesamt zu erhöhen. Eine kulturelle Aufladung, etwa durch Bezug an den frühen Lobpreis der Kartoffel durch Mathias Claudius (1740-1815) (Ein Loblied der Kartoffel, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 23), erhöhte die Wertschätzung der Alltagsspeise, vielgestaltige Rezepte riefen andere Zubereitungsformen in Erinnerung. Gerade in den Hauptverzehrsregionen in West- und Norddeutschland galt abseits von Salz- und Bratkartoffeln, abseits der tunkenbewehrten Sättigungsbeilage, „sie ist es wert, um ihrer selbst willen gegessen zu werden“ (Kultur der Kartoffel! Es geht um den guten Geschmack, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 72 v. 12. Februar, 3). Es folgten gleich vierzehn Rezepte bis hin zu verschiedenen Torten und Gebäcken.

Zweitens ging es darum, den Kartoffelkonsum vor allem im Süden und Südwesten des Reiches stärker einzubürgern, wurden in Bayern doch nur zwei Drittel der Reichsdurchschnittswerte erreicht, noch weniger in der „Ostmark“. Während parallel das hohe Lied regionaler Küche gesungen wurde, der 1928 erstmals erwähnte Spätzle-Eintopf Gaisburger Marsch zum typisch südwestdeutschen Gericht mutierte, propagierte man zugleich das weitere Vordringen der Kartoffel als Teil des Zusammenwachsens der einen deutschen Nation: „Ja, es war wirklich arg für die armen Norddeutschen, in Baden zu leben. Aber wie gesagt: es war. Inzwischen ist die Kartoffel auch im klassischen Lande der Mehlspeisen zu großer Beliebtheit gelangt“ (Kartoffeln ein nahrhaftes Gericht, Badische Presse 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 19). Rezepte für Kartoffelgnocchi und in Schale überbackene Kartoffeln errichteten eine Brücke zu regional üblicheren Zubereitungsweisen: „In jeder Gegend unseres Vaterlandes gibt es […] besondere Spezialitäten, zu denen in der Hauptsache Kartoffeln verwandt werden“ (Der Kartoffel ein volles Lob! Wer kennt die Zahl der Kartoffelgerichte?, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 48 v. 29. Januar, 3).

Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20; Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Drittens unterstützte man die häufigere Verwendung von Kartoffeln als warme Abendmahlzeit, als Suppe, als verarbeitete Beikost. Suppen, salziger Kartoffelpudding und Kartoffelsalate wurden in immer neuen Variationen vorgeschlagen (Was man aus Kartoffeln machen kann, Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 17). Wer hatte denn schon einmal Kartoffeln in die Milchsuppe eingebaut? (Geseker Zeitung 1939, Nr. 12 v. 28. Januar, 5) Wer traute sich an Kartoffelschnee, Kartoffelrand, Kartoffelringe, gefüllte Kartoffeln und Eierkartoffeln? (Honnefer Volkszeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Kartoffelbällchen und Leberkartoffeln konnten den Tag durchaus abrunden (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 7). Auch Kartoffelnudeln oder gewickelter Kartoffelkuchen boten Ergänzungen zum abendlichen kalten Mahl (Billig, nahrhaft, abwechslungsreich. Kartoffelgerichte, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 32 v. 1. Februar, 22). Und für nährende Resteessen bot sich selbstverständlich die Kartoffel an (Kartoffeln so und so!, Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Wer all das nicht kannte oder konnte, für den gab es Kochkurse des Deutschen Frauenwerks (Essener Anzeiger 1939, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

Viertens schließlich koppelte man die Kartoffelpropaganda mit Fragen des Kampfes gegen den Verderb, den im Krieg systematisch propagierten Pellkartoffeln und der richtigen Einlagerung (Der Neue Tag 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 5). Die Propaganda für höheren Kartoffelverzehr vermischte sich dabei zunehmend mit den Empfehlungen verarbeiteter Kartoffelprodukte.

Erlaubt man sich etwas mehr Distanz, so praktizierte die nationalsozialistische Verbrauchslenkung zentrale Ideen der späteren Salutogenese (Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997). Es galt, den Volkskörper zu optimieren, seine Stärken zu stärken, seine Schwächen zu schwächen. Die Propaganda, nicht nur die von Roderich und Garnichtfaul, lenkte nicht nur, sondern bot Hilfestellungen, um das Leben im völkischen Verbund zu verstehen, es auch auszufüllen. Sie bot Handreichungen, um das eigene Haushalten und Konsumieren trotz äußerer Fährnisse handhabbar zu gestalten. Und durch die kulturelle Aufladung, durch die Integration von staatspolitisch bedeutsamen Aufgaben, schuf sie Sinngehalte, ein Leben mit Weihegehalt. Dieser Bezug erscheint erst einmal paradox, denn als Konzept wurde die Salutogene Anfang der 1970er Jahre just aufgrund von Untersuchungen an weiblichen KZ-Häftlingen entwickelt. Doch das für Aaron Antonovsky (1923-1994) zentrale Kohärenzprinzip wurde bereits von den für die Verfolgung und Verhaftung verantwortlichen Funktionseliten systematisch eingesetzt. Propaganda ist ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft, dient heterogenen Zwecken.

Wir könnten nun fortfahren: Auch beim Quark, angesprochen im zweiten Motiv der Bilder und Gedichte, gab es unmittelbar daran andockende Einzeltexte (Quark zum Mittag- und Abendessen, Lippstädter Zeitung 1939, Nr. 60 v. 11. März, 11), einen reichsweit abgedruckten, allerdings vielfältig variierten Grundtext (Erzeugung und Verbrauch von entrahmter Milch, Geseker Zeitung 1939, Nr. 18 v. 11. Februar, 5; Annener Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6; Aachener Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Die Magermilchprodukte Quark, Sauerkäse und Trockenmilch wurden darin als billige und hochwertige, in der Küche vielfach einsetzbare, einfach zu handhabende Produkte vorgestellt, ausführlich von den Anstrengungen und Verwertungsnöten der Milchwirtschaft berichtet. Es folgte eine große Zahl regional angepasster Rezeptvorschlägen. Topfenspeisen in Österreich, im Nordwesten eher Quark mit Hering, mit Haferflocken, als Brotaufstrich anstelle von Butter (Topfen in gemüsearmer Zeit, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 22; Der Erft-Bote 1939, Nr. 30 v. 11. Februar, 3; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1939, Nr. 16372 v. 11. Februar, 15). Quark wurde als modernes Lebensmittel präsentiert, als „guter deutscher Speisequarg“ geadelt (Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 44 v. 12. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten ihn endlich würdigen, ihn nicht mehr als „rechtes Stiefkind“ behandelten, die Fülle der damit möglichen herzhaften und süßen Speisen sich zu eigen machten (Quarg macht sich beliebt, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 21 mit Rezepten für Quark-Appetitbissen und einer süßen Quarkspeise).

Quark mit Pellkartoffeln und neue Verpackungen (Die Käse-Industrie 11, 1938, 34 (l.); ebd. 9, 1936, 123)

Da die Struktur derartig ergänzender und erweiternder Ernährungspropaganda jedoch meist repetitiv ist – Grundtext, Nebentexte, ergänzende Abbildungen und dann vor allem regional passende Rezepte – will ich nur noch auf zwei der insgesamt acht mittels Roderich und Garnichtfaul in den Blickpunkt gerückten Produkte genauer eingehen, nämlich die seit Jahrzehnten intensiv beworbene Fleischalternative Fisch und das Deutsche Pudding-Mehl als Prototyp einer wachsenden Zahl neuer Ersatzprodukte.

Fischpropaganda vor und während der NS-Zeit (Das Blatt der Hausfrau 1930/31, H. 13, 37 (l.); Die Glocke, Ausg. F 1937, Nr. 108 v. 22. April, Unterhaltungsblatt, 4)

Fisch, vorrangig Seefisch, war seit der Vorkriegszeit ein immer wieder intensiv beworbenes Lebensmittel. Verglichen mit der Kartoffel war sein Konsum regional weitaus disperser, zudem handelte es sich um ein hochgradig saisonales Produkt. Frischfisch war hygienisch heikel, für einen reichsweiten Absatz fehlte es trotz der 1896 erfolgten Gründung der Deutschen Dampfschiffereigesellschaft Nordsee lange an Kühltechnik für Transport und Ladenverkauf. Marinaden und Konserven dienten sowohl als Gaumenkitzel als auch als billige, meist gesalzene Ware, doch ihr Geschmack sagte nicht jedem zu, auch der Sättigungswert einer Hauptspeise wurde vielfach in Frage gestellt. Demgegenüber standen ernährungsphysiologische und handelspolitische Vorteile, entlastete Fisch doch die Devisenbilanz des Deutschen Reiches. Seit 1926 intensivierte der „Ausschuss für Seefischpropaganda“ die „Aufklärung“ der Konsumenten, doch es war vor allem der niedrige Preis der Massenware, der den Pro-Kopf-Konsum während der Weltwirtschaftskrise moderat auf etwa zehn Kilogramm steigen ließ (Spiekermann, 2018, 374-375).

Fisch als Erweiterung der deutschen Nahrungsgrundlagen (National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 5. Februar, 5)

Für das NS-Regime hatte Seefisch vor allem den Charme, dass mit der Hochseefischerei eine zuvor unerschlossene „Kolonie“ genutzt werden konnte. Es galt auf „unterseeischen Weiden“ zu ernten, dadurch die Devisenbilanz zu verbessern, die Aufwendungen für die Fleischproduktion zu vermindern. Günstige Preise und eine „Arbeitsschlacht“ zugunsten deutscher Fischer erlaubten eine rasche Steigerung des Konsums auf 1936 dreizehn Kilogramm pro Kopf – und die Funktionseliten intensivierten die Forschungsinvestitionen und Subventionen nochmals massiv (Spiekermann, 2018, 376-378). Der Vierjahresplan sah eine Verdopplung der Anlandungen bis 1940 vor – und das, obwohl im Kriegsfall die Hochseefischerei, wie auch der parallel noch stärker ausgebaute Walfang, aufgrund der britischen Seemacht nicht fortgeführt werden konnte. Die weiter professionalisierte Fischpropaganda unterstrich, dass es um das Erreichen der Kriegsfähigkeit ging, dass dann die Karten neu gemischt werden sollten.

Roderich und Garnichtfaul wurden demnach in eine bestehende, immer wieder erneuerte Propaganda integriert. Seit 1936 zeigten sich nämlich die Grenzen einer raschen Umstellung der Alltagskost: Die Mengenausweitung war nicht begleitet von einer entsprechenden standardisierten Warenqualität. Es fehlte an elektrischer Kühlung, in den Läden, in der Transportinfrastruktur. Bis 1938 konnte der Konsum nur noch um ein halbes Kilogramm gesteigert werden. Es ging eben nicht mehr um die Brechung von Vorurteilen, auch der recht niedrige Preis der Standardarten war angesichts eines moderat steigenden Lebensstandards nicht mehr so wichtig. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne griff dies bedingt auf, zielte vorrangig auf drei Punkte:

Erstens setzte sie – im Gegensatz zu anderen Teilen der Serie – die Moralisierung der Hausfrauentätigkeit fort: „Deutsche Frau, in Deiner Hand liegt es, den Fischverbrauch des deutschen Volkes zu verdoppeln!“ (Auf jeden Tisch zweimal in der Woche Fisch!, Niederrheinische Volkszeitung 1939, Nr. 57 v. 26. Februar, 7). Auch wenn begleitend Kochkurse des Deutschen Frauenwerks angeboten wurden, so handelte es sich doch um eine Fortsetzung der stark fordernden allgemeinen Fischkampagne, die sich vom zumeist freundlicheren Tenor des Herrn Roderich und seiner Gemahlin parolenhaft-plärrend abhob. Auch sachlicher klingende Texte erinnerten eher an die allgemeinen Ernährungsrichtlinien der steten Verbrauchslenkungspropaganda: „Der Fisch ist also die einzige ‚Kolonialware‘, die wir aus eigener Erzeugung haben“ (Jetzt ist auf dem Meer Erntezeit, Siegblätter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 6; Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Schwerter Zeitung 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten zugreifen, zumal ihnen die Verarbeitung der nicht verkauften Filets zu Fischmehl zeigefingernd zur Last gelegt wurde. Laufende Propagandamaßnahmen begrenzten somit den Spielraum der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne.

Die Serie bot wiederum einen Grundtext, der die Anstrengungen der Fischwirtschaft anschaulich schilderte, daraus eine völkische Reziprozität ableitete. Darüber aber waberte eine aufgrund des Vierjahresplanes bestehende Pflicht zum massiv höheren Konsum; derartiges erfolgte ansonsten indirekt und implizit, mit Bezug auf die technischen Fortschritte des NS-Regimes und der „klugen“ Gefolgschaft der Hausfrauen (Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 47 v. 25. Februar, 11; Wittener Tagblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 3). Auch die in der allgemeinen Fischwerbung stets präsente Heldengeschichte des kernigen Fischers, der als Teil des ewigen Kampfes zwischen Natur und Mensch dem Meer einen lebensnotwendigen Anteil entriss, wurde nicht aktiviert.

Zweitens wurde auch der Fischkonsum als Problem regionaler Ernährungsdisparitäten verstanden. Württemberger Leser wurden gezielt angesprochen „weil Württemberg sowohl bei Fischen wie bei Kartoffeln je Kopf der Bevölkerung nahezu den geringsten Durchschnittsverbrauch aller Gaue des Reiches hat“ (Eßt mehr Fische!, Verbo 1939, Nr. 35 v. 10. Februar, 15). Mit Verweis auf neue hygienische Fischverkaufsautos und vermehrte spezialisierte Fischverkaufsstellen wurde versucht, bestehende Befürchtungen über mangelhafte Qualität und Frische der im Norden angelandeten Fische aufzugreifen und abzumildern. Dazu diente auch eine große Zahl von Fischkochkursen der Deutschen Frauenschaft. Sie sollten Qualitätskriterien, wie klare Augen, dunkelrote Kiemen, fehlenden Fischgeruch oder eine noch widerständige Textur verankern, den Hausfrauen die Angst vor Fehleinkäufen nehmen. Das „Drei-S-System“ wurde vermittelt, das Säubern der Fische und ihrer Filets, das Säuern mit regional passenden Marinadengrundstoffen und schließlich das Salzen zur Tilgung des Seegeruchs. Hinzu kamen basale Kochfertigkeiten, insbesondere das seit den 1920er Jahren immer wieder empfohlene Dünsten – und schließlich Kochrezepte, die den regionalen Geschmacksvorstellungen entsprachen. Fischeintopf mit Hülsenfrüchten wäre in Bayern kaum zu vermitteln gewesen, eher schon geräucherter oder gegrillter Fisch mit Kraut.

Gesund und preiswert: Argumente für höheren Fischverbrauch in Österreich (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8)

Entsprechend nahmen drittens Fischrezepte einen besonders großen Raum ein. In Bochum befanden sich unter 21 einschlägigen Rezepten Fischfilet mit Speck, Fischragout, Fischkartoffelpuffer und „Sauerbraten von Kabeljau“, also Mock Food. Das passte zu regionalen Spezialitäten, zur üblichen Kost (Kleine Vorschläge für den Fischtag, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 5). Im Sauerland gab es unter anderem Deutsche Fischsuppe, Labskaus, grüne Heringsröllchen, Bratfisch, Fischfilet mit Sauerkraut, auch ein Bauern-Essen mit Bückling und Räucherfischauflauf (Fisch auf mancherlei Art, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 9). Rheinische Zeitungen enthielten Karpfen mit Meerrettichtunke, Fischschnitten auf rheinische Art, Fischauflauf mit Weißkohl und Bücklingswürstchen, Kohlrollen mit Fischhackmasse sowie Fischpuffer als Variation der beliebten Reibekuchen mit Apfelmus: „Gibt es etwas Abwechslungsreicheres? Es soll 1000 verschiedene Eierspeisen geben, aber es gibt noch viel mehr Fischgerichte“ (Fisch auf den Tisch!, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 4).

Derartige Rezepte suggerierten nicht nur die Nähe zu bestimmten regionalen Küchen, sondern auch, dass richtig zubereiteter Fisch schmackhaft, leicht verdaulich und sättigend sein konnte (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 8). Er mutierte so zum „Fleischvorrat, den uns das Meer gibt“. Ja, die große Zahl der Spezialitäten mochte die Hausfrau teils überfordern, doch dann war Garnichtfaul eine Wegweiserin: „Ein wenig Phantasie hilft über alles hinweg“ (Fleisch aus dem Meer, Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8). Die Rezepte hatten den Vorteil haushälterischer Kontrolle, einer selbstbestimmten Qualität bei relativ billigen Grundstoffen. Doch für die Propagandaserie war ebenso charakteristisch, dass sie auch neuartige verarbeitete Fischprodukte vorstellte, so etwa die „nach einigen Fehlschlägen“ als kaltgeräucherte „Vollkraft-Fische“ in der Wehrmacht und im Reichsarbeitsdienst eingeführten Hauptgerichte („Vollkraft-Fische“ – eine neue Art, Herner Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Fisch wurde kräftige, männliche Speise. Daran hätte auch Roderich seine Freude gehabt. Derweil lief die allgemeine Fischpropaganda weiter, fordernd und weniger subtil (Werbewelle für den Fisch, General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 11).

Werbung für Deutsches Pudding-Mehl, Sago und Kartoffelmehl (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 85 v. 26. März, 4)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ hatte eine besondere Bedeutung für die Einführung neuartiger Austauschstoffe, bot diesen einen breiteren Rahmen als üblich. Verbrauchslenkung war dann Anpreisung des Neuen, war Werbung für hochverarbeitete Produkte. Die Propagierung des Deutschen Pudding-Mehls war Teil eines Protzes des Neuen, zeigte zugleich aber die Grenzen der Verbrauchslenkung deutlich auf. DPM wurde als eines der vielen „Kinder der Kartoffel“ präsentiert, neuartige Lebensmittel aus dem Rohstoff Kartoffel. Es war Teil einer brüstend posaunten Zahl von mehr als hundert Knolleninnovationen, mit deren Hilfe die Selbstversorgung Gestalt annehmen sollte („Kinder“ der Kartoffel, Der Gesellschafter 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 8).

Als Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne kam die Vorstellung jedoch recht spät, denn DPM wurde bereits im Sommer 1938 eingeführt: „Etwas ganz Neues auf dem Gebiet unserer Ernährung ist das Deutsche Puddingmehl, das unter dem Qualitätszeichen DPM und in einheitlicher Packung nunmehr überall dem Verbraucher angeboten werden wird“ (Wir bitten zu Tisch, Die Glocke, Ausg. F 1938, Nr. 171 v. 27. Juni, 6). Ganz neu war es natürlich nicht, denn schon während des Ersten Weltkrieges gab es intensive Forschungen für einen Ersatz der aus Mais, Weizen oder aber Reis hergestellten Stärkeprodukte. Ein deutsches Puddingmehl wurde schon 1933 auf staatlichen Druck hin angeboten, die Nährmittelindustrie damals verpflichtet, 3000 Tonnen einzukaufen und zehn Prozent billiger als das aus Importmais hergestellte Mondamin anzubieten (Kartoffeln als Auslandsrohstoffersatz, Hamburger Fremdenblatt 1933, Nr. 347 v. 16. Dezember, 9). Das Produkt scheiterte, der Kartoffelgeschmack war zu dominant.

DPM-Einführung nebst späterem Küchenarrangement (Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7)

Bis 1938 war die Produktionstechnologie deutlich verbessert worden, und eine schön gestaltete illustrierte Broschüre stellte das Knollenprodukt der Öffentlichkeit vor (Kinder der Kartoffel, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938). Die Ernährungsrichtlinien lenkten die reichsweite Öffentlichkeit im Juli auf das neue Ersatzprodukt, auch wenn es damals kaum erhältlich war, erst „demnächst allgemein im Verkehr erscheinen“ sollte (Was essen wir im Juli?, Schwarzwald-Wacht 1938, Nr. 157 v. 8. Juli, 5; analog Der Patriot 1938, Nr. 150 v. 1. Juli, 4). Auch die Ernährungsrichtlinien von August und September 1938 empfahlen einen bevorzugten Konsum von DPM, während kleinere Artikel über kontinuierliche Lieferschwierigkeiten berichteten (Ernährungsrichtlinie für die Verbrauchslenkung im August 1938, Die Glocke, Ausg. F, 1938, Nr. 218 v. 13. Juli, 7; Was essen wir in der kommenden Woche?, Solinger Tageblatt 1938, Nr. 200 v. 27. August, 12). Noch Anfang Oktober hieß es hoffnungsfroh, dass „in allernächster Zeit Packungen mit der Aufschrift ‚DPM‘ in den Handel kommen“ würden (Deutsches Puddingmehl, Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13). Und schon schrieben eilfertige Federn „vom allseitig erfolgreiche[n] Absatz von deutschem Puddingmehl“ (Marktumschau für die Hausfrau, Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 250 v. 26. Oktober, 7). Doch erst im Dezember dürfte es breiter verfügbar gewesen sein – nun beworben durch eigens in den Läden angebrachte Plakate. Nun wurden auch Einsatzmöglichkeiten genauer vorgestellt: Es diente als Puddingpulver, Nährmittel, ergänzendes Speisenpulver, als Weizenzusatz beim Backen („DPM.“ – schnell begehrt, Die Glocke am Sonntag 11, 1938, Nr. 50, 20). DPM war, wie viele Ersatzmittel dieser Zeit, auch nach seiner Einführung ein Produkt auf der Suche nach einem Markt, einer Marktnische. Rezepte folgten, spiegelten dabei regional unterschiedliche Nachtischvorlieben (Pudding für den Festtagtisch, Wiener Zeitung 1938, Nr. 315 v. 8. November, 8). Einschlägige Speisen lockten in Illustrierten, gaben einen Abglanz der kulinarischen Möglichkeiten von DPM und anderen Ersatzprodukten aus Kartoffeln.

Nettes Arrangement: Sagoauflauf und Flammeri aus Deutschem Pudding-Mehl (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 443)

Die Einführungswerbung lief im neuen Jahr mit Einzelartikeln im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung weiter; abseits der schon angelaufenen Roderich-Garnichtfaul-Kampagne. DPM symbolisierte Nahrungsfreiheit und deutsche Schaffenskraft (Süsse Speisen aus Kartoffeln?, Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7; Noch unbekannt?, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 11). Das Neue wurde deutlich vom früheren Kartoffelmehl abgegrenzt, als feines Produkt positioniert, das „einen wahrhaften Siegeszug durch die Küchen angetreten“ habe (Nahrhafte Kartoffel-Produkte, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 45 v. 14. Februar, 3). Im Februar schienen die Liefer- und wahrscheinlich ebenfalls bestehenden Qualitätsprobleme behoben, doch offenkundig wurde es „noch nicht allgemein von den Hausfrauen seinem Wert nach gewürdigt und darum gekauft“ (Das jüngste Kind der Kartoffel, Lenneper Kreisblatt 1939, Nr. 41 v. 17. Februar, 7). Die Einsatzmöglichkeiten schienen kaum begrenzt, auch die Kranken- und Kinderkost wurden anvisiert. Eine Rezeptbroschüre gab es kostenlos im Einzelhandel, Kochkurse der Deutschen Frauenschaft offerierten praktische Hilfen, minderten die offenkundige Skepsis: „Dieses Puddingmehl riecht und schmeckt nicht etwa nach Kartoffeln. Wer die Herkunft nicht weiß, glaubt kaum, daß man aus ‚gewöhnlichen‘ Kartoffeln ein so hochwertiges Nahrungsmittel machen kann. Es klebt und kleistert nicht, wie Kartoffelstärke das sonst tut, erinnert also in nichts mehr an die Kartoffel“ (Puddingpulver, aus Kartoffeln hergestellt, Buersche Zeitung 1939, Nr. 50 v. 20. Februar, 3). Allseits verwandt, könne DPM die 1938 noch produzierten 45.000 Tonnen Maisstärke ersetzen. Die Lebensmittelindustrie konnte zaubern, DPM wurde somit ein Produkt auch für Gemahlin Garnichtfaul und ihre Kochkünste.

Hinweis und Angebot von Deutschem Pudding-Mehl (Neckar-Bote 1939, Nr. 71 v. 23. April, 8 (l.); Ostfriesische Tageszeitung 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 4)

Die Integration des Deutschen Pudding-Mehls in die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne diente demnach der Verstärkung einer ohnehin laufenden Einzelwerbung im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung. Das schien nötig, denn 1937/38 wurden nach offiziellen Angaben lediglich 400 Tonnen DPM hergestellt (Der Haushalt 11, 1939, Nr. 6, 7). Neuerlich veröffentlichten die Zeitungen vielgestaltige Rezepte, auch kleine Geschichten versuchten das Interesse auf das neue, nunmehr verfügbare Produkt zu lenken (Illustrierte Kronen-Zeitung 1939, Nr. 14076 v. 26. März, 18; Die Wiener Bühne 16, 1939, H. 14, 38). Innerhalb der Kampagne war das Pulver Grundstoff für Süßspeisen, für Nachtische, andere Einsatzmöglichkeiten traten dagegen in den Hintergrund. Doch trotz der Propaganda konnte DPM weder Mais- noch Weizenstärke verdrängen. Erst als Teil der Rationierungswirtschaft etablierte es sich als Kindernährmittel neben Gustin, Maizena, Mondamin, Rizena und Weizenin (Der Gesellschafter 1939, Nr. 246 v. 20. Oktober, 4). In dieser Nische hielt es sich auch in der Nachkriegszeit. Der durch den Roman „Ich denke oft an Piroschka“ bekannt gewordene Schriftsteller Hugo Hartung (1902-1972) – Simplicissimus-Mitarbeiter und NSDAP-Mitglied – präsentierte es im freundlichen NS-Jargon noch 1960 (Hugo Hartung, Kinder der Kartoffel, Köln 1960).

Ernährungsrichtline im September 1938: Präsenz aller von Roderich und Garnichtfaul empfohlener Lebensmittel (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 409 v. 4. September, 5)

Wie kann man angesichts dieser Fallstudien die Wirkung sowohl der allgemeinen Verbrauchslenkung als auch der Kampagne um „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ einschätzen? Bei der Antwort hilft vielleicht ein Blick auf die visuell nett aufbereitete Ernährungsrichtlinie vom September 1938. Darin fand man bereits alle Lebensmittel und Produkte, die dann von Roderich und Garnichtfaul prominenter präsentiert wurden. Dies spiegelt die 1938/39 zunehmend geringere Resonanz der staatlichen Lenkungsmaßnahmen, also just zu einem Zeitpunkt, in dem die durch den Vierjahresplan in Gang gesetzte lebensmitteltechnologische Forschung nennenswerte Ersatzmittel produzierte. Sie wurden während des Krieges über die Rationierung allgemein verbreitet, waren wichtige Zwischenschritte für die zunehmend industriell gefertigten Lebensmittel der Supermarkt-Ära und auch unserer Zeit.

Die Kampagne spiegelte das Beharren der NS-Funktionseliten auf einen tiefgreifenden Wandel in der Ernährungswirtschaft, im Alltagskonsum. Die von Roderich und Garnichtfaul goutierten Produkte waren allesamt deutsch, doch zugleich Prototypen einer neuen Konsumkultur, mit höherem Verarbeitungs- und Conveniencegrad, mit einem für die Konsumenten scheinbar offenkundigen Zusatznutzen. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne steht für das immer wieder verfeinerte Bemühen, das Volk, den großen Lümmel, in die vom NS-Regime und seinen Funktionseliten anvisierte Richtung zu leiten. Sie war Beispiel für einen weniger strikten, ansatzweise freundlicheren Ton in der Propaganda. Das war Teil einer nationalsozialsozialistischen Binnenmoral, denn totaler Krieg und Höflichkeitspropaganda waren kein Widerspruch, sondern aufeinander bezogen. Freudig Kochen, genussvoll essen, am Weg des Führers arbeiten, und dann erschrocken sagen: Davon haben wir nichts gewusst. Propaganda dient der Effizienzsteigerung in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften.

Visueller Flankenschutz: Begleitkampagnen durch Materndienste

Mit diesen vielen Informationen und Überlegungen könnte man enden. Doch dann hätte man immer noch nur einen Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne betrachtet, den unbedingten Willen einer immer wieder neu ansetzenden, immer wieder verfeinerten Verbrauchslenkung unterschätzt. Denn die Kampagne, über deren Hauptzeichner wir nichts wissen, wurde von anderen aufgegriffen und gedoppelt. Roderich und Garnichtfaul hatten – wie auch andere Propagandafiguren der NS-Zeit – Wiedergänger.

Einen Monat nach dem Beginn der Propagandakampagne trat ein neuer, ein zweiter Roderich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Thematisiert wurde das zweite Motiv der Serie, der vom Schlecker Roderich geliebte und von Gemahlin Garnichtfaul gut hergerichtete Quark. Das war der Start von fünf weiteren Doppelbildern, kleinen Comics, die dem Leser Geschmack, Gehalt und Preiswürdigkeit heimischer Lebensmittel und Produkte nochmals freundlicher, nochmals unterhaltender darboten. Gezeichnet von dem Karikaturisten D. Aschau (ein Pseudonym des 1902 in Würzburg geborenen und für die Reichsbank tätigen Volkswirtes Friedrich Oechsner (Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T2, Nr. 1630/038), handelte es sich um ein ergänzendes, nicht verpflichtendes Angebot des Scherl-Materndienstes. Dieser wurde 1916 von einem Konsortium um Alfred Hugenberg (1865-1951) gekauft, einem Schwerindustriellen, DNVP-Politiker, Medienmogul und späteren Superminister im ersten Kabinett Hitler. Der Materndienst versorgte während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur vorwiegend kleinere Zeitungen mit Texten und vielfach antirepublikanischen Meinungsartikeln. 1933 wurde er vom Zentralverlag der NSDAP, dem Franz-Eher-Verlag, übernommen und etablierte sich rasch auch als reichsweit präsenter Bildmaterndienst. Solche ergänzende Bildmotive waren typisch für die NS-Propaganda, unterstrichen deren staatspolitische Bedeutung. Kampagnen wie Groschengrab, Herr Bramsig und Frau Knöterich oder auch Kohlenklau wiesen ähnliche Ergänzungen auf.

Quark als kulinarischer Genuss (Velberter Zeitung 1939, Nr. 58 v. 27. Februar, 6)

Die zweite Roderich-Serie – das Leckermaul wurde jeweils namentlich genannt, nicht aber seine allerdings stets sichtbare Gemahlin Garnichtfaul – folgte etwa zwei Wochen nach den ersten Vertiefungstext des glücklichen Ehepaars, widmete sich wie dieser dem Quark, dem heimischen. Die Einzelbilder erschienen dann in etwa zweiwöchigem Abstand. Die Zeitungen nutzten allerdings ihren Freiraum, eine einheitlich getaktete Erscheinungsweise gab es nicht (Ersterscheinung Die Glocke 1939, Ausg. E, Nr. 57 v. 27. Februar, 4; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 63 v. 5. März, 22; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 55 v. 6. März, 7). Die jeweils zwei Zeichnungen waren zumeist horizontal angeordnet, doch sie erschienen auch vertikal, verortet meist in der ersten oder letzten Spalte (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 94 v. 25. Februar, 5). Scherl ergänzte dadurch sein Angebot eingängiger Zeichnungen der monatlichen Ernährungsrichtlinen oder aber besonders zu bevorzugender Lebensmittel. Comics waren zur NS-Zeit keineswegs verpönt, sondern ein wichtiges Element der Propaganda. Gewiss, sie hatten im Deutschen Reich eine andere Form als in den vielfach stilbildenden Vereinigten Staaten. Doch als Kindergeschichten, als humoristische Einschübe, in zahlreichen Werbekampagnen und nicht zuletzt in staatspolitischen Angelegenheiten waren sie mehr als eingängige Bildtupfer.

Frühe Propagandazeichnung Aschaus für die Reichsanleihe 1937 (Mitteldeutsche Nationalzeitung 1937, Nr. 234 v. 26. August, 8)

Zeichner Aschau hatte sich seit 1937 einen gewissen Namen gemacht, als er die Reichsanleihe beworben hatte, ein wichtiges Element der Aufrüstung. 1938 illustrierte er auch den vom Regime vorgeschriebenen Goldmünzeneintausch, der die Devisenprobleme des Deutschen Reichs kurzfristig minderte (Mitteldeutsche Saale-Zeitung 1938, Nr. 188 v. 13. August, 7; ebd., Nr. 203 v. 31. August, 7). Aschau erweiterte sein Arbeitsfeld, seine Zeichnungen zielten auf den rechtzeitigen Weihnachtseinkauf oder richtiges Wäschewaschen (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1938, Nr. 290 v. 11. Dezember, 6; Meinerzhagener Zeitung 1939, Nr. 15 v. 19. Januar, 6). Unmittelbarer Vorläufer der Roderich-Serie war eine sechsteilige Ergänzung der 1938/39 veröffentlichten Groschengrab-Propaganda (Rheinisches Volksblatt 1938, Nr. 146 v. 27. Juni, 3; Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 315 v. 11. Juli, 5; Durlacher Wochenblatt 1938, Nr. 168 v. 21. Juli, 5; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 214 v. 15. August, 15; ebd., Nr. 226 v. 18. August, 8; Mindener Zeitung 1939, Nr. 207 v. 5. September, 8).

Trockenmilch als kräftigende Proteinquelle (Tremonia 1939, Nr. 64 v. 5. März, 2)

Die einzelnen Motive der Roderich-Serie hatten zumeist eine ansprechende, fett gesetzte und häufig mit einem Ausrufezeichen versehene Überschrift. Sie wurde unterhalb der beiden Bilder präzisiert und in fetter Type auf die eigentliche Botschaft zugeschnitten. Trockenmilch war der Aufmacher des zweiten Motivs, doch das Feld war breiter, umfasste die preiswerte Eiweißversorgung. Jedes Motiv bestand zudem aus zwei je vierzeiligen Gedichten, die zugleich den Inhalt der Zeichnungen näher erläuterten. Aschau arbeitete zudem mit den nicht gar so häufigen Sprechblasen, dynamisierte dadurch die Einzelgeschichten. Die abonnierenden Zeitungen besaßen bei der typographischen Gestaltung relative Freiheit, texteten teils andere Überschriften, ließen diese aber auch mal weg (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 104 v. 3. März, 4; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 67 v. 20. März, 4).

Während sich die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne bildlich auf das Ehepaar konzentrierte, hatten die beiden in Aschaus Serie nicht nur ein anderes Aussehen, sondern standen auch stärker im Leben, waren Teil der Volksgemeinschaft. Roderich & Co. waren eine nationalsozialistische Musterfamilie, ein virtueller Aktionsverbund, verwandt mit der zu Beginn des Krieges präsentierten Vorbildfamilie Pfundig, die viele Widrigkeiten der Heimatfront meisterte. Roderich kommentierte und korrigierte, war somit öffentlich aktiv, während Garnichtfaul zwar auch außerhalb des Hauses erschien, dort aber kaum das Wort ergriff. Ihre Wirkungsstätte war das Heim, hier salutierten ihr die anderen Familienmitglieder, priesen ihre zeitgemäße Kochkunst, ihre schmackhaften Gerichte. Die Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren folgsam ruhig. Heiner trieb erfolgreich Sport, seine Schwester spornte den großen Bruder an. Einen Hund gab es ebenfalls, wie putzig…

Fisch von Garnichtfaul überzeugt auch notorische Meckerer (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 118 v. 11. März, 7)

Roderich und Garnichtfaul waren nun Überzeugungstäter, Verbrauchsmissionare. Genuss und Leckerhaftigkeit wurden weiterhin angesprochen, doch das traute Glück war nicht mehr vorrangig. Stattdessen stand in der dritten und vierten Episode die allgemeine Konsumsteigerung im Mittelpunkt. Der Meckerer wurde mit Backfisch bekehrt (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 59 v. 10. März, 3; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 66 v. 18. März, 18; Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 78 v. 1. April, 15), Frau Dürr mit Zucker auf die rund-gebärfähige Idealfigur der deutschen Frau gebracht. Fett wurde in beiden Fällen gespart, Roderich sei Dank!

Zucker für den wohlgeformten Frauenkörper (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 81 v. 5. April, 6)

Die Zucker-Episode wurde in sehr unterschiedlicher Weise abgedruckt, die Doppelstruktur teils aufgelöst, teils neue Überschriften gewählt (Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 76 v. 30. März, 3; Derner Lokal-Anzeiger 1939, Nr. 77 v. 31. März, 8). Auch die Aschau-Serie endete süß, präsentierte DPM als schmackhafte Billigkost, die einen zusätzlichen Kinobesuch ermöglichte. Das Ende zog sich allerdings noch hin, denn auch nach dem gängigen Letztabdruck Ende April gab es bis tief in den Mai hinein noch weitere Abdrucke (NS-Volksblatt für Westfalen 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 5; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 116 v. 20. Mai, 9). Roderich & Co. boten völkisches Anschauungsmaterial, endeten mit der Überschrift „Wir wünschen wohl zu speisen“ (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 94 v. 22. April, 9).

Deutsches Pudding-Mehl, schmackhaft und billig (Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 93 v. 22. April, 9)

Aschau zeichnete auch nach dieser Ergänzungsserie weiter, liefert nach Kriegsbeginn passgenaue politische Propaganda gegen Engeland (Mindener Zeitung 1939, Nr. 246 v. 10. Oktober, 10; Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt 1939, Nr. 246 v. 21. Oktober, 1; Mindener Zeitung 1939, Nr. 301 v. 23. Dezember, 14; Rahdener Wochenblatt 1940, Nr. 77 v. 4. Februar, 4; ebd., Nr. 83 v. 9. Februar, 4). Weihnachten 1940 durfte er nochmals Überraschungen humoristisch aufs Papier bannen (Volks-Zeitung für den rheinisch-westfälischen Industriebezirk 1940, Nr. 305 v. 27. Dezember, 7; Westfälischer Beobachter 1940, Nr. 179 v. 28. Dezember, 67). Aschau-Oechsner konzentrierte sich seither auf seine Arbeit zur finanzpolitischen Mobilisierung des Deutschen Reichs. Er konnte seine Karriere nach dem Krieg ohne größere Friktionen fortsetzen, war seit 1952 Vorstandsmitglied der Landeszentralbank Württemberg-Hohenzollern, ab 1959 Vizepräsident der Landeszentralbank Bayern. Zu seiner Pension erhielt der frühere NS-Propagandist 1967 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Roderich und Garnichtfaul wurden während des Krieges zunehmend vergessen, die Lebensmittelrationierung wirkte effizienter als der freie Warenkauf. Genuss und privates Glück waren auf die Zeit nach dem Endsieg vertagt worden.

Dank an die UdSSR: NS-Kriegspropagandist Aschau (Nachrichten und Anzeiger für Naunhof […] 1940, Nr. 82 v. 8. April, 6)

Resümee

Die Verbrauchsregelung des NS-Regimes basierte auf einem bis weit ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichenden Instrumentarium. Selbstversorgung schien schon vor dem Ersten Weltkrieg wirtschafts- und machtpolitisch geboten. Die Vorteile globaler Arbeitsteilung überwogen jedoch deutlich, die weit verbreitete Vorstellung vom kurzen Krieg ließ das Risiko von Versorgungsengpässen gering erscheinen. Der Erste Weltkrieg beendete derartige Illusionen. Einerseits wurden im langen Übergang zur Rationierungswirtschaft der Städter erst freiwillige, dann mit Zwang versehene Mittel entwickelt, an die der NS-Staat seit 1936 konsequent anknüpfte: Marktübersichten und Wochenspeisezettel, Kochkurse und Speisungswerke, Ersatzmittelwirtschaft und intensivierte angewandte Forschung blieben Kernelemente des raschen Übergangs zu einer freiwilligen Verbrauchslenkung, die nach nur drei Jahren in eine relativ effiziente Rationierung mündete. Anderseits nutzte der NS-Staat auch das Erbe der Weimarer Republik, dessen Agrarmarketing und Produktwerbung alliierte Anregungen aufgriffen und in vielgestaltige, aufeinander bezogene, mit Marken und Bildern unterlegte Kampagnen führten. Während der Zeit der Präsidialkabinette und der frühen NS-Zeit wurde das regulative Instrumentarium für eine Verbrauchslenkung geschaffen, die Massenorganisationen der NSDAP boten personelle Ressourcen für eine zuvor nur aus dem Weltkrieg bekannte Breitenwirkung. Für Aufrüstung und letztlich Krieg wurde Selbstversorgung ein zentrales staatspolitisches Ziel, das anfangs vor allem mit einer Ausweitung der heimischen Agrarproduktion und begrenzten Interventionen in die Lebensmittelproduktion erreicht werden sollte. Doch „Nahrungsfreiheit“ blieb eine Illusion, die Importabhängigkeit des Deutschen Reichs bei Rohstoffen, Investitionsgütern, Futtermittel und Genussmitteln, Eiweißen und Fetten konnte vermindert, nicht aber beseitigt werden.

Seit 1936 wählten die Funktionseliten einen anderen Weg, dessen Konturen zuvor ausführlich dargestellt wurden. Es gelang dem Regime ein reichsweites, noch freiwilliges Verbrauchslenkungssystem zu etablieren, durch das den Hausfrauen monatlich, wöchentlich und täglich Aufgaben präsentiert wurden, um heimische Produkte bevorzugen zu können, um höhere Selbstversorgung zu erreichen. Parallel setzte eine Erhaltungsschlacht ein, eine Effizienzsteigerung der Hauswirtschaft, durch die einerseits Lebensmittelverluste verringert, anderseits die Saisonalität der Ernährung weiter begrenzt werden sollte. In diese Richtung wirkten auch die massiven Investitionen in eine verbesserte Vorratshaltung, in schmackhafte Convenienceprodukte, in eine wachsende Palette wissensbasierter Ersatzprodukte. All dies bewirkte tiefgreifende Veränderungen in den Sortimenten und der Hauswirtschaft. Die allgemeine Verbrauchslenkung griff sie alle auf, versuchte die Hausfrauen und ihre Männer zur langsamen Akzeptanz einer neuen Konsumwelt zu bewegen. Handwerkskunst und regionale Küchen wurden beschworen, letztlich aber zerniert. Die Modernisierung von Landwirtschaft und Handel blieben aufgrund von Ressourcenmangel vielfach auf halbem Wege stecken, ließen aber in der unmittelbaren Vorkriegszeit schon die Fortentwicklung nach dem Krieg erahnen. Die allgemeine Verbrauchslenkung war von diesen Herausforderungen letztlich überfordert, zumal der moderat verbesserte Lebensstandard andere Konsummuster ermöglichte.

In dieser Situation war „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ eine aus Sicht des NS-Regimes sinnvolle Maßnahme. Sie hatte einen anderen freundlich-gewinnenden Ton, nutzte andere Propagandamedien, eine neuartige Kombination von Bildern und Texten, Geschichten und Produktinformationen, Rezepten und praktischen Hilfestellungen. Sie bildete einen zweiten Anlauf, um den Konsum schon zuvor mit recht begrenztem Erfolg beworbenen Lebensmitteln und vor allem neuartigen Ersatzprodukte zu steigern. Es ging dabei um Zeitgewinn, um Systemstabilisierung, bis ein fest anvisierter Krieg die machtpolitischen Rahmenbedingungen in neue Bahnen zwingen würde.

Roderich und Garnichtfaul waren Vorboten einer neuen Konsumgesellschaft, einer neuen Hauswirtschaft, entsprechend dominierten in der Serie Aspekte von Genuss und Selbstbezüglichkeit. Dies war eingebettet in ein System allgemeiner Sparsamkeit und völkischer Verpflichtung, doch die Motivlage hatte sich gegenüber der allgemeinen Verbrauchslenkung beträchtlich verändert. Die neue, für wenige Monate gleichberechtigt in den Vordergrund tretende Kampagne war deutlich breiter als die fünf simplen Bilder und Gedichte. Sie waren nur Entree in eine vielgestaltige, miteinander verbundene Kampagne. Die Freude des glücklichen Ehepaars gab nicht nur Anregungen und praktische Hilfestellungen, sondern beantwortete auch Fragen nach dem Sinn all der Anstrengungen, wies über völkische Verpflichtungen hinaus. Die neue Konsumwelt würde technisch-wissenschaftlich fundiert sein, dem Einzelnen Belohnung für seine Mühsal bringen, sein Glück nicht missachten. Das war leicht einzubetten in das breite Korsett nationalsozialistischer Moral, doch es wies ansatzweise darüber hinaus.

Roderich und Garnichtfaul war eine typische nationalsozialistische Propagandakampagne. Doch sie war eben nicht nur nationalsozialistisch, sondern adressierte viele Aspekte des modernen Lebens in einer Konsumgesellschaft. Effizienz, Preiswürdigkeit, Bequemlichkeit waren rote Fäden der Kampagne und verknüpfen sie eng mit den anders gelagerten Problemlagen der Gegenwart. Das Volk, der große Lümmel, war und is(s)t auch heute eigensinnig und eigenständig. Funktionseliten drängen auf mikroautoritäre Eingriffe, auf staatliche Hebel fernab der allseits praktizierten, kaum aber erfolgreichen Moralisierung der Märkte, deren Essenz eine selbstbestimmte und freiwillige Verbrauchslenkung ist. Träume von einer raschen Transformation prägen Medien und Öffentlichkeit heute in vielerlei Richtung. Dass dabei der trennende Grat zwischen verschiedenen Gesellschaften und politischen Systemen schmal ist, ist auch Ergebnis dieser Analyse einer modernen und gleichwohl nationalsozialistischen Propagandakampagne.

Uwe Spiekermann, 31. Mai 2025

Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda: Kohlenklau, Wasserplansche und Begleitkampagnen

Wie funktionierte NS-Propaganda? Die historische Forschung über diese für das Verstehen des Nationalsozialismus zentrale Frage ist nach wie vor dominiert von den großen politischen Inszenierungen, also der Selbstdarstellung des Regimes. Doch eine Propaganda des Nationalsozialismus gab es nicht, eben so wenig wie eine Verfolgung, eine Gewalt, eine Sprache, eine Kunst und eine Werbung. Der Nationalsozialismus war modern – und daher vielgestaltig. Dies war entscheidend für die mörderische Dynamik des Regimes, für seinen irritierenden Zusammenhalt bis zur totalen Niederlage. Die Vorstellung einer NS-Propaganda verdeckt daher mehr als sie enthüllt.

Das liegt auch daran, dass Propaganda eben nicht spezifisch nationalsozialistisch war und ist, sondern ein Grundelement moderner technischer Gesellschaften (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war nicht vorrangig politisch, sondern Notwendigkeit einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Ein beträchtlicher Teil der nationalsozialistischen Propaganda findet sich – wenngleich in modifizierter Form – auch in anderen Staaten wieder. Denken Sie an Verkehrserziehung, Brandschutz, Zivilverteidigung, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Sparsamkeitsappelle und vieles andere mehr. Dies macht die Frage nach dem Besonderen, gar dem Spezifischen der NS-Propaganda nochmals schwieriger (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559; Stefan Scholl, Für eine Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus. Ein programmatischen Forschungsüberblick, Archiv für Sozialgeschichte 59, 2019, 409-444).

Will man genauer hinschauen, will man die Bindekraft des Nationalsozialismus präziser verstehen, so ist daher zudem eine detaillierte Analyse einzelner Kampagnen des Staates, der NSDAP und der nationalsozialistischen Zivilgesellschaft erforderlich. Wie funktionierte die Winterhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt? In welchem Kontext standen Verbrauchslenkung und Kampf dem Verderb? Welche Bedeutung besaßen die inner- und außerbetrieblichen Kampagnen der Deutschen Arbeitsfront? Wie wurde deutsche Kultur  definiert, präsentiert und genutzt? Wie änderte sich die Propaganda während des bewusst herbeigeführten Krieges? Solche genaueren Blicke sind erforderlich, um Verbindungen zu knüpfen zwischen Alltagsproblemen und ihrer propagandistischen Einfärbung. Sie sind aber auch erforderlich, weil sich die stets eingeforderte nationalsozialistische Moral hierin stärker spiegelte als in den Marschkolonnen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder den Redeinszenierungen im Reichstag. Dabei stellt sich die Frage, wie man mit gebotener analytischer Distanz aus den ja bewusst öffentlichen Quellen schöpfen kann. Die nationalsozialistische Propaganda war eben nicht geheim, Führer suchten Volk, offerierten Orientierung, zielten auf ein effizienteres Handeln im Sinne des Regimes.

Doch auch dann gilt es weiter zu fragen, genauer zu analysieren. Die in der damaligen publizistischen Wirkungsforschung noch prägende Vorstellung von eindeutigen Sendern und eindeutigen Empfängern, von klar abgrenzbaren, gleichsam für sich stehenden und zu analysierenden Kampagnen ist hochgradig fraglich. Nicht nur, dass sie aufeinander aufbauten, das immer Gleiche in immer neuer, immer wieder variierter Form präsentierten. Die Kampagnen selbst standen nicht für sich, sondern wurden aufgegriffen, fortgeführt, dadurch genutzt und popularisiert. Just innerhalb der offiziellen Propaganda gab es bewusst eröffnete Freiräume, die dann regimenah, regimedienend genutzt wurden. Wer bei Kampagnen wie Groschengrab (1938/39) oder Roderich das Leckermaul (1939) allein auf die überschaubare Zahl der offiziellen Zeichnungen und Comicstreifen blickt, verkennt Breite und Bedeutung dieser propagandistischen Anstrengungen. Sie erschließen sich erst, wenn auch die umkränzenden Artikel und Rezepte, Bildgeschichten und Gedichte in die Analyse mit einbezogen werden. Dies aber fehlt in der historischen Forschung, entsprechend eng ist und bleibt die Analyse der NS-Propaganda.

Der vorliegende Beitrag wird an einem an sich wenig bedeutsamen regionalen Beispiel untersuchen, wie innerhalb einer NS-Propagandakampagne solche Weitungen und Häutungen erfolgten. Als Bezugsrahmen dient die wichtigste, kostenträchtigste und wahrscheinlich besterinnerte Kampagne während des Zweiten Weltkrieges. Kohlenklau war seit Ende 1942 allgegenwärtig. Eine bedrohlich-groteske Figur wurde genutzt, um in steter Abfolge und mit immer wieder anderen Akzenten zentrale Probleme der Kriegswirtschaft zu adressieren, um zugleich aber auch zu unterhalten, dem Ernst Humor unterzumengen. Doch dabei blieb es nicht, denn es entstanden dezentral zahlreiche weitere Unterkampagnen, von denen hier die der Wasserplansche, der imaginierten Frau des Kohlenklaus, beispielhaft hervorgehoben werden wird.

Kohlenklau – Konturen einer unterschätzten Kampagne

Die Kohlenklau-Kampagne wird in der historischen Forschung immer mal wieder erwähnt, doch sie dient in den Darstellungen der Kriegsgeschichte vornehmlich als kolorierendes Beiwerk, wird kaum gesondert untersucht. Auch genauere Untersuchungen schielen, denn sie verfolgen andere, ihrerseits durchaus wichtige und spannende Fragestellungen. Der Regisseur und Comicverleger Ralf Palandt stellte Kohlenklau unlängst in den Kontext zahlreicher Energiesparmaßnahmen der Nachkriegszeit (Ralf Palandt, Propaganda-Figuren: vom Kohlenklau zum Wattfraß, in: Eckart Sackmann (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 6-18). Fachwissenschaftlich näher sind die Arbeiten des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Reinhold Reith (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157). Erst 2023 ergänzt und erweitert, geht es in seinen Beiträgen jedoch nicht vorrangig um Propaganda, sondern um die breiter gefasste Ressourcenpolitik des NS-Regimes (Reinhold Reith, Die »Kohlenkalamität« und der »Kohlenklau«. Kohle in der Ressourcenpolitik des »Dritten Reiches«, in: Lutz Budraß, Torsten Meyer und Simon Große-Wilde (Hg.), Historische Produktionslogiken technischen Wissens, Münster und New York 2023, 107-137; ders., Stromsparen/Kohlenklau (1943). Propaganda in der Kriegswochenschau, in: Nicolai Hannig, Annette Schlimm und Kim Wünschmann (Hg.), Deutsche Filmgeschichten, Göttingen 2023, 69-75). Reith liefert wichtige Informationen zum Kriegsalltag, zur Kohlenknappheit im eiskalten Winter 1939/40, der Kürzung der ohnehin engen Hausbrandversorgung um 10 Prozent erst 1942 und dann nochmals 1943, zur dann folgenden Kohlennot 1944/1945 – und analysiert all dies als Teil der Konsumgeschichte des Weltkrieges. Die Darstellung der Kampagne selbst ist allerdings lücken-, teils fehlerhaft; wohl auch, weil die herangezogenen Quellen lückenhaft sind. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist eben keineswegs „ausgeforscht“. Insbesondere die zunehmend digitalisierten Tageszeitungen erlauben vielfältige tiefere Einblicke nicht nur in das lokale Geschehen. Sie bilden eine wichtige Erweiterung zu den – im Bereich des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung – großenteils vernichteten Archivalien.

Stete öffentliche Präsenz: Litfaßsäule in Münster und Kohlenklau-Plakat (Westfälische Tageszeitung 1943, Nr. 23 v. 24. Januar, 5 (l.); Tagebuch einer Straße. Geschichte in Plakaten, hg. v. d. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1981, 251)

Blicken wir nun genauer auf die Kohlenklau-Kampagne, die nach Aussage des Journalisten und Sprachstilisten Wolf Schneider (1925-2022) „ein öffentliches Anliegen geschickt“ personifizierte, „in der zutreffenden Annahme, daß dies mehr Sparsamkeit bewirken würde, als abstrakt vor ‚Verschwendung‘ zu warnen“ (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, München und Zürich 1976, 162). Die Figur war markant, etwas Neues: „Das rechte Auge geschlitzt wie eine Katze, die mausend und miauzend durchs Dunkel streift, das linke aufgeblendet wie den Kegel einer diebisch zuckenden Taschenlampe ins finster Schleichende haltend, – ha, so duckt er sich dahin, der Millionendieb. Seine Faust ist schwarz, seine Kappe sitzt bedrohlich, sein Schnurrbart sträubt sich gefährlich. Man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, diesem Burschen“ (Der Millionendieb, Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 353 v. 22. Dezember, 3). Ihn einzuladen, in die Wohnung zu lassen, schien gefährlich, denn in seinem Sack verschwanden die Erträge völkischer Arbeit, Heizkraft, Dampfkraft, Gaskraft, Stromkraft.

Die Figur blieb in der Erinnerung haften, machte Karriere sowohl in der Nachkriegsliteratur (Günter Grass, Die Blechtrommel, 20. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1983, 301ff.), als auch in Dutzenden Erinnerungen an die kriegsgebrochene Kindheit: „Der Kohlenklau war faszinierend, ängstigend und universal wie der schwarze Mann, mit dem man im Kleinbürgertum den Kindern Angst machte. Im kindlichen Bewußtsein muß er auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wassermann besessen haben, der ja von den Grimms her bekannt war und sich beim Ablaufen des Badewassers grunzend bemerkbar machte. […] Aber Kohlenklau war jemand; ein Bild des Volksschädlings, der dem eigenen Volk in einer Zeit, wo jedes Brikett gebraucht wurde, in den Rücken fiel“ (Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Kind und der Kohlenklau. Erinnerungsfunde 1943-1945, in: Johannes Beck et al. (Hg.), Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, Reinbek b. Hamburg 1980, 315-321, hier 320). Solche Veröffentlichungen waren bereits reflektiert, spiegelten auch daher nur unzureichend die Faszination des Ungeheuers: „Da ist er wieder! / Sein Magen knurrt, sein Sack ist leer, / und gierig schnüffelt er umher. / An Ofen, Herd, an Hahn und Topf, / an Fenster, Tür und Schalterknopf / holt er mit List, was Ihr versaut. / Die Rüstung ist damit beklaut, / die auch Dein bißchen nötig hat, / das er jetzt sucht in Stadt und Land. / Fasst ihn!“ (Horst Bosetzky, Brennholz für Kartoffelschalen. Roman eines Schlüsselkindes, München 1997, 12) Ja, man sollte ihn fassen, sein Handeln an die Imperative des schon lange vor Stalingrad ausgerufenen totalen Krieges sparend anpassen. So wie 1938/39 bei Groschengrab. Doch fern der reflektierten Erinnerung blieb da eine Faszination am Abweichler, an einer Figur, die all das tun durfte, was in der Drangsal des Krieges nicht geboten schien. Das vom humoristischen NS-Zeichner und späterem Tagesspiegel-Karikaturisten Hans Kossatz (1901-1985) gezeichnete Groschengrab wurde aus diesem Grunde populär. Das galt auch für Kohlenklau, dessen Abenteuer (wenngleich ohne Quellenhinweise) heute noch (wenngleich nur zum Teil) einfach greifbar sind (energieverbraucher.de | Im Energiesparmuseum: Der Kohlenklau: Energiespar-Propaganda im Zweiten Weltkrieg).

Kohlenklau hatte viele virtuelle Vorläufer in den zahllosen, seit dem Vierjahresplan 1936 verstärkt einsetzenden Appellen an Sparsamkeit und Ressourcensensibilität in der nationalsozialistischen Mangelökonomie. Ende 1940 bündelten der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der Reichskohlekommissar, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung diese zu einer ersten reichsweiten Kampagne für sparsames Heizen, visualisiert durch den freundlichen Kobold „Flämmchen“. Bis Ende 1942 wurden von der Deutschen Arbeitsfront offiziell 150.000 Männern in den „Schulgemeinschaften“ der „Heize Richtig“-Kampagne angelernt, die häuslichen Brandstätten möglichst energiearm laufen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vorbereitungen für eine neue, dieses Mal jedoch weit umfassendere Kampagne zum Energiesparen, längst begonnen.

Vertreter der „Kohlen-, Energie- und Gaswirtschaft“ hatten Anfang Mai 1942 eine Energiesparpropaganda für mindestens zwei Millionen Reichsmark angeregt, die ab dem 15. Juli 1942 in drei gesonderten Wellen die „Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit der Bevölkerung beim Kohle-, Gas- und Energieverbrauch“ beheben sollte (Propagandavorschlag für eine Sparaktion bei Kohle, Energie und Gas v. 6. Mai 1942, Bundesarchiv Lichterfelde, NS 18/138, Bl. 23-33, hier 32). Das war aufgrund der Kriegslage, der angespannten Personal- und Materialsituation der deutschen Energiewirtschaft und auch der Lieferverpflichtungen gegenüber Verbündeten durchaus geboten, doch angesichts der bereits strikten Hausbrandrationierung schien der NSDAP-Reichsleitung folgenloses Mahnen eher problematisch. NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann (1900-1945) monierte am 20. Juli: „Dergleichen könnte leicht wie Hohn wirken! Die Bevölkerung hat ja nur ungenügend Kohle, kann also alles anders als verschwenden. […] An dieser Propaganda-Aktion werden wir uns aus genanntem Grund nicht beteiligen! Wir wollen uns nicht lächerlich machen“ (Vorlage. Betrifft: Kohlenwirtschaft; Versorgungslage v. 15. Juli 1942, ebd., 15-17, hier 17). Die Reichsministerien rangen in der Folge weiter darum, die vom Reichsrüstungsminister Albert Speer (1905-1981) geforderten Einsparungen sicherzustellen: Aktivierung der Hausfrauen zum Gas- und Elektrizitätssparen, verstärkter Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen mit auskömmlichen Rationen oder größere Transportkapazitäten – die Lösung des Ressourcenmangels glich der Quadratur des Kreises (vgl. insb. Ministervorlage von Tieseler v. 31. Juli 1942, ebd., Bl. 9-10).

Die Kohlenklau-Kampagne wurde schließlich vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in enger Kooperation mit den Reichspropaganda- und Reichsrüstungsministerien durchgeführt, durch die Interessenvertretungen der Energiewirtschaft vielfach gefördert (Heinrich Lepthien, Kohlenklau und seine ersten Lebenstage, Die Deutsche Werbung 36, 1943, 75-79). Sie war reichsweit getaktet, die Presseanweisungen diktierten regelmäßige und – fast bis zum Schluss – vollständige Anzeigenserien.

Deutsche Mahnsprüche – Begleitreime der frühen Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1942, Nr. 297 v. 18. Dezember, 3 (l. o.); Nr. 302 v. 24. Dezember, 4; 1943, Nr. 4 v. 6. Januar, 3 (l. u.); Nr. 5 v. 7. Januar, 3 (r. o.); Nr. 9 v. 12. Januar, 3 (r. M.); Nr. 15 v. 19. Januar, 3 (r. u.))

Ab dem 7. Dezember 1942 erklangen im Rundfunk einschlägige Durchsprüche, also kleine, nicht allzu billige Werbejingels, in denen freundlich mahnend Ratschläge für die kleinen Verbesserungsmöglichkeiten im Alltag gegeben wurden. Nachhaltiger waren gewiss die ab dem 10. Dezember 1942 in der Tagespresse geschalteten Mahnsprüche. Bis Ende Januar finden sich mindestens zwanzig einheitlich umsäumte Reime: „Der spart an Gas, der sehr geschickt / zwei Töpfe aufeinanderrückt!“ (Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5) Die eigentliche Kampagne begann mit dem Auftritt des zuvor nicht benannten Protagonisten in der seit dem 19. Dezember 1942 abgedruckten Einführungsanzeige „Wer ist Kohlenklau?“

„Die Jagd auf Kohlenklau geht los!“: Einstiegsanzeige und erstes Motiv der Serie „Kohlenklau’s schmähliche Niederlage“ (Stuttgarter NS-Kurier 1942, Nr. 348 v. 19. Dezember, 6 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 355 v. 24. Dezember, 5)

Theorie und Praxis waren fast deckungsgleich, innerhalb von vier Tagen war Kohlenklau Deutschlands Zeitungslesern bekannt (auch Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1942, Nr. 350 v. 20. Dezember, 3; Mittagsblatt 1942, Nr. 299 v. 21. Dezember, 7; Bochumer Anzeiger 1942, Nr. 300 v. 22. Dezember, 3, Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 353 v. 23. Dezember, 3). Dazu diente aber auch der massive Flankenschutz durch bis zu 120.000 Plakate und eine gezielte Kinowerbung. Die imaginierte Hassfigur wurde durch das Würfel- und Brettspiel „Jagd auf Kohlenklau“ (Würfel- und Brettspiel), das Quartett „Sei schlau, sonst wirst du Kohlenklau“, durch Postkarten, Streichholzschachteln, Sammelmarken, Ankleber, Diapositive und vieles andere mehr verbreitet. Die Kosten hierfür stellten alle früheren Kampagnen weit in den Schatten, angesetzt waren im Winter 1942/43 5,4 Mio., im Sommer 1943 2,45 Mio. und im Winter 1943/44 5 Mio. Reichsmark (Reif, 2010, 149). Kohlenklau war eine multimediale Kampagne, bis 1944 wurden einschlägige Werbefilme produziert, waren Teil des gerade im Kriege üblichen Kinogangs (Kohlenklau – Animation 1944 (Will Dohm) – YouTube; Zugluft 1944 (Will Dohm) – YouTube). Den Kern aber bildeten, nicht zuletzt finanziell, die Anzeigenserien in Zeitungen und Zeitschriften.

Kampf gegen Kohlenklau: Beispiele aus der ersten und letzten Anzeigenserie (Badische Presse 1943, Nr. 16 v. 20. Januar, 4 (l.); Lippische Staatszeitung 1945, Nr. 72 v. 31. März, 3)

Die Kohlenklau-Kampagne wurde zu einem der seltenen Dauerläufer der NS-Propaganda, der ersten Serie folgten immer wieder neue. Das hatte mit der immer schwierigeren Ressourcenlage des NS-Regimes zu tun, aber auch mit der Attraktivität der an sich bedrohlichen Figur des Dauerdiebes. In den spätestens nach der Niederlage in Stalingrad immer dünneren, vor allem aber zunehmend bildarmen Zeitungen und Zeitschriften war Kohlenklau ein durchaus willkommener, das Einerlei durchbrechender Gast, mochte er auch an staatspolitisch zentrale Pflichten erinnern.

Die erste Serie „Kohlenklau‘s schmähliche Niederlage“ erschien vom Dezember 1942 bis zum April 1943 und umfasste zwanzig Einzelmotive, meist im wöchentlichen Abstand gedruckt. Die Nachfolgekampagne „Denk jetzt im Sommer schon an den Winter“ verzichtete auf den Kohlenklau, präsentierte die Alltagprobleme beim Energiesparen, vor allem aber bei der Pflege und Vorbereitung der Herde und Heizungen für die Winterzeit. Sie stand noch stark in der Tradition der Flämmchen- und der Heize Richtig-Kampagnen, erneuerte vielfach Ratschläge aus der vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Millionenauflage verteilten 16-seitigen Broschüre „‚Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Technische Zeichnungen dominierten die von Mai bis August 1943 laufende Kampagne, doch in den fünfzehn Anzeigen fanden sich lediglich zwei Männer, sieben Mal jedoch aktive Hausfrauen. Mindestens fünf gereimte Mahnsprüche flankierten die vorrangig auf den Kohleverbrauch zielende Serie.

Meisterdetektiv Styx auf Kohlenklaus Fährte (Die Bewegung 11, 1943, 62)

Kohlenklau trieb derweil weiter andernorts sein Werbewesen: Im Frühjahr 1943, genauer im März, setzte sich der Meisterdetektiv Styx viermal auf seine Fährte. Das dürfte auch eine Referenz an den im Jahr zuvor aktiven Detektiv Pelle gewesen sein, der gegen Schleichhandel und Wucher ermittelte, auch im Kleingarten und Kartoffelkeller nach dem Rechten sah. Gezeichnet vom NS-Karikaturisten Manfred Schmidt (1913-1999), war er eines der Vorbilder für seinen Meisterdetektiv Nick Knatterton, der ab 1950 ein kommerzieller, auch später mehrfach revitalisierter Erfolg werden sollte. Kohlenklau wurde durch solche Serien zunehmend populär, verlor seinen bedrohlichen Kern, wurde mahnender Alltagsbegleiter. Das unterstrich auch die zehnteilige Kampagne „Steckbrief Kohlenklau“, die Mitte 1943 ebenfalls in Zeitschriften erschien. Sie war aufwendig gestaltet, zielte auf ein sparsames Haushaltshandeln, rechnete dieses unmittelbar in Waffen um, die durch die nötige Achtsamkeit produziert werden konnten. Nun wurden auch verstärkt Pimpfe und Jungmädel auf das „Gespenst“ angesetzt, Beginn einer verstärkten Mobilisierung der Jugend für die energie- und kriegspolitischen Ziele des NS-Regimes (Müglitztal- und Geising-Bote 1943, Nr. 42 v. 8. April, 3).

Die Volksgemeinschaft als Karikatur: Fräulein Etepetete und Bruder Leichtfuß als Beispiele einer unernsten, doch bekehrungswilligen Bevölkerung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 260 v. 6. November, 4 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 42 v. 19. Februar, 4)

Derweil wurde Kohlenklau immer mehr zum Klamauk, zu einem kleinen Lacher mit ernstem Hintersinn. Die in den Tageszeitungen abgedruckte Serie „Kohlenklau‘s Helfershelfer“ setzte im Oktober 1943 ein, die zwanzig Motive erschienen bis März 1944. Altbesetzung Kohlenklau trumpfte in seiner bewährten Rolle als gieriger Energiedieb auf, doch interessanter waren die neuen Charaktere. Die Volksgemeinschaft erschien nicht mehr stählern, sondern voller unernster, selbstbezüglicher Typen, die Kohlenklaus Raubzug immer neue Chancen eröffneten. So sehr die Texte das Hauptthema der Energieverschwendung in immer neuen, doch altbekannten Weisen präsentierten, dürfte das Interesse vieler eher der nächsten ironisch gezeichneten Knallcharge gegolten haben: Direktor Hochglanz oder Frau Erstkommich, Ella Fassade oder Lilo Hastig erinnerten allgesamt an Bekannte und Freunde, ein wenig auch an einen selbst. Gemäß dem Ideal nationalsozialistischer Moral führte das zu einer Gesellschaft rücksichtsvoller, doch erforderlicher Korrekturanstrengungen – im Alltag aber etablierte sich eher eine Kultur des Neids und der Denunziation. Kohleklau war etablierter Propagandaakteur, er verlor jedoch seine Härte und sein anfangs intendiertes Grauen.

Vollbad als Fehlverhalten: Kohlenklaus Rechenbuch Nummer 9 (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 12, 9)

Zwei weitere Einzelkampagnen schlossen sich an: Im Frühjahr 1944 knüpfte „Kohlenklau‘s Rechenbuch“ an die Steckbrief-Serie an. In den nicht mehr allzu vielen Zeitschriften wurde ressourcenintensives Fehlverhalten wieder in Rüstungsgüter umgerechnet – während parallel die Kriegswirtschaft in diesem Jahr in der Tat ihren höchsten Ausstoß erreichen sollte. Ab November 1944 folgte die abermals zwanzigteilige Zeitungskampagne „Waffen gegen Kohlenklau“. Der gierige Held erschien nun im Umfeld der Alltagsdinge; und Handfeger und Sodawasser, Hilfsbrikett und Kellerschlüssel halfen den Deutschen, den Energieverbrauch verlässlich zu begrenzen. Kohlenklau erschien als Getriebener, als stetig Fehlender, als ein Mime ohne Fortune. Nicht alle Motive kamen noch zum Abdruck, angesichts des nahenden Endsieges wurde die anfangs getreulich begonnene Einzelzählung nach kurzer Zeit aufgegeben. Doch die meisten verbliebenen Zeitungen druckten und druckten – wie parallel im Februar/März eine Reichsbahn-Kampagne über angemessenes Verhalten bei Fliegergefahr. Der NS-Staat sorgte, warnte und lenkte bis zum Ende des Schlachtens.

Künstler für das NS-Regime: Hans Landwehrmann

Soweit die immer wieder veränderte NS-Propaganda-Kampagne, die aber nur den kleineren Teil der Auftritte Kohlenklaus in Zeitungen und Zeitschriften umgriff. Bevor wir darauf eingehen, gilt es sich aber noch mit dem Zeichner der Kernkampagnen zu beschäftigen; auch wenn es auf den Druckwerken keine einheitliche Signatur gab. Hans Landwehrmann (1895-1976) bricht nämlich mit den so bequemen und zugleich so fraglichen Vorstellungen einer klar voneinander zu scheidenden Kultur der demokratischen Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes. Von den so gern als Vorläufer der demokratischen Bundesrepublik Deutschland präsentierten mehr als 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77).

Hans Landwehrmann zeichnet den Kohlenklau (Westfälische Zeitung 1943, Nr. 271 v. 18. November, 3)

Hans Landwehrmann wurde am 13. Oktober 1895 als Sohn des Küsters und Rendanten der Neustädter Marienkirche Hermann Heinrich Paul Landwehrmann (1857-1931) und seiner Gattin Johanne Wilhelmine Friederike, geb. Horstmann (1868-1941) in Bielefeld geboren (Ancestry Person; Adreß-Buch von Bielefeld 1894/95, 100; ebd. 1896, 111). Hans, geboren als Johannes Theodor Walter, war das dritte von vier Kindern, dem schon 1911 verstorbenen Hermann (*1889), Elisabeth (*1892) und Marianne (*1902) (Ancestry Person). Hans war schon früh zeichnerisch aktiv, Arbeiten des Fünfzehnjährigen wurden bereits gedruckt (Illustrationen zu Walter Schulte von Bruhl, Vom westfälischen Dorfe, Die Gartenlaube 58, 1910, 1083-1087). Er besuchte von 1912 bis 1914 die 1907 gegründete Staatlich-Städtische Handwerkerschule mit kunstgewerblichen Tagesklassen in Bielefeld, die anfangs vom Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Wilhelm Thiele (1873-[? 1945]) geleitet wurde. 1914 wechselte Landwehrmann an die Königliche Kunstakademie in Düsseldorf, wurde 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, war bis Kriegsende Soldat. In Bielefeld wurde er dann Mitglied der Künstlergruppe „Rote Erde“, trat bei Ausstellungen als Landschaftsmaler hervor (Westfälische Zeitung 1920, Nr. 234 v. 11. Oktober, 5: Westfälische Neueste Nachrichten 1920, Nr. 152 v. 6. Juli, 2). Vor der Inflation war er in Dortmund tätig (s. unten), lebte dann zumindest kurzzeitig in Bremen (und bedingt Worpswede) (Handbuch des Kunstmarktes, Berlin 1926, 156), zeichnete ab Ende 1925 unter anderem für die sozialdemokratische Karikaturzeitschrift „Lachen Links“ (Volkswille 1925, Nr. 276 v. 25. November, 5: Lachen Links 3, 1926, 290, 366). Er siedelte nach Berlin über, wo er allerdings erst seit 1929 sicher nachweisbar ist (Amtliches Fernsprechbuch für Berlin und Umgegend 1929, 665). Auch dort pflegte er weiterhin kritische Kunst im Umfeld der Sozialdemokratie (Lübecker Volksbote 1931, Nr. 162 v. 15. Juli, Der Spatz, Nr. 29, 2). Landwehrmann gilt auch in der einschlägigen publizistischen Forschung als ein republikanischer Künstler (Frank Zeiler, Verfassungsbildsatiren zwischen Republikfeindschaft, Vernunftrepublikanismus und Republiktreue, Jahrbuch der Juristischen Zeitschrift 17, 2016, 395-435, hier 421, FN 104; Winfried Nerdinger und Ute Brüning, Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus, 1993, 46; Klaus Haese und Wolfgang U. Schütte, Frau Republik geht pleite. Deutsche Karikaturen der zwanziger Jahre, Leipzig 1989, 125, 127). Auch als Kunstmaler war er weiter aktiv, erreichte über die Illustrirte Zeitung ein gehobenes Massenpublikum (Tages-Post 1931, Nr. 295 v. 23. Dezember, 9).

Eigenwerbung des Graphikers Hans Landwehrmann 1932 und 1936 (Seidels Reklame 16, 1932, H. 1, XI; Gebrauchsgraphik 13, 1936, Nr. 11, 11)

Das Hauptgeschäft aber verlagerte sich auf die Werbung, wobei Landwehrmann nicht nur Markenartikelwerbung etwa für Blauring-Pfeifentabak, sondern auch Gemeinschaftswerbung für Bohnenkaffee oder aber Agrarwerbung für deutsches Obst und Gemüse gestaltete (Seidels Reklame 16, 1932, 109, 111, 113; Dokumente deutscher Werbearbeit: Der Gebrauchsgrafiker Hans Landwehrmann, Berlin, ebd. 195-197). Ob die Machtzulassung der NSDAP und ihrer nationalistischen Koalitionspartner für Landwehrmann einen tieferen Einschnitt bedeutete, ist unklar. Er arbeitete jedenfalls weiter als Werbegraphiker, zeichnete dabei auch weiterhin modern, wie etwa die Fotos und Zeichenfiguren verbindende Werbung für den Adressograph der kurz zuvor arisierten Adrema unterstrichen (Werben und Verkaufen 20, 1936, 290).

1942 beteiligte sich Hans Landwehrmann schließlich an der Ausschreibung für die Energiesparkampagne und gewann den ersten Preis. Dies gab relative Sicherheit, recht hohe Honorare, zudem öffentliches Renommee, wusste doch jeder: „Kohlenklau ist wohl im Augenblick die populärste Figur der deutschen Werbung“ (Ein Westfale schuf den ‚Kohlenklau‘, Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4). Ende 1943, Anfang 1944 präsentierten zahlreiche Artikel den „Vater“ Kohlenklaus. Seine Biographie wurde umgeschrieben, die Aufstiegsgeschichte eines Frontsoldaten präsentiert, der sich in Berlin als „Pressezeichner, Industriegraphiker, Buchillustrator“ durchgesetzt hatte (Hans Niemeier, Der Zeichner „Kohlenklaus“ Westfale, Bochumer Anzeiger 1943, Nr. 304 v. 28. Dezember, 3), der zugleich aber als Modell eines deutschen, eines kernig westfälischen Künstler diente: „Ein buntes, unruhiges Leben. Erfüllt von Arbeit und der Liebe zu allem Schönen, zur Musik, zur Literatur. Ein guter Goethe-Kenner, ein stiller Lyriker, Aphorismenschreiber – vor allem ein Mann voll warmer Menschlichkeit, ein alle Situationen meisternder Humor“ (Ders., Kohlenklaus Schöpfer, DGA. Generalanzeiger 1943, Nr. 350 v. 19. Dezember, 8; ähnlich ders., Der Zeichner „Kohlenklaus“. Hans Landwehrmann: Ein westfälischer Künstler, Westfälische Tageszeitung 1944, Nr. 5 v. 7. Januar, 3; gekürzt auch in Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Tremonia, Ausg. E, 1944, Nr. 6 v. 8. Januar, 3).

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Spitzen der NS-Propaganda öffnete Landwehrmann zudem Türen zu weiteren Aufträgen. So entwickelte er eine positive Gegenfigur zum Energiedieb Kohlenklau. Der Knobelmann war „der als Vorbild herausgestellte Gefolgsmann, der nach der gewissenhaften Erledigung seines Tagespensums sich mit Verbesserungsvorschlägen befaßt, die die Arbeitskameraden anspornen wollen und neue technische Höchstleistungen anstreben. Auf dieser Linie liegt überhaupt die Arbeit Landwehrmanns, der sein künstlerisches Schaffen vorbehaltlos kriegswichtigen Dingen zugewendet hat. Er zeichnet Figuren, die den Gedanken propagieren, alles zu tun und nichts zu unterlassen, um den Sieg zu erreichen“ (Kohlenklau sieht in den Spiegel, Die Glocke, Ausg. D, 1944, Nr. 316 v. 30. November, 4). Knobelmann erlangte während der NS-Zeit keine größere Bedeutung, doch in der DDR wurde Oskar Knobelmann Vorreiter einer Knobelmann-Bewegung für Verbesserungsvorschläge (Sozialistische Finanzwirtschaft 15, 1961, 219): „Sei ein Knobelmann, / streng Dein Köppchen an, / hilf, / wo man helfen kann“ (Elise Riesel, Lexikalische Auflockerung als Stilmittel und als sprachliche Umnormung, in: Probleme der Sprachwissenschaft. Beiträge zur Linguistik, The Hague und Paris 1971, 477-485, hier 482). Die Figur war Teil einer regimeübergreifenden Brigade der Verbesserer, stand Seit an Seit mit Bastelfritz, Kollege Denkmit, Peter Grips, Kollege Tüftel, Frieda Findig oder auch der Brigade Zack.

Nach 1945 knüpfte Landwehrmann ohne größere Brüche an seine Arbeit als Gebrauchsgraphiker in den 1930er Jahren an, zuerst in Essen (Adreßbuch Essen-Mülheim 1953, 428; Charlotte Fergg-Frowein, Kuerschners Graphiker-Handbuch. Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin/W. 1959, 101), ab 1957 dann in Frankfurt/M. (Dies., Dass., 2. erw. Aufl., Berlin/W. 1967, 169; Amtliches Fernsprechbuch […] Frankfurt am Main 1957, 176). Hans Landwehrmann, der nach 1945 unter dem Namen Johannes Landwehrmann arbeitete, illustrierte anfangs auch Jugendbücher (Die Raabe-Post, Berlin 1950). Er starb am 9. November 1976. Zu Kohlenklau und seiner Rolle als Zeichner der wichtigsten NS-Propagandakampagne der Kriegszeit hat er sich nicht näher geäußert. Dabei lautete doch ein Kohlenklau-Werbeslogan: „Halt dir den Spiegel vor’s Gesicht…“.

Alliierte Pendants: Sparsamkeit als Teil jeder Kriegsanstrengung

An diesem Punkt enden die üblichen Darstellungen von NS-Propagandakampagnen, denn deren Konturen, deren zeithistorischer Kontext, deren Macher wurden benannt. Drei Aspekte sind jedoch zwingend zu ergänzen, um einer solchen propagandistischen Anstrengung gerecht zu werden. Erstens fehlt eine vergleichende Perspektive, die über die Grenzen des Deutschen, des Großdeutschen Reiches hinausweist. Mitte 1943 wurde in Großbritannien „Squander Bug“ von der Kette gelassen, eine kleine, mit Hakenkreuzen übersäte Wanze, die vor überbordender Verschwendung warnte und britische Konsumenten dazu bringen sollte, stattdessen britische Kriegsanleihen zu kaufen (Paradox of the Squander Bug, Britain 3, 1943, 20-22). Entwickelt vom Graphiker Phillip Boydell (1896-1984) und lanciert von der bereits während des Ersten Weltkriegs aktiven National Savings Movement, wurde das tuschelnde Ungeheuer im Deutschen Reich als „eine kleine Anleihe bei der so erfolgreichen deutschen Kohlenklaufigur“ präsentiert und als Methode „der geschäftlichen Reklame“ denunziert (Grosse Reklame zur Deckung der Kriegskosten, Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 23 v. 8. Juni, 3).

Alliierte Kohlenklau-Pendants: Squander Bug in den USA (l.) und Großbritannien (Gwiadzda Zachodu 1944, Nr. 10 v. 3. März, 4 (l.); Evening Star 1943, Nr. 3671 v. 30. November, A-03)

Squander Bug wurde in Australien, vor allem aber in den USA aufgegriffen und als Propagandafigur neu gestaltet (Diana Noyce, The Squander Bug: Propaganda and its Influence on Food Consumption in Wartime Australia, in: Mark McWilliams (Hg.), Food & Communication, London 2016, 305-318). In den Vereinigten Staaten beauftragte die War Finance Division des Finanzministeriums keinen geringeren als den Karikaturisten und Kinderbuchautoren Dr. Seuss, Theodor Seuss Geisel (1904-1991), mit der Vorlage für eine wie in Großbritannien multimediale Propagandakampagne (Charles D. Cohen, The Seuss, the whole Seuss, and nothing but the Seuss. A visual biography of Theodor Seuss Geisel, New York 2004, 254-257; The „Squander Bug”, Monthly Bulletin. Interdepartmental War Savings Bond Committee 1944, No. 2, 10). Trotz breiter Akzeptanz erreichten Kohlenklaus alliierte Pendants jedoch nie die Alltagspräsenz des deutschen Diebes. Umgekehrt bezichtigte der US-amerikanische Schriftsteller John Scott Landwehrmann (ungerechtfertigt), seine Figur an den Stil des US-Karikaturisten Peter Arno (1904-1968) angelehnt zu haben, einem der bekanntesten Zeichner der Zeitschrift „The New Yorker“ (John Scott, Europe in Revolution, Boston 1945, 164). Für unsere Argumentation ist dieses Hin und Her wichtig, da es die Frage nach dem spezifisch nationalsozialistischen Charakter Kohlenklaus nochmals schärfer stellt. All diese Figuren waren Antigeneralisierungen von Kriegsnotwendigkeiten, mochten sie sich auch formal und in Bezug auf ihre spezifischeren Zielsetzungen deutlich voneinander unterscheiden.

Kleinkampagnen: Markenartikelhersteller präsentieren Kohlenklau

Die stete Abfolge immer neuer Kampagnen und auch die Lagebeurteilen des Sicherheitsdienstes der SS zeugen von einer insgesamt positiven Aufnahme der Propaganda: „Die Energie-Sparaktion („Kohlenklau“-Propaganda) hat […] fast überall eine gute Aufnahme gefunden. „Kohlenklau“ sei rasch eine volkstümliche Figur geworden, und sehr häufig werde beobachtet, daß Volksgenossen sich, wenn irgendwo ein Fenster oder eine Tür offen steht, gegenseitig durch den Zuruf: „Kohlenklau“ zum Sparen anhalten. Die zeichnerische Gestaltung des „Kohlenklau“ sei recht originell und die Knittelverse sowie die übrigen Texte recht gelungen. Vor allem die Jugend habe ihren Spaß daran und trage viel dazu bei, die Gestalt und die damit verbundenen Sparparolen durchzusetzen“ (Meldungen aus dem Reich, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718). Diese Meldungen unterstrichen zugleich eine differenzierte Beurteilung der Propaganda. Rundfunksendungen galten als Kinderkram, das propagierte Turmkochen wurde schon deshalb belächelt, weil es im mächtigen Deutschen Reich nicht mehr genügend Töpfe dafür gäbe. Bei Strom und Gas könne man wohl noch sparen, nicht aber bei der Kohleheizung. Bezeichnend war auch eine bemerkenswerte Umdeutung der Kampagne: „Die breiten Schichten der Bevölkerung bezögen deshalb den Appell zum Sparen nicht so sehr auf sich und meinten, daß in der ‚Kohlenklau-Propaganda‘ nicht nur Beispiele dafür gebracht werden sollten, wie noch mehr gespart werden könne, sondern vor allem solche Beispiele, die eine regelrechte Verschwendung sichtbar machten und den Aufruf zum Sparen deutlicher an die Kreise richteten, die es in erster Linie angeht“ (Ebd., 4719). Kohlenklau spiegelte demnach auch die allseits bekannte und hinter der Hand strikt kritisierte Korruption und den Protz führender NS-Repräsentanten.

Anderseits entsprach die Kohlenklau-Kampagne den Vorstellungen der zwar regulierten und gelenkten, durchaus aber noch eigenständigen Privatwirtschaft. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Kohlenklau verkörperte ein schon in den Rationalisierungsdebatten der Weimarer Zeit stetig präsentes Ideal unternehmerisch rationaler Mittelverwendung: „Heute arbeitet man so nicht mehr. Heute soll man aber auch auf Kohlenklau achten“ (Maurerschweiß, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 22 v. 22. Januar, 4). Der einzelne Arbeitnehmer, insbesondere aber die im Gegensatz zu disziplinierten Betriebsgemeinschaften noch undisziplinierten Hausfrauen sollten dies endlich umsetzen: „Hausfrauen sollen heute nicht nur Kochfrauen, sondern Kochkünstlerinnen sein, auch was das Ersparen des Brennstoffes betrifft, dann kommen wir alle mit kleinsten Rechnungen auf unsere Rechnung, nur Kohlenklau nicht“ (Schwarz auf weiß, Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 313 v. 12. November, 6). Auch der Alltag sollte effizient umgestaltet werden, das alte Mittelstandsideal von Leben und Leben lassen war veraltet. Selbstmobilisierung war just im Kleinen erforderlich, etwa bei nicht schließenden, zugigen Türen: „Dann malte ich, der Untermieter, zwei Schilder und hing sie draußen und drinnen an die Tür: Zugemacht, ist halb gelacht! Sei du schlau, nieder mit’m Kohlenklau!“ (Selbstgespräch, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 45 v. 14. Februar, 4) Kohlenklau war daher viel mehr als ein neugewandter schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne jedoch die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man wusste, dass Anleitung und Lenkung achtsam erfolgen musste, wertschätzend. Die tägliche Denunziation und Volksschädlingsexekutionen gehörten gewiss zur Realität des NS-Regimes, doch der verpackte Hinweis war weiter verbreitet, bekam just dadurch Gewicht.

Es ist daher nicht überraschend, dass ab Februar 1943 die Markenartikelindustrie Kohlenklau nutzte, um einerseits ihre Anzeigen mit einer attraktiven Werbefigur zu zieren, andererseits ihr Effizienzideal gegenüber den Konsumenten hochzuhalten. So breit die Kohlenklau-Kampagne auch sein mochte, so wurde sie zahlenmäßig von der nun einsetzenden privaten Kohlenklau-Werbung deutlich übertroffen. Mit dieser Neugestaltung der Unternehmenskommunikation arbeiteten die Unternehmen dem Führer entgegen, folgten dabei aber immer auch eigenen Zwecken. Angesichts zumeist hoher Kriegsgewinne war zielgerichtete Kooperation mit dem NS-Staat unternehmerisch rational: „Auf fast allen hier genannten Gebieten ist die Privatwirtschaft in der einen oder andern Form im Sinne der Staatsinteressen mit tätig“ (Alfred Helzel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124).

Sparsamkeit bei Zahnpasta und heißem Wasser: Solidox-Werbung mit Kohlenklau (Junge Welt 5, 1943, H. 5/6, III (l.); Das Deutsche Mädel 1943, Nr. 11/12, III (M. o.), Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 18, 9 (M. M.); Das Deutsche Mädel 1943, H. 7/8, IV (M. u.); ebd. 1944, H. 5/6, 20)

Ein Beispiel mag genügen: Solidox war eine seit 1935 im Deutschen Reich als Mittel gegen Zahnstein vermarktete Zahnpasta (Deutscher Reichsanzeiger 1935, Nr. 215 v. 14. September, 7). Sie war Teil des Markenportfolios von Unilever resp. Elida und profitierte ab 1938 von den neuen Absatzchancen im großdeutschen Markt. Angesichts der strikten Regulierung des Fettmarktes, aber auch aufgrund der nichtdeutschen Kapitaleigner agierte die Berliner Solidox Gesellschaft für Zahnhygiene mbH regimenah, unterstützte die allgemeine Propaganda für Volks- und Zahngesundheit. 1943 gab es die allseits üblichen Produktionskürzungen und Lieferschwierigkeiten, doch Kohlenklau machte die Anzeigenwerbung staatspolitisch wichtiger. Die neuen Motive zielten dabei unter anderem auf eine Abkehr vom Zähneputzen und Gurgeln mit heißem Wasser – eine den meisten Nachgeborenen wohl bereits völlig undenkbare Praxis. Der Schlagschatten sparsamen Kriegshandelns war lang.

Markenartikelwerbung mit Kohlenklau 1942-1945: Eine Auswahl aktiver Unternehmen

Untersucht man die Anzeigen in den Zeitungen und Zeitschriften ab Anfang 1943, so findet man dutzende Firmen mit ähnlichen Kohlenklau-Kampagnen. Die Übersicht enthält zwei Dutzend Firmen, ist aber unvollständig. Das Hamburger Unternehmen Beiersdorf, „entjudet“ und regimetreu (Alfred Reckendrees, Beiersdorf. The Company behind the Brands NIVEA, tesa, Hansaplast & Co., 96-138, allerdings ohne Eingehen auf die Kriegswerbung), stellte schon im März 1943 sein Sortiment in den Dienst der Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1943, Nr. 55 v. 7. März, 7; ebd., Nr. 61 v. 14. März, 8). Neben die Markenartikelwerbung einzelner Firmen trat zudem Gemeinschaftswerbung mit Kohlenklau. Angesichts dieser breit gefächerten Aktivitäten erscheint Kohlenklau nicht mehr länger als Kampagne staatlicher Akteure und der Energiewirtschaft, sondern auch als privatwirtschaftliche Anstrengung. Der Blick vorrangig auf die staatliche NS-Propaganda verkennt und verdeckt ihre zunehmend breitere Trägerschaft.

Wasser als zunehmend gefährdetes Grundgut

Das Effizienzideal der Kohlenklau-Kampagne konzentrierte sich auf den Umgang mit Kohle, Strom und Gas, griff jedoch von Anbeginn darüber hinaus. Ressourcenschonendes Handeln ist im Idealfall nur schwer zu begrenzen, führt zu allgemeiner Sparsamkeit. Entsprechend gab es immer wieder Anklänge, den Verbrauch auch von Grundgütern wie Wasser auf das notwendige Maß zu reduzieren. In der staatlichen Kohlenklau-Kampagne wurde mehrfach eine mit Warmwasser gefüllte Badewanne gezeigt. Ähnliches galt auch für die eigenständige Fortführung der Propaganda in den Werkszeitungen der Industrie. Diese zeichneten, wie im folgenden Bild des Mannheimer Landmaschinen- und Rüstungsproduzenten Lanz, ihren eigenen Kohlenklau, modifizierten den Ressourcendieb für ihre eigenen Zwecke.

Kohlenklau als Wasserdieb: Serienmotiv und Fortzeichnung der Serie in der Industrie (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 41 v. 10. Februar, 4 (l.); Energie 22, 1943, H. 7/8, IV)

Wasser war 1942/43 an sich genügend vorhanden, die Trinkwasserversorgung funktionierte, die Qualität war ausreichend. Der immer stärkere Druck der alliierten Bomberangriffe unterstrich jedoch, dass sich dies rasch ändern konnte, denn die an sich geltenden völkerrechtlichen Regeln waren für alle kriegsführenden Parteien längst Makulatur. Das von den Talsperren und Wasserreservoirs im Sauerland und in Waldeck abhängige Ruhrgebiet sollte dies zu spüren bekommen, nachdem Spezialeinheiten der britischen Royal Air Force in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 die Eder- und Möhnetalsperren massiv treffen konnten. Knapp 1.600 Menschen, darunter mehr als eintausend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, wurden bei dieser Operation Chastise durch Wassermassen und ihre Folgeschäden getötet. Die Wasserversorgung wurde erheblich beeinträchtigt, Notmaßnahmen und Rationierungen waren die Folge. Auch wenn die Angriffe ihre strategischen Ziele nicht erreichen konnten, und die Wasserversorgung Ende Juni 1943 wieder vollständig hergestellt war, wurde Wasser zu einem öffentlichen Thema.

Wasserknappheit als Drohung: Temporäre Versorgungseinrichtungen nach der Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre durch die Royal Air Force am 17. Mai 1943 (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 117 v. 21. Mai, 5)

Der recht trockene Sommer 1943 verschärfte die Versorgungssituation. Seit August 1943 begannen im Rhein-Ruhrgebiet neuerlich Kampagnen für das Wassersparen. Getragen vor allem von den jeweiligen Stadtwerken beinhalteten sie zumeist praktische Ratschläge für Hausfrauen und Haushalte – und knüpften dabei vielfach an die Kohlenklau-Motive an: Die Wanne sollte nur zum Teil gefüllt werden, das damals noch eher unübliche Duschen sei eine gute Alternative. Das Warmwasser für Heißgetränke und das Spülen sollte vorab ausgemessen werden (Lippische Staatszeitung 1942, Nr. 208 v. 2. August, 5): „Wer Wasser spart, spart Kohle!“ (Annener Zeitung 1943, Nr. 55 v. 6. März, 3) Und auch beim Wassersparen galt: „Jeder Tropfen Wasser, der im Haushalt nutzlos abfließt, fehlt an wichtiger Stelle für die Rüstung“ (Wasser sparen!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1943, Nr. 193 v. 19. August, 3). Die regionale Propaganda appellierte an Einsicht und Rücksichtnahme. Ein echter Deutscher könne sich auf die berechtigten Belange der Volksgemeinschaft einrichten, seinen eigenen Bedarf einsichtig zurückfahren (Wie kann man Wasser sparen?, Langendreerer Zeitung 1943, Nr. 186 v. 11. August, 4). Diese Selbstzucht, diese Pflege der technischen Infrastruktur sei kriegswichtig: „Wasser sparen bedeutet Beihilfe zum Endsieg!“ (Aachener Zeitung 1943, Nr. 188 v. 16. August, 4) Die andauernde Trockenheit ließ die Vorgaben bedrohlicher werden, Verschwendung würde „im Sinne der bestehenden gesetzlichen Vorschriften geahndet werden“ (Spart mit dem Wasser! Eine saisonbedingte Mahnung, Völkischer Beobachter 1943, Nr. 237 v. 25. August, 3). Freiwillige Einschränkungen könnten vor „Zwangsmaßnahmen“ bewahren (Es bleibt beim freiwilligen Energiesparen, Aachener Zeitung 1943, Nr. 224 v. 27. September, 4). Adressat all dessen war vorrangig die Hausfrau (Auch die Hausfrau hilft mit!, Lippische Staatszeitung 1943, Nr. 253 v. 15. September, 3). Im Betrieb würde ohnehin gespart, doch auch der Hausfrauenarbeitsplatz dürfe nicht schwimmen.

Wasserplansche und Kohlenklau im Hochzeitsornat (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5)

Vor diesem Hintergrund erscheint das Auftauchen der Wasserplansche nachvollziehbar. Ein neues Ungetüm, eine Ausgeburt der Verschwendung. Doch als sie am 9. November 1943 erstmals gedruckt wurde, just zwanzig Jahre nach dem in München zusammengeschossenen „Blutmarsch“ der Hitler-Bewegung und ihrer Bündnisgenossen, hatte sie Kohlenklau an ihrer Seite. Der galt als bedrohlich, war als Monster und Feind eingeführt worden. Das wurde auch der Wasserplansche nachgesagt, doch richtig ernst zu nehmen war das offenbar nicht: „Kohlenklau / Ei, wie schlau, / Nimmt sich eine reiche Frau. / Wasserplansche ist der Name / Dieser wassergier’gen Dame. / Er stiehlt Kohlen, Licht und Gas, / Ihr macht’s Wasserplanschen Spaß. / Wasserplansch und Kohlenklau, / Dieser Mann und diese Frau, / Sind im Kriege böse Geister, / Im Verschwenden große Meister. // Sollten sie sich mal verstohlen / Bei euch neue Beute holen, / Sperrt sie ein und laßt sie flittern, / Bis sie ihre Strafe wittern. / Denn Strafe folgt, das ist doch klar – Für dieses saub’re Ehepaar“ (Treliko, Kohlenklau macht Hochzeit, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5). Obacht, Volksgenossen, war der Tenor der neuen Kampagne. Doch angesichts der schon viele Wochen laufenden Großkampagne „Kohlenklau’s Helferhelfer“ war tiefer Ernst auch in bedrohlicher Kriegslage kaum mehr aufzubringen.

Die Wasserplansche war eine Erfindung der Redaktion der nationalsozialistischen Parteizeitung „Westfälische Landeszeitung – Rote Erde“ in Dortmund. Die „Westfälische Landeszeitung. Rote Erde“ war seit dem 30. Januar 1934 die Parteizeitung der NSDAP und amtliche Zeitung des Gaus Westfalen-Süd. Sie folgte auf den „General-Anzeiger für das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet“, der bis zum 20. April 1933 vom Dortmunder Verlagshaus Krüger herausgegeben, dann enteignet und unter dem tradierten Namen erst einmal fortgeführt wurde. In ihr ging ab Anfang Mai 1933 die vorherige NSDAP-Parteizeitung „Rote Erde“ auf. In den Folgejahren etablierte sie sich mit einer Druckauflage von 1937 205.000 und 1939 225.000 Exemplaren und acht Bezirksausgaben als reichweitenstärkste Tageszeitung Westfalens (Kurt Peschel, Von der Asphaltpresse zur Presse des neuen Reiches, Unser Wille und Weg 8, 1938, 247-253, hier 252; Schlag nach!, 2. erw. u. verb. Aufl., Leipzig 1939, 506; Nationalsozialistisches Jahrbuch 13, 1939, 322).

Das Erscheinen der Wasserplansche war Resultat des Zusammenwirkens von Texter und Pressezeichnerin, das wir weiter unten noch genauer auffächern werden. Doch es knüpfte auch an das besondere Renommee des Kohlenklau-Zeichners Hans Landwehrmann an, der 1922/23 in Dortmund als Graphiker der Dortmunder West-Werbe-Gesellschaft tätig war und auf Anregung des Stadtbaurates Hans Strobel (1881-1953) auch Notgeld gestaltete (Das Westfalenlied als Notgeldschmuck, Düsseldorfer Zeitung 1922, Nr. 344 v. 11. Dezember, 2). Die Stadt habe dadurch „auf ihren soeben zur Ausgabe gelangten Notgeldscheinen zu 25 und 50 Mark nicht nur Kirchturmspolitik getrieben, sondern weitherzig die Ehre und Schönheit der Roten Erde, deren größte Stadt sie ist, gepriesen zu haben und so aller Welt zu verkünden“ (Das Westfalenland im Bilde, Wittener Tagblatt 1922, Nr. 292 v. 13. Dezember, 5). Landwehrmann malte damals auch Landschaftsbilder Dortmunds, Industriebilder, der Härte der Montanregion angemessen und stellte 1923 in der Stadtbibliothek Dortmund einen Zyklus „Der Reinoldus“ aus, gewidmet dem Stadtpatron der größten Stadt Westfalens (Gemäldeausstellung bei C.L. Krüger, Dortmunder Zeitung 1923, Nr. 309 v. 30. November, 2; Erich Schulz, Stadtbibliothek Dortmund. Kurzer Bericht über die ersten 25 Jahre, Dortmund 1932, 20). Die Wasserplansche dürfte daher auch eine Hommage an einen früheren Künstler im Land der Roten Erde gewesen sein.

Der machtlose Staat und das Duo der Verschwendung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5)

Eine Woche nach dem Hochzeitsbild begann ein von einem Lesergedicht eingeleitetes Pas de Deux zwischen Zeichnerin und Texter. Sie setzten sich zusammen, fabulierten über die Fortsetzung, sie zeichnete, er schrieb, am Ende stand ein ernst gefasstes und humoristisch präsentiertes Duett. Anlass war die beträchtliche Resonanz aus der Leserschaft. Demnach habe sich das Staatliche Gesundheitsamt Klaustedt gemeldet, um die Ehe von Wasserplansche und Kohlenklau für ungültig zu erklären. Schließlich handele es sich um zwei organisch missgebildete Personen, die daher vor Eheschluss hätten sterilisiert werden müssen. Dieser Nachweis aber fehle. Im Gegenteil, ein Leser habe bereits über den Sohn der beiden geschrieben, offenbares Zeichen nicht praktizierter Eugenik. Der Humor verschwand, schließlich wurden aufgrund des im Juli 1933 erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei knapp 5.000, meist Frauen, an den Folgen des Eingriffes starben. Das war, wie der Judenmord, zu dieser Zeit ein offenes Geheimnis. Und die Humoreske gebar den Feind, Wasserplansche und Kohlenklau „werden in wilder Ehe weiterleben, uns Schaden zufügen, wo sie können, an Strom und Kohle, Wasser, Licht und Gas räubern, was sich räubern läßt, und wir wollen nur hoffen, daß der ‚Dr. Pforgaff‘ (der Name ist leider nicht zu entziffern, aber dafür ist es ja auch ein Doktor!) ebenso eifrig, wie er den Paragraphen schwingt, auch Licht ausknipst und die Wasserhähne schließt! Denn mit Paragraphen allein ist nichts voran zu bringen…“ (Kondi, Die Vertreibung aus dem Paradies oder „Kohlenklau und das Gesundheitsamt“, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5).

Autor Kondi hat von Ende 1943 bis Herbst 1944 mindestens 28 Beiträge in der Westfälischen Landeszeitung veröffentlicht, zumeist Kommentare über Alltagsfragen, die teils in der Kolumne „Sowas gibt es heutzutage…!“ im Sinne des Regimes erläutert und bewertet wurden. Derartiger Anleitungsjournalismus prägte ab April 1944 auch die Kolumne „Auf die Art geht’s besser“. Bei der Sorge für das Ganze ging es allein um das Ganze der fast beliebig zu definierenden Volksgemeinschaft.

Wasserplansche und Kohlenklau als trautes Paar (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Getragen von Leserzuschriften und -anfragen wurde das missgebildete Paar jedoch weiter präsentiert, voller Gier, auf der Suche nach Kohle und Wasser. Sie wurden nicht gefürchtet, sondern belacht – und das war gefährlich, denn auch sie lachten den Leser aus, ergötzten sich an dessen unbedachtem Handeln, das sie nährte: „Hilfe! Rettung! Kohlenklau und Wasserplansch [sic!] bedrohen mich!“ (Kondi, Da blüht der Weizen…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Familie Kohlenklau beim Spaziergang (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Am 27. November ging es weiter, ein Leser konnte nun endlich die schon bekannte Nachricht über neues Glück und neues Leben formgerecht verbreiten: „Kohlenklau ist sehr benommen, / er hat einen Sohn bekommen, / der der ganze Vater ist, / am ersten Tag gleich Kohlen frißt. // Grausam ist’s mit anzuschau’n, / wie sie Strom und Gas uns klau’n, / bringt die Schlingel zum Gericht, / Gnade gibt es für sie nicht. // Frau Wasserplansche will versuchen, / am Waschtag Frauen zu besuchen. / Liebe Hausfrau’n, habet acht, / wie Wasserplansch euch Schaden macht! // Sie schwatzt gar lang und schwatzt gar breit / stiehlt schwatzend euch nicht nur die Zeit, / nein, auch noch Wasser, Kohle, Licht! / Seid wachsam, Frau’n und duldet’s nicht!“ (Rudi Simoneit, Kohlenklau – hat einen Sohn…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Andere, leider nicht näher bezeichnete Quellen, diskutierten sogleich seinen Namen, warnten zugleich aber davor das wachsende Monster als Kind misszuverstehen, es gar zu füttern. Im Reimmodus der an Mahnsprüche gewöhnten deutschen Nation mutierte das gleich zum Totschlag: „Kohlenklau hat einen Sohn! / Ist das nicht ein großer Hohn? / Und sein Nam‘ ist Kohlenkläuschen. / Das junge Paar ist aus dem Häuschen. / Es will das Kläuschen so erzieh’n, / Daß es kann auf Raub ausgeh’n. // Wasserplansch, Kohlenklau und Klaus, / Faßt sie, schmeißt sie raus! / Nichts soll ihnen mehr gelingen, / Wir wollen alle drei umbringen! / Drum helft uns nun alle mit, / Gebt ihnen den verdienten Tritt!“ (Wie soll der „Knabe“ heißen?, https://www.energieverbraucher.de/de(kk-s-familie__1461)

Parallel begann jedoch eine Selbstreflektion innerhalb der Westfälischen Landeszeitung, die den offenkundigen Spaß der Leser an den selbst kreierten, zunehmend aber fremd imaginierten neuen Gefährten Kohlenklaus einzufangen hatte: Sie alle seien westfälische Geschöpfe, entstammten somit der Roten Erde: „Jedenfalls stammt der Zeichner, der den Herrn Kohlenklau erdacht hat, aus Westfalen. Und die Frau Kohlenklau, geborene Wasserplansche, hat ihre geistigen Eltern in der Schriftleitung der ‚Roten Erde‘. Als drittes hat der Sprößling der beiden bei unseren Lesern seine geistigen Urheber, und würden wir die Kohlenklau-Familiengeschichte nicht schleunigst beenden, dann würden wir in kurzer Frist ein eigenes Kohlenklau-Familienblatt herausgeben müssen. Wir haben so viele Gedichte und andere Beiträge zur Familiengeschichte der sauberen Spitzbuben-Familie bekommen, daß wir beim besten Willen mit dem Abdruck nicht nachkommen können. Wir machen also einen dicken Strich und lassen die Familiengeschichte der Kohlenklaus nunmehr auf sich beruhen“ (Kondi, Die Kohlenklau-Familiengeschichte, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Denn noch vergnüglicher als das Umfeld der Wasserplansche sei die Zeit nach dem Sieg, dem über Familie Kohlenklau, dem über die Alliierten. “Kohlenklau, Wasserplansche und ihr Sprößling sind zwar die heitere Form, ernste Dinge zu behandeln, aber davon werden diese ernsten Dinge nicht aus der Welt geschafft. Ueber Kohlenklauscherze wollen wir lachen, aber im Ernst wollen wir das tun, was damit doch immer wieder geraten wird: Kohlen sparen, Licht sparen, Strom sparen, Wasser sparen, bei sich und auch bei andern und wo es heutzutage noch ‚so etwas‘ gibt, dort wollen wir energisch zupacken!“ (Ebd.)

Doppelte Verschwendung im Brausebad (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5)

Doch die Schriftleiter wurden die Geister nicht mehr recht los, die sie einst gerufen hatten. Wohl auf Ansinnen der Leser folgten noch weitere Episoden, nun aber in ernster, mahnender Manier. Herren im Brausebad verschwendeten heißes Wasser – und schon tauchen sie auf, „Kohlenklau und Wasserplansche, das saubere Ehepaar; er begierig nach sinnlos vergeudeter Kohle und sie in vollen Zügen nutzlos verplanschtes Wasser schlürfend“ (Kondi, Kohlenklau im Bade, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5). Und die beiden Herren redeten derweil, vielleicht gar über die gierigen Ungeheuer, die sie doch nährten.

Familienstreit um Wasser und Kohlen (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Familie Kohlenklau blieb auch danach Gesprächsthema in Westfalen. Die Texte kreisten stärker um das Thema der Energie- und Wassereinsparung, doch die Familiengeschichte wurde mit dem ersten Krach der jungen Ehe fortgesetzt. Sie wollte Wasser, er Kohle, man stritt um die Wasserleitungen, ob diese gefroren platzen oder aber mit loderndem Feuer zum Fließen gebracht werden sollten. Da kannte die Wasserplansche keinen Spaß, begoss wutrasend Vater und Sohn. Die Moral war klar: „Aber irren wir uns nicht, sie sind bald wieder einig und ziehen wieder zusammen aus, Wasser, Kohlen, Licht, Strom und Gas gemeinsam zu stehlen, wo sie können! Drum lacht über sie – aber legt ihnen das Handwerk!“ (Krach im Hause Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Das Über-Ich der Volksgemeinschaft: Wasserplansche und Kohlenklau beobachten alle (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Und da waren sie schon wieder, nutzten die gute Laune und den laufenden Wasserhahn freudig aus. Und schon nahte der mahnende Zeigefinger des NS-Texters: „Nein, wenn auch noch so gut rasiert, gute Laune kann man bei solchem Unfug nicht mehr haben!“ (Kondi, Frisch rasiert – gut gelaunt!, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Familie Kohlenklau unter Druck (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Mahnung und Gewissenserforschung gingen jedoch miteinander einher. Die Leser wurden ernst genommen, gar ein Kohlenklau-Jahr ausgerufen. Sein Sinn aber wurde umgedeutet, Ausdruck spezifisch deutschen Humors. „Humor ist, Wilhelm Busch sagt es uns, wenn man trotzdem lacht. Und Kohlenklau ist Humor, ist die heitere Behandlung einer bitterersten Sache. Ist kein Witz, der leicht dahertändelt, sondern handfester Humor, der eine Sache derb und fest und humorig sagt, wie sie ist. […] Weiß Gott, dieser Krieg ist eine harte Schule, aber sie ist gut und leider für viele auch notwendig. Seien wir dankbar, auch wenn es wehe tut, auch wenn wir weinen müssen, auch dann, wenn wir nicht mehr lächeln, sondern nur noch grimmig grinsen, wenn wir nur hinter zusammengebissenen Zähnen lachen können. – Das kann man! Rüsten wir uns auf ein Kohlenklaujahr! Auf ein Jahr, das schwer, hart, vielleicht sogar noch ärger wird. Rüsten wir uns darauf, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sie zu nehmen und dabei doch zu lachen.“ Der Krieg erfordere Humor, „heitere Herzen, steife Nacken, zähen Willen, feste Zuversicht“. Dann werde man die Feinde, werde auch Wasserplansche und Kohlenklau besiegen: „Rückt ihnen auf den Leib, jagt sie hinaus, laßt sie verhungern und verdursten und mit ihnen alle [sic!, US] Kleinmut, alle Zaghaftigkeit, alles Wehleidige und Müde – nun erst recht!“ (Kondi, Das Kohlenklau-Jahr, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Wasserplansche, Kohlenklau und Söhnchen Kohlenklaus mit reicher Jahresernte (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Fast schien es, als sei dadurch das letzte Wort geschrieben, die Kampagne beendet. Doch bei einer Auflage von über 200.000 Exemplaren finden sich immer Zuschriften, die nicht übergangen werden konnten. Elf Dortmunder, Reichsarbeitsdienstmännern im „Hohen Norden“, beschrieben ihren eifrigen Kampf gegen den unrühmlich bekannten Energiefeind Kohlenklau. Das beigefügte Gedicht entsprach allerdings nicht den Grundansprüchen an deutsche Reimkunst. Daher wurde es graphisch umgesetzt, und die regimetreue Moral in verbesserten Reimen dargeboten: „Nun, liebe Leute, seid ganz Ohr: / kommt sowas auch bei ihnen vor? / Habt ihr Kohlenklau im Haus, / schmeißt ihn gleich zur Tür hinaus! / Dann wird so ein Tag gewonnen, / spart der Rüstung viele Tonnen“ (Kohlenklau im RAD, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5).

Ergänzung der Kohlenklau-Kampagne aufgrund einer Leser-Zuschrift (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5)

Danach ebbte der Zufluss offenbar ab. Doch für ein Grande Finale war noch Raum. Im Frühling wurde nochmals des schnurrigen Kohlenklaus gedacht, der „uns im Winter viel Spaß gemacht“ hat. Die Gefahr der Kohleverschwendung sei durch das Ende der Heizperiode verringert, auch wenn weiterhin „die Dame Wasserplansch, die wir dem wüsten Kohlenfresser angetraut haben, umso fleißiger nach allem umtun [wird, US], was sich schlucken läßt.“ Doch es galt nun die Blicke zu weiten, hin auf neue Schädlinge. Kohlenklau, dessen Helfershelfer im Märzen just alle besiegt waren, habe allen die Augen geöffnet, ebenso die Wasserplansche: „Den Kohlenklau sind wir los, seine Trabanten, die Schädlinge jeder Art, wollen wir aber weiter jagen, wo sie sich zeigen“ (O. Schr., Abschied von Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3). Das war der letzte Auftritt von Wasserplansche, Kohlenklau und Kohlenkläuschen – noch wusste man nichts von den Fortsetzungen der staatlichen Propaganda, von den „Waffen gegen Kohlenklau“. Nun standen wieder andere Fraßfeinde im Mittelpunkt, die Motten, die Ratten, die Kartoffelkeime, der abzuwehrende Verderb.

Familie Kohlenklau im Umfeld weiterer „Volksschädlinge“ (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3)

Leisten wir uns nach alledem ein wenig Abstand: Die Wasserplansche erschien exklusiv in der führenden westfälischen Tageszeitung von November 1943 bis März 1944 an der Seite ihres Gatten Kohlenklaus, häufig mit ihrem Sohn Kohlenkläuschen. Die Familienerweiterung war eine Folge der zunehmend humoristischen Perzeption der staatlichen Hauptserie und deren zunehmender Umdeutung durch das lesende und schauende Publikum. Zeichner und Texter der Westfälischen Landeszeitung gaben dem anfangs nach, wurden dann jedoch vom Druck des Volkes teils unwillig mitgerissen. Der Ernst des Kampfes gegen Energie- und Wasserverschwendung ging zunehmend verloren, wurde zugleich aber umso stärker beschworen. Die Fortführung der Geschichte von Wasserplansche und Kohlenklau war eine Konzession an ein Publikum, das Unterhaltung wollte, ein wenig Amusement im brutalen Tagestrott, das Sparsamkeit zumal bei denen einforderte, die von diesem Regime profitierten. Diese Tendenz schwindender Wirksamkeit wohnte auch der staatlichen Kohlenklau-Kampagne inne, konnte dort durch Berücksichtigung der spielerischen und humoresken Akzente der Hauptfigur aber begegnet werden. In den Nebenkampagne aber zeigten sich die Grenzen der Propaganda auch und gerade des Nationalsozialismus. Zeitgleich optierte das Publikum in der Ende 1943 einsetzenden Liese-Miese-Kampagne, zumindest in den Kinos, eher für die eigensüchtig agierende Miese statt für die blonde linientreue Liese (Brigitta Mira, Kleine Frau, was nun? Erinnerungen an ein buntes Leben, München 1988, insb. 100). Auch Wasserplansche war so wie man gerne hätte sein wollen, ein wenig eigensüchtig, ein wenig verschwenderisch. Dennoch hat diese Figur dem realen Problem der Wasserverschwendung ein Bild gegeben. In den weiter gepflegten Hilfsangeboten der Tageszeitungen fragten Leser nicht nur wie man Verluste im Wasserkasten der Toilette begrenzen könne, sondern direkt, „wie der Wasserplansche“ beizukommen sei (Wenn der Wasserkasten im WC dauernd läuft, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 109 v. 11. Mai, 3). Die Nebenkampagne wurde in der Nachkriegszeit und auch der Erinnerungskultur allerdings rasch vergessen.

Künstlerin für das NS-Regime: Erika Beccard-Pilius, Pressezeichnerin und Kampagnenhelferin

Damit könnten wir eigentlich ein allgemeineres Fazit ziehen – und Herunterscrollen ist Ihr Privileg. Doch angesichts der biographischen Näherung an Hans Landwehrmann scheint mir ein paralleles Eingehen auf Erika Beccard-Pilius, die Schöpferin der Wasserplansche, hilfreich und notwendig. Eine Pressezeichnerin als NS-Propagandistin, das ist auf den ersten Blick besonders spannend: Die „Interpress“, von 1940 bis 1942 führende Bildagentur für politische Zeichnungen, vertrieb Arbeiten von mindestens 80 Männern – und von keiner Frau. Für die Bild- und Textagentur „Bilder und Studien“ zeichneten mindestens 26 Männer – und auch darunter kein weibliches Wesen. Doch dies ist eine Einseitigkeit, die das Vordringen von Frauen im NS-Pressewesen unterschlägt. Nicht nur bei Mode- und Kinderzeichnungen oder ein wenig Kunst, sondern auch im Alltagsgeschäft konnten sie sich während der NS-Zeit zunehmend etablieren. Neben Erika Beccard-Pilius ist im westfälisch-rheinischen Gebiet an Erika Feder (Remscheider General-Anzeiger), Magdala Häußer-Poly (Bonner General-Anzeiger) und insbesondere an Gerda Schmidt (Essener Allgemeine Zeitung) zu erinnern, die 1942 auch eigene Beiträge für die ebenfalls ausfransende Propaganda-Kampagne um Herr Bramsig und Frau Knöterich zeichnete. Der Anteil von Frauen bei den Schriftleitern (inklusive der Pressezeichnerinnen und Fotografinnen) lag 1935 reichsweit bei ca. 5,6, 1939 dagegen schon bei 8,8 Prozent (Susanne Kinnebrock, Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung, in: Martina Thiele (Hg.), Konkurrierende Wirklichkeiten, Göttingen 2005, 101-132, hier 122, FN 29). Dieser Anteil stieg während des Krieges weiter, allerdings in einem insgesamt schrumpfenden Arbeitsmarkt.

Erika Beccard-Pilius im Selbstporträt (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8)

Erika Beccard – der Name verweist auf hugenottische Vorfahren – war die Tochter der Bürovorstehers Wilhelm Beccard und seiner ihm 1903 angetrauten Gattin Luise (1881-1956), die unter dem Doppelnamen Beccard-Blensdorf bis heute als „Siegerländer Heimatdichterin“ gilt (Dortmunder Adreßbuch 1903, T. 2, 19; Siegener Zeitung 1903, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3). Ihre Lyrik, gedruckt vor allem in der Siegener Zeitung, wurde 1909 in „Gedichte“, dann 1918 in „Aus Sturm und Stille“ gebündelt. Sie verband protestantische Innerlichkeit mit einer Vergötterung der Natur, mit melancholisch-hymnischem Nationalismus. 1936 folgte „Nachsommer“ mit einer Einbandzeichnung von Erika und Scherenschnitten ihrer Schwester Hanna (Münsterischer Anzeiger 1939, Nr. 435 v. 23. September, 2). Eine dritte Schwester, Trude, ist nachweisbar (Siegener Zeitung 1926, Nr. 301 v. 24. Dezember, 4).

Das junge Ehepaar Beccard-Blensdorf zog spätestens 1906 nach Bielefeld, wo Wilhelm als Generalagent einer Schweizer Versicherung tätig war, wo 1906 Hanna und 1909 eine weitere Tochter, wahrscheinlich Erika, geboren wurden (Bielefelder General-Anzeiger 1907, Nr. 171 v. 1. Juli, 8; ebd. 1906, Nr. 72 v. 26. März, 10; Volkswacht 1909, Nr. 278 v. 29. November, 8). Die Familie zog ca. 1912 nach Dortmund. Wilhelm arbeitete auch dort als Generalagent, seit Kriegsbeginn als Buchhalter, in den frühen 1920er Jahren als Versicherungs- resp. Bürobeamter und war seit 1929 schließlich wieder als Generalagent tätig (Dortmunder Adreßbuch 1912, T. 2, 18; 1915, T. 2, 21; 1924, T. 2, 29; 1929, T. 2, 28). Erika dürfte also im gesicherten bildungsbürgerlichen Umfeld aufgewachsen sein. Ihre Schwester Hanna reüssierte schon früh mit ihren Scherenschnitten, Erika steuerte 1929 Zeichnungen zum Heft „Dortmunder Fasching“ bei (Siegener Zeitung 1918, Nr. 69 v. 22. März, 2; ebd. 1926, Nr. 161 v. 13. Juli, 7; Dortmunder Zeitung 1929, Nr. 57 v. 3. Februar, 7). Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits als „Helferin“ tätig, eventuell in der Imkerei, wie zuvor ihre Schwester Trude (Dortmunder Adreßbuch 1928, T. 2, 19; Landwirtschaftliche Mitteilungen für das Siegerland 1925, Nr. 15 v. 22. Juli, 4).

Die Biographie Erika Beccard-Pilius ist nur ansatzweise zu rekonstruieren, Archivalien fehlen, Widersprüche bleiben. Doch es handelt sich um das Hereinwachsen einer jungen begabten Frau in das NS-Regime, um das Werden einer gläubigen Propagandistin abseits des Martialischen. Sie präsentierte 1933 jedenfalls „elegante Farbzeichnungen“ bei einer Ausstellung, erschien damals auch erstmals mit einem Doppelnamen – analog zu ihrer Mutter („Fleiters gute Stuben“, Dortmunder Zeitung 1933, Nr. 525 v. 9. November, 7). Ihr Gatte dürfte Hans Pilius gewesen sein, der 1930 als Baupraktikant firmierte, dann als Schlosser, ab 1934 als Zeichner, seit 1938 als Polier, schließlich als Bauführer (Dortmunder Zeitung 1930, Nr. 26 v. 11. Juni, 7; Dortmunder Adreßbuch 1930, T. 3, 21; ebd. 1934, T. 2, 421; ebd. 1938, T. 2, 441). Möglich, dass sich das Paar 1938 getrennt hat, jedenfalls signierte die Zeichnerin von 1938 bis 1941 meist als Erika Beccard. Im Dortmunder Adreßbuch tauchte sie 1938/39 noch als „Erika Pilius, Ehefr[au]“ auf, ab Ende 1939 als „Pressezeichnerin“ Erika Beccard (Dortmunder Adreßbuch 1938, T. 2, 441; 1939, T. 2, 444; 1940, T. 2, 25). Erika Pilius-Beccard dürfte zuvor hinter ihrem Mann als Haushaltsvorstand verschwunden sein. Ob die Trennung mit einem 1940 gegen Hans Pilius geführten Prozess zusammenhing ist unklar (Bundesarchiv Lichterfelde R 3001/114014, NS 14/313). Die Ehe blieb jedenfalls kinderlos, während Erika, die auch den Doppelnamen Pilius-Beccard wählte, sich innerhalb der NSDAP-Gauzeitung etablierte.

Dort zeichnete und textete sie anfangs Mode- und vor allem Kinderzeichnungen, schwärmte darin „von der großen Aufbauarbeit unseres deutschen Volkes“ (Erika Pilius Beccard, Deutsche Frühjahrs-Moden, Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 83 v. 25. März, Beil. Wir Frauen, 10). 1934 nahm die Zahl ihrer Zeichnungen in der Westfälischen Landeszeitung rasch zu, sie illustrierte teils mit ihrem Namen, teils mit ihrem Kürzel ebp, teils aber auch ohne jede Signatur die wöchentliche Kolumne „Von Sonntag zu Sonntag“, lieferte zudem zahlreiche Beiträge für die illustrierte Wochenbeilage „WLZ am Sonntag“. Ende des Jahres zeichnete sie sich als selbstbewusste junge Frau, die Neid und Klatsch den Kampf ansagte, die das Leben einfing und feierte: „Strömt herbei zur ebp, es wird gemalt und tut nicht weh“ (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8).

Alltags- und Kinderwelten: Wochenendfahrt ins Hochsauerland und der Osterhase (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 42 v. 11. Februar, 6 (l.); WLZ am Sonntag 1936, Nr. 15 v. 12. April, 6)

Erika Beccard-Pilius illustrierte vorrangig Unterhaltungsartikel, visualisierte Alltagseindrücke, sei es den Wochenendausflug ins Hochsauerland oder den Bratwurststand in Dortmund. Dabei kooperierte sie eng mit den virtuell federführenden Textern. Zugleich aber begann sie das politische Geschehen freundlich und anheimelnd zu illustrieren (Hans Terlinden, Deutsche Jugend heraus zum Wettkampf!, Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 48 v. 17. Februar, 16). Urlaub, Alltags- und Wochenendfreuden, Trinken und Betrunkensein, Liebe und Familienthemen waren ihr Beritt, sie zeichnete die Freuden des Alltags, die guten Dinge der neuen Ordnung. Hinzu traten vielfältige Hilfen zur Alltagsgestaltung, kleine Anleitungen im Sinne des NS-Regimes.

Zeichnungen als Alltagshilfe: Aufhängen nasser Kleidung und Vorgartenentrümpelung (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 6 v. 7. Januar, 1 (l.); Westfälische Landeszeitung 1938, Nr. 317 v. 22. November, 7)

Parallel illustrierte sie Jugendbücher, etwa das in der Tschechoslowakei später verbotene „Jungmädelleben“ der Gauführerin und Pressereferentin in der Reichsjugendführung Trude Höing (Trude Höing, Jungmädelleben. Ein Jahrbuch für 8-14jährige Mädel, Leipzig 1934; Lippische Staatszeitung 1934, Nr. 325 v. 12. Dezember, 6; Illustrirte Zeitung 185, 1935, 388). Erika Beccard-Pilius visualisierte das NS-Frauenbild, zeigte, „wie das Jungmädel als Glied seiner Organisation auf das kampf- und arbeitsreiche Leben einer deutschen Frau vorbereitet wird“ (National-Zeitung 1936, Nr. 265 v. 12. November, 8). Hinzu traten „Kulturarbeiten“ im Umfeld der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (Wolfgang Hirschfeld, Die Betreuung des Dorfes, 31.-35. Tsd. Berlin 1937). Sie lieferten im Kampf gegen die „Landflucht“ Anregungen für Dorfgemeinschaftsabende, insbesondere Theaterarbeit, Musik, Gesang und Marionettentheater (Kulturarbeit auf dem Lande, Beobachter für das Sauerland 1937, Nr. 208 v. 4. August, 3). Der Kontext war agrarromantisch, auch rassistisch (Wolfgang Hirschfeld, Bäuerliche Volkstumsarbeit auf rassischer Grundlage, Rasse 2, 1935, 336-345). Beccard-Pilius‘ Zeichnungen waren freundlich, nett, visualisierten Vorstellungen einer gelingenden Volksgemeinschaft, traditionsbewusst und schollengebunden (Otto Schmidt (Hg.), Feste und Feiern im Jahresring, Berlin 1940; Wilhelm Schleef, Düet es dat Bauk van Schulte Wuordelbuk, hg. aus Anlass d. 800-Jahrfeier d. Ortsteils Dortmund-Sölde v. d. Bauerschaft Sölde in Verb. mit der NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ Kreis Dortmund, Abt. Volkstum-Brauchtum, Dortmund 1938). Wilhelm Schleefs (1889-1968) Band wurde 1971 von der Stadtsparkasse Dortmund neu aufgelegt, unverändert, mit einer Schallplatte ergänzt.

Die junge Zeichnerin etablierte sich lokal, lieferte die Dekoration für das Dortmunder Pressefest 1937 (1500 vergnügte Menschen, Tremonia 1937, Nr. 66 v. 8. März, 5), begann einzelne Zeichnungen über den Deike-Materndienst auch überregional zu platzieren (Ebd. 1937, Nr. 222 v. 25. September, 21; Zeno-Zeitung 1937, Nr. 203 v. 25. Juli, 14). Sie waren zumeist „unpolitisch“, Kinderthemen, Landschafts- und Stadtansichten. 1939 zeichnete sie den Weihnachtsgruß für die Branchenzeitschrift „Deutsche Presse“ (Ebd. 29, 1939, 420). Erika Beccard-Pilius war lokal verwurzelt und überregional bekannt. Politische Themen bediente sie selten, doch sie bediente sie. Frausein mochte helfen, die Simplicissimus-Karikaturistin Franziska Bilek (1906-1991) konnte mit dem Verweis, dass Politik nur etwas für Männer sei, die gängigen, vielfach antisemitischen und antibolschewistischen Hetzzeichnungen dieser bis heute gern als „kritisch“ verklärten NS-Zeitschrift großenteils vermeiden. Erika Beccard-Pilius näherte sich staatpolitisch unmittelbar relevanten Themen in kleinen Schritten, etwa in Zeichnungen gegen die insbesondere von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) seit 1934 immer wieder kritisierten Miesmacher und Meckerer, Spießer und Klatschbasen, präsentierte den Nationalsozialismus als jugendliche Kraft überlegener Moral und wechselseitiger Rücksichtnahme (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 357 v. 31. Dezember, 18). Ihr Harmonieideal war das der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Gleichsam folgerichtig lieferte sie auch eigene, ergänzende Beiträge zu staatlichen Propagandakampagnen, etwa den Eintopfsonntagen oder der Groschengrab-Kampagne.

Beiträge zu staatliche Propagandakampagnen: Groschengrab und Eintopfsonntag (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 14)

Während des Weltkrieges zeichnete Erika Beccard-Pilius unverdrossen weiter, meist schöne und nette Alltagsgeschichten, ebenso Landschaften und viele markante Gebäude. Doch sie veröffentlichte zugleich Arbeiten, die im Sinne des NS-Regimes freundlich anleiteten, nationalsozialistische Moral vor Augen führten. Höflichkeit und wechselseitiger Respekt wurden (im Rahmen und in Weitung einschlägiger staatlicher Kampagnen) vor Augen geführt – und das ging bis hin zum Umgang mit den Exkrementen der Mitte des Krieges nicht mehr allzu zahlreichen Hunde.

Für Höflichkeit zwischen Verkäuferinnen und Käuferinnen, für die Beseitigung der Exkremente des eigenen Hundes (Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 63 v. 5. März, 5 (l.); ebd. 1942, Nr. 186 v. 16. Juli, 5)

Ausgrenzung der Gemeinschaftsfremden: Anonyme Briefschreiberin und – im historischen Umfeld – der jüdische Hausierer (Westfälische Landeszeichnung 1944, Nr. 70 v. 23. März, 3; ebd. 1944, Nr. 76 v. 30. März, 3)

Nationalsozialistische Moral sollte die Volksgemeinschaft prägen, definierte und bekämpfte zugleich auch Gemeinschaftsfremde. Sie waren teils grotesk-drastisch, wie das obige Porträt einer anonymen Briefschreiberin, teils stereotyp wie die nebenstehende Illustration eines jüdischen Hausierers. Beccard-Pilius stellte ihre Arbeiten auch aus, als Teil der nationalsozialistischen Künstler der Gegenwart (Ausstellung im „Dietrich-Eckart-Haus“, Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 163 v. 20. Juni, 8). Dominant aber blieben, zumal in der Kolumne „Das bunte Leben“, Eindrücke aus dem kleinbürgerlichen Alltagsleben, dann vielfach eskapistische Naturzeichnungen resp. Abbilder der imaginierten friedlichen und guten Welt vor dem Krieg, eines schönen Septembertages, eines trommelnden Spechtes oder aber der Weinlese. Insgesamt harrt eine vierstellige Zahl von Zeichnungen ihrer stärker systematischen Erschließung.

Wassersparen als Aufgabe der Hausfrau (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 98 v. 27. April, 4 (l.); ebd. 1943, Nr. 258 v. 4. November, 5)

Die Schaffung und Zeichnung der Wasserplansche passte in dieses Umfeld, die mit der Wasserversorgung verbundenen Alltagsfährnisse fanden auch nach Ende dieser Nebenkampagne zu Kohlenklau weiter Beachtung. Auch Texter Kondi bediente kontinuierlich das Feld: „Wasser, das zwar noch keine Kostbarkeit ist, wie in der Wüste, das wir aber trotzdem so behandeln wollen, wie alle Dinge, die wir brauchen: sinngemäß, vernünftig und so, daß sie den größten Nutzen für unsere Kriegsanstrengungen bringen!“ (Kondi, Hier muß was zugedreht werden…, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 258 v. 4. November, 5). Erika Beccard-Pilius zeichnete bis Ende 1944, dann erfolgte ein Bruch, erst 1949 findet man vereinzelte Anknüpfungen an die produktive Arbeit während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 278 v. 28 November, 3; Westfälische Nachrichten 1949, Nr. 85 v. 21. Juli, 4).

Näheres zum Umbruch, zur Entnazifizierung, zum Neubeginn gibt es kaum. Die nun durchweg als Erika Pilius-Beccard erscheinende Zeichnerin nahm 1947 erstmals wieder an einer regional ausgerichteten Ausstellung im Hagener Karl-Ernst-Osthaus Museum teil (Martin Papenbrock, „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandkunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie, Weimar 1997, 226). In den Vordergrund traten jedoch Illustrationen für Fibeln und Kinderbücher: Die nicht mehr als solche tätige NS-Pressezeichnerin schuf eine heile Welt für Kinder, für Leseunterricht in der Grundschule (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1947; Lüdenscheid 1947; ebd. 1948, 1951 und 1953). Pilius-Beccard nutzte ihre persönlichen Kontakte für Arbeitsmöglichkeiten, sicher auch für gebrochene Formen der Selbstfindung. Zum Kinderbuch „Die ertrunkene Sonne“ (Frowalt von Woldenberg [d.i. Karl Heinrich Schmidt], Die ertrunkene Sonne und andere Märchen, Recklinghausen 1943, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; 1-5. Tsd. und 6.-10. Tsd. Recklinghausen 1948) hieß es beredt: „Das titelgebende Märchen ist noch ganz vom Trauma des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt.“

Bildwelten in der Nachkriegszeit (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Lüdenscheid 1948, 34)

Weitere Illustrationsarbeiten folgten (Otto Blensdorf, Was sollen wir spielen und singen. Spielturnformen und daraus entstandene Spiel- und Bewegungslieder für Kindergarten, 1. und 2. Schuljahr, Bad Godesberg 1947; Paula Münster, Walddorle und andere Märchen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; Recklinghausen 1948; Georg Breuker, Es klopfte dreimal an mein Tor. Ein Sommeridyll, Bochum 1950). Doch dann endeten einschlägige Arbeiten, mit Ausnahme der Illustration eines späten Buches des Bochumer Schriftstellers Georg Breuker (1876-1964) (Gedichte eines Bergmanns, Hattingen 1961).

Fassen wir zusammen, so unterschied sich Erika Beccard-Pilius Karriere deutlich von der Hans Landwehrmanns. Als Frau leistete sie mit der Wasserplansche einen ergänzenden Beitrag zur Kohlenklau-Kampagne, der versuchte, nationalsozialistische Propagandaziele mit den nur teils deckungsgleichen Wünschen der Leserschaft miteinander in Balance zu bringen. Dazu war ihre Arbeit besonders geeignet, denn sie chargierte während der NS-Zeit zwischen schönen Bildern eines fröhlichen und guten Lebens und den aus ihrer Sicht berechtigten Anforderungen der Volksgemeinschaft und des Regimes. Erika Beccard-Pilius steht für die Einbindung und Nutzung eines zerbrechenden nationalen Bildungsbürgertums, das mit dem Nationalsozialismus kooperierte, ihm gläubig diente, ohne aber in ihm aufzugehen. Diese in den Bildern auch und gerade der Wasserplansche offenkundige Differenz ermöglichte zugleich eine breitere Wirkung der staatlichen Propagandakampagne. Erika Beccard-Pilius baute Brücken, begünstigte das letztlich willige Mitmachen in zunehmend kritischer Zeit, war Teil einer bis zur totalen Niederlage selbstverachtend mitziehenden Volks- und Kampfgemeinschaft.

Humor als popularisierendes Element der Sparsamkeitsappelle

Die Wasserplansche war gewiss der groteske Höhepunkt in der Ausdifferenzierung der Kohlenklau-Kampagne. Sie unterstrich deren Vielgestaltigkeit, die so gewiss nicht geplant war, die aber wesentlich zu ihrer Popularität, eventuell auch zu begrenzten Erfolgen im Sinne des NS-Regimes führte. Während die Wasserplansche-Zeichnungen jedoch noch einen inneren Zusammenhalt besaßen und eine zusammenhängende Geschichte ermöglichen, gilt dies kaum für die abschließend nur anzureißenden vielen kleinen Einzelinitiativen im Umfeld der Kohlenklau-Kampagne. Sie spielten mit den Vorlagen der staatlichen Propaganda, machten sie handhabbar, zu etwas Eigenem. Doch war es NS-Propaganda, wenn Klein-Erika im zur Ersatzbadewanne mutierten Kohleneimer posierte? War dies nicht eher Ausdruck von nicht stillzustellender und doch lenkbarer Phantasie, die für die Leistungsfähigkeit jedes Systems unabdingbar ist? Und was bedeutet dieses Eindringen der Propaganda in die Alltagsbilder für die Analyse der NS-Propaganda als solcher?

Kohlenklau ein Schnippchen schlagen: Humoristische Überdeckung der Alltagsenge (NS Frauen-Warte 12, 1944, 174)

Viele professionelle Zeichner vermengten die politische Zeichnung, die regimetreue Verächtlichmachung des Feindes, mit der Kohlenklau-Kampagne. Dafür gab es keine Anweisung, so etwas erfolgte eigenständig. Das galt auch für die Schaufensterdekoration in der 1809 gegründeten Karlsruher Eisenwarenhandlung Hammer & Helbing: Turmtöpfe lenkten auf das eigene Angebot. Doch im Hintergrund lugte Kohlenklau, gierte nach Energie, auch nach Zuschauern der Inszenierung seiner Schandtaten (Der Führer 1943, Nr. 83 v. 24. März, 3). Endlich ein Schauspiel „Alle gegen Einen“ (Ebd. 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 4).

Kohlenklau als Statthalter Churchills (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 169 v. 25. Juni, 6)

Die Vielgestaltigkeit der Kampagne spiegelte sich auch in immer neuen Sprachkreationen. Groschengrab und Kohlenklau galten nicht nur als Energie-, sondern auch als „Zeitdiebe“ (Nur eine halbe Stunde!, Die Bewegung 11, 1943, 67). Der NS-Vorzeigehumorist Emmerich Huber (1903-1979) visualisierte den „Stundenklau“, auch den „Kartoffelklau“ (Arbeitertum 12, 1943, Nr. 10, 8; ebd. 13, 1944, Nr. 9, 8). Im Lexikon der deutschen Gegenwartssprache finden sich weitere Komposita, unter anderem der Nervenklau.

Auch visuell schrieb man die Kohlenklau-Kampagne fort: Hans Landwehrmann zeichnete 1943/44 für den Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung den „Dreckspatz“ für Kampagnen zum schonenden und chemikalienarmen Wäschewaschen (Kohlenklau als Wäschemarder, Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 153 v. 4. Juli, 4). Kohlenklau inspirierte neue NS-Propagandawelten, auch wenn die von Erika Beccard-Pilius geschaffene Wasserplansche kein Pendant hatte. All dies war funktional für die neuerliche Mutation des Kohlenklaus in der Nachkriegszeit, in der er begründete Widerständigkeit verkörperte, den Diebstahl von Kohle und mehr für das eigene Wohlbefinden oder gar das Überleben insbesondere im Winter 1946/47.

Fazit: Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda

Wie funktionierte NS-Propaganda? Unsere empirisch valide, gleichwohl teils nur an der Oberfläche kratzende Analyse konnte belegen, dass von einer gleichsam in sich geschlossenen Kohlenklau-Kampagne auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. So gewichtig und alltagsprägend die Propaganda auch war, so war sie doch nicht einzigartig, denn „Squander Bug“ verweist auf ähnliche, aber doch anders ausgerichtete Kampagnen der westlichen Demokratien, deren Kriegswirtschaft ähnliche Probleme wie das NS-Regime zu bewältigen hatte und zu ähnlichen Negativgeneralisierungen griff. Kohlenklau war die umfangreichste NS-Propagandakampagne während des Zweiten Weltkrieges. Doch sie wurde durch die vielfach eigenständigen Parallelaktionen der Privatwirtschaft nicht nur umkränzt, sondern von der Motiv- und Anzeigenzahl her übertroffen. Werkzeitungen und Annoncen griffen die Kohlenklau-Figur folgsam und doch eigenständig auf, nutzten deren Popularität für eigene Zwecke in den Betrieben und bei der Vermarktung. Die Wasserplansche-Kampagne schrieb die Hauptgeschichte weiter, machte Kohlenklau zum Anhängsel, zur Unterhaltungsware, zur Lachnummer. Dies entsprach der Wahrnehmung der Figur durch die Volksgenossen, die sich in ihrem Alltag an vielen weiteren Fortschreibungen erfreuten. So sehr die Sparsamkeitsideale des NS-Regimes und der Privatwirtschaft auch grundsätzlich geteilt wurden, so enthielt Kohlenklau doch zugleich ein kritisches, rückfragendes, auf die Praxis der NS-Eliten gerichtetes Moment. Die kriegsbedingte Einschränkung der Zeitungen und Zeitschriften hob Kohlenklau unverdient besonders hervor, die Kunstfigur wurde eine auch eigenständig genutzte Projektionsfläche für Ansprüche abseits der Kriegsnotwendigkeiten. Diese Vielgestaltigkeit, teils auch Widersprüchlichkeit machten Kohlenklau zur besterinnerten Kampagne ihrer Zeit, waren auch Garanten für ihre Uminterpretation in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wie funktionierte NS-Propaganda? Gewiss nicht so, wie es uns die großen politischen Inszenierungen, die Selbstdarstellung des Regimes und auch deren zu enge Analyse in der Geschichtswissenschaft nahelegen.

Uwe Spiekermann, 19. April 2025

Ehret das Brot! Wirtschaftlichkeit, Wertschätzung und Wehrbereitschaft 1925-1945

“Wir haben’s immer dankerfüllt geschätzt / Als unseres Volkes tiefsten Kräfteborn, / Wir hieltens wert – doch nimmer so wie jetzt, / Das deutsche Brot, aus echtem deutschem Korn” (Wochenblatt der Landesbauernschaft Westfalen 1937, 1759). So klang es beim Erntedank 1937 – und diese Wertschätzung umfasste auch eine weit längere Reihe heimischer Lebensmittel.

Wertschätzung von Lebensmitteln wird seit einigen Jahren wieder eingefordert, „in der Diskussion um die Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme und die Förderung nachhaltigeren Ernährungshandelns wird der Wertschätzung von Lebensmitteln eine zentrale Bedeutung zugeschrieben“ (Regine Rehaag und Stefan Wahlen, Call for Participation and Save the Date ‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘ Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln? Tagung des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) am 13. Mai 2025). Anlass und Motive sind andere, auch wenn abermals der Staat systematisch fördert und finanziert. Der scheidende Ernährungsminister Cem Özdemir betonte während der Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel!“ im Spätsommer 2023: „Etwa 11 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jedes Jahr in Deutschland in der Tonne – vieles davon ist noch einwandfrei genießbar. Ob zu viel gekauft, zu viel gekocht oder zu viel auf den Teller geladen: Alle können dazu beitragen, dass diese enorme Verschwendung von Lebensmitteln aufhört. Denn die meisten Abfälle – insgesamt fast 60 Prozent oder rund sechs Millionen Tonnen – fallen in Privathaushalten an“ (BMEL – Pressemitteilungen – Özdemir eröffnete Aktionswoche Deutschland rettet Lebensmittel!). Schon zuvor hatte das korporatistische Deutschland einen „Pakt gegen Lebensmittelverschwendung“ (Pakt gegen Lebensmittelverschwendung) geschlossen, in dem ambitionierte Ziele der Abfallreduktion im europäischen und internationalen Rahmen vereinbar wurden.

Wer wollte dagegen sein – auch wenn die Hauptlast der Abfallvermeidung von den offenbar verschwenderischen Privathaushalten zu schultern ist. Für einen Historiker ist es allerdings frappierend, dass derartig zukunftsgewandte appellative Aktionen öffentlich lanciert und propagiert werden, ohne den langen Schatten der Geschichte, den gesammelten Erfahrungsschatz der Lebenden und der Toten mit einzubeziehen. Gegenwärtige Probleme einer modernen, technisch und arbeitsteilig organisierten Gesellschaft werden benannt und angegangen, ambitionierte Zielsetzungen festgeschrieben und ihre Umsetzung abverlangt. Doch mit der Genese dieser Probleme, mit den vielgestaltigen bisher eingesetzten und durchaus problemvermindernden Techniken und Praktiken wird sich kaum beschäftigt. Nahrungsmittelverluste gelten vornehmlich als „Symptom unserer heutigen Überflussgesellschaft“ (Ricarda Weber, Christian Strotmann und Guido Ritter, Adressatenspezifische Kommunikationskonzepte zur Lebensmittelabfallreduktion in deutschen Privathaushalten, Österreichische Wasser- und Abfallwirtschaft 71, 2019, 246-262, hier 246). Der Klimawandel, der Welthunger, selbst der Ukrainekrieg, sie alle unterstreichen lediglich, „wie zeitkritisch die Transformation hin zu zirkulärem Wirtschaften“ (Rat für Nachhaltige Entwicklung, Zirkuläres Wirtschaft: maßgebliche Voraussetzung für eine nachhaltige Transformation, o.O. 2023, 2) und zu neuer Wertschätzung von Lebensmitteln ist. Ergebnisse der Umwelt-, Technik-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte werden von der neuen Transformationsforschung fast durchweg ignoriert: Vielleicht, weil alles wirklich so drängend ist, dass ergänzende Lektüre nicht einmal rudimentär erfolgen kann; vielleicht, weil von empirisch valider Reflektion anderer Disziplinen die Gefahr ausgeht, Illusionen der Machbarkeit fundiert in Frage zu stellen (Heike Weber und Melanie Jaeger-Erben, Circular Economy: Die Wende hin zu ‚geschlossenen Kreisläufen‘ als stete Fiktion, in: Heike Weber (Hg.), Technikwenden. Historische Perspektiven auf soziotechnische Um- und Aufbrüche. Baden-Baden 2023, 169-197; Stefan Krebs, Heike Weber (Hg.), The Persistence of Technology. Histories of Repair, Reuse and Disposal, Bielefeld 2021; Roman Köster, Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945-1990, Göttingen 2017, etc., etc.). Statt mich hier aber an einer wahrlich vielgestaltigen Transformationsliteratur abzuarbeiten, die vornehmlich durch teildisziplinäre Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, will ich im Folgenden versuchen, einen kleinen Teilbereich der gegenwärtigen Transformationspolitik, nämlich die heutige Wertschätzungspolitik, an einem gewiss markanten Beispiel zu historisieren. Distanz, zumal historische, macht Probleme sichtbarer, eröffnet realistischere Zugänge als die Modellprojektionen in den stets offenen Horizont der Zukunft. Womit wir wieder bei dem wertschätzenden Gedicht anlässlich des nationalsozialistischen Erntedankfestes angekommen sind.

1. Wertschätzung als bürgerlicher Begriff zwischen Markt und Moral

Ich werde dem Phänomen derartiger Wertschätzungen in fünf Schritten nachgehen. Eingangs ist der Begriff selbst genauer einzuordnen.

Wertschätzung als interpersonaler Begriff des bürgerlichen Zeitalters: Relative Worthäufigkeiten 1750-1945 (Erstellt auf Grundlage von Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache.de; mit einem allerdings sehr kleinen Textkorpus)

Wertschätzung bezeichnete in vormodernen Zeiten Untertanenverhältnisse, wurde auch religiös gedeutet (Wertschätzung, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 29, München 1984, 492). Das änderte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dem bürgerlichen Zeitalter: Wertschätzung etablierte sich ab 1840 als interpersonaler Alltagsbegriff, als Ausdruck der Anerkennung von Mitbürgern, Großgruppen und Ideen: „Eine jede Wertschätzung ist eine Aussprache darüber, wie hoch eine Sache nach unserem Urteile zu halten sei; eine sittliche Wirtschätzung wäre also eine solche, welchen den Menschen oder seine Handlungen nach unserem sittlichen Urteile bemißt“ (Wilhelm Krämer, Ueber die sittliche Wertschätzung menschlicher Größe, Gera 1870, 20).

„Wertschätzung“ in Zahlen: Begriffskonjunktur insbesondere während der NS-Zeit (Zeitpunkt.NRW (l.) und Badische Landesbibliothek)

Der Begriff Wertschätzung wurde im 20. Jahrhundert nochmals wichtiger, zumindest wenn man den gängigen Zeitungsdatenbanken folgt: Gerade während der NS-Zeit machte er Karriere, wurde wie „Achtsamkeit“ oder „Haltung“ Ausdruck nationalsozialistischer Moral. Diese gab es, man diente höchsten Idealen, Sprache verlieh diesen Ausdruck (Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge 2003; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral aus historischer Erfahrung, Freiburg/Br. und München 2020, 104-136).

„Wertschätzung“ von Lebensmitteln als Tatsache (Der fortschrittliche Landwirt 23, 1941, Nr. 18 v. 3. Mai, 208 (o.).; Die Bastion 1936, Nr. 40 v. 4. Oktober, 1)

Wertschätzung war emotionsgeladen, diente der Gefühlsmobilisierung: Zunehmend weniger gegenüber Einzelnen, sondern immer stärker gegenüber Großgruppen, Institutionen und völkisch bedeutsamen Fähigkeiten. Die Verwendungspalette war breit: In den 1930er Jahren schrieb man über die Wertschätzung des Handwerks, der Berufskameraden, des Arbeitsmanns, der Schaffenden, der deutschen Hausfrau und Mutter, der Wirtschaft, des Könnens, des politischen Menschen, des Gegners, des deutschen Volkes, und natürlich des Jubelpaars und der teuren Verstorbenen. Wertschätzung gab es aber auch im Agrar- und Ernährungssektor, bezog sich auf Lebensmittel, auf Speisen: Der Begriff stand dort Seit an Seit mit Begriffen wie „Ehre“, „Achtung“ und „Würde“ – häufig umrahmt von mobilisierenden Tugenden wie „Pflicht“, „Verantwortung“ und „Haltung“.

Wertschätzung als ökonomischer Begriff, als Kernbegriff der subjektiven Wertlehre im frühen 20. Jahrhundert

Wertschätzung war aber auch, teils vorrangig, ein wissenschaftlicher Begriff. Er kombinierte mit „Wert“ und „Schätzung“ resp. „schätzen“ zwei ökonomische Grundbegriffe (Wert, in: Meyers Konversations-Lexikon, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 16, Leipzig und Wien 1890, 542-543). David Ricardo (1772-1823), Karl Marx (1818-1883) und die Wiener Grenznutzenschule stehen für bis heute lesenswerte Debatten über Wert und Wertschätzung. Sie kreisten um Markthandeln und Verteilungsfragen, waren zentral für die ökonomische Wertlehre. Ein Produkt würde nur dann gekauft, „wenn dessen Preis niedriger steht als meine Wertschätzung des Grenznutzens dieses Gutes“ (Eduard Kellenberger. Kritische Beleuchtung der modernen Wert- und Preistheorie, Phil. Diss. Basel, Tübingen 1916, 15). Schon vor 150, vor 120 Jahren wurde beherzt und kontrovers über die „Wandlung in den subjektiven Grundlagen der Wertschätzung und der Preisbildung“ diskutiert (Otto von Zwiedineck, Kritisches und Positives zur Preislehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 64, 1908, 587-654; 65, 1909, 78-128, hier 596). Die „subjektive“ Wertlehre stellte den Konsumenten gar ins Zentrum ihrer Überlegungen: „Der Preis geht auch auf Wertschätzungen der Konsumenten zurück. […] Resultat: die Kosten bestimmen weder den Wert noch den Preis, sondern Wert und Preis bestimmen die Kosten. Kostengüter haben eigentlich keinen Wert, sondern nur einen Preis. Der Preis ist aber nicht Ausdruck des Wertes. Der Preis der Kostengüter wird ausschließlich durch die Wertschätzung der Genußgüter seitens der Konsumenten bestimmt“ (Robert Liefmann, Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer rein subjektiven Wertlehre. Ein wirtschaftstheoretischer Versuch, Jena 1907, VIII). Der Konsument kann an sich homogene Güter heterogenisieren, vermag auch die vermeintliche Einheitlichkeit des Geldwertes zu durchbrechen (Andreas Hartmann, Unbezahlbar – Räume zwischen Preis und Wert […], in: Silke Meyer (Hg.), Money Matters. Umgang mit Geld als soziale und kulturelle Praxis, Innsbruck 2014, 241-249).

Dies schuf Marktchancen, nicht nur für Unternehmer, sondern gerade auch für zivilgesellschaftliche Akteure. Entsprechend war Marktversagen, etwa die Lebensmittelvergeudung, ein gängiges Thema: „Wieviel Lebensmittel gehen zugrunde, weil der Produzent oder der Händler sich über die momentane Nachfrage geirrt haben!“ (Robert Liefmann, Die Unternehmensformen mit Einschluß der Genossenschaften und der Sozialisierung, 2. umgearb. Aufl., Stuttgart 1921, 56). Der heute lediglich noch als Soziologe erinnerte Ökonom Emil Lederer (1882-1939) untersuchte auch theoretisch, wie die Differenz zwischen der Wertschätzung eines Gutes und des Geldes verschoben werden konnte (Aufriss der ökonomischen Theorie, Tübingen 1931, 192-252). Lebensmittelverschwendung war im Bilde der prassenden, verschwendenden Kapitalisten und des schwelgenden Gourmands schon im 19. Jahrhundert ein stetes Thema der Arbeiterbewegung, der Gesundheitsreform und auch liberaler Selbstdisziplinierung. Für unseren Fokus auf die Zwischenkriegszeit sind jedoch die öffentlichen Debatten über das demonstrative Schwelgen und Verschwenden der „Schieber“ und Neureichen nach dem Ersten Weltkrieg, dann vor allem die Preisstützungsaktionen während der Weltwirtschaftskrise relevanter. Das gezielte, nun auch fotografisch sichtbare Verbrennen großer Mengen von Weizen oder insbesondere Kaffee spiegelte für Kritiker die fehlende Werte des vermeintlich niedergehenden liberalen Kapitalismus. Doch Güterzerstörung konnte auch anders eingesetzt werden, war ein wichtiges Kampfmittel etwa der indischen Unabhängigkeitsbewegung.

Fehlende Wertschätzung: Kaffee als Heizmaterial in Brasilien (Das interessante Blatt 50, 1932, Nr. 2, 6)

Die wirtschaftliche Dimension der Wertschätzung von Lebensmittel verblieb also nicht nur in der Fachliteratur, sondern war auch Teil zentraler Alltagsdebatten. In der heutigen Wertschätzungsdebatte wird sie dennoch ignoriert, obwohl es in ihnen doch um ein zentrales ökonomisches Problem geht, nämlich um den Umgang mit Knappheit (Niklas Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, 177-229; Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018). Das mag auch daran liegen, dass Wertschätzung zunehmend mathematisiert wurde (vgl. schon Walter G. Waffenschmidt, Graphische Methode in der theoretischen Oekonomie dargestellt in Anlehnung an das Tauschproblem, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39, 1914/15, 438-481, 795-818), um später im schimmernden Begriff der „Präferenzen“ universalisiert zu werden.

2. Wirtschaftlichkeit als Zwang und Aufgabe: Lebensmittelschwund- und Abfallforschung in den 1920er Jahren

Die wirtschaftliche Bedeutungsnuance der Wertschöpfung ist wichtig, um die Verbindung von subjektiven Werturteilen und gesellschaftlichen Effizienzidealen nachzuvollziehen. Verlustminderung und Schwundbekämpfung wurden während des Ersten Weltkriegs zu einer zentralen Aufgabe, um im Krieg bestehen, um diesen (möglichst siegreich) weiterführen zu können (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, insb. 235-251).

Ressourcennutzung während des Ersten Weltkrieges: Knochensammlungen und Fettabscheider (Ulk 46, 1917, Nr. 8, 4 (l.); Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 39 v. 25. Januar, 10)

Das bürgerliche Zeitalter endete im Weltenbrand, und rasch zeigte sich fehlende Resilienz. Die Verluste an Front und Heimatfront waren immens, die Nutzung der eigenen Ressourcen defizitär. Gegenmaßnahmen griffen, doch was halfen Knochensammlungen oder Fettabscheider, wenn Wissen und Techniken unzureichend waren (Kriegswirtschaftliche Massnahmen u. Einrichtungen zur Abfallverwertung und Volksernährung, Die Städtereinigung 9, 1917, 6-7, 15, 46, 55, 79, 90, 102, 118; August Ertheiler und Robert Plohn, Das Sammelwesen in der Kriegswirtschaft, Berlin 1919; Robert Cohn, Fetterzeugung und Fettersparnis, ein Rückblick auf die Kriegsernährung, Zeitschrift für angewandte Chemie 32, 1919, T. 1, 193-198). Die „normale“ Zusammensetzung der Nahrungsmittel wurde chemisch um 1880 ermittelt, um 1900 kodifiziert, doch das Resorptionsgeschehen im Körper war nur schemenhaft bekannt, Daten über Nahrungsmittelschwund und -abfälle in Gewerbe und Haushalt kaum verfügbar.

Der Hygieniker und Chemiker Rudolf Otto Neumann 1928 und (mit Horst Habs) 1943 (Hamburgischer Correspondent und Hamburgische Börsen-Halle 1928, Nr. 198 v. 27. Juni, 3 (l.); Mittagsblatt 1943, Nr. 270 v. 21. Dezember, 5)

Dies änderte sich trotz umfangreicher Kriegsforschung erst in den 1920er Jahren: Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952), ein Nationalist und Antisemit, machte den Unterschied – als Teil einer Funktionselite, für die ein neuer Waffengang unvermeidlich schien; doch dieses Mal besser gerüstet (detailliert aber teils rosig Romy Steinmeier, „Hamburg hatte aber auch seine guten Seiten“. Rudolf Otto Neumann und das Hygienische Institut Hamburg, Bremen 2005). Er war bekannt als Tropenmediziner und Spezialist für Gelbfieber (Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 149 v. 29. Juni, 6; ebd., 1938, Nr. 168 v. 23. Juni, 2), doch die Kriegsaufgaben ließen ihn schon in seiner Bonner Zeit mit der umfassenden quantitativen Analyse des Schwundes und der Verluste der Lebensmittel beginnen, deren erste Teilergebnisse er 1924 veröffentlichte (R[udolf] O[tto] Neumann, Ueber die Verluste von vegetabilischen Lebensmitteln bei ihrer küchentechnischen Zubereitung und deren Bewertung, Technisches Gemeindeblatt 27, 1924, 9-13, 29-32, 44-47, 56-60, 67-71, 80-83, 92-95). Fünf Jahre später lagen Neumanns Analysen gebündelt vor.

Erforschung von Schwund und Verlusten (Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immunitätsforschung und experimentellen Therapie 10, 1929, 1-188, hier 1)

Die in mühseliger kleinteiliger Arbeit in und außerhalb hygienischer Laboratorien ermittelten Werte blieben für Jahrzehnte Referenzmaterial über das „Vermögen im Abfalleimer“ (Wilhelm Ziegelmayer, Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, 4. verb. u. erw. Aufl., Dresden und Leipzig 1941, 320-329, hier 322). Neumann untersuchte 243 animalische und 84 vegetabile Lebensmittel im Sinne der tradierten Kalorienlehre. Eiweiß-, Fett- und Kohlehydratgehalt wurden ermittelt, ebenso der Kaloriengehalt. Wichtiger aber war der Fokus einerseits auf die messbare Menge, anderseits auf die essbare Trockensubstanz. Das Lebensmittel wurde zu einem resorbierten Stoffgemenge reduziert – und mehr noch: Neumann (und viele Mitarbeiter) analysierten auch die nicht essbaren Bestandteile, den Wassergehalt, die Verluste durch küchentechnische Vorbereitung und Kochen; und schließlich auch die Resorptionsverluste im menschlichen Körper. Alles wurde präzise quantifiziert, zugleich aber mit Preisen gekoppelt. Das betraf nicht nur den Kaufpreis, sondern mündete zudem in einen errechneten Nährgeldwert. Dieser Indikator war bereits in den frühen 1880er vom Münsteraner Nahrungsmittelchemiker Joseph König (1843-1930) eingeführt worden, ohne aber Verluste außerhalb und innerhalb des Körpers mit einzubeziehen (Procentische Zusammensetzung und Nährgeldwerth der menschlichen Nahrungsmittel nebst Kostrationen und Verdaulichkeit einiger Nahrungsmittel, Berlin 1882).

Das Ergebnis von Neumanns Analysen war mehr als Detailwissen, denn es bot eine neue Hierarchie der Lebensmittel, einen Widerpart zur Lebensform und auch der „neuen Ernährungslehre“ mit ihrem starken Fokus auf die „neuen“ essenziellen Stoffe, auf Vitamine und Mineralstoffe. Der Nährgeldwert tierischer Nahrungsmittel war tendenziell höher als der pflanzlicher Kost. Es galt allerdings zu differenzieren, denn Kartoffeln rangierten an der Spitze der neuen Hierarchie, auch einige Kohlsorten fanden dort ihren Platz. Ansonsten stellte Neumann Milch, Innereien, Tierfette, Buttermilch, Pferdefleisch, Hering und Weichflosser sowie Fleischprodukte in den Vordergrund. Da ein solch kleinteilig ausdifferenziertes System kaum anwendbar schien, plädierte er jedoch – im Einklang mit der Ernährungswissenschaft dieser Zeit (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Die Ernährung des Menschen. Nahrungsbedarf. Erfordernisse der Nahrung. Nahrungsmittel. Kostberechnung, Berlin 1924) für eine saisonale und eiweißreiche Mischkost, in der Obst und Gemüse vor allem der Abwechslung dienten. „Luxuskost“ wie Endivien, Austern und Schwalbennester war dagegen möglichst zu reduzieren, zumal als devisenträchtige Importware.

Doch es waren vor allem zwei Punkte, die neue Möglichkeiten hin zur nationalsozialistischen Wertschätzungspolitik ermöglichten. Erstens plädierte Neumann für umfassende Schulungen von Einzel- und Großhaushaltungen, um so Schwund und Nahrungsmittelverluste zu minimieren (R[udolf] O[tto] Neumann, Wodurch verderben unsere Nahrungsmittel. Eine Aufklärung für weitere Bevölkerungskreise, Blätter für Volksgesundheitspflege 30, 1930, 164-166, 182-184; ders., Wirtschaftlichkeit in der Küche. Betrachtungen über den Markt- und Küchenabfall und den Nährgeldwert der vegetabilischen und animalischen Nahrungsmittel, Die Volksernährung 5, 277-280, 300-305). Dies erweiterte die ohnehin laufenden Bemühungen um eine Ökonomisierung und Rationalisierung der Hauswirtschaft (Liddy v. Zabiensky, Aus der Küchenpraxis der neuzeitlichen Ernährungslehre, Die Volksernährung 3, 1928, 9-11, 20-21; Erna Meyer, Der neue Haushalt. Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung, 37. wes. erg. u. erw. Aufl., Stuttgart 1929). Wichtiger war zweitens, dass Neumanns Daten mit volkswirtschaftlichen und agrarwirtschaftliche Produktions- und Konsumrechnungen gekoppelt werden konnten.

Agrarmarketing in den späten 1920er Jahren: Appelle an Gesundheit und Nationalismus (Von links nach rechts: Vorwärts 1927, Nr. 87 v. 21. Februar, 4; Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 10; Zeitbilder 1928, Nr. 48 v. 25. November, 6; Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 51 v. 19. Dezember, 19)

Das damalige öffentliche Lebensmittelmarketing nutzte vorrangig zwei an sich inhaltsleere Attribute, nämlich zum einen den Gesundheitswert, zum anderen die Herkunft, also den Nationalismus (Norwich Rüße, Absatzkrisen und Marketingkonzepte der deutschen Landwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996,I, 129-162; Spiekermann, 2018, 332-351). Sie war bereits bildreich, orientierte sich auch an amerikanischen Vorbildern, bot aber Nahrung vor allem für den Kopf. Nutzen, nicht Wertschätzung war zentral.

Benito Mussolinis (1883-1945) Stilisierung als Getreidedrescher (L’Illustrazione Italiana 65, 1938, 501)

Andere machten dies besser: Seit Mitte der 1920er Jahre blickten nicht nur Wissenschaftler und künftige NS-Politiker auf das faschistische Italien, auf die dortige Agrarpolitik, die erst den Reis, dann das Getreide verherrlichte: „Liebt das Brot / Das Herz des Hauses / Die Würze des Tisches / Die Freude des Herdes // Den Schweiß der Stirn / Den Stolz der Arbeit / Das Lob des Opfers // Ehrt das Brot / Den Ruhm der Felder / Den Geruch des Bodens / Das Fest des Lebens // Verschwendet nicht das Brot / Reichtum des Vaterlandes / Das herrlichste Geschenk Gottes / Die schönste Belohnung / der Arbeit des Menschen“ (Velberter Zeitung 1933, Nr. 157 v. 11. Juni, 9). In Mussolinis allseits gedrucktem Loblieb verband sich das christliche Erbe mit den Aufgaben der Gegenwart (Maßnahmen der italienischen Regierung zur Förderung der Landwirtschaft und insbesondere des Getreidebaues, Berichte über Landwirtschaft NF 3, 1926, 540-550; Ragnar Berg, Die Verwertung des deutschen Brotgetreides, Odal 2, 1932/33, 508-519, insb. 518-519).

Stilisierungen des heiligen Brotes: „Getreideschlacht“ in Italien (La Rivista. Illustra del Popolo d’Italia 18, 1940, Nr. 5, 91 (l.); ebd. Nr. 6, 42 (r.); Clementia Bagali, Vovi d’Italia, Mailand 1937, 120)

Das war modern, nutzte Traditionsbestände, führte sie aber in neue Bildwelten und Verpflichtungsdiskurse (Katharina Schembs, Der Arbeiter als Zukunftsträger der Nation. Bildpropaganda im faschistischen Italien und im peronistischen Argentinien in transnationaler Perspektive (1922-1955), Köln 2018, 174). Wer das Brot ehrte, war wirtschaftlich gerüstet, war auch zu anderem fähig, zu neuen Eroberungen, wie dann 1934 in Libyen, 1936 in Abessinien. Das fand breiten Widerhall.

3. Wirtschaftskreisläufe: Autarkie, Militarisierung und Erhaltungsschlacht

Wie mündeten diese Vorläufer nun in eine reichsweite „Erhaltungsschlacht“, in eine Wertschätzungsoffensive auch im Deutschen Reich?

Visualisierung von Wertschöpfungsketten – anfangs monetär (Zeitbilder 1932, Nr. 49 v. 4. Dezember, 4)

Zentral hierfür war eine neuartige Verdichtung von Laborwissenschaft, Agrar- und Außenhandelsstatistiken. Während der 1920er Jahre hatte man die schon lange vorher bestehenden Kreislaufvorstellungen der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie und der organischen Chemie visualisiert. Volkswirtschaftliche Kreisläufe, aber auch sektorale Wertschöpfungsketten traten mittels Preisen vor aller Augen. Das änderte sich dank Neumanns Daten.

Ernährungsbilanz 1936 inklusive der Verlustraten (Hans Adalbert Schweigart, Der Ernährungshaushalt des deutschen Volkes, Berlin 1937, 126)

In der deutschen Ernährungsbilanz 1936 finden Sie daher nun auch, rechts, Verlustdaten. Diese waren errechnet, geschätzt. Doch sie erlaubten gezielte Schwachstellenanalysen und politische Interventionen (Spiekermann, 2018, 351-365).

Stoffstromanalyse der Kartoffel – mit Verlustangaben (Schweigart, 1937, Taf. VIII)

Derartige Daten wurden visualisiert, national, regional, auch sektoral. Biologistische Vorstellungen reduzierten komplexe multisektorale Strukturdaten zu eingängigen Flussdiagrammen, die schlichte Gemüter als Abbild einer neu greifbaren Realität verstanden, die damit öffentlich und politisch handhabbar wurde. Moderne technische Gesellschaften gehen dann in den Effizienzmodus (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964). Offenbare Probleme drängen auf Handlung, auf Intervention und Optimierung.

Ergänzung der Erzeugungsschlacht: Die rettende Erhaltungsschlacht der Hausfrau (Die Gartenbauwirtschaft 53, 1936, Nr. 43 v. 22. Oktober, 1 (o.); Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 449 v. 26. September, 1)

Hinter den seit 1936 auftauchenden Schlagworten von „Erhaltungsschlacht“, von der erforderlichen „Rettung“ von Lebensmitteln standen demnach langwierige ernährungs- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungen, die aufgegriffen wurden, weil sie politisch nützlich waren. Dies war Teil einer umfassenden nationalsozialistischen Sprachpolitik, eine bis heute gängige „Methode, Zumutungen hinter positiven Begriffen zu verstecken“ (Bernd Stegemann, Die Öffentlichkeit und ihre Feinde, 3. Aufl., Stuttgart 2021, 87).

Schwund- und Abfallbekämpfung als Teil der Transformation von Gesellschaft und (Haus-)Wirtschaft durch den Vierjahresplan (Neckar-Bote 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6)

Um dies nachvollziehen zu können, sind einige notgedrungen rudimentäre Striche zur Agrar- und Kriegspolitik unabdingbar. Die Transformationspolitik begann schon vor der Machtzulassung der NSDAP im Januar 1933. Das Lebensmittelgesetz von 1927 mündete in zahlreiche, meist sektorale Reformen einzelner Agrarbereich mit vielen Standardisierungen. Das Milchgesetz von 1930 wurde beispielgebend, war Blaupause der Umstrukturierung und Rationalisierung von Wirtschaftszweigen auch abseits der Agrarwirtschaft. Das Handelsklassengesetz wurde 1930 schon im Rahmen einer präsidialen Notverordnung dekretiert. Der Weg in die Devisenzwangswirtschaft begann parallel, führte zu einer beträchtlichen Abschottung vom Weltmarkt, etablierte den Staat als wichtigsten Akteur. Die nationalsozialistischen Machthaber setzten viele Ideen um, die zuvor Agrar- und Ernährungswissenschaftler entwickelt hatten, der deutschnationale Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) verkörperte Interessenidentitäten tradierter und neuer Machthaber. Durch den bis 1934 leidlich etablierten Reichsnährstand gewannen Staat und NSDAP weitere Durchschlagskraft, während der zuvor schon kaum geltende Preismechanismus durch ein umfassendes System von Festpreisen und festgelegten Handelsspannen außer Kraft gesetzt wurde. Dennoch sollten die Bauern unternehmerisch im Sinne des Volksganzen handeln.

Nach der Machtzulassung 1933 und der folgenden Zerschlagung und Verfolgung der Opposition begann eine propagandistisch unterfütterte „Arbeitsschlacht“, eine „Erzeugungsschlacht“ der Landwirtschaft und der noch breiter gefasste Kampf um „Nahrungsfreiheit“, also um eine möglichst hohe Selbstversorgung. Diese lag – unter Einbezug der Futtermittelimporte – bei lediglich 81 Prozent (Hans v.d. Decken, Deutschlands Versorgung mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen […], Berlin 1935, 63).

Produktionserweiterungen und Importregulierungen boten Flankenschutz für die 1933 unmittelbar einsetzende massive Aufrüstung, die das Deutsche Reich seit Mitte 1934 stetig an den Rand des Staatsbankrotts brachte. Kritisch blieb vornehmlich die devisenträchtige Rohstoffbeschaffung, die durch Agrarimporte (40-35 Prozent) immer wieder gefährdet und gedrosselt wurde. Trotz nicht unbeträchtlicher Erfolge im Abbau der Importabhängigkeit war 1936 klar, dass eine Selbstversorgung unter den Prioritäten der Rüstungswirtschaft nicht möglich war. Das galt vor allem für Fette, für Futtermittel, bedingt für Eiweiß, das galt aber auch mit Rücksicht auf die mit wachsenden Einkommen verbundenen höheren Importe von Genussmitteln, insbesondere von Kaffee und Tabak. Der im August 1936 vorgelegte Vierjahresplan Hitlers sah daher eine rigorose Aufrüstung ohne Rücksicht auf die Kosten vor. Bis 1940 sollte die Wehrmacht kriegsfähig sein, die ökonomischen Probleme durch die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die Ausbeutung der okkupierten Gebiete gelöst werden.

Diese Kriegspolitik sah zudem massive Investitionen in die Ersatzmittelwirtschaft vor, vorrangig bei Gebrauchsgütern, in beträchtlichem Maße aber auch in der Agrar- und Ernährungswirtschaft. Die Kampagne „Kampf dem Verderb“ war ein flankierendes Maßnahmenbündel, das sowohl auf Sparsamkeit, als auch die Mobilisierung nicht-monetärer Arbeitsressourcen setzte. Wie die militärischen und industriellen Maßnahmen wurden sie propagandistisch ummantelt, mit semantischen Illusionen umkränzt und mit Appellen an Moral und (Rassen-)Stolz versehen. Eine höhere Wertschätzung bestimmter Lebensmittel und Haushaltspraktiken war dafür zentral. Sie zielte auf den völkisch definierten Kern der Deutschen, war Identitätspolitik einer sich von Feinden umgeben fühlenden Nation. Die eingeforderte Wertschätzung der Lebensmittel war eine ästhetische Hülle, diente der Wehr- und Kriegsbereitschaft.

4. Vermittlungspropaganda: Kampagnen, Appelle, Parolen

Der 1936 intensiv einsetzende Kampf gegen die Lebensmittelverluste war eine korporatistische Anstrengung von Partei und Staat, von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Reichsausschuß für Volksernährung, VDI, Reichsgemeinschaft für Schadensverhütung). Expertenwissen war zu vermitteln, handlungsnah zu verankern. All das wurde umrahmt von Daueraktivität, von Müllsammlung, -trennung und -recycling, von einer Minimierung der Verluste. Eine Erhaltungsinfrastruktur von Schweinemast- und Knochenmehlverwertungsanstalten, von Kühlhäusern, Lagerhallen und Transportmitteln wurde aufgebaut. Begleitet war dies von einschlägigen Bildungs- und Erziehungsanstrengungen in Schulen, in Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel, in der NS-Frauenschaft und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Überall wurde die Wertschätzung von Lebensmitteln propagiert, der Umgang mit ihnen moralisiert.

Propaganda war angesagt: Diese war jedoch nur in ihren rassistischen, wehr- und kriegspolitischen Ausprägungen spezifisch nationalsozialistisch. Die Wertschätzungspropaganda war in ihrem Kern eine Antwort auf typische Aufgaben in arbeitsteiligen technischen Gesellschaften. Sie war, im Sinne des französischen Soziologen und Technikphilosophen Jacques Ellul (1912-1994), eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ellul, 1964, 216). Ihr Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Daher sei der simple Dualismus von Diktatur oder Demokratie irreführend, denn es gehe um eine an sich notwendige Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375).

Die im Herbst 1936 unter dem Schlagwort „Kampf dem Verderb“ einsetzte Kaskade einander überbietender Kampagnen war modern, erfolgte auf Höhe der damaligen totalen Propaganda (Spiekermann, 2018, 388-391). Werterhaltung galt als Kernproblem völkischer Existenz, soziale und realistische Propaganda dominierten (vgl. begrifflich Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Zahlreiche Unterkampagnen gaben Anleitungen zu Wertschätzung und Achtsamkeit, lenkten Handlungen, erinnerten an sparsames und wirtschaftliches Ernährungshandeln. All das erfolgte multimedial, parolenhaft, in Gedichten und kleinen Geschichten, war begleitet durch harte politische Interventionen. Wertschätzung war ein Appell, eine auf völkischer Logik gründete Pflicht: Wertgeschätzt wurde nur, wer wertschätzte.

1936/37: Kampf um 1 ½ Milliarden

Visualisierung der „vergeudeten Milliarden“ (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 321 v. 14. Juli, 9)

Beispiele müssen genügen: Am Beginn stand die Bewusstmachung des Problems, also eine Art Vorpropaganda. Das Problem eines volks- und wehrwirtschaftlich nicht tragbarer Materialschwundes und hoher Lebensmittelabfälle wurde vermeintlich sachlich präsentiert. Dabei appellierte man an allgemeine Vorstellungen von Sparsamkeit. Im Rahmen völkischer Verpflichtung gewann dies eigene Qualität: Es erklärte die bestehende Weltlage, die Handlungszwänge der politischen Führung. Völkische Inklusion begründete Folgehandlungen, war Teil einer nachvollziehbaren Ordnung der Welt (Ellul, 2021, 28). All dies war Aufgabe der 1936/37 laufenden Kampagne „Kampf um 1 ½ Milliarden“, deren Ausgangspunkt die (nie klar dargelegte) Summe der jährlichen Lebensmittelverluste im Deutschen Reich. Ungefähr 50 Prozent davon verursachte die Hauswirtschaft – also weniger als heutzutage (Thomas Schmidt, Felicitas Schneider und Erika Claupein, Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten in Deutschland […], Braunschweig 2018; ders. et al., Lebensmittelabfälle in Deutschland – Baseline 2015 –, Braunschweig 2019; Helmut Hübsch, Systematische Erfassung des Lebensmittelabfalls der privaten Haushalte in Deutschland. Schlussbericht 2020, o.O. 2021). 1936 ging man von insgesamt 6,5 Mrd. RM reduzierbarer Ressourcenverlusten aus, „Kampf um 1 ½ Milliarden“ war Teil einer breiteren „Rohstoffschlacht“.

Verluste und Schwund vermeiden: eine Gemeinschaftsaufgabe (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 457 v. 1. Oktober, 6)

Der Ernährungssektor, die Hauswirtschaft, standen dennoch im Mittelpunkt der öffentlichen Propaganda. Aktionsfelder wurden allgemein, aber auch für jedes Lebensmittel einzeln präsentiert und visualisiert.

Kampagnenauftakt in Köln 1936: Schilder gegen die Verluste (Oberbergischer Bote 1936, Nr. 245 v. 16. Oktober, 7 (l.); Der Neue Tag 1936, Nr. 292 v. 21. Oktober, 5)

Am Anfang stand eine seit Ende September beworbene große Ausstellung in Köln, initiiert auch von der Stadt selbst: „Es gilt, nicht weniger als 1½ Milliarde zu retten, die jährlich in Deutschland dem Volksvermögen verlorengeht“ (Feldzug für 1½ Milliarden, Honnefer Volkszeitung 1936, Nr. 226 v. 26. September, 1). 80.000 besuchten die einwöchige Schau, jeder von ihnen sollte ein Propagandist sein (Jeder ein Propagandist!, Münsterischer Anzeiger 1936, Nr. 320 v. 11. November, 5). Wichtiger aber war die reichsweite Presseresonanz, waren die zahlreichen Schaubilder und Symbole (Um 1½ Milliarden, Der Neue Tag 1936, Nr. 293 v. 22. Oktober, 8; Dass., Hagener Zeitung 1936, Nr. 248 v. 22. Oktober, 8). Die markanten Schildzeichen symbolisierten eine Abwehrgemeinschaft, die Kraft des Volkes.

Moralische Aufladung zum Existenzkampf (Stolles Blätter für Landwirtschaft, Garten, Tierzucht 1939, Nr. 15, 3 (l.); Der Patriot 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 1 (r.); Neckar-Bote 1937, Nr. 119 v. 26. Mai, 4)

Dadurch wurden Handlungsgemeinschaften konstituiert, die Binnenmoral gestärkt, doch immer auch Feinde benannt. Sie zu bekämpfen war nun Pflicht, jedes Mittel dazu recht.

1937/38: Brot als kostbarstes Volksgut

Die im November 1937 einsetzende Kampagne „Brot als kostbarstes Volksgut“ baute auf dem seit einem Jahr in immer neuen Formen präsentierten Problem des vermeidbaren Lebensmittelschwundes auf, konzentrierte sich nun aber stärker auf das Gefühlsmanagement. Es ging dabei vor allem um die urbanen Konsumenten, doch wurde der Urgrund der christlichen, bäuerlichen und (meist fiktiven) germanischen Traditionen eifrig gepflegt: Brot war „die erste und beste Frucht des Bauern“, Resultat mühseliger harter Arbeit (Heiliges Brot, Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 24 v. 29. Januar, 1). So knüpfte man eine völkische Verpflichtung zwischen Stadt und Land: „Verludert nicht, was der Bauer mühsam erarbeiten mußte!“ (Ehret und hütet das Brot, Erkelenzer Kreisblatt 1937, Nr. 19 v. 23. Januar, 9)

Achtsamkeit gegenüber dem Brot: Presseappelle (Links: Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 292 v. 28. Oktober, 3 (o.); Zeno-Zeitung 1940, Nr. 61 v. 7. Februar, 5; rechts: Der Patriot 1937, Nr. 191 v. 18. August, 4 (o.); Der Neue Tag 1936, Nr. 355 v. 23. Dezember, 2)

Ein Blick in die staatlich gelenkten Zeitungen zeigt ein Stakkato der Achtsamkeit, der Anreize und Aufforderungen. Ehret das Brot, dann ehrt ihr euch. Wertschätzung war Einordnung ins völkische Ganze, in die „große Erde, die uns trägt und die immer gegenwärtig ist.“ Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Kling (1902-1999) bat um ein wenig Aufmerksamkeit: „Ein Stück gesellt sich zum anderen, und wenn in allen 17½ Millionen deutschen Haushalten nur einmal eine Scheibe von 50 Gramm umkäme, dann könnte man schon 3000 bis 4000 Eisenbahnwagen damit füllen“ (Brot ist kostbarstes Volksgut, Der Neue Tag 1937, Nr. 273 v. 5. Oktober, 3, auch zuvor). Jedes Krümchen müsse verwendet werden, das sei Hausfrauenehre, sei Sorgfaltspflicht der Jugend.

Brotlob in Parolen und Schlagzeilen (Links: Wittener Tageblatt 1937, Nr. 278 v. 27. November, 3 (o.); Der Gemeinnützige 1937, Nr. 276 v. 26. November, 3; Gevelsberger Zeitung 1937, Nr. 275 v. 25. November, 6 (u.); Rechts: Herner Zeitung 1937, Nr. 227 v. 29. September, 8 (o.); Buersche Zeitung 1937, Nr. 328 v. 30. November, 5; Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1937, Nr. 272 v. 5. Oktober, 2 (u.))

Brot wurde symbolisch weiter aufgeladen, eine erst regionale, dann reichs- und europaweite Vollkornbrotpolitik sollte 1937 erweiternd einsetzen (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50).

Skandalierung des weggeworfenen (Pausen-)Brotes (Von oben n. unten: Niederrheinische Volkszeitung 1937, Nr. 10 v. 10. Januar, 3; Bergisch-Märkische Zeitung 1937, Nr. 65 v. 7. März, 4; Wittener Tageblatt 1937, Nr. 220 v. 20. September, 3; Stolzenauer Wochenblatt 1937, Nr. 303 v. 29. Dezember, 6; Viernheimer Volkszeitung 1936, Nr. 263 v. 17. November, 7 (r.))

Eingängige Narrative und Antigeneralisierungen unterstützten dies: Das weggeworfene Pausenbrot, die vertrocknete Brotscheibe, sie trennten die Volksgemeinschaft von Unachtsamen, Verschwendern, Schlemmern. Die Deutschen sollten die herbeigeschriebene „geradezu unglaubliche Leichtsinnigkeit und Gleichgültigkeit“ mancher Zeitgenossen ahnden, so das Sprichwort „Geschändet‘ Brot, geschändete Ehr‘“, so die Forderung an alle, nicht nur die Schuljugend (Tremonia 1941, Nr. 17, Nr. 17 v. 21. Januar, 3). Dies bedeutete achtsamen Einkauf, Essen auch alten Brotes und Resteküche (Achtet das Brot!, Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

1938/39: Groschengrab – Wirtschaftlichkeit als Element der gesellschaftlichen Wehrbereitschaft

Der Nationalsozialismus war eine moderne Mobilisierungsdiktatur, deren Propaganda kleinteilig wirkte, allgegenwärtig war. Visualisierung war dafür zentral, Groschengrab die bekannteste Ausprägung.

Groschengrab: Visualisierung des schlechten Gewissens und der Nachlässigkeit (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Die Bastion 1938, Nr. 26 v. 26. Juni, 8)

Dieses Ungeheuer prägte 1938/39 den öffentlichen, den medialen Raum. Groschengrab stand gegen Nachlässigkeit, verankerte ein schlechtes Gewissen, denn Groschengrab war überall.

Comics zur mentalen Stärkung der Sachwalter völkischer Wirtschaftlichkeit (Durlacher Wochenblatt 1939, Nr. 192 v. 18. August, 4)

Dies verdeutlichten die Comicserien, die nicht nur auf Kinder zielten, diese aber mit integrierten.

Koppeleffekte: Regionale Fortschreibungen der Comics und ein Beispiel der typischen Begleitlyrik (Von links n. rechts: Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1; Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 174 v. 27. Juli, 8; Altonaer Nachrichten 1939, Nr. 181 v. 5. August, 3)

Abseits dieser quasi amtlichen Serien gab es jedoch – typisch für die NS-Zeit – lokale Fortschreibungen und stete Interventionen von Aktivisten. Abfallvermeidung war Teil des eingeforderten und meist willig umgesetzten Zuarbeitens auf den Führer.

Ausweitung des Kampfes

Der Kampf gegen den Verderb hatte viele Fronten, Ernährungshandeln war Wehrhandeln.

Der stets bedrohte deutsche Mensch (Der fortschrittliche Landwirt 20, 1938, 727 (l.); Lippische Staatszeitung 1944, Nr. 320 v. 8. Dezember, 3)

Das unterstrichen Begleitserien, in denen die Deutschen von Feinden umgeben waren. Ratten standen aber nicht nur für sich, Hipplers „Der ewige Jude“ führte dies 1940 jedem vor Augen (Johannes Schmitt, Der bedrohte Arier. Anmerkungen zur nationalsozialistischen Dramaturgie der Rassenhetze, Münster 2010, 74-85).

Kampfzone Haushalt: Tod den Maden und Fliegen (Sauerländer Zeitung 1939, Nr. 177 v. 1. August, 7 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 266 v. 14. Juni, 8)

Der Haushalt war eine Kampfzone, Kompromisse gab es nicht. Den seit langem bekannten Kartoffelkäfer galt es seit spätestens 1937 im Westen zu bekämpfen, ein eigener Kartoffelkäferabwehrdienst hielt Wacht am Rhein (Der Kartoffelkäfer an der Westgrenze Deutschlands, Die Umschau 41, 1937, 572-573; Gustav-Adolf Langenbruch, Der Kartoffelkäfer in Deutschland. Seine Erforschung und Bekämpfung […], Berlin 1998). Die Schwammigkeit des Begriffes „Schädling“ erlaubte seine fast beliebige Ausweitung, bewirkte die Akzeptanz rigider Maßnahmen auch gegen Menschen.

Feinde ringsum: Bakterien und Pilze als Bedrohung (Der Führer 1936, Nr. 314 v. 12. November, 11 (l.); NS-Frauen-Warte 10, 1941/42, 61)

Insekten dominierten die Bildwelten, doch daneben traten Pilze, Bakterien, andere Mikroben. Leben war Kampf, eine ewige Bewährungsprobe.

Haushaltskrieg bis zum Sieg: Verpflichtungsdiskurse (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 233 v. 25. Mai, 13 (l.); ebd., Nr. 209 v. 10. Mai, 15 (r. o.), ebd. 1936, Nr. 450 v. 27. September, 12)

Und dieser Kampf wurde eingefordert, Abseits stehen war ein moralisches, dann zunehmend auch geahndetes Verbrechen.

Positive Gefühle gegenüber Lebensmitteln

Doch die Klaviatur der Gefühle war breit, positive Gefühle leiteten den Kampf.

Den Lebensmitteln ein Gesicht geben: Installation auf der Grünen Woche 1937 (Illustrierte Weltschau 1937, Nr. 6, 3)

Lebensmittel wurde zu Helfern, erhielten menschliche Gesichter, konnten Freunde sein.

Verbrauchslenkung mit fröhlichen Lebensmitteln und Speisen (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 251 v. 2. Juni, 3)

Selbst die Verbrauchslenkung war keine Fremdbestimmung, sondern setzte die Hausfrau in Beziehung zur Jahreszeit, zur Region, zur Arbeit der Bäuerinnen, zur Natur.

Leckere, nahrhafte Speisen: Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Neben Lebensmittel traten zunehmend auch Speisen, einfache und ländliche, Gegenstand berechtigter Wertschätzung.

Akzeptanz durch Kochkunst: Frau Garnichtfaul gewinnt ihren Roderich für Kartoffel- und Fischspeisen (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Und auch die im Begriff der Wertschätzung mitschwingende interpersonale Beziehung wurde gezielt genutzt. Liebe ging durch den Magen, nicht nur bei Frau Garnichtfaul, der treu sorgenden, züchtigen Hausfrau, sondern auch im völkischen Verband. Deutsche Küche, einfach, sparsam, doch Basis für Wehrbereitschaft und mehr. Das war nationalsozialistisches Gefühlsmanagement, spiegelte sich auch in der geförderten Regionalküche.

5. Hausfrauen und mehr: Gesellschaftliche Aufgaben im Korporatismus

All diese Wertschätzungspropaganda diente hehren Zielen, so Wissenschaftler und Politiker. Das war offenbar verlogen – obwohl das NS-Regime seine Ziele nur verbrämte, nicht verheimlichte. Zentral für den Sieg war die Hausfrau – die als geschlechtslose Hauswirtschaft auch im Mittelpunkt des heutigen Kampfes gegen Lebensmittelabfälle steht.

Die Hausfrauen als Problemherd (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 458 v. 1. Oktober, 2)

Die Hausfrau war ein offenkundiges Risiko der völkischen Existenz, denn ihr Haushalt hatte fünf- bis zehnmal höhere Verlustraten als die gewerbliche Wirtschaft. Ihre Unachtsamkeit verschleuderte Volksvermögen. Das Schuldkonto der Hausfrau ging aber noch über die Hauswirtschaft hinaus: „Der Verlust der anderen 750 Millionen Reichsmark entsteht beim Erzeuger nach der Ernte, der verarbeitenden Industrie und beim Händler. Auch an diesem Verderb trägt die Hausfrau ein Teil Schuld durch falschen Einkauf. Manche Nahrungsmittel sind nun einmal nicht lange haltbar und müssen verderben, wenn die Hausfrau sie nicht genügend statt haltbarer Lebensmittel kauft“ (Der Albtalbote 1937, Nr. 236 v. 11. Oktober, 5).

Zuhören und sich für das Ganze überwinden: Hausfrauen als Grundlage völkischer Wehrbereitschaft (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 34 v. 20. Februar, 3 (o.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 238 v. 3. September, 1 (u.); Siegblätter 1944, Nr. 101 v. 2. Mai, 4; Neckar-Bote 1939, Nr. 64 v. 16. März, 7)

Doch das musste nicht so bleiben, denn Bewährung war möglich, Folgebereitschaft vorausgesetzt. Die Hausfrau, die kluge, wurde vom NS-Regime immer wieder geehrt, stetig gewertschätzt. Sie war eine Erfinderin, konnte im Sinne des Ganzen handeln, war lernfähig, stand ihren Mann – in der wehrbereiten Küche.

Einmachen als saisonale Pflicht auf Grundlage privater Investitionen in Gefäße und Geräte (Bochumer Anzeiger 1937, Nr. 103 v. 5. Mai, 13)

Wie die Soldaten gebot sie über Waffen, die sie willig und ohne Zögern einzusetzen hatte. Mehr als 95 Prozent aller Haushalte machten 1941 ein. Broschüren gab es in Millionenauflage, heute noch farbige Flohmarktware.

Ordnung und Sauberkeit in Speisekammer und Vorratskeller (Neckar-Bote 1936, Nr. 230 v. 1. Oktober, 6; Stolzenauer Wochenblatt 1939, Nr. 82 v. 6. April, 8)

Die deutsche Hausfrau stand darin für Sauberkeit und Ordnung, in der immer stärker eingeforderten Speisekammer, im zunehmend kontrollierten Vorratskeller. Dies hob das deutsche Kulturvolk ab von der „Polenwirtschaft“, die kurz darauf unter deutsche Kontrolle geriet.

Schimmernde Wehr: Wertschätzung für die anpassungsfähige Treuhänderin der Volksernährung (Der Haushalt 12, 1940, Nr. 9, 1 (l.); Lenneper Kreisblatt 1937, Nr. 82 v. 9. April, 9)

Die kluge Hausfrau war modern, richtete sich nach den wöchentlichen Küchenzetteln, den monatlichen Übersichten der Verbrauchslenkung, reagierten flexibel auf Marktschwankungen. Sie emanzipierte sich von Großmutters Küche, schuf so die Grundlagen für Deutschland, für Großdeutschland.

Hilfestellung im Alltag

Bei dieser schweren, doch unaufschiebbaren Aufgabe gab es Hilfestellungen, starke Frauen halfen sich gegenseitig, Erfinder und Kinder taten das Ihrige.

Mutters Küchenwaffen: Verlustminimierung im Haushalt (Deutscher Garten 52, 1937, 199 (o.); ebd., 189: Rechts: ebd. 54, 1939, 152 (o.); ebd. 57, 1937, 52)

Das betraf zahllose kleine Küchenwaffen gegen den Verderb; von der Reibe über den Fliegenschrank, die Käseglocke bis hin zum Fett-Topf.

Ernährungshilfswerk: Die Volksgemeinschaft als Sammelgemeinschaft (Steirerland 1940, Nr. 11 v. 31. Dezember, 8)

Die Hausfrau war zugleich Teil einer völkischen Sammelgemeinschaft, sammelten HJ und NSV doch Küchenabfälle für die Mastanstalten des Ernährungshilfswerkes. Hunderttausende Tonnen Knochen kamen hinzu (Spiekermann, 2018, 386-393).

Hauswirtschaftliche Bildung: BDM-Schulung in Hamburg, Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Mittagsblatt 1940, Nr. 95 v. 23. April, 4 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108 v. 4. März, 41)

Zentral aber blieben die Bildungsanstrengungen der NS-Frauenschaft, des Bund Deutscher Mädel. Richtiges Kochen war nicht nur Quintessenz einer technisch-wirtschaftlich optimierten Haushaltsrationalisierung, sondern auch und gerade Wertschätzung der völkischen Gemeinschaft, Voraussetzung, „um sich als Nation überhaupt in der Zukunft zu behaupten“ (R[ichard] Walther Darré, Rede auf dem Vierten Reichsbauerntag in Goslar am 29. November 1936, in: ders., Aufbruch des Bauerntums, Berlin 1942, 63-86, hier 72).

Epilog

Ich habe Ihnen eine kleine Episode deutscher Geschichte rekonstruiert, doch ich hoffe, dass diese Fragen aufwirft, Fragen auch für den heutigen (wissenschaftlichen) Umgang mit Lebensmittelabfällen.

Die Wertschätzungs- und Abfallpolitik der NS-Zeit hat Kreise gezogen: Völkische Überbürdungen wurden entsorgt, doch der institutionell-technische Rahmen lange beibehalten (Sero-System in der DDR, Altmaterialverwendung, Mülltrennung, Kühltechnik im Haushalt), vielfach gar ausgebaut. Der Kontext der Kriegs- und Vernichtungspolitik ist zumeist vergessen, zumindest in den heutigen Verlautbarungen und Studien in Politik, Wirtschaft und den angewandten Natur- und Sozialwissenschaften.

Die NS-Experten hatten einen hohen Moralkodex, waren von ihrer Mission erfüllt, schufen neue Sprachbilder. Ihnen galten autoritäre Interventionen als Notrecht, andere Rationalitäten und Werte lediglich als zu brechende Widerstände, als Ausdruck fehlender Einsicht. Wertschätzung des Eigenen bedeutete fehlende Wertschätzung des Anderen. Wie weit sind „wir“ heute von derartigen Denk- und Handlungsweisen entfernt? Wird das nicht wertgeschätzte Andere angemessen reflektiert?

Die NS-Zeit war eine Zeit massiver Forschungsinvestitionen, in Ressortforschung, in Forschungsprojekte. Schränkt diese staatsnahe und weisungsgebundene Forschung nicht die Wissenschaftsfreiheit und damit die Zukunftsfähigkeit einer offenen Gesellschaft stark ein? Treten so nicht politische Themensetzungen und genehme Antworten in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Arbeit?

Die für die NS-Zeit übliche Schaffung lebensmittelbezogener Narrative ist auch heutzutage ein zentrales Tätigkeitsfeld wissenschaftlicher Arbeit. Passen aber semantische Illusionen nicht eher zu PR und der allgemein üblichen Bereicherungsökonomie als zu einer wissenschaftlich konstitutiven Scheidung von wahr und falsch? Läuft eine solche Wissenschaft nicht neuerlich Gefahr, Ideologien zu reproduzieren und gesellschaftliche Widersprüche zu verdecken?

Uwe Spiekermann, 12. März 2025

Dieser Beitrag ist das Grundgerüst eines am 13. März 2025 im Rahmen der Tagung „‚Wertschätzung von Lebensmitteln‘. Ein Hebel für nachhaltigeres Ernährungshandeln“ des Netzwerks Ernährungskultur (Esskult.net) an der Universität Kassel gehaltenen Vortrages.

Propaganda und Bekenntnisdruck: Herr und Frau Knätschrich als Negativfolien der Volksgemeinschaft während des Winterhilfswerks 1933/34

Gehorsam ist für die Mehrzahl nicht nur Tugend, sondern Lust. Dem dient die Erziehung, das Rechts- und Strafsystem, dem dient die hierarchische Struktur unserer wichtigsten Institutionen, namentlich die Verwaltung als zentrale Herrschaftsform der Moderne. Gehorsam koordiniert menschliches Handeln, schafft Verlässlichkeit, Sicherheit und Systemvertrauen, entlastet von Verantwortung. Jede Herrschaft basiert auf dem allgemeinen Interesse an Gehorsam, an Fügsamkeit gegenüber abstrakten Werten, gegenüber dem Willen von Organisationen und Personen (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1985, 122). Gehorsam ist ein Bindemittel jeglicher sozialen Beziehung, jeder darauf aufbauenden wirtschaftlichen oder politischen Organisation. Im Schatten des Gehorsams werden systemische Unterschiede grau. Demokratien und Diktaturen gründen gleichermaßen auf dieser problemvermindernden Lust der Mehrzahl, mögen die Rituale von Zustimmung, Teilhabe und Strafe auch andere sein.

Stimmt dies, so stellen sich vor allem zwei Fragen: Wie wird Gehorsam hervorgerufen, nicht nur einmal, sondern dauerhaft? Und wie geht man mit denen um, die nicht gehorchen wollen, deren Fügsamkeit sich dem Joch der Herrschaft entziehen möchte? Diesen Fragen gilt es im Folgenden an einem historischen Beispiel detailliert nachzugehen. Nach der Machtzulassung der NSDAP durch konservativ-nationalistische Eliten gab es 1933 viele Möglichkeiten des Gehorsams, anfangs teils erzwungen, zunehmend aber freiwillig, ja lustvoll. Die historische Analyse konzentriert sich meist auf die politische Sphäre, auf die damalige Bekämpfung und Ausschaltung der politischen Opposition, die Etablierung eines Einparteien- und Führerstaates, die zunehmende Monopolisierung der medialen Öffentlichkeit, die erzwungene Gleichschaltung und die abwägend-willige Selbstgleichschaltung der meisten Institutionen bis Sommer 1933. Hier setzt nun die kleine Fallstudie an, bei der Etablierung und Umsetzung der Winterhilfe, die dann als Winterhilfswerk institutionalisiert wurde. Wir werden uns dazu auf die öffentliche Propaganda konzentrieren, deren Ziel es war, Geld und Sachleistungen für vom NS-Regime definierte soziale Zwecke zu mobilisieren. Wir werden uns aber zugleich der Frage widmen, wie der offenbare Unwillen vieler, zumal bürgerlicher, zahlungskräftigerer Kreise abgeschliffen wurde. Dazu dient auch eine bisher in der Forschung nicht beachtete Karikaturenserie um das fiktive Ehepaar Knätschrich, das als Negativfolie für ein gehorsames Gemeinwesen und der vom NS-Regime propagierten Volksgemeinschaft diente. Gewiss, positive, agitierende und vor allem integrierende Propaganda dominierte. Doch in dieser Serie wurde der Öffentlichkeit die vermeintliche Amoralität und der Egoismus des Nicht-Gehorchens vor Augen geführt. Die Serie präsentierte bürgerliche „Asoziale“, „Gemeinschaftsfremde“ als Negativbespiele: Verachtet, sozial ausgegrenzt, auf Besitz und Dünkel setzend, wurden die Knätschrichs öffentlich vorgeführt. Unausgesprochen blieben die stets denkbaren Folgen ihres Handelns: Die „Volksgenossen“ hatten sich abzugrenzen, mittels Bekenntnisdruck ihr eigenes Tun zu reflektieren, gehorsam und letztlich willig das Richtige tun. Auch im Alltag galt die klassische Sentenz der zuvor entwickelten hypermodernen Schachstrategie, dass „die Drohung […] bekanntlich stärker als deren Ausführung“ ist (A[ron] Nimzowitsch, Mein System, 2. verb. Aufl., Berlin-West 1965, 13).

Propaganda als Grundelement modernen Gesellschaften

Analytische Distanz zum Gegenstand ist allerdings geboten, um nicht in die freudig verfolgten Engführungen der Propagandadiskussion zu geraten. Gängige Vorstellungen vom „schönen Schein“ des NS-Regimes oder plakative Dualismen wie „Verführung und Gewalt“ eröffnen wichtige Zugänge, verkennen jedoch, dass Propaganda ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft ist (Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München und Wien 1991; Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt: Deutschland 1933-1945, Berlin-West 1986). Modernes Leben ist Leben im propagandistischen Umfeld. Das bedeutet nicht, den Gewaltcharakter der NS-Propaganda in Abrede stellen zu wollen, im Gegenteil. Erst in der vergleichenden empirischen Analyse zeigen sich ihre Spezifika. Das NS-Regime war von Anbeginn eine Mobilisierungsdiktatur, ihr Versprechen einer aktiven Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ein siegträchtiges Alleinstellungsmerkmal, denn die auch in der SPD diskutierten Konzepte gewannen innerparteilich keine Mehrheit (Nikolaus Kowall, „Arbeit und Brot“ – die sozioökonomische NS-Propaganda vor 1933, Wirtschaftsdienst 103, 2023, 406-412).

Arbeit und Brot: Parole im sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Umfeld (Ulk 60, 1931, Nr. 24, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1273)

Die unter dem Slogan „Arbeit und Brot“ geführten Kampagnen der Arbeitsbeschaffung, des Arbeitsdienstes, der „Arbeitsschlacht“, der „Erzeugungsschlacht“, etc. blieben vielfach hinter den Versprechungen zurück, doch ihre propagandistische Propagierung war für die willige Akzeptanz der Gewalt- und Terrorwelle seit Februar 1933 ebenso wichtig wie die Angst vor persönlichen Nachteilen und der Hass gegen den „Marxismus“, die „Demokratie“ und rassisch definierte Minderheiten. Die Winterhilfe war seit September 1933 ein weiteres Element dieser gesellschaftlichen Mobilisierung für den Abbau von Arbeitslosigkeit und „Not“: „NS-Staat und NS-Volksgemeinschaft nötigten jeden und jede zu irgendeiner Positionierung zum Mittun oder Abweichen. Dieser erzeugte Bekenntnisdruck stellte gerade ein Kennzeichen dieser plebiszitär abgesicherten gesicherten Diktatur dar“ (Uwe Danker, Grandioses Scheitern oder kluger Pragmatismus? Entnazifizierung in der britischen Zone – betrachtet mit nüchterner Distanz, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 93, 2021, 287-342, hier 327).

Bevor wir zur Winterhilfepropaganda, insbesondere aber zur Serie um das Ehepaar Knätschrich kommen, sind noch einige Worte zur Propaganda selbst erforderlich. Zuerst eine historische Genealogie: Propaganda im engeren Sinne war kein Produkt des Nationalsozialismus, sondern entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Verstanden als Massenbeeinflussung war Propaganda eng verwoben mit modernem Marketing, mit dem Anpreisen von Waren und Meinungen. Sie war Teil eines demokratischen Massenmarktes, dem Wettbewerb unterschiedlicher Produkte und Parteien. Eine Verengung auf den politischen Sektor erfolgte insbesondere während des Ersten Weltkrieges. Die Narrative der Westmächte, vor allem aber erst der britischen, dann der US-amerikanischen Propaganda, verwandelten den Krieg imperialer Großmächte mit kleinen und jeweils interessengeleiteten Eliten in einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Kultur/Zivilisation und der Barbarei. Das Deutsche Reich war auf diese Auseinandersetzung kaum vorbereitet, verlor den Krieg an der Propagandafront rasch; und das trotz umfassender Reflektionen über Sinn und Ziele des Krieges seit 1915 und einer nachfolgenden Professionalisierung der eigenen Nachrichtengebung, Bildproduktion und auch Zensur. Die westlichen Narrative dienten 1918/19 zudem der Rechtfertigung der harschen und letztlich politisch kontraproduktiven Bedingungen des Versailler Friedensvertrages, hatten demnach Folgewirkungen weit über die Konfliktlinien des Weltkrieges hinaus.

Gängige Propagandabilder: SA-Aufmarsch am Münchener Siegestor am 9. November 1933 bzw. Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg am 1. Oktober 1933 (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1529 (l.); ebd., 1445)

Propaganda wurde seither als öffentliche Macht anerkannt, theoretisiert und als Mittel gesellschaftlicher Beeinflussung weiter verfeinert (Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922; Edward L. Bernays, Propaganda, New York 1928). Neue Medien, neue Werbemethoden der Zwischenkriegszeit, vor allem breit gestreute, multimediale, zielgruppenspezifische und zentral gesteuerte Werbekampagnen ließen die Bedeutung dieser neuen Kommunikationsformen erahnen. Obwohl die deutschen Wahlkämpfe der Weimarer Republik und auch der Präsidialdiktatur noch vielfach altbacken daherkamen, erschien Propaganda sowohl als ein unverzichtbares Mittel gegen die nationalsozialistische Gefahr, als auch als Ressource für den Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zur imaginierten Größe vergangener Zeit. Gerade die Systemsprenger auf der linken und rechten Seite verwandten besondere Aufmerksamkeit auf die Gewinnung von Massenunterstützung durch neue Kommunikationstechniken. Nationalsozialistische Propaganda war ein Kind demokratischer Herrschaftstechniken, muss zugleich aber breiter verstanden werden als es die propagandistischen Selbstinszenierungen des NS-Regimes während des 1. Mai, des Erntedankfestes oder der verschiedenen NS-Gedenktage (30. Januar, 20. April oder 9. November) scheinbar nahelegen.

Propaganda: Worthäufigkeiten im Korpus der Zeitungsdatenbank Zeitpunkt.NRW und des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache

Propaganda ging weit über „Verführung“ und „Manipulation“ hinaus. Dies belegt schon eine einfache Wortzählung sowohl in digitalisierten Tageszeitungen als auch im breiteren Textkorpus des Digitalen Wörterbuches der Deutschen Sprache. Propaganda war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein zunehmend üblicher Begriff für eine Alltagsrealität. Der französischen Soziologe Jacques Ellul (1912-1994) hat seine Analysen der Propaganda in den 1950er und frühen 1960er Jahren darauf aufgebaut. Im angelsächsischen Sprachraum wurden und werden sie bis heute diskutiert, nachdem 1965 eine erste Übersetzung seines 1962 erschienenen Buches „Propagandes“ [Mehrzahl!, US] im renommierten New Yorker Verlag Alfred A. Knopf erschienen war. Seit 1960 Teil des vertriebsstarken Verlages Random House, war Knopf eine wichtige Drehscheibe für die Rezeption europäischer Literatur und Theorie in den USA. Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit 2021 vor (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Jacques Ellul wurde hierzulande kaum rezipiert, obwohl sein umfangreiches Oeuvre zentrale Fragen der technischen Moderne und der Konsumgesellschaft anregend und zugleich provozierend erörtert. Seine Werke haben ein spezielles Flair, seine rechtswissenschaftliche Grundbildung, insbesondere aber seine theologischen Interessen bieten gleichermaßen Stringenz wie philosophische Weite. Ellul gehörte der französischen Resistance an und war zugleich ein Gerechter unter den Völkern, ein Ehrentitel der viel zu wenigen (Ulrich Teusch, Wer war Jacques Ellul? (2021) (https://multipolar-magazin.de/artikel/wer-war-jacques-ellul).

Propaganda war für Ellul eine Notwendigkeit der technischen Moderne. In seinem 1954 erstmals erschienenen, 1964 ins Englische übersetzten Werk „The Technical Society“ hieß es bereits programmatisch: „Technik ist nicht ein isoliertes Element in der Gesellschaft […], sondern hängt mit jedem Faktor im Leben des modernen Menschen zusammen“ (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964, xxvi). Propaganda erschien ihm als eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ebd., 216). Dass sie leitende Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Für Ellul war das kein Grund zu moralisierender Klage, sondern Teil realistischer Selbstverortung. Das Problem sei nicht der irreführende Dualismus von Diktatur oder Demokratie, sondern die Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375). Wie anders aber sollte der moderne Verkehr funktionieren, dieses Aufeinandertreffen völlig unbekannter Dinge und Wesen?

Auch Elluls Propagandabuch kreist um das Grundproblem der Effizienz der technischen Gesellschaft und ihrer Folgen für das Individuum. Propaganda verstand der französische Soziologe als eine wissenschaftsbasierte rationale Kommunikationsform, die auf ein Massenpublikum mit einem möglichst breiten Arsenal von Medien ziele, um Wirksamkeit zu erzielen. Dazu müsse sie an bestehende Prädispositionen anknüpfen, die anvisierten Menschen möglichst gut kennen. Wirksame Propaganda müsse den kulturellen Kontext präzise mit einbeziehen, denn nur so könne Aufmerksamkeit garantiert und Dauer/Wandel bewirkt werden. Die politische und gesellschaftliche Dienstbarkeit der Kulturwissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, ist daher kein Zufall. Ellul verstand den Einzelnen als „einen schrecklich formbaren, plastischen Menschen, der seiner selbst ungewiss ist, stets bereit, sich zu unterwerfen“ (Ellul, 2021, 17 (ich zitiere nach der Paginierung des mir vorliegenden E-Books)). Dafür gäbe es gute Gründe, der Einzelne würde in einer technischen Gesellschaft die Vorteile des Gehorsams rational einschätzen. Maschinenarbeit und Musizieren basieren gleichermaßen darauf. Propaganda „ist dazu aufgerufen, Probleme zu lösen, die durch die Technik erzeugt wurden, auf Unverträglichkeiten zu reagieren, das Individuum in die technologisierte Gesellschaft zu integrieren. Propaganda ist weit weniger politische Waffe eines Regimes (was sie natürlich auch ist) denn Wirkung einer technologisierten Gesellschaft, die den ganzen Menschen einschließt und dazu tendiert, ihn vollständig zu durchdringen“ (Ebd., 18). Menschen würden aus freien Stücken gehorchen, da sie ansonsten gegen ein System fremdgesetzter Regeln und Sachzwänge ankämpfen müssten. Innerhalb eines gegebenen Rahmens schaffe dieser Gehorsam – und die darauf zielende Propaganda – aber sehr wohl einen Freiraum.

Propaganda in einer modernen Welt sei berechenbar und berechnend, ihr Einsatz evaluierbar und wandelbar, um möglichst wirksam zu sein. Sie richte sich an die Masse, spreche den Einzelnen jedoch niemals in seiner Individualität an. Der Einzelne wisse, dass er Teil einer Masse, einer Gruppe sei, dass er sich zu ihr zu stellen habe. Er teile Mythen und Narrative, sei daher emotional berührbar, könne impulsiv und überschwänglich reagieren. Er sehe sich stets als Teil einer breiteren Strömung, ihm bekannter Moden. Die von Fremden vorgegebene Frühlingsfarbe oder der Schnitt der Wintermäntel kann daher Ausdruck seiner Selbst sein, Erhebung aus der Masse in der Masse. Pointiert formulierte Ellul: „Der Mensch der Masse ist ein »Untermensch«, der sich aber für einen »Übermenschen« hält“ (Ebd., 25).

Um Wirkung zu erzielen, müsse Propaganda möglichst total sein. Das bedeute den Einsatz aller verfügbaren (oder bezahlbaren) Medien für einen Zweck. Sporadische Aktivitäten seien keine Propaganda. Erst der orchestrierte Einsatz unterschiedlicher Medien erlaube, den Einzelnen unterschiedlich und doch gleichartig anzusprechen: „So gelingt es, Denken und Fühlen pausenlos auf Trab zu halten: der Mensch und die Menschen, denn berücksichtigt werden muss auch, dass sich derlei Mittel nicht alle gleichermaßen an dasselbe Publikum richten“ (Ebd., 28). Totale Propaganda ziele darauf, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben. Sie liefert ihm ein umfassendes Modell zur Erklärung der Welt und unmittelbare Handlungsmotive zugleich. Wir sehen uns hier einer Gestalt mythischer Ordnung gegenüber, die die Person im Ganzen zu fassen sucht“ (Ebd.). Das Ziel sei „nahezu Einstimmigkeit“ (Ebd., 29), sei Marktbeherrschung, sei es im wirtschaftlichen oder politischen Wettbewerb. Propaganda agiere in der Gegenwart, wolle diese prägen und beherrschen. Dazu würde, ja müsse sie „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31). Das mag uns an das Wahrheitsministerium in George Orwells Dystopie „1984“ erinnern, doch es sei durchaus notwendig alte Verkehrszeichen oder Begriffe zu vergessen. Fletchern wird Rösen, Zarizyn Stalingrad, Berlin Germania, Karl-Marx-Stadt Chemnitz Studenten Studierende, Kiew Kijiv. Eins, zwei, drei, im Sauseschritt / Läuft die Zeit; wir laufen mit!

Anknüpfungsfähige Vorpropaganda: Wahlaufruf zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 und nationalsozialistisches Heldennarrativ 1933 (Der Welt-Spiegel 1932, Nr. 31 v. 31. Juli, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1075)

Jacques Elluls Analyse ist natürlich nuancenreicher als diese groben Striche. Zwei weitere Punkte scheinen mir zur genaueren Analyse der Winterhilfe 1933/34 und der darin eingebetteten Karikaturenserie um Herrn und Frau Knätschrich jedoch noch erwähnenswert. Erstens bedarf nach Ellul jede aktive Propaganda einer Art Vorpropaganda. Der plötzliche Schock wirke, doch er wirke nicht dauerhaft. Wirksame Propaganda erfordere einen Vorlauf, habe „den Menschen auf eine bestimmte Handlung hin vorzubereiten, ihn für bestimmte Einflüsse empfänglich zu machen, ihn in den Stand zu versetzen, zu gegebener Zeit in wirksamer Weise, ohne Aufschub und ohne zu zögern, an der Bewegung teilzunehmen“ (Ebd., 50). Das könne auf zwei Arten erfolgen, nämlich einerseits durch konditionierte Reflexe, also eine erwartbare Reaktion auf Worte, Bilder, Personen oder Tatsachen, die dann für ein neues Ziel genutzt werde. Anderseits sei es Ziel der Vorpropaganda „Erzählungen, Mythen zu erschaffen, in denen der Mensch ein Zuhause findet und die an seinen Sinn fürs Heilige anknüpfen“ (Ebd., 50). Sie sollen für Gutes, Gerechtes, Wahres stehen, denn dafür setzen sich Menschen ein und in Bewegung.

Zweitens hat Ellul zwischen vier verschiedenen Kategorien der Propaganda unterschieden, die hier nur zu nennen sind, die wir im Rahmen der Winterhilfe und auch der Knätschrich-Serie aber allesamt wiederfinden werden. Politische sei von soziologischer Propaganda zu trennen – und gerade letztere könne die Rationalität der Propaganda fürs Mitmachen, für die eigene Integration erklären. Ellul unterschied ferner zwischen agitierender und integrierender Propaganda – und es ist offenkundig, dass die Konsolidierung der NS-Herrschaft auf die (für die Mehrzahl) integrierende Wirkung des moralisch hochstehenden „Volksgenossen“ angewiesen war, während das blökende Ja zur Einheitsliste der Reichstagswahl am 12. November 1933 zwar ein Agitationserfolg war, die Dauer des Regimes aber keineswegs sicherte. Ellul unterschied weiterhin zwischen vertikaler und horizontaler Propaganda, also zwischen Hitler- oder Goebbelsrede einerseits und der breit gefächerten Erziehung zum deutschen „Volksgenossen“ anderseits. Schließlich trennte Ellul rationale von irrationaler Propaganda. Damit trug er dem schon während der NS-Zeit allseits sichtbaren Bezug auf „Tatsachen“ Rechnung, denn Propaganda gründet nur selten auf offenkundigen Lügen. Doch just die als Andock- und Merkpunkte für den Einzelnen erforderlichen Tatsachen, also „rationale“ Argumente, verkehren sich in propagandistischer Form meist in ihr Gegenteil: „Weit davon entfernt, die Individuen zu einem selbstständigen Urteil, zu einer eigenen Meinung zu ermächtigen, werden sie von der Vielzahl an Informationen daran gehindert, paralysiert. Sie können unmöglich dem Spinnennetz der Information entkommen, das heißt, sie sind gezwungen, auf der Ebene der ihnen gelieferten Tatsachen zu verharren. Sie sehen sich außerstande, ihre Präferenz, ihr Urteil in einem anderen Bereich, bei anderen Themen zu formulieren“ (Ebd., 114-115).

Rationale Propaganda: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit 1932/1933 (Illustrierte Technik 11, 1933, H. 15, V)

Elluls Analyse der Propaganda liefert ein Rüstzeug für eine genauere Untersuchung der NS-Propaganda. Sie erlaubt eine detaillierte Fallstudie, ermöglicht aber auch den Vergleich mit anderen Propagandaregimen, von früheren und heutigen Propagandismen. Das NS-Regime war trotz atavistischer Mythen ein modernes Herrschaftssystem, das die Errungenschaften des technischen Zeitalters recht virtuos nutzte, um seine ideologischen, aggressiv-mörderischen Ziele zu verwirklichen. Dazu bedurfte es, wie in jeder effizienten Gesellschaft, sozialer Kohäsion. Bekenntnisdruck und Gewalt waren Teil dieser Effizienzsteigerung, Mordbereitschaft bedarf allerdings anderer Propagandismen als die Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen. Das wird die Analyse der nicht gehorsamen und spendenunwilligen Knätschrichs zumindest tendenziell einfangen können.

Krisenbewältigung und Winterhilfe

Diese Studie ist Teil der „Neuentdeckung der Zeitung in der zeithistorischen Forschung“ (vgl. Christian Kuchler, NS-Propaganda am Kiosk?, in: Ders. (Hg.), NS-Propaganda im 21. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2014, 27-39, hier 29). Die langsame Erschließung dieser zunehmend digitalisierten Massenquelle erlaubt neuartige Einblicke in die öffentliche und veröffentlichte Sphäre. Texte, Zeichnungen und Bilder treten gleichermaßen hervor, auf Massenmedien wie Kino, Radio und den Buchmarkt wird stetig verwiesen (vgl. zu letzteren Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 201-226). Die Lektüre der Tages- und Wochenpresse erlaubt einen direkten Einblick in den Alltag während der NS-Zeit, allerdings gebrochen durch die Prismen der Presseanweisungen, der ideologisch enggeführten Berichterstattung und der Zensur. Unser direkter und zugleich gebrochener Einblick erlaubt demnach eine präzise Analyse der gängigen Alltagspropaganda, lässt uns unterhalb der großen Propagandainszenierungen blicken. Die strukturellen Defizite dieser Massenquelle (und dieser Studie) sind offenkundig. Wir verbleiben vielfach in der Binnenwelt der Propaganda, mag es auch vereinzelt möglich sein, deren immanente Widersprüche auszuloten. Versteht man Propaganda jedoch als einen zentralen Modus im Leben in der technischen Moderne, kann man mit ihrer Analyse in Massendruckwerken vielfach mehr erreichen als mit der Suche nach dem Bewusstsein des Einzelnen. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass den Propagandawelten grundsätzlich andere Binnenwelten gegenüberstanden? Ist die Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktion die realistische Analyse des Hauptgeschehens oder aber das hoffnungsheischende Schöpfen im seichten Gestade des Ausnahmehandelns weniger? Ellul präsentierte eine realistische Gesamtsicht, mochte er selbst auch französische Juden vor der Deportation gerettet haben (Ellul Jacques). Er war die Ausnahme, doch er wollte die Mehrzahl verstehen. Um sehen zu können, gilt es hinzuschauen.

Private Unterstützung der sozialdemokratischen Winterhilfe für Arbeitslose und Kritik an der unzureichenden Unterstützung während der Massenarbeitslosigkeit (Vorwärts 1931, Nr. 569 v. 5. Dezember, 3 (l.); Der wahre Jacob 54, 1933, Nr. 4, 4)

Winterhilfe war keine nationalsozialistische Erfindung. Sie entstand dezentral im Winter 1930/31, als Folge der rasch auf über drei, dann über vier Millionen steigenden Zahl der Arbeitslosen. Eine Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 institutionalisiert, finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Zuschüssen der Kommunen und des Nationalstaates. An die Stelle der dezentralen kommunalen Fürsorge trat ein System von reichseinheitlichen Leistungsansprüchen. Die Arbeitslosenversicherung besaß allerdings keine Reserven, war zugleich unterfinanziert, schon 1929 betrug ihr Defizit 270 Mio. RM, 1930 gar 731 Mio. RM. Leistungsabbau war die politische Konsequenz, anfangs noch mitgetragen von den Sozialdemokraten. Im März 1930 zerbrach jedoch die große Koalition unter Hermann Müller (1876-1931) an der Höhe der Beitragssätze und des Reichszuschusses (Ulrike Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn et al. 2006, 250-254, 316-319). Damit endete die parlamentarische Demokratie, begann unter Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970) eine auf die Prärogative des Reichspräsidenten gründende und krisenverschärfende Deflationspolitik. Die Massenarbeitslosigkeit war teils strukturell bedingt, ihr Anwachsen Folge der Überproduktion in den USA, des Platzens der auf billigem Geld basierenden Spekulationsblase 1929, des Abzugs der US-Kredite. Die exorbitante Höhe der Massenarbeitslosigkeit im Deutschen Reich war jedoch Ergebnis der deutschen Politik der Präsidialkabinette, die einerseits auf die Selbstheilungskräfte des Marktes setzten, anderseits aber im Massenelend ein funktionales Argument für ein Ende der Reparationszahlungen sahen (vgl. Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010, 200-271).

Im Winter 1931/32 wurden die lokalen Hilfsaktivitäten intensiviert, da viele Arbeitslose aus den zeitlich befristeten Zahlungen der Arbeitslosenversicherung herausausfielen und auf stetig reduzierte kommunale Fürsorge angewiesen waren, zunehmend aber auch keinerlei Ansprüche mehr besaßen. Die damalige Winterhilfe wurde vornehmlich von den freien Wohlfahrtsverbänden, also Arbeiterwohlfahrtsverbände, Innere Mission, Caritas und Deutsches Rotes Kreuz, und den Kommunen finanziert. Sie entfalteten eine umfangreiche Agitation, um die Not vorrangig mit Sachspenden zu begrenzen. Parallel setzten erste reichsweite Initiativen ein, insbesondere die Frachtbefreiung der Reichsbahn für Hilfslieferungen und erste Verbilligungsscheine für Heizmaterialien, Kartoffeln und Brot, ab Ende 1932 dann auch für Fleisch. Die Winterhilfe minderte die Not, das Spendenaufkommen – 42 Mio. RM 1931/32 (Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Kronberg/Ts. und Düsseldorf 1978, 453) – und die Reichshilfen – 35 Mio. RM 1932/33 (Verbilligtes Fleisch – verbilligte Kohlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 300 v. 22. Dezember, 1) waren jedoch auch nicht ansatzweise ausreichend. Ende 1932/33, also kurz vor der Machtzulassung der NSDAP, war die Winterhilfe ein kontroverses öffentliches Thema. Die SPD forderte eine massive Erhöhung der Reichszuschüsse auf 400 Mio. RM, drang damit aber nicht durch. Bruno Rauecker (1887-1943), Regierungsrat in der Reichszentrale für Heimatdienst, betonte an der Jahreswende: „Winterhilfe ist zu einer gebieterischen nationalen Pflicht geworden. In allen Teilen unseres Vaterlandes haben daher die Organisationen der privaten Wohlfahrtspflege zu tätiger Mitarbeit aufgerufen: überall werden Kräfte mobilisiert, Hilfsquellen erschlossen, um zur Linderung der Not breiter Volksschichten angesetzt zu werden (Winterhilfe und Volksgemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1933, Nr. 1. v. 3. Januar, 1-2, hier 1). Rauecker, der seine Stellung schon bald aus politischen Gründen verlieren sollte, sprach von einer „Gemeinschaft zwischen Regierung und Volk, zwischen Führung und freiwilliger Mitarbeit […]. Keiner darf an der Abwehrfront gegen Not und Elend fehlen!“ (Ebd., 2)

Die NSDAP war Teil der dezentralen Winterhilfe, die im Juni 1932 institutionalisierte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) stellte neben die zahlreichen Suppenküchen der SA eine weiter ausgreifende Dachorganisation. Sie sollte ab dem 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge im Deutschen Reich zuständig werden (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380). An die Stelle der vielgestaltigen Hilfsaktivitäten der freien Wohlfahrtsverbände trat im Spätsommer 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im September 1933 vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) vorgestellt und Anfang Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Goebbels als formaler Leiter bediente sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“. Die Spenden waren eine ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur wurden beibehalten, nicht erhöht.

Fürsorge im Zeichen des Kreuzes: Spendenaufruf für ein lokales Winterhilfswerk 1931 (Grafinger Zeitung 1931, Nr. 269 v. 21. November, 4)

Das Winterhilfswerk spiegelte die für den NS-Staat übliche Unterminierung der rechtlich verbindlichen und allgemein gültigen sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik. Die sozialdemokratische Opposition erfasste die Transformation recht präzise: „1. Die laufenden bürokratischen sozialpolitischen Leistungen werden abgebaut (Krankenkassen, Arbeitslosenunterstützung, Wohlfahrtspflege der Gemeinden) und daneben eine Reihe von Einzelaktionen mit großer propagandistischer Aufmachung unter Selbstfinanzierung durch Sammlungen aufgebaut (Winterhilfe, Aktion für Mutter und Kind). Auf diese Weise werden gleichzeitig die Partei und ihre Nebenorganisationen mit immer neuen behördlichen Funktionen ausgestattet und der alte behördliche Apparat zurückgedrängt. 2. Nebenher läuft die Ersetzung der früheren individuellen Hilfeleistung durch Kollektivaktionen mit hauptsächlich propagandistischen Zielen.“ Ziel sei es „die Partei und ihre Organe immer mehr mit der Gesellschaft und dem Staat zu verflechten und ihre Leistung und Bedeutung in den Augen der Öffentlichkeit zu haben“, allerdings sei dieses Anfang 1934 „noch nicht gelungen“ (Zitate n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 42).

Die Propaganda für die nationalsozialistische Winterhilfe konnte demnach auf vielgestaltige Vorläufer und Maßnahmen zurückgreifen. Dies erleichterte ihre Arbeit, denn eine Vorpropaganda war kaum mehr erforderlich. Hauptaufgaben waren die Steigerung der Spendeneinkünfte und die Koppelung von Hilfsaktivitäten mit der Politik der NSDAP und der von ihr gestellten Regierungen. Wie stark man dabei anfangs auf Arbeit anderer zurückgreifen konnte, zeigt nicht zuletzt der Begriff des Winterhilfswerkes selbst. Man findet ihn bereits während der Inflationszeit für lokale Hilfswerke (Westfälische Neueste Nachrichten 1922, Nr. 284 v. 5. Dezember, 6; Rhein- und Ruhrzeitung 1923, Nr. 445 v. 30. November, 2; Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 345 v. 20. Dezember, 13). Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise entstanden neuerlich lokale Winterhilfswerke, dieses Mal jedoch stärker durch die Kommunen (Velberter Zeitung 1930, Nr. 294 v. 28. Oktober, 7; Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 332 v. 6. Dezember, 7). All das war Teil der oben schon erörterten Winterhilfsaktionen. Auch einzelne Unternehmen trugen schon früh freiwillig ihr Scherflein bei: Die Belegschaft der Porzellanfabrik Tirschenreuth leistete etwa freiwillig Überstunden, deren Lohn wurde dann dem Coburger Winterhilfswerk gespendet (Coburger Zeitung 1931, Nr. 258 v. 3. November, 3). Diese notmildernden Initiativen waren nicht nur Vorläufer, sondern zugleich unausgesprochener Teil der nationalsozialistischen WHW-Propaganda seit Oktober 1933. Nothilfe war allseits akzeptiert, so dass der Appell des NS-Staates Gehorsam auch bei denen fand, die dem Regime reservierter gegenüberstanden.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der neuen Machthaber eine völkische Opfergemeinschaft. Es ging um „Nationale Solidarität“, „blutmäßig ewig begründet“, in bewusster Abgrenzung zur „internationalen marxistischen Solidarität“, so der NSDAP-Parteivorsitzende (Adolf Hitler, „Wir wollen die lebendige nationale Solidarität des deutschen Volkes aufbauen!“, in: Führer-Reden zum Winterhilfswerk 1933-1936, Berlin 1937, 4-5, hier 4). An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten (Florian Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014, insb. 131-153). Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW zugleich einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie. Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder. Dazu bediente es sich einer zwar ebenfalls angelegten, in Umfang, Intensität und Totalität aber bisher nur aus Wahlkämpfen bekannten Propaganda.

Empathie, Gemeinsinn, Opfer: Totale Propaganda für die Winterhilfe

Vor mehr als neunzig Jahren kam Propaganda noch direkt, noch ungebrochen daher. Der Begriff war positiv besetzt, das Nebeneinander von Propaganda und Volksaufklärung erschien logisch, nicht nur bei den akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Für den angestrebten Gleichklang verwandte die teils im Reichstag residierende Leitungsgruppe der Winterhilfe eine breite Palette unterschiedlicher Formen, um Spenden zu akquirieren, systemische Integration und Gehorsam zu gewährleisten, das Publikum auf eine Aufgabe zu lenken. Wir gehen diese nun Punkt für Punkt durch, wissend, dass Einzelinstrumente nicht die monumentale Wucht des Orchesters widerspiegeln. Darmstadts Bürgermeister Karl Wilhelm Haug (1904-1940), zugleich Gauführer des Winterhilfswerks in Hessen-Nassau, betonte entsprechend: „Es gibt keinen im weiten Vaterland, der sich der Größe und der Wucht des Winterhilfswerks entziehen kann“. Der „unablässige Appell“ sei jedoch Ausdruck der bedrückenden Not und des unbeschreiblichen Elends, daher unbedingt geboten (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Die Struktur des Winterhilfswerks war an sich überschaubar. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt führte, die Organisationen der NSDAP, der noch verbliebenen freien Wohlfahrtsverbände, der Behörden und der Wirtschaftsverbände unterstützten. Unter dem Motto „Kampf gegen Hunger und Kälte“ wurden monatliche Haus- und Straßensammlungen durchgeführt, ebenso allmonatliche Eintopfessen. Weit wichtiger waren faktische Zwangsabgaben, einerseits von der Einkommensteuer, anderseits von Körperschaftssteuer. Dafür erhielten Beschäftigte, Selbständige und Unternehmen (Tür-)Plaketten, durch die sie von weiteren Spenden entbunden waren. Hinzu kamen umfassende Sachspenden, anfangs vor allem Anteile an der eingebrachten Ernte, zudem Abgaben von Handwerkern, Groß- und Kleinhändlern. Hinzu trat eine Lotterie, Wohlfahrtsmarken und zahlreiche weitere, vor Ort zu entwickelnde und durchzuführende Veranstaltungen. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Kleinrentner erhielten ergänzende finanzielle Zuwendungen, Sachspenden, verbilligte Nahrungsmittel und Heizmaterialien, hinzu traten Notspeisungen, Wärmestuben, aber auch Freikarten für kulturelle Aktivitäten. Im typisch nationalsozialistischen Superlativ war all das „die grandioseste soziale Organisation dieses Jahres“ (Josef Goebbels, Das deutsche Volk – eine große Not- und Brotgemeinschaft, in: Julius Streicher (Hg.), 1933. Das Jahr der Deutschen, Berlin 1934, 217-226, hier 226). Der verwaltende Sozialstaat trat in den Hintergrund, das propagandistisch nutzbare Winterhilfswerk in den Vordergrund.

Emotionale Standardpropaganda

Grundbedürfnisse: Hunger und Kälte gemeinsam brechen (Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4 (l.); Märkischer Landbote 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 4)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte von Beginn an Bildklischees, die möglichst breite Schichten ansprachen und nicht explizit nationalsozialistisch waren. Kernpunkte war die Benennung der Not durch Verweis auf allseits nachvollziehbare Grundbedürfnisse. Der Grundtenor des Kampfes gegen Hunger und Kälte wurde aber zugleich in einen Handlungsrahmen gestellt. Brot und Kohle waren die Gegenmittel, Nothilfe par excellence. Jeder nutzte sie, fast jeder konnte sie bezahlen, selbst Bezieher kleiner Einkommen. Andere Anzeigen verwiesen auf positive Folgen einer Spende: Sie schützte die Grundzelle der Gemeinschaft, die Familie, hielt gesellschaftliche Desintegration und mögliche Kriminalität in Grenzen. Dies war horizontale Propaganda par excellence.

Kinder als propagandistischer Blickfang (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 255 v. 1. November, 4 (l.); Calwer Tagblatt 1933, Nr. 254 v. 31. Oktober, 3)

Dieses emotionale Anknüpfen an Grundbedürfnisse und ihre Befriedigung wurde durch den Einsatz von Kinderbildern gezielt unterstützt. Brot, Milch und Kartoffeln dienten dem Gedeihen, dem Wachstum der nächsten Generation, damals zumeist als Zukunft verstanden. Anders als im Ersten Weltkrieg gab es während der Weltwirtschaftskrise keine größeren Entwicklungsrückstände der Schulkinder – ein Ausdruck gezielten Verzichts und gezielter Förderung trotz immenser Not. Die emotionale Standardpropaganda konnte auf einen gesellschaftlichen Konsens setzen, auf Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe als Erziehungsideal, als Ausdruck eines entwickelten Menschen. Wer konnte gegen derartige Hilfe sein? Wer wollte sein Herz und seine Börse verschließen? In einfacher Form appellierten diese Zeichnungen an den Sinn fürs Heilige, an ein Zuhause für alle, an Gutes, Gerechtes, Wahres (Ellul, 2021, 50).

Parolen: Appelle für die Winterhilfe

Und doch unterschied sich die Winterhilfe-Propaganda von Beginn an von damals gängigen Spendenkampagnen: Dafür stehen beispielhaft die zahlreichen agitierenden Parolen. Sie standen in einer Reihe mit den um Zustimmung zum Völkerbundaustritt und zur Einheitsliste der NSDAP bemühten Parolen bei der Reichstagswahl am 12. November 1933. Die Leistungen des „Volkskanzlers“ Adolf Hitler wurden darin verdichtet hervorgehoben, der merkliche Abbau der Arbeitslosigkeit betont, vor allem aber die zunehmende Einheit des deutschen Volkes beschworen. Parolen argumentierten nicht, zielten auf den unmittelbaren Eindruck und Reflex. Allerdings gab es auch zahlreiche warnende, ja drohende Parolen: Neinsager wurden als Landesverräter beschimpft, damit Bekenntnisdruck aufgebaut. Allerdings bauten auch die Parolen Brücken, denn man konzedierte Verärgerung über den doch langsamen wirtschaftspolitischen Aufbau. Doch gemeinsam würde man weiter durchstarten, nur Geduld.

Bekenntnisdruck während der Reichstagswahl und Volksabstimmung am 12. November 1933 (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 264 v. 11. November, 3 (o.) und 4)

Die im Oktober einsetzende agitierende Parolenpropaganda für die Winterhilfe unterstrich zweierlei: Zum einen koppelte sie die mit Standardklischees werbende Kampagne fest an die federführende Einheitspartei, etwa durch die Verbindung von NSDAP-Liedgut mit Kampagnenparolen: „Die Reihen fest geschlossen zum Kampf gegen Hunger und Kälte, für Arbeit und Brot“ (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 269 v. 16. November, 4). Zum anderen erlaubten viele Parolen auch, den Bekenntnisdruck auf die Spendenbereitschaft auszuweiten: Plakativ hämmerte es: „Keine faulen Ausreden! Spende zum Kampf gegen Hunger und Kälte!“ (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 263 v. 10. November, 2). Derartiger Parolendruck ebbte langsam ab, machte sich bei Kauf und Tragen der Plaketten und Abzeichen aber stets bemerkbar: „Jeder muß die Hausplakette erworben haben!“ (Wilhelmsburger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 7). Es handelte sich gleichermaßen um politische und soziologische Propaganda.

Der vereinzelte Mensch als Schreckensvorstellung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7)

Doch der Tenor der Propaganda veränderte sich, integrative und soziologische Propaganda gewannen rasch die Oberhand. Das Winterhilfswerk, die Nationale Volkswohlfahrt, sie boten Mitmachmöglichkeiten unter dem damals zeitweilig nicht mehr möglichen Parteieintritt. Wer ehrenamtlich mitarbeitete, verpasste nicht den Anschluss an die neue Zeit, hielt das Zukunftsbanner fest in seinen Händen. Dazu diente auch die Chimäre des „Sozialismus der Tat“, die den „Marxismus“ verdammte, den Anhängern der Arbeiterbewegung aber gleichwohl etwas bot. Schließlich hatten Sozialdemokraten diesen Begriff lange an das eigene Banner geheftet (Das Ergebnis des Parteitags, Die Gleichheit 28, 1917, Nr. 3 v. 9. November, 17-18, hier 17; Freiheit 1920, Nr. 216 v. 9. Juni, 2; Vorwärts 1926, Nr. 549 v. 21. November, 3), galt vielen Genossen gar der Einkauf in der Konsumgenossenschaft oder der Alkoholverzicht als „Sozialismus der Tat“ (Vorwärts 1930, Nr. 313 v. 8. Juli, 6; Wilhelm Sollmann, Sozialismus der Tat, Berlin 1926). Auch die Winterhilfe der SPD stand vielerorts unter diesem dann von den Nationalsozialisten gekaperten Begriff (Volksstimme [Hagen] 1931, Nr. 24 v. 29. Januar, 8): „Sozialismus der Tat ist, wenn du dein Brot mit den Armen brichst“ (Volksblatt [Detmold] 1931, Nr. 145 v. 25. Juni, 2). Ähnliches galt für die KPD, die dergestalt den Aufbau in der UdSSR und den Fünfjahresplan titulierte (Bergische Volksstimme 1931, Nr. 78 v. 2. April, 5; ebd., Nr. 80 v. 4. April, 4). Nehmen wir also Abstand zu den vermeintlich klaren Linien der Zeit, blicken wir auf Überlappungen, die diese Propaganda instrumentell nutzte.

„Sozialismus der Tat” oder Abbau rechtlich garantierter Fürsorgeansprüche (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 233 v. 10. Oktober, 8)

Nationalsozialistischer „Sozialismus der Tat“ war eine Chiffre für fremdbestimmten Aktivismus zugunsten von Arbeitern, von Rentnern und Notleidenden. Er hatte wenig gemein mit einem rechtsbasierten Sozialstaat, hängte Anspruchsbedürftige vielmehr an den Tropf der Parteiorganisation. Das spiegelte sich in weiteren Parolen, die etwa die Familie als Hort gegen den „Bolschewismus“ positionierten. Selbsthilfe auf Grundlage von Blutsbanden, völkische Verantwortung allein für rassisch Gleiche – das hatte mit Solidarität, sozialer Umverteilung und Rechtsansprüchen kaum etwas zu tun.

Schreckgespenst Bolschewismus, Volkshort Familie (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 4)

Die Parolenpropaganda ebbte gegen Ende des Jahres zunehmend ab. Die Reichstagswahl hatte bei einer Wahlbeteiligung von 95,2 Prozent 92,1 Prozent Zustimmung ergeben. Das NS-Regime sah darin nicht zu Unrecht eine Bestätigung, verwies in der Folge immer wieder auf die neue Einigkeit der Deutschen. Gemeinschaftsvorstellungen drangen nun vor: „Ein Volk von Brüdern trotz allen Stürmen!“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 7). Zugleich aber forderte man eine geistige Wende, eine Selbstbesinnung für den „Volksgenossen“: „Eßt keinen Bissen Brot / ohne Opfer für die Not! Jeder arme Volksgenosse soll der Ehrengast der Nation sein!“ (Barop-Hombruchsches Volksblatt 1933, Nr. 284 v. 4. Dezember, 6)

Sachspenden als Ausdruck der Hilfsgemeinschaft

Das schöne Bild der Hilfe: Private Kinderspeisung eines Berliner Textilunternehmens (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1523)

Die Winterhilfe ermöglichte zahlreiche direkte Belege für aktive Hilfe. Sie wurde in Bilder umgesetzt, Abbilder der Entschlossenheit der NS-Regierungen, die Not zu wenden. So schuf man Vertrauen, motivierte zu einer „beispiellosen Opferbereitschaft und Spendenfreudigkeit“ (Winterhilfe, Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1350). Gespeiste, freudig zulangende, die Zukunft verkörpernde Kinder waren ein gern gewähltes Motiv, schulische Ergänzungsangebote und Notspeisungen suggerierten existenzielle Sicherheit, vielleicht eine Zukunft. Derart integrierende und horizontale Propaganda knüpfte nicht nur ein Band zwischen Spendern und Machern, sondern auch eines zwischen Spendern und Spendenempfängern. Die Hilfe kam offenkundig an, zauberte den Kleinen ein Lächeln ins Antlitz. Solche Bilder waren zugleich rationale Propaganda, war doch der Ertrag der eigenen Spende scheinbar direkt sichtbar.

Jedem ein Bett: Aufbereitete Matratzen, desinfiziert und „vergast“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2)

In den ersten Monaten der Winterhilfekampagne nahmen Bilder solcher reziproken Gaben einen breiten Raum ein. Entsprechend bedeutsam waren Sachspenden. Das obere Foto stammte aus einer der vielen lokal eingerichteten Werkstätten des Winterhilfswerkes. Dort wurden Kleider, Schuhe, Bettzeug, Möbel und Matratzen begutachtet, repariert und im Wortsinne zugeschnitten. In Frankfurt/M. waren ca. 500 Personen beschäftigt, meist für eine geringe Entschädigung und Essen. Besser als herumzuhocken. In den Nähstuben der NS-Frauenschaft oder der NSV arbeiteten die meisten unentgeltlich. Eine Spende ohne Geldzahlung (Täglich 500 Paar Schuhe, 150 Pfund Wäsche, Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2). In den einschlägigen Zeitungsberichten standen die Koppelwirkungen im Vordergrund, kamen durch Sachspenden doch viele Arbeitslose wieder in Lohn und Brot, hatten wieder einen geringen Unterhalt. Spenden halfen augenscheinlich die niederliegende Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Begrenzte Sicherheit für den Winter: Kartoffelspenden für Bedürftige (Neueste Zeitung 1933, Nr. 258 v. 18. November, 8)

Propagandistisch wichtiger noch waren die umfangreichen Lebensmittelspenden. Kartoffeln, damals mit Abstand wichtigstes Nahrungsmittel, wurden wieder und wieder aus dem Umland in die Städte gebracht, wo darbende Zeitgenossen die ihnen zustehenden zwei Zusatzzentner erwartungsfroh und dankbar in Empfang nahmen („Wir haben die Kartoffeln gern für Euch gesammelt!“, Neueste Zeitung 1933, Nr. 276 v. 25. November, 9; Edmund Hahn, Auf Kartoffelfahrt für das WHW, Neueste Zeitung 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Neben die Bilder traten Berichte und auch Schüleraufsätze, denn kostenlose Arbeit der Schulkinder half Transport- und Vertriebskosten zu begrenzen (… in keiner Not uns trennen …, Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die berufsständischen Organisationen wirkten im Hintergrund gezielt auf ihre Mitglieder ein, Landwirte, Einzelhändler und Bäcker spendeten vielfach publikumswirksam ihre Massengüter. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Rentner standen willig für verbilligte Roggenbrote oder für Brotgutscheine an (3-Pfund-Brot für 30 Pfennig, Neueste Zeitung 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 3). Symbolisch noch stärker aufgeladen wurde am Jahresende die Verteilung von Fleisch. Viehhändler spendeten Lebendvieh (Weihnachtsspende des Viehhandels, Neueste Zeitung 1933, Nr. 295 v. 18. Dezember, 4), Metzger offerierten Frischfleisch. Auch wenn die Masse der Weihnachtsgaben gekauft wurde, die Winterhilfe Teil des Geldkreislaufs war, standen Bilder von Spendern und Empfängern immer wieder in den Zeitungen – und zeigten, dass etwas getan wurde, dass die neue Regierung den Selbstbehauptungswillen der Deutschen verkörperte.

Fleisch für Weihnachten: Schweinehälften und arbeitslose Empfänger im oberschlesischen Gleiwitz (Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 8)

Die neue Sichtbarkeit der Spender (und Nichtspender)

Die Winterhilfe war eine Massenorganisation mit etwa ein bis anderthalb Millionen Helfern und einer hohen zweistelligen Millionenzahl von Spendern. Die Chance, dass der Einzelne in der Masse untergehen konnte, seinen Beitrag nicht leisten musste, war grundsätzlich hoch, zumal das Hilfswerk nominell freiwillig war. Hiergegen wirkte die Propaganda. Sie präsentierte nicht nur die Aktivitäten der Winterhilfe, sondern machte auch die Spender grundsätzlich sichtbar. Private Spendengaben wurden öffentlich – und damit ebenso die Nichtgabe.

Selbstkennzeichnung als Helfer: Abzeichen und Sammelplakette (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 255 v. 6. November, 4; ebd. 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12)

Dazu dienten einerseits Abzeichen, anderseits die schon erwähnten Türplaketten. Die Bürokratie übernahm, ihr gegenüber schien Gehorsam angebracht: „Spender, die monatlich einen bestimmten und angemessenen Beitrag zeichnen, erhalten […] eine kleine Palette, mit der Aufschrift ‚Wir helfen‘, die sie an ihrer Wohnungstür befestigen können und die sie von weiteren Sammlungen befreit. Die Plakette wechselt von Monat zu Monat in Farbe und Aufdruck“ (Plaketten für die Spender, Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 2). Abzeichen wurden ab Oktober 1933 ergänzend verkauft, zwanzig Pfennig das Stück. Mottonadeln machten den Anfang, doch die NSV besserte nach, investierte in Design und Form (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981). Im Dezember 1933 wurde während der Straßensammlung als erstes Motivabzeichen eine Christrose verkauft, 16 Millionen wurden hergestellt und abgesetzt. Sie schmückte, wurde offen getragen, zeigte den Sammlern somit, wer noch nicht gespendet hatte. Seither kamen immer wieder neue, immer wieder andere Abzeichen auf, entstand eine Sammlerszene für die letztlich ca. 8000 Abzeichen. Dieser Wechsel war Teil der Alltagspropaganda, erlaubte immer wieder neue Narrative und Themenstellungen, umrahmte das Immergleiche des Spendens immer wieder neu. Zugleich aber machte es Spender sichtbar, visualisierte das Mitziehen, die Teilhabe. Wer jedoch während der Straßensammlungen kein Abzeichen trug, wer keine Türplakette besaß, wurde von den zahllosen Sammlern immer wieder angegangen, wurde in Listen erfasst, hatte Rückfragen zu beantworten. Der freiwillige Helfer, der von Tür zu Tür ging, musste sich erst einmal selbst rechtfertigen, seine Listen, seine Hausbücher waren Ausdruck seiner Redlichkeit, der Präzision seiner Sammlung. Doch zugleich gewann die NSV so einen Überblick über die Spendenbereitschaft der Einzelnen, der Hausgemeinschaft, der Nachbarschaften. Rationale Verfahren einer arbeitsteiligen Gesellschaft erforderten Anpassung und Gehorsam.

Im Kontrollblick: Türplakette des Winterhilfswerks für den Monat Dezember und freiwilliger Helfer bei der Haussammlung (Neueste Zeitung 1933, Nr. 10 v. 12. Januar, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5)

Die Winterhilfe nutzte anfangs zudem die seit langem bekannte und auch übliche Namensnennung in gedruckten Spendenlisten in den Zeitungen: Tue Gutes und sprich darüber. Das galt insbesondere für ergänzende Spenden, mit denen man sich hervorheben konnte, die man zahlte, um Zweifel zu zerstreuen. Das galt später insbesondere für Unternehmen, auch wenn deren prozentuale Belastung durch die seit Juni 1933 bestehende „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft“ auf ein nicht allzu bedrückendes Maß reduziert werden konnte. Und doch, Spenden konnten verglichen werden, konnten freundliche, aber auch drängende Rückfragen nach sich ziehen. Hinzu traten lokale und regionale Ehrenzeichen, gesonderte Anstecker, nach Spendenhöhe voneinander abgestuft. Vorreiter fanden sich immer, denn „Lindern der Not muß zur Wahrheit für alle werden“ (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr., 247 v. 30. Oktober, 3).

Der Vergleich setzte Dynamik frei, auch zwischen den unterschiedlichen NS-Organisationen, die jeweils bestimmte Straßensammlungen durchzuführen hatten. Jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihren Beitrag zu leisten, nicht nur „Opferwillen“, sondern auch „Arbeitswillen“ (Student und Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 289 v. 16. Dezember, 3) zu demonstrieren. Innerhalb der aktiven Gruppen gab es einen Wettbewerb der einzelnen Sammler, denn hohe Erträge mündeten in Lob und Ehrerbietungen. Das galt ebenso für herausragende Leistungen, etwa den Aktivismus der Besatzung des Fischdampfers „Horst Wessel“, der als „Beweis nordischen Menschentums und germanischer Weltanschauung“ präsentiert wurde (Beispiel wahrhaft deutschen Idealismus, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 279 v. 29. November, 2). Wer wollte sich nicht positiv von seinen Volksgenossen abheben, schon früh dem Führer entgegenarbeiten? Jede/r konnte mitarbeiten, war in einen imaginären Wettstreit eingebunden: Eine mithelfende Erstklässlerin dichtete: „Hemdchen, Rock und Bettbezug / wird da hergestellt im Flug. / Munter regen sich ihre Hände, / daß sich Vieler Schicksal wende“ (Gerda Hartmann, Winterhilfe, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Mutter hatte gewiss geholfen, zeigte allen das abgedruckte Gedicht ihrer Gerda. Sichtbarkeit erhöhte die Propagandawirkung erheblich, denn ein stabiles Gleichgewicht war in einer heterogenen Gesellschaft kaum möglich. Die stetig steigenden Erträge des Winterhilfswerkes gründeten auf dieser propagandistisch geschürten Präsenz der Anderen. Auch Herr und Frau Knätschrich konnten sich dieser Sichtbarkeit nicht entziehen, standen daher als Negativfolien der Volksgemeinschaft im Rampenlicht der Propaganda.

Gemeinschaftsaktionen für die Winterhilfe

Weihestätte auf dem Rathausmarkt in Hamburg (damals Adolf-Hitler-Platz) (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 6 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 17 v. 18. Januar, Abendausg., 3)

Das Winterhilfswerk schuf regelmäßig virtuelle Ereignisse, um diese propagandistisch zu nutzen, soziologisch, integrativ, horizontal. Ein markantes Beispiel dafür war eine Opfersäule auf dem Hamburger Rathausplatz, in deren Opferschale „allabendlich 3 Stunden lang ein Opferfeuer“ lodern sollte. Das passte zur erhabenen Feuermystik des Regimes, zu Fackelzügen und Bücherverbrennungen. Doch selbst die gelenkte Presse konnte nicht verhindern, dass mehr über die misslungene Benzinführung als über das so wichtige Opfer berichtet wurde, nachdem das Anzünden am Silvesterabend recht kläglich scheiterte. Es dauerte zwei Wochen bis man in der Schale zehn große Petroleumfackeln zusammengestellt hatte, die dann wahrlich Nacht für Nacht je drei Stunden brannten. Das Thema aber war gesetzt, ein wenig Schadenfreude störte nicht die Spendenbereitschaft.

Winterpfennige rollen gegen die Not (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3)

Historisch weiter zurück griffen Heidelberger NSV-Mitglieder. Sie präsentierten den „Winterpfennig“ mannshoch, rollten ihn durch Heidelbergs Innenstadt. Ziel war es, Käufer für eine Zusatzspende beim Einkaufen zu motivieren, sei es durch Aufrunden, sei es durch die Kleingeldspende in eigens aufgestellten Büchsen. Eine Woche vor Rosenmontag hieß es: „Riesige Winterhilfsplaketten wurden von Männern in altdeutschen, oberbayerischen Trachten durch die Straßen der Stadt gerollt. Den rollenden Plaketten ging eine Trommlerschar von Hitlerjungen voraus, die die nötige Aufmerksamkeit auf den Propagandazug lenkten. Herren in Uniform der Freiheitskriege und der Landsknechte mit der Sammelbüchse verkauften die duftigen Spitzenrosetten. Auch Damen in reizenden Rokokokostümen boten die Plaketten zum Verkauf; ihnen konnte man natürlich noch weniger widerstehen“ (Heidelbergs Propagandazug für die Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3). Ähnliches gab es in vielen Städten, mal rollten die Jungs von der Hitler-Jugend den Winter-Pfennig, mal war er Teil von Autocorsos (Schwerter Zeitung 1934, Nr. 25 v. 30. Januar, 11; Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 4). Das galt ähnlich auch für die SA, deren Männer gerne neue Aufgaben wahrnahmen, nachdem ihr Schlagwerk kaum mehr nachgefragt, kaum mehr erforderlich war. Pferdefuhrwerke und Lastwagen holten die Sachspenden vor Ort ab, ein Trompeter informierte über die Ankunft, so wie ansonsten die Glocke des Altwarenhändlers.

Sachspendensammlung der SA für das Winterhilfswerk in Berlin 1933 (Streicher (Hg.), 1934, 445)

Selbstverständlich verbreitete sich die Winterhilfepropaganda auch in der kommerziellen Werbesphäre: Schaufensterdekorateure rangen um den schönsten Entwurf, größere Geschäfte reservierten damals immer häufiger gesonderte Schaufenster für die Propaganda des NS-Regimes. Sie hoben den Opfergedanken hervor, stellten die Sammlungen nach, enthielten vielfach lediglich die Standardmotive, nun allerdings in Plakatgröße.

Schaufensterwerbung für den „Winterpfennig“, eines Zusatzopfers beim Einkauf (Neueste Zeitung 1933, Nr. 280 v. 30. November, 7)

Die Winterhilfeaktivisten setzten weitere propagandaträchtige Ideen spendenwirksam um. Den Winterpfennig gab es auch als Siegelmarke für Briefe, ebenso Wohlfahrtsmarken: „Dein Briefzoll für die Bedürftigen“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 9). Da durften stimmungsvolle „Weihnachtsgabenkarten“ nicht fehlen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 292 v. 14. Dezember, 4). Kurz vor Weihnachten begann auch die Winterhilfslotterie, die zwar nur relativ geringe Gewinne ausschütte, die aber breit propagiert wurde und deren Gewinner gerne vorbildhaft lächelten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 298 v. 21. Dezember, 3; Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 13. Januar, 12).

Viele Aktionen hatten nur begrenzten Erfolg, wurden dennoch präsentiert, dienten der integrativen Propaganda: Man denke an den Zwillingspfennig, bei dem ein Pfennig des Käufers vom Verkäufer verdoppelt wurde (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5). Gerade in den ersten Monaten stellten sich auch viele Sportvereine und Schausteller in den Dienst der Winterhilfe, denn dadurch erreichten sie größere Resonanz für Boxwettkämpfe, Fußballspiele und Radrennen (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5; zur Kritik solcher Aktionen s. Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 282 v. 1. Dezember, 6). Zielgruppe um Zielgruppe wurde anvisiert, dabei der Rückbezug auf die Einheit im Ersten Weltkrieg nicht gescheut. In den Schulen durfte gegen Opfergaben wieder genagelt werden, die Schilder waren mit einem werbenden HJ-Emblem versehen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 259 v. 4. November, 1). Und zugleich lagen in den Postämtern große Opferbücher aus, in die man sich für 50 Pfennig und mehr eintragen konnte (Neueste Zeitung 1934, Nr. 14 v. 17. Januar, 3). Immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens, des Amüsements und der Wochenendvergnügungen wurden von der Winterhilfswerkpropaganda in Beschlag genommen. Die weitgehend zerschlagene Opposition verstand diese immer wieder variierte, immer wieder erneuerten Aktivitäten als Widerhall abnehmender Spendenwilligkeit. Sie verkannte, dass das NS-Regime lediglich den Ansprüchen einer totalen Propaganda zu entsprechen suchte.

Weihnachtsopfer in christlicher und kommerzieller Tradition

Wir wissen bereits, dass die propagandistische Präsentation der Spendenforderungen keiner Vorpropaganda bedurfte, denn diese hatten Parteien, die freien Wohlfahrtsverbände und zahllose Kommunen mit ihren lokalen Aktivitäten bereits geleistet. Sie umzudefinieren war leicht, denn konkurrierende Aktivitäten waren abseits privater Hilfe kaum vorhanden – auch wenn es noch zwei Jahre dauern sollte, bis dem Winterhilfswerk auch offiziell ein Exklusivrecht für die Sammlung von Oktober bis März eingeräumt wurde. Am Jahresende 1933 konnte die Propaganda für das Winterhilfswerk zudem von der doppelten Tradition des Weihnachtsfestes zehren: Als christliches Hochfest verwies es auf die Armut von Jesus, Maria und Josef, auf die Pflicht zur Spende für unschuldig in Not geratene. Als Wirtschaftsfaktor war Weihnachten spätestens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in den Städten zu einem süßen, mit Konsumgütergaben zelebrierten Gabentauschzwang mutiert. Sachspenden nahmen die Form von Pfundspenden an, denn der Sehnsucht nach Bescherung nicht nur der Kinder musste entsprochen werden. Dafür nutzte das Winterhilfswerk vielfach Fotos einschlägiger Weihnachtsfeiern, setzte aber vorrangig auf massenhaft verbreitete und stetig wiederholte Zeichnungen. Wie die Standardklischees gründeten sie auf Narrativen abseits der NS-Ideologie, auf geteilten Mythen.

Geschenke und Bescherung für alle (Neckar-Bote 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5 (l.); Harburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 68 v. 20. Dezember, 2)

Die Klischees unterstrichen unausgesprochen, dass es nicht um nichtssagende Geschenke der urbanen Konsumkultur ging, sondern um elementare Gaben, um „Nahrung, Kleidung und Wärme für die Winterkälte“ (Weihnachten in jedem deutschen Haus!, Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Die Propaganda reicherte die Weihnachtsbilder gezielt mit weiteren Inhalten an: Weihnachten spiegele „Volksnot“ und dagegen musste im gängigen Jargon dieser Zeit gekämpft werden. Standen alle zusammen, so war deutsche Weihnacht möglich, das Zusammenstehen um den einenden Baum. Mochten die Spenden und Gaben auch noch klein sein, so konnten sie doch die Depression brechen, ein neues Weihnachtsgefühl bewirken. Immer „noch ist Hunger, Kälte, Not, überall aber Glaube! Glaube an den Nächsten, an die Brüder, an die Schwestern, Glaube an den Volksgenossen, der für ihn mit dem Leben eintrat. Und wenn jetzt die Lichter aufglänzen in den Straßen, in den Häusern, überall, so braucht keiner mehr mit Bangen an das Fest denken, so soll keiner mehr bitter vor all der Freude stehen, denn in jedem deutschen Haus wird Weihnachten sein“ (Die Winterhilfe zu Weihnachten!, Die Glocke 1933, Nr. 290 v. 16. Dezember, 11). Weihnachten war die „erste große Etappe“ in einem langwährenden Kampf, die Sprache verwies zurück auf die „Liebesgaben“ des Weltkrieges, auf das Augusterlebnis der wehrhaften Nation. Die Sprache klang warm, war aber bereits militärisch durchzogen, Vorbote des Kommenden mit dem „Volksopfer“ 1944/45 als ultimative Gabe der letzten Habseligkeiten. Noch war davon nicht die Rede, noch ging es um „eine selbstverständliche Pflicht […], damit auch diese armen Volksgenossen ihr Weihnachtsfest haben“ (Neckar-Bote 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 4).

Opfer als weihnachtliche Pflicht (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 356 v. 14. Dezember, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 290 v. 12. Dezember, 3)

Kerzen und Tannenzweige prägten viele Propagandamotive, das Opfer wurde gefordert, christliche Traditionen halfen. Für Weihnachten konstitutive Bildwelten, etwa Stall und Herberge, wurden vom nationalsozialistischen Hilfswerk genutzt. Wer konnte, sollte zeitlich befristete Patenschaften für Kinder Bedürftiger übernehmen, Kleidung und Nahrung für die in der Obhut ihrer Eltern verbleibenden Kleinen stellen. Dies sei „deutscher Sozialismus“: „Der Nationalsozialismus führt den Menschen zum Menschen, den Volksgenossen zum deutschen Volksgenossen und bejaht damit die unauflösliche Verbundenheit dazu, die eines Blutes sind“ (Patenschaft für das Winterhilfswerk, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 293 v. 21. Dezember, 3). Dies bedeutete natürlich nicht nur Zusammenhalt, sondern auch gezielten Ausschluss, auch wenn Juden – vornehmlich mit Rücksicht auf das Ausland – erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 aus dem Hilfswerk ausgegrenzt wurden ([Werner] Hütwohl, Familienfürsorge nach nationalsozialistischen Grundsätzen, Herner Anzeiger 1934, Nr. 131 v. 8. Juni, 6; Aufbau der Jüdischen Winterhilfe, Jüdische Allgemeine Zeitung 15, 1935, Nr. 42, 1). Im Umfeld längst laufender Judenverfolgung brüstete man sich 1933/34 der „Großzügigkeit“, hatte man doch – so die rationale Propaganda – allein in Groß-Berlin 11.041 Juden unterstützt (Bergisch-Märkische Zeitung 1934, Nr. 181 v. 4. Juli, 5).

Christliche Bezüge: Sammelbüchsen als Adventskerzen und Verweis auf den Bruder (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 289 v. 11. Dezember, 5)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte im Dezember 1933 christliche Symbole, weil diese Vorpropaganda im Ellulschen Sinne bildeten, zugleich aber noch gängige Emotionen hervorriefen. Adventskerzen und Sammelbüchsen verschwammen, die Parole „Laß Deinen Bruder nicht Hungern“ verwies auf das Gebot der Nächstenliebe. Die zweite Phase des Winterhilfswerkes wurde Ende 1933 sowohl vom nationalsozialistischen Reichsbischof der „Deutschen Christen“ Ludwig Müller (1883-1945) gefeiert als auch vom katholischen Erzbischof Adolf Bertram (1859-1945) begrüßt (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 304 v. 30. Dezember, 9; Heidelberger Volkszeitung 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12). Dieser geborgte Segen lag aber auch an der noch in den Anfängen liegenden Organisation des Winterhilfswerks selbst. Die christlichen Bezüge wurden in den Folgejahren zunehmend gekappt.

Antreiben zur Selbstverpflichtung: Institutionalisierung des Opfers

Opfer als Selbstverpflichtung, als Ergänzung der Arbeit (Hamburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 72 v. 27. Dezember, 12)

Ende Dezember 1933 wurde eine neue Phase des Winterhilfswerkes eingeläutet. Unter dem alten Leitgedanken, dem Kampf gegen Hunger und Kälte, hieß es nun „Aufwärts aus eigener Kraft“. Man habe, so Joseph Goebbels, einen ersten Sieg erreicht, doch nun sei der Helm wieder festzubinden: „Das neue Jahr soll nicht mit Böllerei und ausgelassenem Toben begrüßt werden, sondern mit dem frohen Bekenntnis zur Volksgemeinschaft. Diesem Bekenntnis müßt ihr durch freudige Opfer Ausdruck geben“ (Aufwärts aus eigener Kraft, in: Streicher (Hg.), 1934, 449-450, hier 450). Das Winterhilfswerk habe viel erreicht, doch noch nicht genug: „Kälte und Hunger drohen weiter, darum müssen wir auch weiter helfen und opfern“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 300 v. 23. Dezember, 12). Gedacht als Maßnahme im Krisenwinter, wurde das Winterhilfswerk fest institutionalisiert, auf Dauer gestellt.

Erinnerung und Aufforderung (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 22 v. 7. Februar, 1; ebd., Nr. 30 v. 21. Februar, 5)

Plaketten, Abzeichen und Parolen änderten sich, nicht aber der Opferzwang: „Opfert für Deutschlands Herz, für deutsche Familie“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 15 v. 18. Januar, 2). Die Zahl der Beschäftigten war von 11,5 Mio. im Januar 1933 auf 13,5 Mio. Menschen im Januar 1934 gestiegen, die Zahl der Arbeitslosen von 6,0 Mio. auf 3,8 Mio. gesunken (Detlev Humann, »Arbeitsschlacht«. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, 11*, 16*). Das war beachtlich, 1936 sprach man auch international vom nationalsozialistischen „Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Dieses wurde von der Produktionsgüter- und Rüstungsindustrie hergerufen, während der Lebensstandard von 1928 auch 1938/39 kaum erreicht wurde. 1934 wurde vom Winterhilfswerk jedenfalls noch die bittere Not im nationalsozialistischen Deutschland beschworen: „Eine neue Kältewelle hat eingesetzt. […] Verzweifelt schaut so manche deutsche Mutter ihre Kinder an. Sie frieren, sie bitten um Brot. Aber sie kann ihren Hunger nicht stillen, sie hat kein Brot, sie kann sie nicht vor der grimmigen Kälte schützen, sie hat keine Kohlen, um das Zimmer zu heizen, sie hat keine Kleidung, kein Bett für die Aermsten. Deutsche Volksgenossen! Helft den deutschen Müttern und befreit sie von ihren Sorgen“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 20 v. 24. Januar, 2).

„Volkskanzler“ Hitler beim Beschwören und Reichsminister Goebbels beim Nageln (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5 (l.); Streicher (Hg.), 1934, 415)

Propaganda für das NS-Regime

Die Winterhilfe bespielte die gesamte Klaviatur der von Ellul näher reflektierten Propaganda. Dazu gehörte auch die politische Propaganda. Neben den vielen kleinen und mittleren Funktionsträgern ragten vor allem der Reichskanzler Hitler und sein Reichspropagadaminister Joseph Goebbels heraus. Das konzidierte auch die sozialdemokratische Auslandspresse, mochte sie den Berliner Gauleiter auch als „Wotans Mickymaus“ verbrämen (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 1). Die NS-Granden waren Chiffren, Konstrukte von Visualisierungstechniken, Projektionsflächen in einer kommunikationstechnisch konstruierten, darin aber nicht aufgehenden Welt.

Kontinuität des Opfers mit neuen Motiven (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 19 v. 2. Februar, 2 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 4)

Goebbels unterstützte das Winterhilfswerk mit Reden, vor allem aber mit öffentlicher Präsenz. Die zunehmend gleichgeschaltete Presse strickte zugleich am Führermythos: Ein notleidendes Mütterchen soll gesungen haben: „Doch mit dem Frühling kam ins Land / ein Retter aus der Not, / Der reichte jedem gern die Hand, / wer Arbeit schafft und Brot. // Auch bis zur dunklen Kammer drang / der frohe Ruf der Massen, / Da ward der Alten nimmer bang, / sie konnt‘ das Glück nicht fassen. // Die Winterhilfe brachte schnell: / ihr Kleider, Speis‘ und Trank. / Da ward die dunkle Kammer hell / vor Rührung und vor Dank. // Ein Ofen wurde beigeschafft, / und für den Winter Kohlen. / Kein Volksgenosse frieren darf, / Der Führer hat’s befohlen“ (Helmut Müller, Für die Winterhilfe!, Neueste Zeitung 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 9). Kanzler Hitler erschien öffentlich als erster Soldat in einer Schlacht gegen Hunger und Kälte, Not und Elend: „Wir geben wieder Glaube und Hoffnung in manches verzweifelte Herz, wir wollen nichts sein als Sozialisten der Tat. Die deutsche Volksgemeinschaft entsteht daraus“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Das Winterhilfswerk als nationalsozialistisches Gemeinschaftswerk (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 6 (l.); Hannoverscher Kurier 1933, Nr. 543/544 v. 19. November, 27)

Zugleich durchfurchten die Insignien der NSDAP eine wachsende Zahl von Propagandaklischees. Das Hakenkreuz wurde immer wieder präsentiert, koppelte Spenden mit der Zustimmung für das Regime. Dazu halfen auch die zahlreichen Winterhilfskonzerte der SA-Standarten oder auch der Leibstandarte Adolf Hitler (SS im Dienste des Winterhilfswerks, Der Landbote 1933, Nr. 288 v. 9. Dezember, 5). Zugleich verband sich die Sammelaktivität nicht nur mit den deutschen Bewohnern des Reiches. Die Sammlung für den Bund der Auslandsdeutschen am 26. Januar 1934 öffnete den Blick auf die deutsche Diaspora in China, Brasilien, Argentinien und anderswo. Zugleich aber lenkte die Propaganda den Blick auf den europäischen „Volkstumskampf“, insbesondere nach Siebenbürgen oder ins Sudetenland, präsentierte „Deutsche Kinder, die vor Hunger sich nicht mehr außerhalb des Hauses bewegen können“ (Deutsche Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 6). Die Winterhilfe-Propaganda war auch Vorpropaganda für Kommendes.

Knätschrich – Wortfeld und Motive einer Propagandaserie

Die Propaganda für das Winterhilfswerk kam positiv daher, agitierte für Werte und Haltung, für das Opfer und die unabdingbare „nationale Solidarität“. Am Beispiel der Parolen, der Sichtbarkeit der Spender und Nichtspender, an den Imperativen und Ausrufungszeichen wurde jedoch auch die andere, drohende, auf Bekenntnisdruck zielende untergründige Botschaft der Propaganda sichtbar. Spendenunwillen gab es, doch er wurde erst einmal verwaltungstechnisch ausgehebelt. Gegen Zwangsabzüge von Einkommens- und Körperschaftssteuer gab es keine rechte Handhabe, denn auch die deutsche Justiz gehorchte den neuen Machthabern, sprach zunehmend Recht in deren Sinne. Propaganda ermöglicht aber andere, subtilere Formen der Einflussnahme und Ausgrenzung. Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich präsentierte eine Negativfolie für den regimetreuen Volksgenossen, legte zugleich aber den Grund für mögliche verschärfte Maßnahmen gegen Bürger, die ihrer vermeintlichen Pflicht gegenüber der Volksgemeinschaft nicht oder nur unzureichend nachkamen.

Wer das Wort „Knätschrich“ sucht, wird allerdings überrascht sein: In der Datenbank Archive.org finden sich ebenso wie im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache keine Treffer, auch die Suchmaschine Google liefert nur drei (10. Januar 2025), die allesamt auf Zeitungsausgaben mit der nun näher vorgestellten Propagandaserie verweisen. „Knätschrich“ ist also ein ausgestorbenes Wort, fast gänzlich vergessen. Die Macher der Kampagne schufen ein Kunstwort, das zwar an gängige Bezeichnungen meckernder, mit ihren Mitmenschen im Kniest liegender Menschen anknüpfte, das als solches aber Herrn und Frau Knätschrich bereits als Fremdkörper der Volksgemeinschaft benannte, seine Negation gleichsam in sich selbst trug.

„Knätschrich“ war eine Substantivierung des vor allem in Nord- und Westdeutschland bekannten Adjektivs „knätschig“, das durch die Synonyme „beleidigt“, „griesgrämig“, „miesepetrig“, ‚mürrisch“ und „weinerlich“ auch denen verständlich wird, die niederdeutsche Sprachtraditionen kaum mehr kennen. Knätschig war lautmalerisch, verwies auf das Zerdrücken von Boden oder das Geräusch gedrückten, nicht voll ausgebackenen Brotes oder Kuchens (Fr[iedrich] Woeste, Wörternich der westfälischen Mundarten, Norden und Soltau 1882, 134; [Georg] Autenrieth, Pfälzisches Iditikon, Zweibrücken 1899, 77). Es bezeichnete auch das Gequengel eines Kindes, sonore Weinerlichkeit und Selbstmitleid (knätschig – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS). Kurzum – „Knätschrich“ spiegelte rein sprachlich die nationalsozialistische Machtzulassung, war nämlich ein früher Beleg für die sich nun entwickelnde nationalsozialistisch konnotierte Sprache. Auch die „Winterhilfe“, der darin integrierte „Eintopf“ und dann vor allem das „Winterhilfswerk“ wurden mit dem NS-Regime verwoben, anderen Traditionen zum Trotz. Ellul vermerkte treffend: „Die Wörter müssen zu »Kugeln« werden und treffen“ (Ellul, 2021, 67).

Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich setzte eine Woche nach der Reichstagswahl am 18. November 1933 ein, war integraler Bestandteil der Winterhilfepropaganda, folgte auf die Agitation für den Austritt aus dem Völkerbund. Sie bestand aus zwölf Motiven, konzentrierte sich auf den imaginierten Massentypus konservativ-liberaler Bürgerlichkeit, zielte aber auf Widerständigkeit jeder Art. Das Ehepaar im gesetzten Alter wurde lediglich dreimal gemeinsam präsentiert. Herr Knätschrich polterte in fünf, Frau Knätschrich nörgelte in vier Karikaturen. Viermal sah der Leser auch einen kleinen, teils mit Halsband geschmückten Schoßhund, der angesichts parallel laufender pronatalistischer Familienpropaganda gleichermaßen relativen Wohlstand, Verschwendungssucht und fehlende Frugalität symbolisierte. Die Einzelmotive erschienen an sich wöchentlich, zumeist am Wochenende. Die ersten und die letzten sechs Zeichnungen bildeten jeweils eine Einheit, klar voneinander abgegrenzt durch unterschiedliche Schriftarten und die spätere Verwendung eines lenkenden Slogans. Diese Trennung spiegelte zwei unterschiedliche Phasen der Winterhilfe, die erste auf das Weihnachtsfest ausgerichtet, die zweite auf die nun dauerhaft institutionalisierte „Selbsthilfe“ der „deutschblütigen“ Mehrheitsbevölkerung. Zwischen beiden Phasen gab es eine Pause von etwa drei Wochen. Typisch für die NS-Propaganda war, dass eine präzise Taktung nicht gelang, dass sie in unterschiedlichen Medien zu unterschiedlichen Terminen einsetzte und endete. Die an sich klare, durch meist vorhandene Zahlen unterstrichene Reihenfolge wurde häufig nicht eingehalten. Einzelne Zeichnungen wurden mehrfach wiederholt, allerdings ohne klare Taktung. Die letzten sechs Motive wurden seltener verwandt, der Abdruck franste teils aus. Zugleich aber gab es kein einheitliches Ende der Serie, die nach Mitte Februar 1934 nur noch sporadisch verwandt, aber bis Anfang März gedruckt wurde (Märkischer Landbote 1934, Nr. 51 v. 1. März, 6; Marbacher Zeitung 1934, Nr. 52 v. 3. März, 3). Man mag dies auf Koordinierungsschwierigkeiten sowohl des federführenden Reichministeriums für Volkaufklärung und Propaganda als auch der organisatorisch zuständigen NSV zurückführen. Dies verkennt jedoch, dass auch spätere NS-Kampagnen wie etwa der DAF um Tobias Groll kaum einmal die präzise Umsetzung privatwirtschaftlicher Werbekampagnen erreichten – und dies trotz einer zunehmend strikten Lenkung der Presse. Die Propaganda wirkte, doch sie wirkte keineswegs so perfekt wie manch inszenierte Realität glauben machte. Auch der Nürnberger NSDAP-Reichsparteitag und das erste Erntedankfest auf dem Bückeberg waren bekanntermaßen voller propagandistischer Makel, Defizite, gar unfreiwilliger Komik.

Motive 1 und 2: Frau Knätschrich am Kleiderschrank und Herr Knätschrich und Frau Amanda (Stolzenauer Wochenblatt 1933, Nr. 271 v. 18. November, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 273 v. 21. November, 6)

Die Einzelmotive der Knätschrichserie dockten an einzelne Schwerpunkte der WHW-Propaganda an, stellten ihre Protagonisten jedoch als geldgierige und besitzhörige Egomanen vor. Frau Knätschrich, ebenso wie ihr Gatte stets mürrisch und abweisend, besaß zahllose Kleider und Schuhe, doch dieser exklusive Zierrat konnte ihre Unförmigkeit kaum überdecken. Der korpulente Körper beider Eheleute unterstrich die Selbstbezüglichkeit ihres Lebens, das zwischen teuren Kleidern und einer Abmagerungskur in sudetendeutschen Badeorten oszillierte. Angefressen von der Rückfrage des Dienstmädchens, vom Appell in der Zeitung, verweigerten sie sich der Mithilfe. Der Opferruf verpuffte, auch wenn es nur um eine kleine Gabe ging: „Dein Leben ist noch immer licht. / Du bist vor Tausenden gesegnet. / Vergiß im Glück den Bruder nicht, / Wenn er Dir leidgebeugt begegnet. / Sei Mensch und Christ und reih‘ Dich ein / Bei denen, die für groß und klein / Ihr Opfer bringen“ (Gerh. Schulte, Wo ist Dein Opfer?, Langenberger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 4). Die Serie basierte auf einer Ikonographie des wohlsituierten aber hartherzigen Bürgers, die in der Figur des (jüdischen) Kapitalisten und des (jüdischen) Plutokraten sowohl auf der linken als auch der völkisch-rechten Seite eine lange Vorgeschichte aufwies. Die Knätschrichs standen zugleich im Wettbewerb des Wandels, des von Systembrechern immer wieder erwarteten neuen Menschen. Bilder junger, gläubiger Zeitgenossen, Vertreter der Idee von Deutschlands Wiedergeburt, ließen die Knätschrichs als Ausgeburten des Alten, des Überholten erscheinen. Die beiden Anfangsmotive waren jedoch nicht eliminatorisch, sondern voller Verwunderung, dass es so etwas noch gäbe. Abgrenzung, ein verwundertes Lächeln dürfte bei den meisten Betrachtern gewiss gewesen sein. Zweifelhaft jedoch, ob die Betroffenen selbst ihr Handeln überdenken würden.

Motive 3 und 4: Eintopfgericht und Am Stammtisch der Mißvergnügten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 12 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 285 v. 6. Dezember, 4)

Die Knätschrichs, im dritten und vierten Motiv als solche nicht benannt, lebten in ihrem eigenen Milieu, verkehrten nur standesgemäß, sahen weniger begüterte Mitbürger lediglich als Hilfsmittel ihres eigenen Komforts. Eintopf erscheint ihnen als Zumutung, nicht als Chance, die Grenzen des Alltags zu durchbrechen, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft, zu verstehen. Dünkel, Heuchelei, das Messen mit zweierlei Maß – das waren die für sie und ihre Bekannten offenbar angemessenen Attribute. Der Stammtisch des Herr Knätschrichs stand in einer langen Bildreihe, die von Provinzialität, Ignoranz und Bierseligkeit bis hin zur Reaktion reichte. Diese Stereotype bestanden seit der Biedermeierzeit, finden sich gleichermaßen bei liberalen, linken, völkischen und nationalsozialistischen Zeichnern. Kritikwürdig war die Abgeschlossenheit dieser kleinen Welt, die sich nicht dem Neuen widmete, keinen Blick für den Nächsten hatte. Den Knätschrichs käme nicht in den Sinn, sich an ihren Privilegien zu erfreuen, am Porzellan, am regelmäßigen Schoppen Wein. Für sie war die äußere unbekannte Welt eine Bedrohung, Veränderung eine Gefahr. Sie kämen nicht auf die Idee, dass andere sie als „Deserteur[e] der Volksfront“ einschätzen würden, ausgestattet mit fehlender „Gebefreudigkeit“ (Am Sonntag wieder Eintopfgericht, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6). Stattdessen waren sie misanthropisch, trauten dem Neuen nicht, meckerten, nörgelten, haderten. Die ersten sechs Motive der Serie zielten allesamt auf eine Einheitsfront der Abwehr, auf eine Negativfolie von Menschen, die sich nicht eingliedern, die nicht mitmachen, mitmarschieren wollten. Das erleichterte der Mehrzahl Gehorsam und Folgsamkeit, erhöhte aber zugleich die Abscheu vor derartigen „Gemeinschaftsfremden“. Die Propaganda lenkte und lockte: „Morgen Eintopfgericht! Aber nicht mit solchen Gesichtern wie hier bei der Familie Knätschrich, die die neue Zeit immer noch nicht erfaßt hat“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 80 v. 8. Januar, 12).

Motive 5 und 6: Frau Knätschrich’s [sic!] Kaffeekränzchen und Herr Knätschrich beim Einkauf (Billstedter-Zeitung und Horner Zeitung 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7 (l.); Der Grafschafter 1933, Nr. 297 v. 19. Dezember, 10)

Weihnachten rückte näher, auch Herr und Frau Knätschrich pflegten in der fünften und der sechsten Karikatur die Rituale dieser Zeit. Geselligkeit war angesagt, Geschenke für die Lieben wurden gekauft. Doch derart traute Innerlichkeit gab es nicht im Hause Knätschrich. Die Dame kaufte eine teure Torte, backte sie nicht selbst. Der Herr gab fast ein durchschnittliches Monatsgehalt für Einkäufe aus – doch zugleich war ihm der Pfennig für die Winterhilfe überbürdend, eine unverschämte Forderung. Frau Meyer, gleichermaßen bürgerliche Matrone, schwieg zu den Klagen ihrer Freundin, am Kaffeekränzchen, dem weiblichen Pendant zum männlichen Stammtisch, seit langem Ort von Klatsch, Tratsch, Gehässigkeit und übler Nachrede. Von der auch möglichen Vertrautheit und Gemütlichkeit war in der Karikatur nichts zu sehen. Kaffeekränzchen waren offenkundig nichts für richtige Frauen, die im Leben standen, gebärfähig, mitfühlend, gütig. Eine solche Frau war die Verkäuferin, eine erste Vertreterin des realen völkischen Lebens, die vor dem zahlungskräftigen Kunden nicht kuschte, sondern ihn an die Belange anderer erinnerte. Die Resonanz blieb aus, doch der Widerspruch zur Mehrzahl schien dem Betrachter offenkundig: So bin ich nicht! Ich hätte etwas abgegeben, wäre ich so reich. Ich gebe wenigstens etwas, denn ich habe verstanden, dass ich Teil eines Ganzen bin, angewiesen auf die nationale Solidarität meiner Volksgenossen.

Motive 7 und 8 (Märkischer Landbote 1934, Nr. 18 v. 22. Januar, 5 (l.); Hildener Rundschau 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 7)

Drei Wochen waren vergangen, doch Knätschrichs änderten sich nicht. Im zweiten Teil der Serie blieben die Eheleute jedoch nicht mehr allein, sondern wurden mit den konträren Einschätzungen ihrer Umgebung, ihrer Mitmenschen konfrontiert. Die Einzelmotive waren nun mit Gedichten, dann auch Slogans umrahmt. Sie waren in Schreibschrift gehalten, präsentierten nicht nur die propagandistisch erwünschte Reaktion auf die Knätschrichs, sondern visualisierten damit das einfache Volk, echoten das vielbeschworene Volksempfinden. Der Tenor wurde im siebten Motiv gesetzt, anschließend situativ variiert: „Mit Abscheu wird in Stadt und Land / der Knätschrich’sche Geiz genannt. / O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich.“ Die negative Zweisamkeit der angeprangerten Geizkragen gab es nur im Eingangsmotiv, wurde in den folgenden Karikaturen aufgebrochen. Während im ersten Teil der Serie die Knätschrichs selbst zu Worte kamen, waren sie nun still, während der Chor des Volkes ertönte: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ Der Betrachter konnte nicht mehr an sich halten, reagierte spöttisch, rückfragend, gewiss ablehnend. Besitz und soziale Stellung zählten nicht mehr länger, entscheidend war die Tat, das Eintreten für die Belange der Volksgemeinschaft: „Voll Wut schreit Knätschrich, bleich wie Kreide: / ‚Das Winterhilfswerk macht mich pleite!‘ / Die Sekretärin geht hinaus / Und denkt bei sich: ‚So siehste aus!‘“ Das ist integrierende, horizontale Propaganda. Die Knätschrichsche Negativfolie schuf eine neue virtuelle Gegengemeinschaft der Guten, die mit kleiner Münze gegenhielten, damit einen regimetreuen Unterschied machten. Das Alte, Morsche wurde unterminiert, dem Neuen so der Weg bereitet. Die Spende, der Gehorsam, waren kein Zwang mehr, sondern Votum für eine lichtere Zukunft, in der Menschen wie die Knätschrichs abstarben, nicht mehr ernst genommen wurden. „Das ist das Geheimnis der Propaganda: den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird“ (Joseph Goebbels, Die zukünftige Arbeit und Gestaltung des deutschen Rundfunks, in: Helmut Heiber (Hg.), Joseph Goebbels. Reden 1932-1945, Bd. I, Düsseldorf 1971, 82-107, hier 95).

Motive 9 und 10 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 9 v. 12. Januar, 8 (l.); Schwerter Zeitung 1934, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Die Motive 9 und 10 präsentierten Herrn Knätschrich, teils bedrängt, teils bedrückt. Am Beginn stand eine doppelte Fanfare: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ war zu lesen – und zugleich ertönte die Trompete eines jungen Nationalsozialisten, der zur Sammlung einlud. Knätschrich kannte keine Selbstzucht, kein Zurückstecken in der Gemeinschaft. Ihm fehlte jede Ahnung von Kameradschaft, von kämpferischer Männlichkeit. Er war eine aufgeschwemmte Memme, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen: „Tönt Winterhilfstrompetenton / Wird’s Knätscherich ganz schwammig schon / Er diente nie im deutschen Heer / Und giebt auch sonst nicht gern was her“. Doch Knätschrich hatte ein schlechtes Gewissen, ein Alb belastete ihn. Das war selbstgemacht und ungemein bedrückend. Ein Ungeheuer verfolgte ihn bis in den Schlaf, raubte ihm Gelassenheit, Ruhe und Zuversicht: „Herr Knätschrich macht ein schwer Geschnauf, / Ein dicker Kerl sitzt auf ihm drauf; / Der spricht: ‚Wir sind uns doch bekannt, / Der ‚Eigennutz‘ bin ich genannt!“ Wie einfach wäre es, diesen Alb loszuwerden. Gemeinnutz stärkte doch den Einzelnen, machte ihn froh, bettete ihn ein, ließ ihn Wurzeln schlagen. Herr Knätschrich hätte dazu die Chance, denn sein Volk reichte ihm die Hand, lud ihn ein zu gemeinsamer Hilfe. Ein bedauerlicher Mensch, so wohl die Reaktion des Betrachters. Doch selbst verschuldet. Ich werde nie ein solcher Knätschrich, ich bin Teil einer starken Gemeinschaft, in der man sich wechselseitig stützt.

Motive 11 und 12 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 12 v. 16. Januar, 4 (l.); Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 36 v. 6. Februar, 15)

Die beiden letzten Motive waren wieder Frau Knätschrich gewidmet, nun nur noch eine bepelzte Spottfigur: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein [sic!] Knätscherich!“ Selbst Kinder, aktiv sammelnde Hitler-Jungen, kannten sie, kannten diesen Typus, waren schon weiter. Die Dame war unnahbar, materialisierter Geiz, einzig ihr Hündchen hielt ihr die Stange. Sie könnte Vorbild sein, großmütterlich, Helfer der Jugend. Doch dazu müsste sie in sich gehen, sich ändern, sich integrieren. So war sie eine böse zischelnde Alte, nicht mehr: „Kieck Max, da kommt Frau Knätscherich; Na, Mensch, die Alte kenne ich! / Jetzt paß mal auf, wie die gleich zischt: ‚Ich gebe nischt!‘“ Die beiden Jungen waren aktiv, traten für andere ein. Das war das neue Deutschland. Nicht aber Frau Knätschrich, die nicht einmal den Winterpfennig zahlte. Anna, ihr Dienstmädchen, war aus anderem Holze. Trotz eines nur kleinen Einkommens schloss sie ansatzweise die Bresche, die ihre Herrin untätig schlug: „Beim Einkauf sieht Frau Knätschrich gern / Die Sammelbüchse nur von Fern. / Da sagt die Anna so für sich: ‚Wenn sie nichts spendet – spende ich!‘“ Dieses letzte Motiv der Serie band den Betrachter direkt ein, präsentierte ein Vorbild, eine berechtigte Erwartung an alle: Egal, in welcher Situation Du bist, Du kannst einen Unterschied machen, Du kann das Richtige tun, mag es auch Dein Umfeld beschämen. Du bist mehr, mit Dir zieht die neue Zeit. Was aber nur mit der Knätschrich machen? Ignorieren?

Bewertende Überschriften: Herr Knätschrich als schlechtes Beispiel, die Knätschrichs als „Saboteure der Volkshilfe“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 79 v. 5. Januar, 7 (l.); General-Anzeiger für das gesamte rheinische-westfälische Industriegebiet 1933, Nr. 327 v. 30. November, 3)

Dieses strukturelle Problem jeder Propaganda, jeder modernen Gesellschaft, löste die Serie nicht auf. Die Einzelmotive präsentierten Fehlverhalten, schlechte Beispiele, Saboteure durch Nichtstun. Die Karikaturen setzten auf ein Absterben des Alten, auf den Frühling des Neuen. Sie setzten auf das Pflichtgefühl des Einzelnen, auf dem Genügenwollen, der Freude, gar Lust am Gehorsam. Die Serie wurde zumeist ohne Zusätze abgedruckt, positive Appelle, etwa „Gebt reichlich der Winterhilfe“, waren die Ausnahme (Mettmanner Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 7). Die Propaganda setzte auf den Einzelnen, seine Schwäche erschien als Stärke, bildete sie doch ein moralisches Erheben über den Geiz und die Selbstbezüglichkeit der Knätschrichs.

Kommunizierende Karikaturen (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 101 v. 31. Januar, 18)

Die Redaktionen spielten kaum mit dem Bildmaterial, kommunizierende, nebeneinander stehende Motive bildeten eine seltene Ausnahme. Ab und an wurden einzelne Motive mehrfach abgedruckt. Am häufigsten findet man das Kaffeekränzchen, gefolgt vom Einstiegmotiv der Kleidersammlung. Herr Knätschrich war weniger wohlgelitten, auch wenn das Einkaufsmotiv in einem Falle gleich vierfach abgedruckt wurde (Münsterländische Volkszeitung 1933, Nr. 348 v. 17). Man nahm die Karikaturen wahr, dachte sich seinen Teil. Korrekturen gab es nur beim nunmehr vom Duden als richtig akzeptierten „Idioten-Apostroph“ im fünften Motiv. Spätere Abdrucke präsentieren die Unterzeile korrekt, ohne Apostroph (Marbacher Zeitung 1934, Nr. 14 v. 18. Januar, 7).

Bekenntnisdruck weitergedacht: Angedrohte Gewalt gegen Meckerer, Nörgler, Miesmacher (Bremer Zeitung 1934, Nr. 137 v. 19. Mai, 9)

Der Grund für diese Zurückhaltung im Umgang mit der Serie dürfte ihre untergründige Botschaft gewesen sein: Wir kennen Euch, wir verachten Euch, wir kriegen Euch, wenn ihr Euch nicht ändert. Die Bildsprache war eindeutig, präsentierte wohlhabende Bürger als Negativfolien der Volksgemeinschaft. Der Bekenntnisdruck war offenkundig, die harte Hand des Staates, der Partei, hatte jedoch noch nicht zugeschlagen. Der propagandistisch „Röhm-Putsch“ genannte Mord an ca. 100 Menschen Ende Juni/Anfang Juli 1934 zielte jedoch nicht nur auf die für das Machtgefüge bedrohliche Spitze der SA, sondern galt auch einer Vielzahl konservativer, dem NS-Regime kritisch gegenüberstehender Personen, darunter der frühere Reichskanzler Kurt von Schleicher (1884-1934). Schon im Mai 1934 hatte Goebbels eine reichsweite Kampagne gegen sog. Meckerer, Nörgler und Miesmacher eingeleitet, gerichtet gegen Leute wie Herrn Knätschrich. Die eklatanten Finanzprobleme des Deutschen Reichs konnten damals kaum mehr übertüncht werden, die wirtschaftliche Erholung geriet in Gefahr. Das wirkte sich auch auf die nächste Runde des Winterhilfswerkes aus: Ein Aufruf an alle Haushaltungen in Harburg-Wilhelmsburg setzte einen neuen Ton: „Deutscher Volksgenosse! Erst der nationalsozialistische Staat wird diese fahnenflüchtigen und egoistischen, nur auf ihre Ichsucht eingestellten Menschen, die es heute ebenso gibt wie damals, indem sie nur Rechte für sich beanspruchen, aber Pflichten und Volksgemeinschaft nicht kennen, auf die Dauer als Staatsbürger nicht anerkennen. Beim vergangenen Winterhilfswerk des Deutschen Volkes 1933/34 haben wir gegen diese volksschädlichen Elemente noch nichts unternommen, doch im kommenden WHW wird dieses endlich werden. Es wird in diesem Winter für die Volksgenossen, die ihrer Pflicht der Volksgemeinschaft gegenüber nachgekommen sind, zur Erinnerung an gemeinsames Handeln zur Bekämpfung der Not eine Urkunde auch dann gegeben, wenn sie im vergangenen WHW ihrer Pflicht nicht voll nachgekommen sind, dies aber im kommenden Winter entsprechend nachholen“ (zit. n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 521). Eine zweite Folge der Knätschrich-Serie gab es nicht. Der Bekenntnisdruck war offenbar, der Gehorsam mündete in höhere Spenden, während zugleich die in der Serie angelegte Konfrontation zwischen Volksgemeinschaft und Spendenunwilligen zunahm (Jan Ruckenbiel, Soziale Kontrolle im NS-Regime. Protest, Denunziation und Verfolgung, Köln 2003).

Gestalter der Propagandaserie

Anzeigen und Werbeplakate der Winterhilfe wurden von führenden Werbegraphikern und Agenturen ihrer Zeit gestaltet. Beispielhaft dafür steht der nationalsozialistische Grafiker Ludwig Hohlwein (1874-1949), der bis heute vor allem als vermeintlicher Vater der deutschen „Reklamekunst“ und als prägender Akteur der Markenartikelwerbung auch der 1920er Jahre gilt. Die Propaganda für das Winterhilfswerk war ein Gemeinschaftswerk von Künstlern, NS-Staat und der NSV zum wechselseitigen Nutzen. Hohlweins hier nicht näher vorgestellte Winterhilfswerkplakate knüpften an die gängige Bildsprache der Werbung an. Das diente nicht nur der Integration der Unschlüssigen und Abwartenden, sondern stellte die gemeinsame Anstrengung in ein Kontinuum deutscher Geschichte (Birgit Witamwas, Geklebte NS-Propaganda. Verführung und Manipulation durch das Plakat, Berlin und Boston 2016, 130-151, 154-159, 243, 250). Die Winterhilfe war demnach kein Bruch, sondern ein Anknüpfen an deutsche Traditionen der Fürsorge und des Gemeinsinns.

Auch für die Knätschrich-Serie hatte das Propagandaministerium mit Werner Hahmann einen der führenden Karikaturisten der Weimarer Republik gewonnen. Er wurde als Sohn des Chemnitzer Fabrikanten Franz Hahmann und seiner Frau Marie, geb. Weigel, am 1. Dezember 1883 in Chemnitz geboren und evangelisch getauft. Nach dem Realschulbesuch studierte er ab 1900 Architektur erst an der Gewerbeakademie in Chemnitz, dann an den Technischen Hochschulen in Dresden und München (Bundesarchiv Lichterfelde (BA) R 4901/13265, Nr. 3518). Hahmann arbeitete im erlernten Fach, machte sich 1910 selbständig, war in München, Hamburg und Dresden tätig. Parallel studierte er Malerei und Graphik an der Kunstgewerbeschule Dresden und der Pariser Academie Julian. Er wechselte 1913 das Berufsfeld, war seitdem in Berlin als Maler und Graphiker tätig (https://cp.tu-berlin.de/person/729). Während des Weltkrieges wurde er verwundete, erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse, schied schließlich als Leutnant aus dem Heeresdienst aus (BA R 4901/13265, Nr. 3518).

Hahmann hatte bereits seit 1913 freiberuflich für die Karikaturzeitschrift „Kladderadatsch“ gezeichnet, deren politische Ausrichtung sich während des Krieges deutlich radikalisierte und die seit 1919 vornehmlich Positionen der völkisch-nationalistischen DNVP vertrat. Hahmann wurde 1914 fest angestellt – und eine seiner bis heute immer wieder reproduzierten Zeichnungen visualisierte massenwirksam die Dolchstoßlegende (Kladderadatsch 72, 1919, Nr. 48, 13). Während der Weimarer Republik bekämpfte er KPD, SPD und die demokratische Mitte, trat außenpolitisch für einen strikten Revisionismus ein. 1919 etablierte er sich zudem akademisch, anfangs als Assistent an der Berliner Technischen Hochschule im Freihandzeichnen. 1924 folgte die Habilitation, seit Dezember 1924 lehrte er als Privatdozent. Zuvor hatte er 1920 die fünfzehn Jahre jüngere Hermine Klöver geheiratet, wobei die Ehe kinderlos blieb. Hahmann war seit 1924 zudem regelmäßiger politischer Zeichner für die DVP-nahe Magdeburgische Zeitung, 1928 erschienen „originale“ Karikaturen auch in der nationalen Westfälischen Zeitung (Werner Hahmann, Die Karikaturen der Magdeburgischen Zeitung, Magdeburg 1925).

Nebenerwerb mit völkischen Motiven: Vier apokalyptische Reiter über Deutschland (Westfälische Zeitung 1928, Nr. 79 v. 2. April, 7)

Im Kladderadatsch agitierten zu dieser Zeit Kollegen wie Oskar Garvens (1874-1951), Arthur Johnson (1874-1954) oder Hans Maria Lindloff (1878-1960) bereits im Brackwasser völkischen Opposition und der NSDAP. Das galt auch für Hahmann, der unter dem Pseudonym Mooritz zudem für die NSDAP-Karikaturzeitschrift Die Brennessel zeichnete (Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Berlin und Boston 2013, 81). 1933 begrüßte er die Machtzulassung der NSDAP, rechtfertigte den Terror der SA, den Judenboykott, verhöhnte Emigranten wie den Kritiker Alfred Kerr (1867-1948) und in die Flucht gezwungene Politiker vornehmlich der SPD. Am 21. September 1933 erfolgte dann die Ernennung des zuverlässigen Parteigängers zum außerordentlichen Professor an der TH Berlin.

Zu dieser Zeit dürften auch die Ausschreibungen für die Propagandaserie stattgefunden haben. Die geschäftstüchtige und – wie ihr Mann, der Reichstagsabgeordneter der Staatspartei und spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963) – pekuniär während der NS-Zeit sehr erfolgreiche Werbetexterin Elly Heuss-Knapp (1881-1952) „gestaltete im Herbst 1933 für das Propagandaministerium ‚Werbung‘ für die Winterhilfe: Sie erstellte zwölf Entwürfe, ehe das Projekt stockte, da ‚unterdessen die Propaganda für die Reichstagswahlen eingesetzt‘ hatte (Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933-1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, 192, Anm. 12, Schreiben Heuss-Knapp an Toni Stolper, 7.11. 1933, BA N 1221, Nr. 488; zur Biographie s. BA R 9361-V/22131, insb. 6-8). Es ist möglich, letztlich aber nicht belegt, dass es sich bei den Texten und dem Slogan der Knätschrich-Serie um ein Werk der späteren Erfolgstexterin für Nivea, Wybert und andere führende Markenartikel gehandelt hat (vgl. beispielhaft Eckart Sackmann und Siegmund Riedel, Elly Heuss-Knapp: internationale Werbung für Gaba und Wybert, Deutsche Comicforschung 21, 2025, 58-74). Einprägsame Originalität wies jedoch einzig der Slogan „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ auf. Die in der Serie verwandte Sprache legt eine Konzeption im Spätsommer 1933 nahe, da im ersten Teil der Serie durchweg von „Winterhilfe“ die Rede war, noch nicht vom „Winterhilfswerk“, wie im zweiten Teil. Das entsprach der begrifflichen Findungsphase im Reichspropagandaministerium, dessen Leiter noch bei der Vorstellung des WHW am 13. September von Winterhilfswerk, Winterhilfsaktion und Winterhilfe sprach (Goebbels, 1934, 217-226).

Typähnlich: Matronenhafte Opernsängerin (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 46, 6)

Karikaturist Hahmann nutzte für die Serie Personen in dem für ihn typischen Stil. Eine Frau Knätschrich recht ähnliche Dame findet sich auch im Kladderadatsch. Er zeichnete ferner kurz vor Weihnachten eine Propagandakarikatur für WHW-Sachspenden: Die Geschenke des als Weihnachtsmann verkleideten deutschen Michels waren Kartoffeln, Brot, Eintopf, Kleidung und Schuhe (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 50, 1). Die weitere Karriere Hamanns ist für unsere Fragestellung weniger wichtig, obwohl sie recht typisch für nationalsozialistische Künstler war. Hahmann wurde am 1. November 1938 als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Berlin verbeamtet, lehrte im angestammten Felde erst an der Fakultät für Bauwesen, ab 1942 an der Fakultät für Architektur. Schon im August 1945 „übertrug ihm der kommissarische Senat die Geschäfte des Dekans für die Fakultät II für Architektur“, ab dem 1. April 1946 wurde der nationalsozialistische Karikaturist Ordinarius für Freies Zeichnen und Malen an der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität Berlin, für die bis 1947 auch als gewählter Dekan agierte. Hahmann wurde 1954 emeritiert und die einschlägige Webseite der TU Berlin, von der diese Angaben stammen, erwähnte die antisemitischen Hetzwerke des hochgeschätzten Ordinarius ebenso wenig wie die Winterhilfeserie um die Knätschrichs (Catalogus Professorum – TU Berlin).

Werner Hahmann: Architekt, Gebrauchsgraphiker, Maler, Antisemit, NS-Karikaturist, und von 1933 bis 1954 Professor für Freies Zeichnen und Malen an der TH bzw. TU Berlin – und eines seiner gängigen Werke (Universitätsarchiv Technische Universität Berlin 601, Nr. 235; Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 52, 3)

Kontinuitäten der Propaganda

Wir könnten unsere Analyse dabei belassen. Doch dann wären wir dem inspirierenden Ansatz Jacques Elluls nicht gerecht geworden. Propaganda, auch Bekenntnisdruck aufbauende, steht nicht allein, ist Teil eines breiteren semantischen und visuellen Feldes. Die Knätschrich-Kampagne war nationalsozialistisch, doch sie gründete auf einer weit zurückreichenden, in nahezu allen Aspekten des Lebens präsenten Bildtradition der hartherzigen und geizigen Bürger, der Wohlhabenden ohne Herz. Dies gilt für die christliche Tradition, für die Armutsbekämpfung und Fürsorge. Dies gilt aber auch und gerade für die bisher nur ansatzweise untersuchten Bildwelten der Arbeiterbewegung (Lachen Links 2, 1925, 50; ebd. 3, 1926, 200).

Sozialkritik am gesetzten Bürgertum als Thema sozialdemokratischer und kommunistischer Agitation (Lachen Links 2, 1925, 76 (l.); Die Rote Fahne 1931, Nr. 238 v. 25. Dezember, 11)

Herr und Frau Knätschrich waren Teil einer nicht nur nationalsozialistischen Kritik am bürgerlichen Spießer, an all den Verzagten, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmerten, nicht aber um Not und Bedrängnis der Anderen. Sie standen zugleich für eine Kritik an den Alten, den Gesetzten, die an dem Ihren festhielten – während die Jugend dynamisch nach vorne schritt, Neuland gewann, für die Weltrevolution stritt oder auch für ein völkisches Morgen.

Druck und Lenkung: Besserverdienende abseits der imaginierten Volksgemeinschaft (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 295 v. 17. Dezember, 3)

Und doch war die Knätschrich-Kampagne mehr als eine an sich beliebige Episode im Deutungskampf um den Geldbeutel, um die Aufgabe der Begüterten in Gesellschaften voll offenkundiger Ungleichheiten. Sie war auch Referenzpunkt für eine stete Folge nationalsozialistischer Kampagnen gegen die nicht mitziehenden Bürger. Vorrangig unterstützt vom Reichspropagandaministerium entstanden immer wieder neue, gleichwohl konzeptionell epigonenhafte Propaganda-Kampagnen und Einzelbilder voller Bekenntnisdruck (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175).

Fortschreibung der Knätschrich-Kampagne: Herr und Frau Spießer von Gerhard Brinkmann 1940 (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 287 v. 12. April, 3 (l.); Der Führer am Sonntag 1940, Nr. 46 v. 24. November, 3)

Kurz nach Kriegsbeginn entwickelte beispielsweise der NS-Humorist und -Karikaturist Gerhard Brinkmann (1913-1990) eine wesentlich breiter greifende Kampagne über Herrn und Frau Spießer, die allen Bürgern vor Augen hielt, wie sie sich nicht benehmen sollten, um sich nicht der Lächerlichkeit und dem Ausschluss aus der Volksgemeinschaft preiszugeben. Brinkmann schuf dadurch sanften Bekenntnisdruck, die sein NS-Karikaturistenkollege Emmerich Huber (1903-1979) in der parallel laufenden Kampagne über die mustergültige Familie Pfundig flankierte. Wesentlich schärfer war die 1941/42 laufende NS-Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich. Mehrere führende NS-Karikaturisten, aber auch mehrere Pressezeichner attackierten zunehmend ausgrenzend die potenziellen Verräter der deutschen Volks- und Kriegsgemeinschaft. Dabei war die (kaum mögliche) Verweigerung des steten Opfers für das Kriegswinterhilfswerk nur eine von vielen strukturell verräterischen und selbstausgrenzenden Handlungen. Auch die beiden folgenden Zeichnungen der Pressezeichner Walter Schulz und Gerda Schmidt, regionale Ergänzungen der Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich, hatten klare Bezüge zur früheren Knätschrich-Kampagne Werner Hahmanns. Zahlreiche Einzelzeichnungen folgten, auch die 1943/44 laufende „Liese und Miese“-Serie kritisierte die immer noch fehlende Opferbereitschaft der Frau Miese (Oldenburgische Staatszeitung 1944, Nr. 56 v. 27. Februar, 6).

Fehlende Opferbereitschaft bei Frau Knöterich und Herrn Bramsig (Lippische Staatszeitung 1941, Nr. 345 v. 16. Dezember, 5 (r.); General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das westfälische Münsterland 1942, Nr. 30 v. 31. Januar, 3)

Man kann diese Kampagnen als integrierende, den selbst definierten Volksfeind lächerlich machende und ausgrenzende Propaganda verstehen, als indirektes Eingeständnis eines während der NS-Zeit kontinuierlich bestehenden Dissenses vieler Bürger. Wichtiger scheint mir jedoch, die Knätschriche, Spießer, Bramsige und Knöteriche als Teil eines bis heute währenden, lange vor dem Nationalsozialismus einsetzenden Propagandanarrativs zu verstehen. Man denke etwa an „Konterrevolutionäre“ in der DDR, die vehemente Kritik der „Spießer“ durch die „Studentenbewegung“, an die Ausgrenzung der „Müslis“ während der Kohlära, an „Covidioten“ oder Putinversteher. Der so wichtige, für jedes Gemeinschaftsengagement an sich wichtige Gehorsam möglichst aller, er war und ist eben immer gefährdet durch Neinsager, Meckerer, Rückfragende, Egoisten. Und was könnte man alles schaffen, wenn alle an einem Strick ziehen würden: „Wenn nur die Leute nicht wären! / Immer und überall stören die Leute. / Alles bringen sie durcheinander” (Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955-1970, Frankfurt a.M. 1971, 128). Doch moderne Gesellschaften basieren eben auf Wahlmöglichkeiten, auf Unterschieden, auf die jede soziale Situation charakterisierende Option von „Loyalty“, „Voice“ oder „Exit“. Das ist Teil einer realistischen Weltsicht, an der die umfassende Propaganda des Alltags immer wieder abprallt, mag sie auch mächtig sein und Einfluss haben.

Abseits der Propaganda: Ergebnisse, Ineffizienz und Betrug der Winterhilfswerksammlungen

Abschließend noch ein nüchterner Blick auf das Winterhilfswerk, abseits der Propaganda. Eine zeitgenössische Analyse kam zu dem Ergebnis, dass inklusive der Familienmitglieder anfangs 16 bis 19 Millionen Personen Leistungen des WHW erhielten, also mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung (Kurt Werner, Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Winterhilfswerks, Nationalsozialistischer Volksdienst 1, 1933/34, 98-106, hier 99). Gerade Sachleistungen wurden massiv gesteigert, die Kartoffellieferungen vervierzehnfachten sich von 37.600 Tonnen 1932/33 auf 456.400 Tonnen 1933/34. Die Gesamtleistungen wurden damals auf etwa 300 Mio. RM geschätzt, also etwa 1,3 Prozent des Volkseinkommens. Dies bedeutete allerdings nur monatlich sieben RM für Bedürftige bzw. drei RM für alle Bezugsberechtigten. Spätere Berechnungen kamen 1933/34 auf Gesamteinnahmen von insgesamt 358,14 Mio. RM, darunter Sachspenden in Höhe von 126,98 Mio. RM. Die propagandistisch besonders herausgehobenen Reichsstraßensammlungen resp. die Eintopfspenden waren mit 14,40 resp. 25,13 Mio. RM nicht herausragend, die vielfach zwangsweisen Lohn- und Gehaltsspenden lagen mit 48,93 Mio. RM deutlich darüber, ebenso die Spenden von Unternehmen und Institutionen mit 33,66 Mio. RM (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 386). Kontrastiert man die Propagandabilder mit den Ergebnissen, so war die permanente Mobilisierung im Sinne des Regimes ebenso wichtig wie der nicht unbeträchtliche pekuniäre Ertrag. Dieser lag deutlich über der Winterhilfe 1932/33, so dass der zeitgenössische Eindruck eines dynamisch gegen die Not agierenden NS-Regimes durchaus berechtigt war. Allerdings betraf dies kaum die propagandistisch eingeforderten Spenden im öffentlichen Raum, sondern einerseits die steuerlichen Zwangsabgaben, anderseits die Sachspenden, die vor allem auf das Drängen der neuen landwirtschaftlichen und industriellen Organisationen zurückzuführen waren. Die Belastung war unterschiedlich verteilt, Unternehmen waren begünstigt, der Mittelstand trug überdurchschnittliche Lasten.

Zur Einordnung der Winterhilfe 1933/34 ist auch ein Blick auf die Folgejahre erforderlich. Einerseits nahm die Bedeutung der Sachspenden erst relativ, dann auch absolut deutlich ab. 1938/39 lagen sie mit 113,8 Mio. RM knapp unterhalb der Einnahmen 1933/34 (Banken, 2018, 386), sanken während des Krieges dann massiv, da Lebensmittelspenden in der Rationierungswirtschaft kaum mehr möglich waren, da gesonderte Hilfswerke v.a. Kleider- und Rohstoffspenden übernahmen. 1938/39 betrugen die Geldeinnahmen aber bereits 631,6 Mio. RM, dem fast dreieinhalbfachen der 184,3 Mio. RM 1933/34 (Martin, 2008, 190). Die Ergebnisse der Reichsstraßensammlungen lagen 1938/39 um mehr als das fünffache über denen von 1933/34, erreichten während des Krieges 1942/43 dann das mehr als siebenundzwanzigfache des Ausgangswertes. Auch die propagandistisch massiv propagierten Eintopfessen erzielten 1942/43 das mehr als dreizehnfache Ergebnis von 1933/34. Anders ausgedrückt: Die Propaganda 1933/34 erntete während der Kriegszeit ihre Früchte, hatte Gehorsam und Integration unterstützt, ohne die eine effiziente Kriegsführung kaum möglich gewesen wäre. Direkter Bekenntnisdruck gewann während des Krieges an Bedeutung, Negativfolien wie die Knätschrichs, Spießer, Bramsig und Knöterich leisteten dafür und für hohe Spendenerträge einen wichtigen Beitrag.

Neue Opfer für neue sozialpolitische Arbeitsfelder (Werben und Verkaufen 23, 1939, 240 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 67 v. 20. März, 3)

Das Winterhilfswerk konzentrierte sich zu dieser Zeit bereits auf ganz andere soziale Aufgaben, insbesondere in der Familien- und Gesundheitspolitik. Obwohl die Arbeitslosigkeit sank, die durchschnittliche Lebenshaltung niedrig aber doch gesichert war, nahmen Einnahmen und Ausgaben des Winterhilfswerkes stetig zu, wurden immer neue Aufgaben im Sinne der völkischen und pronatalistischen NS-Ideologie erschlossen. Während des Krieges gab es neue Aufgaben an der „Heimatfront“, sei es in der Kindesbetreuung, der Versorgung Verwundeter und Alleinstehender, dann vieler „Bombenopfer“. Dies bedeutete aber immer auch eine Konzentration auf Hilfsbedürftige im Sinne des NS-Regimes. Damit begann das WHW schon 1933 (Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die Hierarchien von Not und Bedürftigkeit waren fluid, boten effiziente Machtmittel insbesondere gegenüber allen nicht Gehorchenden. Festzuhalten ist zugleich, dass Winterhilfswerk und NSV zu den zentralen sozialpolitischen Institutionen des NS-Regimes wurden. Mehr als 17 Millionen Deutsche waren Mitglieder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt; nur die Deutsche Arbeitsfront zählte während der NS-Zeit mehr Mitglieder.

Vier weitere Punkte sind für die Bewertung der Propaganda wichtig. Erstens war das Winterhilfswerk insbesondere in den Anfangsjahren relativ ineffizient, auch wenn die Verwaltungskosten offiziell bei lediglich ca. einem Promille lagen (Die Leistungen des Winterhilfswerks, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 163). Der Umgang mit den Sachspenden war kostenträchtig, trotz unentgeltlicher Leistungen von Reichsbahn und Reichspost. Die Instandsetzung von Kleidern, Matratzen und Betten verschlang trotz ehrenamtlicher Hilfe „ungeheure Summen“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4), so dass diese Aufgaben zunehmend abgebaut wurden. Das galt auch für die Verpackung und Verteilung von Weihnachtsgaben, so dass Bescherungen zunehmend zentralisiert wurden. Gleichwohl blieben die Verwaltungskosten hoch, denn die Beschäftigtenzahl wuchs, ebenso Qualifikation und Einkommen.

Hinzu traten zweitens beträchtliche Probleme mit dem Missbrauch und der Veruntreuung der Spendengelder. Offiziell sollte das WHW „mit den saubersten und anständigsten Verwaltungsmethoden durchgeführt“, sollten Fehlgriffe „mit den härtesten und drakonischsten Strafen belegt“ werden (Goebbels, 1934, 220). In einem chronisch korrupten System war das inhaltsleere Rhetorik, mochten zahlreiche öffentlich kommunizierte Bestrafungen auch das Gegenteil suggerieren. Die Unterminierung des Vertrauens in das durch „unlautere Elemente“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5) geprägte WHW war offenkundig, wirkte sich aber kaum auf das Handeln der Zwischeninstanzen aus (Die genaue Durchführung des Winterhilfswerkes, National-Zeitung 1933, Nr. 217 v. 15. September, 7). Höhe und Verwendung der Spenden waren unabhängig nicht zu überprüfen, viele Aktivitäten dienten nicht der Linderung von Not, sondern höchst persönlichen Zwecken. Die stete Wiederholung der Warnungen vor Missbrauch war ein indirektes Eingeständnis eines strukturellen Problems dieser Hilfsorganisation (Gegen Mißbrauch des Winterhilfswerks, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6).

Kult des Ergebnisses: Präsentation der Ergebnisse des WHW 1933/34 (Buersche Zeitung 1934, Nr. 277 v. 10. Oktober, 2)

Dem wurde drittens mit rationaler Propaganda begegnet, mit der ritualisierten Präsentation von Spendenergebnissen und Rechenschaftsberichten auf allen Ebenen. Dies mutierte zu einem Kult des Details, etwa wenn das Hindenburger Winterhilfswerk Beifall erheischend von 400 Christbäumen, 100 Zentnern Zucker in Pfundtüten, 17 Zentnern Fleisch und 2500 Schuhen berichtete, die unentgeltlich verteilt worden seien (Ausgezeichnete Leistungen des Hindenburger Winterhilfswerkes, Der oberschlesische Wanderer 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 6). Die öffentliche Präsentation der Sammelergebnisse mutierte zu einem propagandistischen Ritual, das vor allem die stets höheren Erträge, die Erreichung aller Ziele, die Geschlossenheit und Einmütigkeit des Dorfes, der Stadt, des Gaues und der Nation verkündete (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Die Normwelt wurde propagandistisch für wahr erklärt, denn Rückfragen waren kaum möglich, rechtliche Überprüfungen Ausnahmen. So konnte man behaupten: „Es gibt keine Rücksicht auf politische Zugehörigkeit, auf Konfession und Rasse“ (Die Erfolge des Winterhilfswerks, Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 275 v. 25. November, 4). Die Nennung von Tatsachen war Teil der allgemeinen Propaganda.

Diese Probleme wurden viertens innerhalb großer Teile der Bevölkerung, insbesondere aber von der aus dem Ausland berichtenden sozialdemokratischen Opposition klar gesehen. Letztere berichtete – ohne öffentliche Resonanz – von lokalen Verfehlungen, vereinzelter Widerständigkeit, dokumentierte die kargen Leistungen der Nothilfe, wenngleich aus distanzierter Sicht. Ja, es mochte stimmen, dass die Arbeitslosen auf das verwiesen wurden, „was aus einer in jedem Falle unzulänglichen, zufälligen und unkontrollierten Schnorrerei übrig“ (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 2) blieb – doch wenig war besser als nichts. Wahrscheinlich berechtigt hieß es – etwa aus Ostsachsen: „Die Sammlungen bringen die Menschen zur Verzweiflung“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 46). Doch das hieß noch lange nicht, dass sich die Sache totlaufen würde, hoffte man doch auf Widerständigkeit, die just durch Propaganda, durch den ausgeübten Bekenntnisdruck unterminiert wurde. Die sozialdemokratischen Berichte präsentierten zudem widersprüchliche Einschätzungen: Einerseits hoben Gewährsmänner regelmäßig und durchaus zurecht hervor, „die Mehrleistungen der Wohlhabenden stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen und ihrer Leistungsfähigkeit“ (Ebd., 534). Anderseits hieß es aus Sachsen: „Der Druck auf die sogenannten ‚Bessersituierten‘ bei den Spenden für die Winterhilfe ist sehr groß.“ (Ebd., 521). Die unter hohem persönlichem Risiko erstellten und übermittelten Berichte unterschätzten generell die soziologischen, integrativen, horizontalen und auch rationalen Dimensionen der einschlägigen Propaganda. Aus der Distanz mochte es sich um Klassenherrschaft und Repression handeln; dennoch aber gehorchte die Mehrzahl, war bereit zu Opfer und Gabe, fügte sich den Vorgaben, weil dies ein besseres Leben erlaubte als das Dagegenhalten: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“

Statt eines Fazits

Blicken wir zurück auf Ellul: Für ihn war Propaganda eine Realität, war Gehorsam ein notwendiges und vielfach wohlbegründetes Element modernen Lebens. Sein Denken war jedoch dialektisch, geschult an seiner intensiven Auseinandersetzung mit marxistischen Schriften in den 1930er Jahren: Propaganda und Gehorsam waren und sind demnach ubiquitäre Elemente moderner technischer, moderner Konsumgesellschaften. Doch zugleich musste und muss der Einzelne darin nicht aufgehen. Ellul sah die eigentliche Aufgabe in einer reflektierten Distanz zu den „techniques“ und „propagandes“, zum daraus gewobenen Produktions- und Konsumtionsregime. Der Mensch habe sich aus der Natur befreit, bemühe sich heute aber, diese nicht zu zerstören. Er habe sich aus der ständischen Enge und von den strikten Vorgaben der ehedem alltagsdominanten Religion befreit, lebe aber dennoch als Individuum in einem gesellschaftlichen und ethisch-religiösen Rahmen. Ebenso gelte es, sich aus dem Käfig der Technologie und des Konsumerismus zu befreien, Distanz und Souveränität zu gewinnen, um sich selbst zu finden und zu bewahren. Dazu ist Realismus erforderlich: “Nothing is worse in times of danger than to live in a dream world” (Jacques Ellul, Propaganda. The Formation of Men’s Attitudes, New York 1973, xvi). Die vorliegende Studie ist Teil eines solchen Realismus.

Ellul hat sich keine Illusionen über die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen derartiger Beiträge gemacht: „In fact, I always apply a motto: ‚Think globally, act locally.‘ […] By thinking globally I can analyze all phenomena, but when it comes to acting, it can only be local and on a grassroots level if it is to be honest, realistic, and authentic” (Jacques Ellul, Perspectives on Our Age. Jaques Ellul Speaks on His Life and Work, Toronto 1981, 27). Wer ein großenteils propagandistisch ausgerichtetes Wissenschaftssystem verändern möchte, muss selber anderes, vielleicht gar besseres bieten, darf nicht im gängigen Einerlei aufgehen. Er darf sich aber auch keinerlei Illusionen hingeben, dass damit das technologische, konsumtive oder wissenschaftliche System bewegt oder aber systemisch verändert werden kann. Das geschieht heutzutage andernorts, sei es in Form eines technik- und konsumfeindlichen Neoluddismus, sei es in imaginären technologischen Optimierungsvisionen eines modifizierten Menschen, angepasst an fortgeschrittene Technologie (Sean Fleming, The Unabomber and the origins of anti-tech radicalism, Journal of Political Ideologies 27, 2022, 207-225, insb. 211-214). Wir glätten unsere Falten, statt sie als Ausdruck unseres Lebens, unserer Vergänglichkeit zu verstehen, daraus unsere ureigenen Schlüsse zu ziehen.

Die vorliegende, gewiss langwierige Analyse der nationalsozialistischen Propaganda für das Winterhilfswerk 1933/34 scheint von solch allgemeinen Fragen weit entfernt zu sein. Doch sie verdeutlicht – so hoffe ich – die Mechanismen einer modernen technischen Gesellschaft, um Gehorsam gegenüber bestimmten, systemisch definierten Zwecken hervorzurufen. Diese waren großenteils nicht ahuman, zielten im Gegenteil auf eine direkte Unterstützung für dringend Hilfsbedürftige. Doch sie trugen weiteres in sich, die Desintegration rechtsstaatlicher Prinzipien, die Ausgrenzung von Menschen aus dem recht willkürlich definierten Kern der Gesellschaft, die Stärkung und Forcierung einer expansiven, teils eliminatorischen Politik. Das war für eine nicht ganz kleine Zahl von Zeitgenossen offenkundig, während sich die Mehrzahl dafür nicht interessierte, dies nicht sah, nicht wissen wollte, es duldend akzeptierte, gar willig vorantrieb. Die Studie spiegelte die Propaganda selbst, dass stete Ja, das Nein gegenüber Außenseitern wie Herrn und Frau Knätschrich. Die Propaganda hob das Gute hervor, ohne aber mögliche Folgen des Ungehorsams zu verschweigen – insofern war sie bei aller Einseitigkeit und Lenkung überraschend transparent. Sie zielte auf die Schaffung einer neuen völkischen Identität, in der das Grundproblem der Moderne, dass Dinge so, aber auch anders angegangen werden können, zugunsten der einen richtigen Methode, zugunsten des Führerwillens beantwortet wurde. Gängige, positiv besetzte Flaggenworte wurden genutzt, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Verantwortungsbereitschaft, nationale Solidarität, Gemeinschaft. Man integrierte Ideen der Gegner, nahm ihnen zugleich das Wort, führte sie als Gefahr, als Negativfolie vor. Die Gefahren einer derartigen Identitätspolitik sind offenkundig, auch wenn sie bis heute viele fasziniert. Derartige Propaganda abstrahiert von breiten Teilen der „Wirklichkeit“, mögen wir uns für sie auch nicht interessieren, sie nicht sehen, von ihr nichts wissen wollen, sie duldend akzeptieren und gar willig vorantreiben.

Geschichtswissenschaft soll – wohlverstanden – den Menschen vertraut machen mit seiner Lage in der Welt. Sie gründet auf dem Phantasievorrat der Menschheit, erlaubt Einblicke, zeigt (historische) Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten auf. Das kann kritisches Abwägen und praktisches Handeln fördern – auch wenn wir wissen: „Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung“ (Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [Abschnitt 2], in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, 183-200, hier 186).

Uwe Spiekermann, 25. Januar 2025

Wilhelm Busch im Nationalsozialismus: Die 4. WHW-Reichsstraßensammlung 1940

Wilhelm Busch (1832-1908) hatte ich nie vergessen. Die zweibändige Bertelsmann-Ausgabe seiner Werke war für mich eine der ersten Entdeckungen, mehr als zweitausend Seiten, durch die ich im Alter von sieben, acht, vielleicht noch elf Jahren stöberte. Wilhelm Busch war Teil der Ferien bei „Oma Antfeld“, die ich als ihr vermeintlicher Liebling während der Oster- und Sommerzeit immer besuchen musste. Meine Oma, Maria Spiekermann, geb. Obertrifter, hatte meinen Opa, Karl Spiekermann, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geheiratet, nachdem meine leibliche Oma an Tuberkulose verstorben war. Sie hatte seither deren fünf Kinder aufzuziehen, stand nach dem Krieg gar alleine da, als ihr Mann nicht lang nach Kriegsende ebenfalls verstarb. Zuvor, im April 1945, hatte das Haus, das man noch mit dem Vieh teilte, einen Treffer abbekommen, während sie mit ihren Kindern in einem Schieferstollen Zuflucht suchte. Für meinen Vater, Helmut Spiekermann, waren das gern erzählte Abenteuer seiner Kindheit.

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Kindheitserinnerungen: Wiederbegegnung mit „meiner“ Werk-Ausgabe im Wilhelm-Busch-Museum Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Knappschaftsrente, ein bisschen Landwirtschaft, dazu fünf Blagen. Als Kind ahnte ich nichts von der Lebensleistung dieser alten Frau, der bei meinen Besuchen noch zwei Räume, eine Vorratskammer und ein Bad in ihrem Haus zustanden, die sie mit mir teilte. Oma Antfeld war keine gebildete Frau, Wilhelm Busch eine Ausnahme im kargen Regal. Für mich schienen dessen Bildgeschichten fast noch zeitgemäß, denn das nur wenige hundert Bewohner zählende Dorf besaß Schloss, Kirche, Gaststätte, Schlachter und einen kleinen Edeka-Laden, die man allesamt durch eine kleine Drift, das Pekchen, erreichte. Fast so wie bei Max und Moritz. Heute ist das Dorf glatt, sauber, konturlos – wenngleich die zwischendurch auch mal zerschlagene Mutter Gottes am Hamberg immer noch über Antfeld wacht. Wilhelm Buschs Geschichten spielten in derartigen Milieus, seine Figuren kamen mir, genau besehen, bekannt vor. Doch bei ihm gab es immer auch noch mehr, nicht nur diesen irren Virtuosen. Ihn zu lesen, weitete die Welt, sie begann in höherem Takt zu schlagen. Und die Besuche endeten rascher.

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Mobilisierung im Zeichen des Humors (Das Kleine Blatt 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 1)

Entsprechend war ich irritiert, als ich unlängst in einigen Zeitungen des Jahres 1940 meinen Kindheitsheros prangend wiederfand. Vereint mit zahlreichen seiner Figuren sammelte Wilhelm Busch für das nationalsozialistische Winterhilfswerk. Das war wie ein Stich ins Herz, in meines und das meiner Oma, einer, trotz Liboriusblatt, aufrechten Sozialdemokratin. Doch dann wollte ich weiter blicken, mehr wissen, so wie einst. Professionelles Handeln überwölbte die nie vergessene Kindheitserinnerung. Was also hatte es mit Wilhelm Busch im Nationalsozialismus auf sich?

Versteckte Abgaben: Sammlungen und Abzeichen als Alltagsbegleiter

Am Beginn stand, notwendig, Distanz. Wilhelm Buschs Konterfei warb auf der Zeichnung von 1940 inmitten seiner unvergessenen Charaktere für eine Straßensammlung des Winterhilfswerkes. Sammlungen erfolgten in dieser Zeit noch direkt, Daueraufträge und Katastrophenportale gab es so noch nicht. Sie standen in der Tradition religiöser Kollekten oder bürgerlicher Initiativen, ihre Anlaufpunkte waren ehedem Kirchen und Synagogen, Komitees und Notable. Im 19. Jahrhundert hatten Sammlungen für Wohlfahrts- und Fürsorgezwecke stark zugenommen, ohne sie hätte es die Denkmalmanie der wilhelminischen Zeit nicht gegeben. Auch der politische Massenmarkt erforderte Spenden, Selbsthilfe der Mitglieder, praktizierte Solidarität. Hinzu kamen globale Katastrophen, Telegraphie schürte Notgemeinschaften der Unterstützung. Während der Weimarer Republik nahm die Zahl sozialer Anliegen weiter zu, Parteienmaschinerien liefen mit Sondergeld geschmierter. Nach Beginn der Präsidialdiktatur verlangten nicht nur Sozialdemokraten Freiheitsopfer, sondern insbesondere die aufstrebende NSDAP sammelte öffentlich für die „nationale Sache“.

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Der Bürger als Beute: SA-Sammlung 1932 (Ulk 61, 1932, Nr. 49, 1)

Nach der Machtzulassung 1933 ging dies weiter, doch geregelter, zielgerichteter, mit Hintersinn. Neben den Weimarer Sozialstaat, neben die seit 1926 reichsweit anerkannten freien Wohlfahrtsverbände trat nun vor allem die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV). Sie war eine seit dem 22. Juni 1932 als eingetragener Verein etablierte NSDAP-Untergliederung, die am 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge zuständig wurde. Die erst seit 1935 offiziell zu den Verbänden der NSDAP zählende Institution bedrängte voller „Machthunger“ (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380, hier 343) die nach dem Verbot der Arbeiterwohlfahrtsverbände weiter bestehenden Konkurrenten Innere Mission, Caritas und Deutsches Rote Kreuz. Zugleich stand sie in stetem Kompetenzgerangel zu anderen NS-Organisationen, insbesondere dem Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront und der Hitlerjugend.

Die freien Wohlfahrtverbände hatten seit dem Winter 1931/32 eine gemeinsame Winterhilfe organisiert, um die Härten der durch das Notverordnungsregime der Regierung Brüning nochmals verschärften Weltwirtschaftskrise zu mildern (Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 165-172). An deren Stelle trat Mitte 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Er hatte zuvor die Leitung an Reichpropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) übertragen, der sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“ bediente. Das Winterhilfswerk (WHW) galt als Ausdruck des nationalen Sozialismus, einer neuen nationalen Solidarität, hatte eine völkische Agenda. Die anderen Wohlfahrtsverbände und Parteigliederungen kooperierten. Die Spenden dienten als ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur galten parallel weiter. Das WHW war rechtlich lange schwer zu fassen, seit Dezember 1936 handelte es sich um eine Stiftung des bürgerlichen Rechtes, die mit den stetig wachsenden Spenden ein gewichtiger Faktor nicht nur der Sozial-, sondern auch der Wirtschaftspolitik wurde. Dabei half das Sammlungsgesetz vom 5. November 1934, das dem WHW ein exklusives öffentliches Sammelrecht während der sechs Wintermonate garantierte, also von Oktober bis März. Juden wurden seit 1936 exkludiert, eine segregierte Jüdische Winterhilfe geschaffen.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der Machthaber eine völkischen Opfergemeinschaft. An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten. Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie (vgl. Anja Kafurke, Anstiften zur guten Tat. Die »Aktion Gemeinsinn« und die westdeutsche Zivilgesellschaft, 1957-2014, Bielefeld 2024, 36-37). Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder.

04_Hildener Rundschau_1935_4_1_Nr3_p10_Rhein- und Ruhrztg_1936_1-26_Nr26_p6_Winterhilfswerk_WHW_Pfundspende_Tuerplakette

Sachspenden für das Winterhilfswerk (l.) und Türplakette zur Kennzeichnung schon errichteter Gaben (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 1. April, 10 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 26 v. 26. Januar, 6)

Die Spenden für das Winterhilfswerk waren nominell freiwillig, faktisch aber handelte sich zunehmend um Zwangsspenden (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 382-389). Die Straßensammlungen dominierten propagandistisch, doch zu einer faktischen Zwangssteuer entwickelten sich die Spenden einerseits durch verpflichtende Abzüge von Lohn und Ertrag – zehn Prozent und mehr der Lohnsteuer bzw. erwartete und gegebenenfalls erzwungene Abgaben von Firmen und Organisationen. Hinzu kamen die Erträge der Eintopfessen resp. Opfersonntage sowie beträchtliche Sachspenden. 1933/34 machten letztere 35 Prozent der Gesamtspenden aus. Die Erträge des Eintopfessens lagen erst 1938/39 unter denen der Reichsstraßensammlungen. Letztere wurden insbesondere seit Kriegsbeginn nochmals bedeutsamer: 1939/40 kamen 119 Mio. RM zusammen, im Folgejahr waren es 203, dann 302 und 1942/43 schließlich 397 Mio. RM. Das war allerdings nur ein knappes Viertel der damaligen Gesamtspenden von 1,596 Mrd. RM. Nicht vergessen darf man mögliche Mitgliedsbeiträge für die NS-Volkswohlfahrt von den bei Kriegsbeginn mehr als elf Millionen Zahlern. Die bei aller grundsätzlichen Unterstützung doch offenkundige Aversion gegen die Sammlungen des WHW – unter der Hand auch „Waffenhilfswerk“ (Deutschland-Berichte der Sopade 3, 1936, Nr. 5 v. 9. Juni, A-94) genannt – wurde auch dadurch befördert, dass die Sammlungen nicht allein die Straßen beherrschten, sondern auch das gesamte kulturelle Leben, Kinos, Sportereignisse und Konzerte, dass sie zudem durch systematische Haussammlungen ergänzt wurden. Diese „Spenden“ wurden in Listen erfasst, Nichtspenden galt nicht nur als regimefeindlich, sondern konnte strikt sanktioniert werden – bis hin zu Entlassungen. Gewiss gab es zahlreiche Formen von Devianz, doch angesichts der Woche für Woche stattfindenden Sammlungen auf Reichs-, aber auch auf Gau- und Kommunalebene, war die Zwangsspende ein Grundelement des Alltagslebens während des NS-Regimes. In der Bildwelt der Zeit wurde sie umgemünzt in einen Kampf gegen den bürgerlichen Spießer, gegen die Geizkragen der alten Zeit.

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Abseits der Volksgemeinschaft: Gemeinschaftsfremde Spießer (Westfälischer Beobachter 1933, Nr. 289 v. 9. Dezember, 14 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175)

Die Reichsstraßensammlungen erfolgten monatlich an einem Wochenende, pro Winter gab es sechs. Ihr besonderes Gepräge erhielten sie durch die offensiv vorgehaltene rote Spendenbüchse, durch die Präsens der Parteigliederungen auf den Straßen und an der Haustür. Spenden waren ein sichtbares Bekenntnis für die Ziele des Regimes. Die Türplaketten für gezahlte Lohnabzüge führten diese tagtäglich vor Augen. Während der Straßensammlungen markierten jedoch Anstecknadeln, dann zunehmend ansprechende Abzeichen die Teilnahme. Diese wurden offensiv vermarket: „Die erste Reichsstraßensammlung findet am 14. und 15. Oktober statt. Es sammelt die DAF., die dabei eine Serie von sechs Büchlein verteilt, deren Motto ‚Der Führer macht Geschichte‘ lautet. Die Büchlein enthalten Bilder und Texte aus den Jahren 1933 bis 1938. Bei der zweiten Reichsstraßensammlung am 4. und 5. November sammeln die Gliederungen, SA., SS, NSKK., NSFK und verteilen dabei Ansteckzeichen in Form germanischer Schwerter und Dolche. Zur dritten Reichsstraßensammlung tritt am 16. und 17. Dezember die HJ. an; sie vertreibt gedrechselte Holzfiguren. Auch Gaustraßensammlungen, WHW.-Briefmarken und -Postkarten sowie Spendenkarten der Reichsbahn sind wieder vorgesehen“ (Der Plan des Kriegswinterhilfswerks, Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 281 v. 11. Oktober, 1). Allerdings halfen Türplaketten und Abzeichen nicht sicher gegen weitere Spendenforderungen, zumal zwischen den Sammlern durchaus ein Wettbewerb um möglichst hohe Ergebnisse bestand, man auf jeden Fall die Vorjahresergebnisse übertreffen wollte. Die Uniformträger verwiesen auf eine imaginäre „moralische Pflicht“ (Noch ein Wort zur Winterhilfe!, Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 291 v. 12. Dezember, 6). Die Spendenforderung war eine kleine Machtdemonstrationen im Alltag, ein Verweis auf die Machtmittel von Partei und Staat.

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Gemeinschaftspropaganda und individueller Schmuck (Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 37 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 358)

In diesem Umfeld erfolgte im Februar 1940 auch der Verkauf der Wilhelm-Busch-Figuren. Einschlägige Anstecker wurden seit Oktober 1933 gegen eine Spende von zwei Groschen ausgegeben. Zuerst handelte es sich um Einzelstücke, doch rasch folgten Serien mit zehn, zwölf, bis zu dreißig Motiven (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981, 32). Den Anfang machten Motivnadeln, zumal „Gegen Hunger und Kälte“, deren Motto dann monatlich wechselte. Die Gesamtzahl der bei den Straßensammlungen verkauften Abzeichen lag bei knapp fünftausend. Sie wurden ergänzt durch regionale, lokale und anlassbezogene Abzeichen, so dass man insgesamt von etwa 8000 Stück ausgehen kann (vgl. Handbuch der WHW Abzeichen, 2. Aufl., München 1939; Rainer Baumann, WHW-Abzeichen der Reichs-Straßensammlung 1933-1934, Nürnberg 1973; Harry Rosenberg, Spendenabzeichen des WHW, Berlin-West 1974).

Als erstes Motivabzeichen allein für die Straßensammlung diente im Dezember 1933 eine Christrose. 16 Millionen wurden hergestellt, und die ansprechende Gestaltung ließ Sammelherzen höherschlagen. Schmuck- und Dekorationsartikel kamen auf, florale Elemente, zudem Christbaumschmuck und kleine Spielwaren. All das war begleitet von lenkender Propaganda, von Liederbüchern, von Märchen. Die Abzeichen galten als Ausdruck der Volkskultur, von Handwerkskunst, bestanden aus deutschen (billigen) Rohstoffen. National- und Regionalstolz wurden gezielt gefördert, so wie zeitgleich die regional disparate deutsche Kost. Die materielle Kultur von Handwerk und Bauerntum, von Germanen und Parteiorganisationen sollte den völkischen Zusammenhalt stärken. Zugleich aber gab es zahlreiche „moderne“ Serien, etwa über Verkehrszeichen und auch die während der Verdunklung durchaus praktischen Leuchtplaketten. Die Abzeichen waren das werbeträchtigste Hilfsmittel des WHW, das auch mittels Plakaten, Radio- und Wochenschausendungen dauerpräsent war (vgl. Martin, 2008, 193-232; Michael Hughes, The Anarchy of Nazi Memorabilia. From Things of Tryanny to Troubled Treasue, London und New York 2022).

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Ein künstlerischer Spendenbeleg: Winterhilfswerks-Anstecknadeln (Gebrauchsgraphik 12, 1935, Nr. 10, 54)

Wilhelm Busch: Volksdichter oder völkischer Seher?

All das scheint weit entfernt von Wilhelm Busch, noch weiter von meinen Kindheitsentdeckungen. Warum nutzte man nun einen Maler und Dichter wie Busch im Rahmen der Reichsstraßensammlung des Winterhilfswerks? Popularität allein kann kein Kriterium gewesen sein, denn Karl May (1842-1912) und dessen Figuren verschmähte man. Zwei Aspekte schienen vorrangig: Zum einen war Buschs Biografie und Werk seit der Jahrhundertwende deutungsoffen, zum anderen gab es mit der 1930 gegründeten Wilhelm-Busch-Gesellschaft eine Institution, die einer nationalsozialistischen Deutung ihres verehrten Meisters die Scholle bereitete.

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Öffentliche Gestalt fernab der Öffentlichkeit: Wilhelm Busch (Über Land und Meer 31, 1874, 461 (l.); Das Deutsche Blatt 1907, Nr. 101 v. 14. April, 5)

Wilhelm Busch war ein im Schaumburger Land geborener Maler und Dichter, eine Doppelbegabung, wie es sie im deutschen Sprachraum kaum gab (Gerd Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, erw. u. rev. Neuausgabe, Frankfurt a.M. und Leipzig 2007; Eva Weissweiler, Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist, Köln 2007). Er absolvierte ein Kunststudium in Düsseldorf, Antwerpen und München, doch einem breiteren Publikum war er vor allem durch seine in den späten 1850er Jahren einsetzenden Zeichnungen in den Münchener Bilderbögen und den Fliegenden Blätter bekannt. Ruhm gewann er mit seinen seit Mitte der 1860er Jahre veröffentlichten Bildergeschichten: Max und Moritz (1865), Hans Huckebein (1867), Die fromme Helene (1872) oder Fipps, der Affe (1879) sind bis heute bekannt. Dieser Reigen endete 1884 mit Maler Klecksel. Busch lebte in seinem Geburtsort Wiedensahl, publizierte nur wenig, malte nicht mehr für den Markt. Nie verheiratet, wurde er von seiner verwitweten Schwester Fanny Nöldeke (1834-1922) versorgt, lebte im verwandtschaftlichen Familienverbund der protestantischen Pfarrerfamilie Nöldeke. 1898 zog er in das Pfarrhaus der kleinen, am Harzrand gelegenen Gemeinde Mechtshausen, wo er 1908 verstarb. Er gilt bis heute als führender Kinderbuchautor, als Mitbegründer des Comics (vgl. dagegen Eckart Sackmann, Der deutschsprachige Comic vor »Max und Moritz«, Deutsche Comicforschung 11, 2015, 6-29), als Knittelreimer und Sentenzenschmied. Seine präzise Sezierung des (ländlichen) Bürgertums, die Entlarvung allgemeiner Heuchelei und seine Schilderung der Brüchigkeit der Existenz machten ihn sehens- und lesenswert – und Historiker kennen ihn natürlich auch als Aktivisten des Kulturkampfes der 1870er Jahre, für den sich der Begriff der Katholikenverfolgung ja nicht eingebürgert hat.

Die hier nur angedeutete Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des Werkes, ebenso aber sein recht zurückgezogenes dörfliches Leben erschwerten eine Einordnung als der alte Herr anlässlich seiner runden Geburtstage 1902 und 1907 zu einem reichsweit gefeierten Nationaldichter und Humoristen mutierte. Der Gegensatz zu künstlerischen Selbstdarstellern dieser Zeit wie den sehr unterschiedlichen Ernst von Wildenbruch (1845-1909), Oscar Blumenthal (1852-1917), Hermann Sudermann (1857-1928), Frank Wedekind (1864-1918) oder dem als NS-Vorzeigedichter endenden Gerhart Hauptmann (1862-1946) war offenkundig – und daher weiteten sich Person und Werk schon vor dem ersten Weltkrieg fast beliebig aus, hatten doch fast alle Lager ihren Busch, konnten ihre Wahl auch mit lustigen Versen belegen.

Mit Blick auf die spätere Präsentation des Humoristen im Rahmen der 4. Reichstraßensammlung 1940 sind zwei Aspekte festzuhalten. Auf der einen Seite wurden nicht nur Buschs Charaktere „zu massenproduzierten Symbolen einer vorindustriellen Ära“ (Thomas A. Kohut, Wilhelm Busch: Die Erfindung eines literarischen Nationalhelden (1902-1908), Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 134, 2004, 147-157, hier 152). Sie waren um die Jahrhundertwende schon antiquiert, kaum mehr existent, allen Rückzugsgefechten der damaligen Mittelstandsbewegung zum Trotz. Auch Busch selbst erschien als „eine vorindustrielle Figur“ (Ebd. 150), Ausdruck vergangener Behaglichkeit, einer besseren, weniger fordernden Zeit. Ja, er zeichnete mit Bleistift oder Gänsefeder, mit selbst hergestellter brauner Sepiatinte. Dass der nikotinabhängige Künstler seine unverzichtbaren Zigaretten in feines JOB-Papier aus dem ferner Paris drehte, dass er seine Anzüge aus Frankfurt a.M. bezog, dass er also auch in der vermeintlichen ländlichen Idylle Teil der Konsumgesellschaft seiner Zeit war, mochte zwar nicht recht passen, doch Deutungen und kulturelles Marketing sind durch widersprechende Fakten kaum zu bremsen.

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Wilhelm Buschs Zigarettenpapier in einer Vitrine im Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen (Uwe Spiekermann)

Busch war vor dem Ersten Weltkrieg ein äußerst erfolgreicher Autor mit einer Millionenauflage, an der vorrangig seine Verleger verdienten. Er verkörperte Massenerfolg, hob sich damit deutlich von der Mehrzahl zeitgenössischer Künstler, Schriftsteller und Journalisten ab. Sein Erfolg war der Erfolg eines Massengeschmacks, eines Volksdichters. Busch bot etwas zum Lachen – und das mit künstlerischen Mitteln. Er verkörperte die Souveränität des Massenpublikums, das sich von kulturellen Eliten nurmehr bedingt anleiten ließ. Hier liegt zweitens – und ich folge weiter der Argumentation Kohuts – der Grund für die Verdenkmalung Buschs am Ende seines Lebens. Die zahllosen Analysen und Deutungen waren Versuche einer kulturellen Elite, ihre Deutungshoheit auch über den widerspenstigen Alten und sein Publikum zu behaupten. Sie zielten, in der Massenpresse, in Massenzeitungen, darauf, Buschs Werk eine neue (durchaus vorhandene) Tiefe zu geben, um so den vermeintlich wahren Gehalt seines Werkes und seiner Person herauszuarbeiten. Wilhelm Busch wurde auch dadurch zur fast beliebigen Projektionsfläche. Der Meister schwieg – und der Chor der schreibenden Deuter dröhnte umso stärker. Das war bildungsbürgerlicher urbaner Habitus, der mehr über die Deuter als über das Gedeutete aussagte.

Es ist daher nicht überraschend, dass Wilhelm Busch beispielsweise von sozialdemokratischen Journalisten als zukunftsgewandter Skeptiker gedeutet wurde, der die Heuchelei des Bürgertums „an der Schwelle einer neuen Zeit, die erst nach ihm kam, die er ahnte“ (Ernst Schur, Wilhelm Busch, Unterhaltungsblatt des Vorwärts 1907, Nr. 72 v. 13. April, 286-287, hier 287) selbstkritisch demaskiert hatte. Und auch deutlich später, inmitten des Reichspräsidentenwahlkampfes 1932, porträtierte ihn der sozialdemokratische Kunstkritiker Paul F. Schmidt (1878-1955) als Mitstreiter im Freiheitskampf: „Der Hundertjährige erfüllt wahrlich erst heute seine Mission, denn der deutsche ‚Untermensch‘, den er wie kein zweiter geschildert hat, erfährt nun seine historische Mission, erst heute tritt er aus der Anonymität des Privatlebens, das Busch mit dem Blick des Genies und abgrundtiefem Haß gezeichnet hat, in die politische Arena und wirkt, wie er es allein kann und muß, zerstörend. Man versetze die Hunderte von Gestalten Wilhelm Buschs in den Sportpalast, und siehe da, es sind Mann für Mann die treuen Schildhalter und Schildbürger des Nationalsozialismus!“ (Wilhelm Busch, Vorwärts 1932, Nr. 176 v. 15. April, 10). Der Wiener Kulturphilosoph Egon Friedell (1878-1938) hatte Busch derweil zu einem humoristischen Dokumentaristen des bürgerlichen Zeitalters geadelt, beredt seine Fähigkeit gepriesen, den Philister zu demaskieren und zugleich zu verklären. Busch erschien als Meister der Ambivalenz, der die Widersprüchlichkeit der Moderne in seinen Charakteren einzufangen vermocht hatte, der das Dasein trotz aller Verwüstungen feierte (Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele. Von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg, London 1940, 380-383).

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Ein gefeiertes Chamäleon: Grab Wilhelm Buschs in Mechtshausen, Denkmal in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Es wundert daher kaum, dass nach der Machtzulassung der NSDAP völkische Deutungen Wilhelm Buschs die Oberhand gewannen – denn die meisten Mitglieder der kulturellen Eliten der Weimarer Zeit passten sich an, stießen gar ins Horn der neuen, nun nationalsozialistischen Zeit. Von den mehr 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: Dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77). Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral…

Entsprechend wurde Busch nun als Kenner der Rassen und Temperamente der Menschen gewürdigt, etwa des Juden in Plisch und Plum: „So bietet Wilhelm Busch nicht nur den weitesten Kreisen unseres Volkes Unterhaltung, sondern er schenkt auch dem Rassenseelenforscher mit seinen Gestalten wertvollen Beobachtungsstoff“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München 1936, Volk und Rasse 11, 1936, 508). Er mutierte zum Repräsentanten echt deutschen Humors, der strikt abgegrenzt wurde vom „Witz anderer Völker, insbesondere von der amerikanischen Blödelei“, da er die „Wärme des Gemüts mit philosophischer Lebensbetrachtung verbindet“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München, Unser Wille und Weg 7, 1937, 349). Die Deutung von Busch als „völkischem Seher“ war schon lange vor der 4. Reichsstraßensammlung 1940 gängig, auch bevor der nationalsozialistische Archivar der Wilhelm-Busch-Gesellschaft ihn als solchen porträtierte (Karl Anlauf, Der Philosoph von Wiedensahl. Der völkische Seher Wilhelm Busch, Berlin 1939). 1940 war diese Deutung jedenfalls dominant (vgl. etwa Kurt Pfeiffer, Wilhelm Busch – ein Streiter der Wahrheit, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 53 v. 22. Februar, 6).

Eine wichtige, gleichwohl nicht präzise einzuschätzende Rolle für diese völkische Deutung spielte die Wilhelm-Busch-Gesellschaft in Hannover, die ihre eigene NS-Geschichte bis heute nur rudimentär erforscht hat (vgl. Monika Herlt, 75 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft – eine Chronik, Satire 2005, Nr. 69, 9-34). Die Verwendung von Wilhelm Busch und seiner Charaktere für die Zwecke des nationalsozialistischen Winterhilfswerkes war eben nicht eine typische „Indienstnahme durch ein totalitäres System“ (Herbert Günther, Der Versteckspieler. Die Lebensgeschichte des Wilhelm Busch, Springe 2011, 205). Es handelte sich vielmehr um die gezielte Nutzung eines einseitig gedeuteten Erbes durch interessierte kulturelle Eliten, darunter nicht zuletzt die Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft. Sie gaben vor, die eigentlichen Kenner und Sachwalter Buschs zu sein; und es war diese Gesellschaft, die von der 4. Reichsstraßensammlung 1940 unmittelbar profitierte. Die Mitgliedszahlen stiegen im Anschluss steil an, führten die literarische Gesellschaft „auf einem Höhepunkt ihrer Popularität“ (Herlt, 2005, 16). Zeitweilig handelte es sich um die reichsweit mitgliederstärkste Organisation ihrer Art, größer als etwa die Anfang der 1930er Jahre noch führende Goethe-Gesellschaft. Die völkische Deutung Buschs zahlte sich für die Hannoveraner aus.

Sie steht allerdings in einem breiteren Zusammenhang. Ihre Gründung am 24. Juni 1930 resultierte aus einer ganz wesentlich vom Heimatbund Niedersachen getragenen Wilhelm-Busch-Spende 1927, dank der nicht nur dessen Geburtshaus in Wiedensahl renoviert und erworben werden, sondern auch der Grundstock einer dann zielstrebig erweiterten Sammlung gelegt werden konnte. Schon 1930 schrieb Kurt Voss (1896-1939), Feuilletonschriftleiter des Hannoverschen Kuriers: „Wir haben allen Grund, in Wilhelm Busch einen der großen Niedersachsen zu erkennen, die aus dem Bauerntum und seiner markanten Lebensphilosophie ihr Bestes geschöpft haben“ (Bei Wilhelm Busch in Wiedensahl, Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Als nationalsozialistischer Hauptschriftleiter der 1933 gleichgeschalteten Zeitung lieferte er der neuen Gesellschaft steten Flankenschutz. Diese war anfangs ein bildungsbürgerlicher Verein, der „weiteste Volkskreise“ für eine „Wilhelm-Busch-Ehrung“ gewinnen wollte (Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Anlässlich der Centenarfeier 1932 präsentierte er im Hannoveraner Provinzialmuseum eine Busch-Ausstellung, die vom Hamburger Kunsthistoriker Robert Dangers (1896-1987) und dem Direktor des Provinzialmuseums Alexander Dorner (1893-1957) kuratiert worden war (R[ichard] Abich, Dem Dichter, Maler und Philosophen. Ueber die Geschichte der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Hannoverscher Kurier 1932, Nr. 357 v. 2. August, 6). Dieses Duo spiegelte die Ambivalenz der Anfangszeit: Dorner war ein ausgesprochener Förderer der modernen Kunst und des Bauhauses, sein Haus hatte parallel Busch schon länger gesammelt (Stefanie Waske, Der Traum vom neuen Leben. Niedersachsen und das Bauhaus, Hannover 2019, 24-25; hagiographisch: Reinhard Spieler, Die Entwicklung des Provinzial-Museums unter Alexander Dorner, in: Karin Orchard (Hg.), RevonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912-1933, Hannover 2017, 189-203). Während Dorner 1936 ins Exil ging, gehörte Dangers seit spätestens 1930 zu den niederdeutsch-völkischen, vermeintlich „sachlichen“ Interpreten und zugleich intellektuellen Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft (Walter Pape, Wilhelm Busch, Stuttgart 1977, 14; Robert Dangers, Wilhelm Busch. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1930).

Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft erreichte ihre selbstgesetzten Ziele, nicht zuletzt die Erweiterung und „einwandfreie Unterbringung“ der Sammlung (Die Eröffnung des Wilhelm-Busch-Museums und Jahrestagung 1937, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 1-14, hier 3). Die Machtzulassung der NSDAP hatte mit den Suiziden des jüdischen Vorstandsmitgliedes Otto Levin am 15. März 1933 und des Vorstandsvorsitzenden und Staatsparteipolitikers Martin Frommhold am 10. April intern gravierende Folgen (Herlt, 2005, 11-12). Doch diese halfen ihre öffentliche Position zu stärken und sich den neuen Machtverhältnissen anzupassen. Die neue Zeit schuf neue Chancen nicht zuletzt für den Erwerb neuer Objekte, der quirlige Kulturfunktionär und spätere Direktor des Wilhelm-Busch-Museums Emil Conrad (1885-1967) nahm diese wahr. Zwischen 1933 und 1945 wurden mehr als 2.200 der heutigen ca. 3.000 Busch-Artefakte erworben – und die Dokumentation von mehr als 1.250 war „auffallend ungenau und lückenhaft“ (Ruth Brunngraber-Malottke, Provenienzforschung im Wilhelm-Busch-Museum Hannover, 2013 (Ms.). Öffentlich hieß es dagegen, dass alles „sorgfältig erworben und gesammelt worden“ sei (Straßensammlung mit Wilhelm Busch, Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 4).

Die Repräsentanten der Gesellschaft erreichten ihre Ziele nicht zuletzt durch das Wohlwollen der Stadt Hannover und des Oberbürgermeisters Arthur Menge (1884-1965), eines Welfen, der auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft 1933 im Amt blieb, zugleich als Vorsitzender der Wilhelm-Busch-Gesellschaft einsprang. Deren neues Hauptziel, die Gründung eines Wilhelm-Busch-Museums, wurde 1937 schließlich erreicht und verkörperte die Deutungshoheit über Wilhelm Busch institutionell: „Wer Wilhelm Busch sehen, ihn studieren und sich an ihm erfreuen will, der mache sich auf nach Hannover, dazu ist das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover da“, so Walther Lampe (1894-1985), stellvertretender Vorsitzender, zugleich Vorsitzender des Heimatbundes Niedersachsen, NSDAP-Mitglied und Deutscher Christ (Jahrestagung, 1937, 10).

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Bildungsbürgerliche Weihestätte für einen Volksdichter: Einblicke in das Wilhelm-Busch-Museum Hannover (Wiener Illustrierte 59, 1940, Nr. 5, 6)

Lampe sprach für die Wilhelm-Busch-Gesellschaft als er 1938 an Buschs Todestag an dessen Grab, umgeben von Jungvolk, ausführte: „Wir müssen ihn hören, weil er das Selbstverständliche sagt, denn er sagt damit das ewig Schlichte und ewig Große seiner Weisheit. In dieser Klarheit und Selbstverständlichkeit berührt sich Busch mit dem geistigen Inhalt unserer deutschen Welt von heute, nämlich dem Nationalsozialismus“ (Gedenkfeier zum 30jährigen Todestage von Wilhelm Busch in Mechtshausen, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 20-28, hier 21). Was Lampe flötete, dröhnte der Hildesheimer NSDAP-Landrat Albert Schneider deutlicher: „Die breite Masse sähe in ihm immer noch nur den Humoristen, er aber sei ein Prophet gewesen. Er habe schon vor 50 Jahren die Schäden der damaligen Zeit erkannt, er wußte um die Fäulnis in der Politik und in den Parlamenten, ihm war der Blutsgedanke vertraut, und er verwurzelte ganz in seinem Boden, auf den ihn das Schicksal gestellt“ (Ebd., 21).

Das Museum fand seinen Platz in einem im April 1936 von der Stadt an die Wilhelm-Busch-Gesellschaft übertragenen Haus am repräsentativen Rustplatz. Die Ausstellung war gediegen, präsentierte vor allem die eigenen Sammelstücke. Sie war biographisch angelegt, folgte den Orten von Buschs Leben, mündete aber nicht allein in Wiedensahl und Mechtshausen, sondern stellte auch die Größe des Meisters und die Glückwünsche zu Buschs 70. und 75. Geburtstag zusammen, um dadurch die historische Bedeutung des Namensgebers zu veranschaulichen (vgl. etwa Wilhelm-Busch-Museum. Eröffnung am 13. Juni, Hannoverscher Kurier 1937, Nr. 214 v. 11. Mai, 5; Hermann Wiebe, Busch-Museum und Fest-Theater, Bremer Zeitung 1937, Nr. 161 v. 15. Juni, 12; Hans Pusen, Wilhelm Busch: „Ich hab’n hübschen Krug“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 62 v. 3. März, 9; Und nun zu ihm selbst. Wilhelm-Busch-Museum neugestaltet, ebd. 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4). Das Museum war sicher kein „Museum für das Lachen“, als das es teils bezeichnet wurde (Bremer Zeitung 1937, Nr. 121 v. 5. Mai, 5). Es war eine neue, zentralisierte Weihestätte abseits von Wiedensahl und Mechtshausen – und Buschs erste Studienjahre am Hannoveraner Polytechnikum legitimierten nur ansatzweise den Bruch mit den mühevollen Busfahrten in die Provinz. Das Wilhelm-Busch-Museum diente der Zentralisierung der Erinnerung an einen großen Deutschen und war bildungsbürgerliches Pendant zu gängigen Zentralisierungsbestrebungen des NS-Regimes. Die Bauern trafen sich zum Erntedank am nicht fernen Bückeberg, Partei und Wehrmacht in Nürnberg, die ewige Flamme der Blutsopfer des 9. November brannte am Königsplatz in München – und Originaldrucke und Gemälde Buchs fanden nun in Hannover ihre Heimstatt. Eine „deutsche Kulturstätte, einzig in ihrer Art, […] geweiht dem Genius des großen deutschen und niedersächsischen Mannes Wilhelm Busch“ (Eröffnung, 1937, 2 (Arthur Menge)).

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Werbebesuch im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover (Bildbeobachter des Volksrufs 10, 1940, Nr. 49, 2 (l.); 3)

Die 4. Reichsstraßensammlung nutzte Wilhelm Busch im Sinne der (Hannoveraner) Bildungsbürger, im Sinne ihrer völkischen und nationalsozialistischen Deutung des Dichters. Mir fallen hierzu Zeilen eines im Sommer 1944 geschriebenes Gedicht des protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) ein: „Leidensscheu und arm an Taten, / haben wir Dich vor den Menschen verraten. / Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben / und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben“ (Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 388). Entsprechende Worte hat es in der Nachkriegszeit von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft zu ihrer Busch-Deutung nicht gegeben; nicht verwunderlich angesichts einer bemerkenswerten personellen Kontinuität der Leitungskader. Stattdessen lobte man sich selbst, schwieg beredt, freute sich am neuen, das alte, in der Bombennacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 zerstörte Haus ersetzende Museum, und blickte freudig in die Zukunft (Martin Anger, 25 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Jahrbuch der Wilhelm-Busch-Gesellschaft 1955, 7-28). Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft war dabei in Hannover in guter Gesellschaft. Die Universität Hannover reintegrierte beispielsweise mit Konrad Meyer (1901-1973) einen der Hauptverantwortlichen des Generalplans Ost. Auch Hans Adalbert Schweigart (1900-1972), führender NS-Ernährungswissenschaftler, fand in Hannover Lehrstuhl und Heimstatt. Der NS-Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) wurde vom Hannoveraner Unternehmer Bahlsen aufgenommen und erhielt zeitweilig Salär, nachdem seine Anbiederung an die SED in Rostock nicht erfolgreich war (nicht erwähnt in der Auftragsarbeit von Hartmut Berghoff und Manfred Grieger, Die Geschichte des Hauses Bahlsen. Keks – Krieg – Konsum 1911-1974, Göttingen 2024). Die Hannoveraner Tiermedizin wurde weiterhin vom NSDAP-Mitglied Richard Götze (1890-1955) geleitet; der kurze Einschnitt britischer Reeducation und Denazification währte nicht lange. Auch die Politik wies bemerkenswerte Kontinuitäten aus: Im dritten Landtag des neuen Bundeslandes Niedersachen lag der Anteil der NSDAP-Mitglieder 1951-1955 bei mehr als einem Drittel aller Abgeordneten (Stephan A. Glienke, Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter, Hannover s.a. [2012], 19). Selbst der „rote Welfe“, der sozialdemokratische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961) konnte dem Land seinen Stempel aufdrücken, obwohl an sich bekannt war, dass er sich seit 1933 mit der Arisierung jüdischer Betriebe beschäftigt, dass er während des Krieges als Generaltreuhändler der Haupttreuhandstelle Ost die Germanisierung Oberschlesiens forciert hatte (Teresa Nentwig, Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, Kap. 5). Dass er die Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstützte, versteht sich von selbst.

Kampagnenbeginn: Einstimmende Artikel und erste Bilder

Doch zurück in die Weite des Deutschen Reiches. Anfang 1940 war der Krieg alltagsprägend, doch zugleich war es wie ein Leben zwischen den Kriegen. Polen war besiegt, die westlichen Teile okkupiert, Besatzungsherrschaft, Germanisierung, Umsiedlung, Raumplanungen und Ghettobildungen nahmen Gestalt an. An den Westgrenzen gab es Scharmützel während des sog. „Sitzkrieges“, Erfolgsmeldungen von See- und Luftkämpfen prägten die Titelseiten der Tageszeitungen. Im Alltag hatte man sich an die Rationierung der wichtigsten Güter und die Verdunkelung gewöhnt, kaum aber an die immense Kälte dieses Winters. Gängige Alltagsfreuden waren eingeschränkt worden, etwa der an sich Anfang Februar anstehende Karneval. Der bevorstehende reale Krieg mit Frankreich und dem britischen Expeditionskorps führte zu allgemeiner Besorgnis, denn die Härten des Ersten Weltkriegs waren noch nicht vergessen.

Das Winterhilfswerk wurde nach Kriegsbeginn in Kriegswinterhilfswerk umgetauft, der Krieg schien Anlass für vermehrte Spenden, doch zugleich ging es um eine neuartige innere Rüstung. Programmatisch betonte Reichspropagandaminister Goebbels Ende Januar 1940, dass man sich im Krieg auf „alle Kraftquellen“ besinnen müsse: „Eine solche Quelle der Kraft ist insbesondere auch die deutsche Kunst, und weil andererseits gerade die Freude den Menschen stark macht für den Lebenskampf, so darf in einer so harten, schwierigen Zeitspanne wie der unsrigen, das Lachen nicht verlernt werden, wenn wir nicht in Griesgram und Verbitterungen ersticken wollen“ (alle Zitate des Absatzes n. Pruys, Holt mir das Glas, o Seelentrost Humor!, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 3). Wilhelm Busch sei eine solche Kraftquelle, „weil er eine unerschöpfliche Quelle von Freude und Kraft den nur uns Deutschen in dieser Reinkultur eigenen Humor in noch nicht wieder erreichter Weise gleichzeitig mit Zeichenstift und Federhalter so ausgezeichnet und gottbegnadet beherrscht“. Seine Kunst sei ein „Gesundbrunnen, in dem jeder meckernde Pessimismus ertränkt werden“ könne. Man pries das befreiende Lachen, die Abkehr von Sorge und Trübsal angesichts kommender Fährnisse. „Niemand verlangt von den Menschen jetzt Luftsprünge und Freudenausbrüche. Aber man leistet heute schon viel, wenn man sich zusammenreißt und der Aufheiterung und Lebensfreude einen Spalt in seinem Innern aufläßt.“

In seiner Rede fasste Goebbels zentrale Punkte der Kampagne für die 4. Reichsstraßensammlung zusammen. Sie war sprechend, verweist aber auch auf die Grenzen ihrer Rekonstruktion auf Grundlage der damaligen Publizistik. Es handelt sich um eine Deutung der Macher, der Propagandisten, der Nutznießer, um propagandistische Selbstbeschreibungen. Unmittelbare Kommentare oder Kritik fehlen. Dennoch hat diese Analyse nationalsozialistischer Pressewerke ihren unverzichtbaren Wert. Es handelte sich erstens um zwar gebrochene, gleichwohl reale Berichterstattung. Zweitens spiegelte sie Wunschwelten der politischen (und kulturellen) Eliten. Drittens finden wir Begründungen und Erläuterungen, lernen mehr über die mit den Kampagnen verbundenen Erwartungen an die Bevölkerung. Viertens findet sich auch in der gelenkten Presse ein Widerschein möglicher Widerständigkeiten, möglicher Bruchpunkte. Und fünftens erschließen Zeitungen und Zeitschriften Alltagsbereiche von Propaganda und Konsum, die bis heute wissenschaftlich nur höchst oberflächlich untersucht wurden. Nationalsozialistische Presse ist gewiss gefährlicher Stoff. Doch präzise hinterfragt bietet ihre Analyse Erkenntnismöglichkeiten, die die gängige Selbstbeschreibung des NS-Regimes in Archivalien ganz wesentlich ergänzt.

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Stete Propaganda – veränderte Motive: Werbung für die Reichsstraßensammlungen (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5 (l.); General-Anzeiger 1936, Nr. 96 v. 5. April, 14)

Generell standen die einzelnen Reichsstraßensammlungen für etwa zwei Wochen im Licht der Berichterstattung. Erste Berichte setzten ca. zwei Wochen vor dem Sammelwochenende ein. Der Themenkranz wurde angerissen, in verschiedenen Aspekten erörtert. Anfangs dominierten nicht Bilder, sondern Texte. Sie stammten meist aus den Bürokratien des Reichspropagandaministeriums, des Winterhilfswerkes und der NSV, wurden durch Materndienste verbreitet, setzten die Schwerpunkte, den Tenor der Kampagnen. Eine Woche vor der Sammlung wurde die Berichterstattung dann nicht nur intensiviert, sondern vor allem visualisiert. Nun nutzte man Abbildungen unterschiedlicher Art: Die Abzeichen wurden in verschiedenen Brechungen vorgestellt, hinzu traten die gängigen Plakate, kleine Bildeinsprengsel, Parolen und Erinnerungsfetzen. Diese zweite Phase war stärker dezentralisiert, neben die allüberall gedruckten Artikel traten auch lokale resp. regionale Besonderheiten – Fachleute und die einschlägigen Gau- und Kommunalämter lieferten zu. Die Redaktionen, deren Aufgaben ja auch über tägliche Presseanweisungen gelenkt wurden, hatten für einen gewissen lokalen Flair zu sorgen. Zugleich verwiesen sie jedoch auch auf Begleitpublizistik, meist einschlägige Radiosendungen. Dies mündete in eine mahnende Berichterstattung am Sammlungswochenende, in der das Opfer gefordert wurde, in dem zugleich die näheren Umstände der Sammlungen erläutert wurden. Das schloss lokale Begleitprogramme mit ein, etwa Konzerte oder Gemeinschaftsessen. Am Wochenende traten dann die Dinge, die Abzeichen und die Sammelbüchsen in den Mittelpunkt: Texte, Bilder, Dinge. Zum Abschluss gab es die Sammelergebnisse. Steigende Summen waren geboten, denn es sollte von neuen Erfolgen an der Heimatfront berichtet werden. Die Kampagnen dienten als verbindendes Band einer imaginierten und zugleich eingeforderten Not-, Sorge- und Volksgemeinschaft. Sie sollten zugleich aber auch den lokalen Zusammenhalt stärken, die Leistungsgemeinschaft vor Ort. Was als Einzelkampagne werbetechnisch gut durchdacht und konsequent umgesetzt war, dürfte die Zeitgenossen auf die Dauer jedoch auch ermüdet haben. Die WHW-Sammlungen folgten Routinen, ihr Ablauf war vorhersagbar, barg kaum Überraschungen. Entsprechend bedeutsam war die thematische Aufladung, waren die Abzeichen. Und da war Wilhelm Busch gewiss attraktiver als die soundsovielte Präsentation der Großtaten der Partei oder Hitlers. Entsprechend legten sich Bürokraten, Bildungsbürger, Journalisten und Aktivisten hier besonders ins Zeug.

Die staatliche Propaganda für die 4. Reichsstraßensammlung setzte am 20. Januar ein, also zwei Wochen vor dem Sammelwochenende des 3. und 4. Februar. Unter dem Titel „Jeder kennt Wilhelm Busch“ knüpfte man an dessen Popularität als Humoristen an. Man werde in Zukunft mehr von ihm hören, von ihm, „der still und bescheiden im ‚klimperkleinen‘ Ort Wiedensahl lebte, urwüchsiges Niedersachsentum auch in seinem Schaffen verkörpert und uns allen gerade im Ernst dieser Zeit viel zu sagen hat“ (Hagener Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; auch Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 5; Tremonia 1940, Nr. 20 v. 21. Januar, 7; Hasper Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Amts-Zeitung 1940, Nr. 10 v. 23. Januar, 2; Volksblatt 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 2). Lachen und Lächeln seien wichtig, um das Leben zu meistern, um sich im Alltag zu bewähren. Zwei Tage später begann der Abdruck von „Erinnerung an Wilhelm Busch“ (auch unter dem Titel „Ein guter Freund“): Wilhelm Busch sei als Kinderautor bekannt, sei aber heute dank seines „wunderbaren Optimismus“ Vorbild für Jung und Alt (Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 2; Wittener Volks-Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Tremonia 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 3; Schwerter Zeitung 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 5; Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 4; Volksblatt 1940, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Busch kennzeichne eine heitere Ernsthaftigkeit, seine Werke schenkten „gerade inmitten gewaltiger Aufgaben und härtester Anforderungen die nötige Entspannung und Erholung“. Das spiegele sich in den immensen Verkaufsziffern seiner Bücher, in den Ausleihrekorden der öffentlichen Büchereien.

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Die gute alte Welt des Wilhelm Busch (Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 35 v. 4. Februar, 1)

Erst im Anschluss informierten die Zeitungen, dass bei der anstehenden Reichsstraßensammlung die Kampfverbände der Partei, also SA, SS, das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps und der NS-Fliegerkorps, just Wilhelm-Busch-Abzeichen verkaufen würden (In jeder Gemeinde wird ein Opferbuch ausgelegt, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5). Es folgte eine nähere Beschreibung der noch nicht bildlich dargestellten Figuren: „Max und Moritz, Julchen und Adele, die fromme Helene und der Maler Klecksel, Herr und Frau Knopp, die gute Tante und der Meister Böck und schließlich der alte Bauer Nolte und die Witwe Bolte kommen wieder zu uns und rufen schöne Stunden der Erinnerung an unsere Kindheit, aber auch an manche späteren Jahre in uns wach“ (Die Kampfverbände sammeln für das WHW., Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; auch für das folgende Zitat). Die Kindheit aber sei vergangen, die heutige Zeit fordere nun ein „starkes Herz und den unerschütterlichen Willen zur Einsatzbereitschaft für unser Vaterland, das nun Mann für Mann angetreten ist, um den uns aufgezwungenen Krieg siegreich zu beenden. In diesem Kampf wollen wir kompromißlos sein wie der Niedersachse Wilhelm Busch, der seinen Weg gegangen ist, auch wenn ihn viele Feinde belächelt und bespöttelt haben.“ Sentimentalität und Prinzipientreue standen in der NS-Propaganda Seit an Seit – die Comicserie der „Familie Pfundig“ von Emmerich Huber (1903-1979) gab zeitgleich Ratschläge für den Alltag an der Heimatfront.

Entsprechend erschienen nun auch erste stimmungsvolle Begleitgeschichten: Wilhelm-Busch-Anekdoten zeichneten das Bild eines knorrigen, humorvollen und uneitlen Menschen; vorbildlich für die Kriegszeit (Fasse dich kurz!, Westfälische Neueste Nachrichten 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 10). Wilhelm Buschs Humor schien mit seinem Lachen, seinem freudigen Ja zum Leben Front und Heimat verbinden zu können (Wochenendbrief an unsere Soldaten, Westfälischer Kurier 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5). Vergessene und weniger beachtete Werke Buschs wurden kurz charakterisiert, zum Lesen ermuntert. Bei der Reichsstraßensammlung würden daher auch weniger bekannte Figuren des „lachenden Philosophen“ (Schön ist ein Zylinderhut, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3) angeboten werden.

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Wilhelm-Busch-Abzeichen zwischen Erinnerung und Gegenwart (Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 57 v. 1. Februar, 2. Morgenbl., 9 (l.); Solinger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 3)

Am Ende der Vorbereitungswoche wurden erste Abzeichen gezeigt – die Bildvorlagen meist zentral von Scherls Bilderdienst, Presse-Hoffmann oder Zander-Klischees geliefert. Die vor Augen geführten Figuren traten ins Zwiegespräch mit den Betrachtern, Bildmontagen zeigten die Motive, zugleich aber die vermeintliche Freude der Busch-Figuren selbst (Wilhelm-Busch-Figuren werben für das Kriegs-WHW., Wittener Tageblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Sie erschienen als Geschenk, nicht aber als erwartete Zweigroschengabe an das WHW. Noch war Zeit bis zur Sammlung, ein Zwischenraum der Wonne wurde gewährt: „Wer viel arbeitet, muß auch viel Freude haben, um immer neue Kraft daraus zu gewinnen“ (Lachendes Lebensbekenntnis, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 244 v. 29. Januar, 5). Frohsinn und Ernst seien keine Gegensätze, sondern bedingten einander. Und dann tauchte auch der Meister selbst auf, als Bild inmitten seiner Schöpfungen. Nun, eine Woche vor Beginn, setzte stakkatohaft das Buschsche Versmotto der 4. Reichsstraßensammlung ein: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5; Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 6).

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Wilhelm-Busch inmitten der Abzeichen des Winterhilfswerkes (Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 2)

Der Blick auf den Nächsten erschien als Verpflichtung innerhalb der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Opferfreudigkeit wurde eingefordert und die sammelnden Formationen der Partei würden bald lustig und froh agieren, aber „auch ihre Streiche da einzusetzen, wo man zur Mitarbeit am Kriegswinterhilfswerk mal etwas nachhelfen muß“ (Max und Moritz helfen dem WHW., Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Da verging manchem das Lachen.

Ein Volk schaffender Menschen: Die Produktion von 34,5 Millionen Abzeichen

Bevor die Sammelbüchsen schepperten, gab es jedoch noch ein propagandistisches Zwischenspiel, nämlich den vom Publikum fast schon erwarteten Blick auf die Produktion der jeweiligen WHW-Abzeichen. „Arbeit und Brot“ war eine der wichtigsten NS-Parolen, entlehnt aus dem reichen Arsenal der Arbeiterbewegung. Die Geldspenden standen für das notbrechende Brot, für die solidarische Hilfe der Volksgenossen. Doch die Abzeichen erinnerten zugleich an Arbeit als Grundbedingung völkischer Existenz und siegreichen kriegerischen Ringens. Diese Arbeit verkörperten die zahlreichen Hersteller der Anstecker, Schmuckstücke, des künstlerischen Zierrats. Von Beginn an vergab das WHW (nach eigener Auskunft) die Aufträge in wirtschaftliche und soziale Krisengebiete, bevorzugte einheimisches Handwerk und Heimarbeit. Es galt Arbeit zu schaffen, Not durch unverhoffte Zuarbeit zu wenden. Was machte es schon, dass die Aufträge nicht selten an findige Parteigenossen gingen. Auch 1940 folgte die Wilhelm-Busch-Kampagne dieser Erwartung, obwohl schon lange Vollbeschäftigung herrschte, Arbeitskräfte fehlten und die Zahl polnischer Zwangsarbeiter bald über einer Million liegen sollte. Dennoch verzichtete man noch nicht auf dieses Zwischenspiel: Arbeit und Produktion erlaubten, auch über die verarbeiteten Materialien, die Herstellungsorte, die Formgestalter und die mit Hand und Maschine schaffenden Menschen zu berichten. Der vielbeschworene „Sozialismus der Tat“ sollte dadurch Kontur gewinnen, nachvollziehbar werden (vgl. Felix H. v. Eckhardt, Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Gebrauchsgraphik 12, 1935, H. 4, 54-59).

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Beispiele für die bemalten Majolika-Figuren im Museum im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die 34,5 Millionen Wilhelm-Busch-Abzeichen wurden offiziell in zehn Betrieben in Baden, der Eifel, der Steiermark und in Hamburg hergestellt (Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 6; Gießener Anzeiger 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Die Aufträge gingen an wenige Hauptbetriebe, die ihrerseits Subunternehmer verpflichteten. Die Zahl der Betriebsstätten lag aber schon aufgrund des hohen Anteils von dezentraler Heimarbeit höher. Charakteristisch für die Abzeichenproduktion war gering bezahlte Frauenarbeit, war ein ergänzender Nebenerwerb. Das WHW erschloss 1940 Arbeitsreserven, sorgte zugleich aber für eine Grundauslastung der während der Kriegszeit zunehmend zurückgefahrenen Konsumgüterindustrien. Die Berichte betonten paternalistisch: „Tausende von Händen hatten willkommene Arbeit, Tausende von Menschen, die mit Sorgen in den Winter gingen, lernten lächeln wie die 12 fingerhutgroßen Gesichter, die unter ihren Fingern entstanden“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Hervorgehoben wurde die monatelange Vorbereitung, ebenso die arbeitsteilige Produktion. Die Arbeitsfreude schien augenscheinlich, eine Referenz an den zeitgenössischen Leistungskampf der deutschen Betriebe der Deutschen Arbeitsfront, für den die „Schönheit der Arbeit“ ein wichtiges Bewertungskriterium war (Da sind sie: Zwölf Busch-Figuren, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

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Ein seitlicher plastischer Eindruck der bemalten Majolika-Figuren im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die Wilhelm Busch-Figuren wurden von dem Bildhauer Max Heinze (1883-1966) gestaltet, der seit 1910 in der Staatlichen Majolika-Manufaktur Karlsruhe beschäftigt war und 1939/40 die Gipsformerei leitete. Er setzte Buschs Flächenzeichnungen in etwa dreieinhalb Zentimeter hohe Reliefs um. Der Entwurf wurde in Ton modelliert, in Gips abgegossen, dann tausende von Negativgipsformen erstellt, die nicht nur in Karlsruhe, sondern auch an den anderen Brennorten genutzt wurden. Männer füllten die Formen anschließend mit Ton, prüften sie auf blasenfreie Füllung, ließen sie trocknen und brannten sie dann bei ca. 1.000 Grad Celsius. Anschließend begannen Frauen mit der Bemalung der Figuren, trugen Klebstoff für die noch fehlenden Nadeln auf. Es folgte eine neuerliche Trocknung und dann die Verpackung in Pappschachteln, aus denen während der Sammlung verkauft wurde. Die Packungen enthielten teils vollständige Serien, teils jedoch auch Figuren nur eines Charakters. Die Staatliche Majolika-Manufaktur koordinierte die Arbeit in weiteren Brennstätten in Baden-Oos, Mosbach, Kandern und Zell a.M. Die Auftragsnehmer organisierten dann die weitere Produktion vor Ort. In Durlach bedeutete das etwa die Umwandlung des Gasthauses „Zur Krone“ in eine Malstube, in der im Auftrag der Grötzinger chemischen Firma Petunia mehr als hundert Frauen die Figuren bemalten, mit einer Nadel versahen und verpackten (Durlach und die Wilhelm Busch-Abzeichen, Durlacher Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 3).

Karlsruhe hatte die Federführung, dorthin führte auch der reichsweit veröffentlichte und anschaulich beschreibende Bericht des Sonderkorrespondenten der Nationalsozialistischen Parteikorrespondenz Friedrich Karl Haas (1912-1975), seit 1931 für die Mannheimer NSDAP-Zeitung Hakenkreuzbanner tätig (An der Geburtsstätte von Max und Moritz, Der Führer 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 5; analog Wilhelm Busch in der Majolikaindustrie, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 8; Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 8; Aachener Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort sprach man von 300 für ein halbes Jahr zusätzlich vor Ort Beschäftigten, reichsweit waren es ca. 3.000 Arbeiterinnen. Gefertigt wurde im Stundenlohn, Sorgfalt sollte das Werk prägen, hatte dieses doch eine „künstlerische, kulturelle Sendung“, sollte sich Wilhelm Busch würdig erweisen, sei gleichsam ein millionenteiliges Denkmal. Junge und auch deutlich ältere Frauen wurden hier angelernt, in den Berichten schwangen die Schwierigkeiten mit, ehe der Pinselstrich richtig saß, ehe der Arbeitsrhythmus für die jeweiligen Einzelstriche und die einzeln aufgetragenen Farben einer Figur rasch und verlässlich funktionierte (Majolika-Manufaktur Karlsruhe maßgebend beteiligt, Badische Presse 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 8).

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Frauenarbeit in den Hamburger Werkstätten (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5)

Während in Karlsruhe die Abzeichen nur Teil einer breit angelegten Majolikaproduktion waren, bildeten sie an anderen Orten monatelang die Hauptbeschäftigung. In der Steiermark, in Mürzzuschlag, soll die dortige keramische Werkstätte die Stammbelegschaft von zweiundsiebzig Beschäftigten auf 120 Personen aufgestockt haben, hinzu kamen 390 Heimarbeiter (Fromme Helene aus Mürzzuschlag, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 29 v. 29. Januar, 5; auch für das Folgende). Anders als im „Altreich“ nutzte man in der „Ostmark“ den Bericht, um die kürzlich einsetzende wirtschaftliche Aufbauleistung des Nationalsozialismus zu feiern. Noch vor wenigen Jahren hätte die alte Industriestadt darniedergelegen, nun sähe man „heinzelmännchenhafte Emsigkeit in Stadt und Umgebung“. Die seit 1936 vom nationalsozialistischen Sohn des alten Firmengründers Birnstingl wieder angekurbelte Keramikfirma sei dafür verantwortlich (Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 4). Voll Wonne listete man die großen Mengen dort bewegter Werk- und Rohstoffe auf, allein 3,2 Tonnen Eisen für die Nadeln, oder auch 30.000 kleine und 300 große Kartons, erforderlich für die pünktliche Herstellung der georderten 2,5 Millionen Abzeichen (Kleine Meisterstücke ostmärkischer Keramik, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5).

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Heimarbeit im steiermärkischen Mürzzuschlag (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 5)

Im Norden wurden sechs Millionen Abzeichen in Wandsbek, Kiel und Schnelsen gebrannt, anschließend dezentral bearbeitet. In Hamburg präsentierten lokale Berichte dann 120 freudig singende Frauen in den Räumen der Firma Hermeneit, die dort an langen Tischen saßen. Die angelernten Kräfte arbeiteten mit einfachen, speziell entwickelten Hilfsmitteln (Wilhelm Busch in Hamburg wieder auferstanden, Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5). Im Bericht spürt man den Zeitdruck vor Ort. Von den 800.000 für Hamburg vorgesehenen Abzeichen konnte nur 615.000 fertiggestellt werden, weitere blieben unbemalt (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 5). Die Presse kritisierte jedoch nicht die Produktionsmängel, sondern kommentierte eulogisch: Vielleicht „werden gerade diese Figürchen besonders gefragt sein, weil diese Kinder sich ein Vergnügen daraus machen werden, sie selbst zu bemalen“ (Morgen kommen sie!, Hamburger Fremdenblatt 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5). Insgesamt dominierte in der Presse der Stolz über das fertiggestellte Millionenwerk – das nun von den Käufern entsprechend gewürdigt werden sollte. Das WHW nutzte die etablierte Arbeitsorganisation weiter, noch die im Februar 1943 – just nach Stalingrad! – angebotenen 59 Millionen Kasperletonfiguren stammten neuerlich aus Karlsruhe, Hamburg, Mürzzuschlag und ergänzend aus Gmünden und Mengersgereuth (Aachener Anzeiger 1943, Nr. 26 v. 1. Februar, 3). Die Einblicke in die Arbeit sollten Lust machen auf die neuen Wilhelm-Busch-Abzeichen, die eine Woche vor der 4. Reichsstraßensammlung nun Gestalt annahmen.

Vorabpräsentation der Wilhelm-Busch-Abzeichen

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Aktivierung durch Wilhelm-Busch-Abzeichen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14385 v. 4. Februar, 1)

Die „Wilhelm-Busch-Woche des WHW“ (Volksblatt 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 1) mündete seit dem 29. Januar in immer neue Artikel, Hinweise und Appelle, die unmittelbar vor der Sammlung ihren Höhepunkt erreichten. Parallel aber drangen die Wilhelm-Busch-Abzeichen visuell vor. Trotz der zunehmend spürbaren Papierknappheit, trotz verringerten Umfangs, trotz der insgesamt noch nicht sonderlich zahlreichen Presseabbildungen präsentierten die Zeitungen die Anstecker augenfällig: Erst schauen, dann spenden. Erst zeigen, dann appellieren.

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Die Abzeichen im Umfeld der Buschschen Bildgeschichten (Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5)

Die Abbildungen verbanden Wilhelm Busch und seine Figuren, erlaubten schon vorher angerissene Themen zu wiederholen und zu vertiefen. Nationalstolz wurde geschürt, so wie in den zeitgleichen Ufa-Filmen über große Deutsche, indem man „Max und Moritz“ irreführend zum „heute nächst der Bibel“ meistgelesenen „Buch der Welt“ erhob (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Der Grafschafter 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Der nationalsozialistische Journalist Jan Kondring, ab 1941 Pressereferent des Reichskommissars für Altmaterialverwertung, pries Busch als Niedersachsen, der sich niemals vom Urwesen des Volkes entfernt habe, als Pionier der neuen Zeit: „Wilhelm Buschs volkhafte Bedeutung wird uns gerade in unseren Jahren volklichen, kulturellen Erwachens immer klarer“ (Zwölf Wilhelm-Busch-Figuren werden, Neue Mannheimer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 5). Der Meister sei kein Nationalsozialist gewesen, wohl aber ein Vorkämpfer für die nationalsozialistische Sache: „Nicht nur Jesuiten, Juden oder andere undeutsche Elemente, sondern alles Unwahre und vor allem Unnatürliche ist Busch verhaßt“ (Wilhelm Busch, der deutsche Künstler, Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Busch mutierte zum Kritiker der wirtschaftlichen Not seiner Zeit, zum Verfechter seiner angestammten Heimat (Wilhelm Busch, Buersche Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3). Und ein solches Vorbild verpflichtete: „Wilhelm Busch marschiert an der Spitze des Feldzuges deutscher Opferbereitschaft. Er, der immer alles Deutsche tapfer und unerbittlich verteidigt hat, fordert zum deutschen Opfer auf und lehrt uns deutschen Siegesglauben“ (Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5). Man schulde ihm, aber auch den Männern im Felde, eine großzügige Gabe, würdig ihres Einsatzes (Aufruf zu der vierten Reichsstraßensammlung, Hannoverscher Kurier, Nr. 32 v. 2. Februar, 4). Und mit weniger Patina tönte es auch plump: „Im Jahre 1940 wollen wir noch fester zusammenstehen und durch ein kleines Opfer dazu beitragen, den Endsieg über die Geldsackbarone Englands und Frankreichs sicherzustellen“ (Der Führer 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5).

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Präsentation und virtuelle Vorabauswahl der zwölf Wilhelm-Busch-Abzeichen (Die Glocke am Sonntag 13, 1940, Nr. 5, 1)

Die Abzeichen wurden präsentiert, parallel über deren Ankunft bei der lokalen NS-Volkswohlfahrt berichtet. Zahlen wurden genannt, machten die Spendenaufgabe deutlich. Und vielfach war man der Ansicht, dass „so etwas Schönes noch garnicht dagewesen“ sei. Vorfreude machte sich breit: „Am Freitag kommen die freiwilligen Helfer mit ihren Handwägelchen zur Kreisamtsleitung, um die Abzeichenpakete abzuholen, und dann kann die große Offensive der Männer aus den Formationen auf das gute Herz“ beginnen (Kein Knopfloch bleibt am Sonntag leer!, Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9). Die schönen Figuren seien Sammlerstücke, Wertsteigerungen fast sicher, der Kauf nicht nur einer Figur, sondern ganzer Serien sei ratsam (Des Rätsels Lösung, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Präsentation ohne Einordnung: Wilhelm-Busch-Figuren im Wiedensahler Museum im „Alten Pfarrhaus“ (Uwe Spiekermann)

Die plakative Freude mischte sich jedoch auch mit Anleitungen und Ermahnungen. Die Reichsstraßensammlung galt als Lebensbekenntnis, „und reif und stark werden wir als Sieger aus diesem Kriege hervorgehen, den man unserem Volk aufgezwungen hat, weil man keine Ahnung von der unzerstörbaren Lebenskraft und dem herrlichen, einmütigen Siegeswillen der Nation unter der Führung Adolf Hitlers hatte! […] Mit Wilhelm Busch packen wir froh und siegesgewiß auch jetzt wieder das Leben an – und uns, nur uns allein wird der Sieg gehören!“ (Wilhelm Buschs Auferstehung, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Die Figuren ließen Kinderaugen erstrahlen, erlaubten eine Auszeit, um „frischen Atem zu holen und dann neugekräftigt ans harte, anforderungsreiche Werk dieser Kriegszeit zu gehen!“ („Mutti, bitte – Max und Moritz!“, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 3). Wilhelm-Busch-Abzeichen standen gegen schlechte Laune und Disziplinlosigkeit, seine Werke vermittelten „kernhafte Kraft“, zeigten „wie man allezeit den Kopf oben und das starke, zuversichtliche Lachen in hellen Augen behält!“ (Ein Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 1). Die Figuren erlaubten Einkehr und Besinnung, das gemeinsame Opfer sei ein schon von Busch antizipierter „Sozialismus des deutschen Volkes“ (Falsche Wohltätigkeit, Erzgebirgischer Volksfreund 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5).

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Plakate, auch als Anzeigen verwandt (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3 (l.); Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4)

Die Propaganda spielte auch leisere und ernste Töne. Lieselotte Henckel, promovierte Autorin der NS-Frauenwarte, nach dem Krieg dann einflussreiche Herausgeberin der „Filmblätter“, formulierte sinnreich und linientreu: „Wenn wir jetzt in ernsten Zeiten / Freude durch Humor bereiten, / liegt darin ein tiefer Sinn. / Fröhlichkeit regt an zum Geben, / ist im grauen Alltagsleben / guter Taten Anbeginn. // Kleine Wilhelm-Busch-Gestalten / emsig ihres Amtes walten / Lustig, pfiffig und gescheit, / werden sie im lust’gen Reigen / sich beim Winterhilfswerk zeigen. / Helfer sein in großer Zeit“ (Fröhlichkeit regt an zum Geben!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5).

Wilhelm Busch und deutscher Humor

Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 propagierte aber nicht nur eine völkische, kriegsfreudige und opferbereite Deutung des Menschen und des Werkes Buschs. Auch Humor wurde im Sinne des NS-Regimes umgedeutet. Buschs Humor war doppelbödig, realistisch bis zur Desillusionierung. Seine Charaktere waren böse, niederträchtig und boshaft. Über das junge Julchen hieß es beredt: „Denn der Mensch als Kreatur / Hat von Rücksicht keine Spur“ (Wilhelm Busch, Humoristischer Hausschatz, 5. Aufl., München 1896, 144). Der Leser sah sie scheitern, an sich, an den Umständen. Buschs Werk plädierte für stete Skepsis, für einen illusionslosen Blick auf seine Mitmenschen. Busch wusste um die Begrenztheit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns, Strebens und auch Duldens: „Ewig an des Lebens Küsten / Wirst du scheiternd untergehn“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein, München 1909, 2). Damit war die Großsprecherei der NS-Propaganda, auch die völkische Utopie eines großdeutsch beherrschten Europas nicht in eins zu bringen. Buschs Humor musste daher umgedeutet werden.

Die NS-Propagandisten und Bildungsbürger sprachen von Humor, doch sie reduzierten ihn auf einen Appell für Mäßigung und Duldsamkeit, verstanden ihn als Grundlage für Zuversicht, als eine Ressource für Erholung und Leistungsfähigkeit: „Was uns ärgert, ist vergänglich, / aber wer da lebenslänglich / am Humor sein Herz entfacht, / der hat nicht umsonst gelacht, / wenn er Feierabend macht!“ (Wau-Wau, Humor ins Haus!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 24 v. 25. Januar, 4). Anlässlich der 4. Reichsstraßensammlung galt Humor als Lebenswürze, während der Malerdichter fast schon als moderner Candide gezeichnet wurde: „Immer aber war er zufrieden, immer vergnügt, und wenn ihn Sorgen drückten, zeichnete und schrieb er sie sich vergnügt vom Herzen“ (… sagt Wilhelm Busch, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 22 v. 26. Januar, 3). Sein Humor würde „allen Dingen noch eine gute Seite abgewinnen“ (Klassiker deutschen Humors, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 1). Zugleich aber raunten die NS-Deuter vom Humor als einer eigenartigen deutschen Seelenhaltung, als Mischung von Tiefe und Tun, als „Weltanschauung, die sich zwischen Schicksal und Freiheit des menschlichen Willens in einer Schwebelage hält und darin alle Widerwärtigkeiten des Lebens geistig und tatsächlich überwindet“ (Des Rätsels Lösung, Volksblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 2). 1940 bedeutete das die Abkehr von Selbstreflektion, Eindimensionalität, kein sardonischer Ingrimm auf die eigene Führung, sondern ein Lachen „über die sture Dummheit und teuflische Bosheit unserer Feinde, die glauben, ein unter seinem Führer einiges und vertrauendes 80-Millionen-Volk besiegen und sein Reich zerstückeln zu können“ (Tante Bolte im Anmarsch auf Schwerte, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Solcher Humor war Kriegstugend, Folgewille, verband seichte Kindheitsschwelgerei mit dem fröhlichen Aus- und Entspannen nach getaner Arbeit (Die fromme Helene am Rockaufschlag, Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Deutscher Humor, abgegrenzt und präzise gezählt (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3)

Dieser in Buschs Schuhe geschobene Humor bedeutete Lachen und Weitermachen trotz Spendenzwang, Krieg und Sorge um die Lieben. Dieser Humor war verdammend, war Lebensgarant und Endsieggarantie. Humor „ist die beste Waffe, die man den feindlichen Gewalten des Lebens entgegensetzen kann –: die fröhliche Tapferkeit eines festen gewappneten Herzens!“ (Das fröhliche Herz, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3). Dieser Humor war unerschütterlich, gläubig und beharrend. An sich hätte diese Diskrepanz jedem Leser, und gewiss jedem Kenner Buschs auffallen müssen. Doch nicht nur seitens der Wilhelm-Busch-Gesellschaft fehlten Rückfragen, fehlten andere Interpretationen. Sie profitierte jedenfalls von der nationalsozialistischen Aufmerksamkeitsökonomie, war Teil davon. Das reichte.

Knittelverse und Poesie: Übernahmen und Nachdichtungen

Als im August 1914 deutsche Armeen gen Westen stürmten, erreichte die deutsche Dichtkunst einen Höhepunkt. Die Zeitungen quollen über von patriotischen Reimwerken, eine hohe sechsstellige Zahl soll gedruckt worden sein. Eine solche Welle blieb 1939 aus, trotz des propagandistisch beschworenen Sieges im Osten. Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 vertraute dennoch nicht nur auf Prosatexte und Bilder, sondern setzte auch auf Gedichte und Spricker von und nach Wilhelm Busch: „Ueberall sieht man die Tante, / wie sie Wilhelm Busch benannte. / Außerdem noch weitere Köpfe, / welche mit und ohne Zöpfe, / stellen sich mit viel Humor / für das WHW. jetzt vor“ (Hallische Nachrichten 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 5).

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Die Geste reicht: Eine Wilhelm Busch-Zeichnung dient dem Winterhilfswerk, auch Lehrer Lämpel hält die Sammelbüchse hoch (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; ebd., Nr. 33 v. 3. Februar, 4)

Die Busch-Abzeichen waren eingebettet in ein Umfeld visueller Übernahmen, visueller Umdeutungen. Ebenso bediente man sich der Verse des Dichterphilosophen. Als Motto wählte man eine Sentenz aus Balduin Bählamm, wo es hieß „Doch guter Menschen Hauptbestreben / Ist, Andern auch was abzugeben“ (Busch, 1896, 222). Das „Doch“ wurde getilgt, mal wandelte sich das „Andern“ zu anderen (Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; Ohligser Anzeiger 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3). Was kümmerte es, dass Busch mit seinem Vers just den unstillbaren Mitteilungsdrang moderner Dichter karikiert hatte. Was kümmerte es, dass er die Sentenz 1905 wieder aufgegriffen hatte: Um eine Widmung für einen Berliner Wohltätigkeitsbazar gebeten, schrieb er: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern für das Andre mit“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein. Nachgelassene Gedichte, München 1909, 68). Sich um das Andre kümmern schien ihm unbequem, menschlicher Altruismus sei eine Ausnahme. Doch nun, 1940, war er Gewährsmann für Opfer und Zwangsspende, da konnte man vermengen und verfälschen: „Guter Menschen Hauptbestreben / Ist, andern auch was abzugeben. / Mit sanftem Druck legte sie in seine / Entzückte Hand zwei größere Scheine. / Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Entkontextualisierung, parolenhafte Verdichtung und Umdeutung kennzeichneten die Verskunst der 4. Reichsstraßensammlung 1940.

Dabei verschwammen die Grenzen zum Werbegedicht, obwohl doch die NSDAP seit 1933/34 emsig bemüht war, „nationalen Kitsch“ zurückzudrängen, Hitler und Hakenkreuz als Werbeschmuck aus dem Schaufenster des Metzgers zu verbannen. Gleichwohl nutzten die Volksgenossen die gebotene Gelegenheit. Die deutschen – explizit nicht jüdischen – Buchhändler im Gau Wien legten sich bildungsbürgernd und geschäftstüchtig ins Zeug: „Busch-Figuren ringsherum: / Max und Moritz, Plisch und Plum, / Maler Klecksel, Witwe Bolte / und der liebe Onkel Nolte, / Vetter Franz und Fromm‘ Helene, / Schneider Böck und Rektor Klöhne, / Julchen, ach und Fipps der Affe / und so mancher Geck und Laffe, / Huckebein, der Unglücksrabe / und Filuzius samt dem Stabe, / all‘ die trauten Buschiaden, / Freunde unserer Soldaten, / unsrer Kinder, unsrer Väter, / Freudenspender, jetzt und später, / Rufen Dich zum Hilfswerk auf! / Darum hemme Deinen Lauf, / kaufe eifrig die Figürchen, / trage froh sie an den Schnürchen, / kauf‘ Dir auch ein Buch dazu: / Deine Seele hat dann Ruh‘!“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14382 v. 1. Februar, 4)

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Reichsstraßensammlung mit Knittelversunterstützung (Alpenpost 1940, Nr. 5 v. 2. Februar, 5 (l.); Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5)

Im öffentlichen Raum wurden damals allseits bekannte Buschverse repetiert. Philologen hatten zuvor das Werk Buschs nach einschlägig nutzbaren Stellen durchforstet, selbst öffentlich kaum mehr erinnerte Verse aus Buschs erster Gedichtsammlung, der bei Kritik und Publikum durchgefallenen „Kritik des Herzens“ (1874), wurden um der Sammelsache willen herangezogen („Sorge nicht nur für das Deine…“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; auch für das folgende Zitat). Auch die Wilhelm-Busch-Gesellschaft durchforstete ihre Sammlung und fand noch ein Schreiben Buschs für einen Wohltätigkeitsbasar, das sein Neffe Otto Nöldeke (1867-1948) übereignet hatte: „Zu nehmen, zu behalten / Und gut für sich zu leben, / Fällt jedem selber ein. / Die Börse zu entfalten, / Den andern was zu geben, / Das will ermuntert sein.“ All das war bemüht, vielleicht auch augenzwinkernd, doch hinter der Propagandafassade stand der Zwang zur Gabe am kommenden Wochenende: „Und wenn die Sammelbüchsen kommen, / laßt euch von Busch ein Verslein frommen: / ‚Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Sachen, welche wir nicht kriegen! / Drum lebe mäßig, lebe klug, / wer nichts gebraucht, der hat genug!‘“ (Wilhelm Busch und das WHW., Westfälische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Das Versmarketing bot Abwechslung, ja Erheiterung inmitten klirrender Kälte (Ueberlistete Kälte, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5). Poesie wurde genutzt, kommodifiziert, verschlagert. Der schöne Schein der Diktatur blinkte.

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Spendenappelle in gereimter Form (Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3 (l.); Gladbecker Volkszeitung 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3)

Durchführung und Begleitprogramm der 4. Reichsstraßensammlung

Am Freitag und Samstag, dem 2. und 3. Februar 1940, erreichte die Pressekampagne ihren Höhepunkt. Geborgte und befohlene Gefühle prägten die Publizistik. Neuerlich gab es mehrere reichsweit genutzte Zeitungsartikel mit Buschbezug und Versgehalt (Der Griff ins „Camisol“, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 3; analog Völkischer Beobachter 1940, Nr. 32 v. 1. Febr., 6; etc.). Nun dominierte der freundlich verbrämte, auf den Kauf und das Opfer zielende Appell, typisch dafür war ein von Herbert Winkelmann, dem Leiter der Berliner Ortsgruppe der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, verfasster Artikel mit dem vielfach variierten Titel „Wilhelm Busch sammelt für das Kriegswinterhilfswerk“ (Kreisbote 1940, Nr. 2126 v. 2. Februar, 2; analog Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6; Westfälischer Kurier 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5; Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 1). Parallel fanden sich nun überall kleine Verweisbilder der Busch-Figuren, mal mit, mal ohne Reime, mal die Tonfiguren, mal die Buschzeichnungen. All das war reichsweit koordiniert, doch zunehmend dominierte das Geschehen vor Ort.

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Gemeinsame Motive im Großdeutschen Reich (Die Glocke – Ausg. C 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3 (l. o.); Kattowitzer Zeitung 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 7 (r. o.); Lodscher Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 12 (l. u.); Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3)

Sechs Punkte sind dabei hervorzuheben. Erstens führte die Präsenz der uniformierten Parteiformationen – neben SA, SS, NSKK und NS-Fliegerkorps sammelten lokal auch der NS-Reichskriegerbundes oder der Reichsbund Deutscher Beamter (Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5; Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 11) – den Krieg und den Ernst der Lage wieder plastisch vor Augen: „Jeder Groschen, der in die Sammelbüchse wandert und jedes Abzeichen, das erworben wird, sind Zeichen des gemeinsamen Abwehrwillens und des Dankes zugleich für diejenigen Kämpfer, die draußen an der Front zu Lande, zu Wasser und in der Luft die deutsche Heimat beschützen“ (Heute geht’s los!, Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 32 v. 3. Februar, 6). Wilhelm Busch lehre ein Leben in „heldischem Gleichmut“ (Gestern und heute, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 7); und dieser sei nötig angesichts neuer Aufgaben des Kriegswinterhilfswerkes, etwa der Betreuung von Umsiedlern im just neu errichteten Reichsgau Wartheland, der Sorge um die Evakuierten an der Westgrenze, der Unterstützung von Kriegerwitwen und -waisen, der Pflege einer wachsende Zahl von Kriegsverwundeten und -versehrten (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Die uniformierten Sammelformationen erinnerten aber auch an den Krieg als Grundzustand menschlicher Existenz, handelte es sich doch um eine Sammlung alter Kameraden, die einst im Waffenrock ihre Pflicht getan hatten, die nun die Heimatuniformen des Nationalsozialismus trugen, in der Hand die „Waffe der Heimat: Die Sammelbüchse des Kriegs-WHW.!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Der Ernst der Lage mündete zweitens in eine neue Erwartungshaltung an die Spender. Für jeden Soldaten einen Groschen mehr, hieß es. Eigene finanzielle Probleme seien unwichtig, müssten überwunden werden – auch Wilhelm Busch habe seine Sehnsucht auf eine große Malerkarriere einst fallen gelassen und sei doch ein großer Deutscher geworden (Der heitere Philosoph, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2). Noch hieß es drängend wie in Friedenszeiten: „An allen Mänteln, Anzügen, Paletots oder Kleidern werden am Samstag und Sonntag die schönen Abzeichen der Kriegs-WHW. baumeln“ (Münstersche Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 7). Doch der Krieg erforderte mehr, ein neues Bekenntnis, noch lauter, noch deutlicher, nun erst recht. Das sei eine Antwort an das feindliche Ausland, auf den Hass gegenüber dem „sozialistische[n] Deutschland […], das alle Klassengegensätze überwunden und sich zu einer geschlossenen und unzertrennbaren nationalen Einheit zusammengefunden“ habe (F.W. Schulze, Der Kreis Olpe marschiert!, Sauerländer Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3). Das Opfer sei ein Bekenntnis zum wehrhaften Volk, zum Krieg. Der Einzelne solle beweisen, dass er „bereit ist zum Opfer, zum deutschen Freiheitskampf und zum festen, unerschütterlichen Glauben an den Sieg, der einzig und allein uns gehört!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3) Die Sammlung sei ein Plebiszit: Sag mir, wo du stehst. Abseitsstehende Volksgenossen gäbe es immer noch, solche die sich nicht einreihen wollten: „Wie schade ist es da, daß wir nicht einmal Max und Moritz sein können und diesen Menschen ohne Gemeinschaftssinn und ohne Humor den wackligen Stieg, über den sie laufen, einmal so ansägen können, daß sie ins Wasser plumpsen. Das würde eine Freude und ein Spaß sein, aber leider, leider geht das nicht“ (Max und Moritz setzen sich durch, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 2). Das von der Dorfgemeinschaft einhellig begrüßte Ende der beiden jugendlichen Abweichler in Buschs Bildgeschichte warf drohend ihren Schatten voraus. Rasch eine Figur kaufen…

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Ankunft und Verteilung der Schachteln mit dem Wilhelm-Busch-Abzeichen (Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9)

Drittens war der Samstag, der erste Sammlungstag, der Tag der zielgerichteten Poesie. Falls Sie noch Beispiele ertragen können: „Max und Moritz, Witwe Bolte, / Knopp, die knusprige Adele, / Maler Klexel [sic!], Onkel Nolte / Und Helenes fromme Seele. // Vierunddreißig Millionen / Bunter Wilhelm-Busch-Figuren. / Die in kleinen Kästen wohnen, / Heften sich an deine Spuren. // Locken dich zur Klapperdose. / Wähle möglichst viel von ihnen, / Und dann hast du die famose / Reihe für dein paar Zechinen. // Suche nicht vorbei zu huschen, / Wenn ein Sammler in der Näh, / Schmücke dich mit Wilhelm Buschen, / Und du hilfst dem WHW!“ (Neueste Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2) Kleingeld wurde besungen, als Taschenfeind beschrieben – erst im Sammelgrund würde es seiner wahren Bestimmung zugeführt (Wilhelm Busch würde sagen, Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5).

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Busch-Figuren beim Sammeln: Hannover und Berlin (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4 (l.); Der Grafschafter 1940, Nr. 31 v. 6. Februar, 4)

Max und Moritz starteten zu neuen Streichen, wurden verfolgt, gefasst – und ans Revers geheftet (Max und Moritz, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3). Doch auch die Racker waren alt geworden, denn andernorts entsagten sie der Lust am Chaos, fügten sich ein in die Sammelkolonnen: „Münzen kommen – wie sie sollen – / dabei ganz von selbst ins Rollen, / in die Büchs‘ hinein, husch-husch! / Droben freut sich Wilhelm Busch“ (Max und Moritz wieder da, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 4). Und auch der alte Meister grüßte schließlich mit zielgerichteter Poesie: „So hat des Schicksals freundlich Walten / auch meinen heitern Spottgestalten / nun einen schönen Sinn geschenkt, / indem mit ihnen voll behängt / heut jedermann einher wird schreiten, / zum Zeichen, daß die ernsten Zeiten / auch seinen Opfersinn erhöht, / was sich ja ganz von selbst versteht“ (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 5 v. 3. Februar, 2). Der Trubel konnte nun seinen Lauf nehmen.

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So wird es kommen: Vorabsimulation der 4. Reichsstraßensammlung (Der Grafschafter 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 6)

Viertens zeichneten die Tageszeitungen die Sammlung als ein Volksvergnügen. Am kriegsbedingt verbotenen Karnevalwochenende schien der Frohsinn ein Ventil zu finden. Doch wir müssen hier kurz innehalten, Distanz wahren. All das passierte, doch es war zugleich eine Inszenierung, über dessen präzise Gestalt wir kaum etwas aussagen können. Wir wissen, dass es an diesem Wochenende klirrend kalt war, dass die Versorgung durch massiven Frost, fehlende Treibstoffe und requirierte Fahrzeuge beträchtlich erschwert war: „Der Wind fegte durch die Straßen. Die Kälte trieb alle Straßenpassanten zu großer Eile an“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Handschuhe, warme Kleidung, Schals und Hüte waren unverzichtbar für den Gang nach draußen; und man schrieb zurecht von der kältesten aller bisherigen Reichsstraßensammlungen (Flott, aber kalt, Bremer Zeitung 1940, Nr. 34, v. 4. Februar, 5).

Dennoch spiegeln die Zeitungsberichte die Sammlung selbst und die Art der sie umrahmenden Angebote. Kaum erwähnt wurden dagegen die Haussammlungen, denn in den Zeitungen galt es die Opfergemeinschaft in Aktion zu zeigen, das sich selbst helfende Volk. Die SA lockte mit Feldküchen, in denen eine „kräftige Fleischbrühe“ brodelte (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Wärmende Getränke gab es, doch angesichts offizieller Genussgiftdiskussionen wurde darob kaum berichtet. Jugendliche hatten, schulisch unterstützt, vielerorts Bilder gemalt und trugen Gedichte vor. Mobile Kinos wurden errichtet, auch Schießstände (Im Zeichen Wilhelm Busches, Illustriertes Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). An vielen Orten gab es militärische Schauübungen (Gelsenkirchener Anzeiger 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3), Platzkonzerte, meist Marschmusik, kaum Schlager. Volkslieder wurden intoniert, die alten Weisen, aber auch “Wir fahren gegen Engelland“ (Großer Erfolg der WHW-Sammlung, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 64 v. 5. Februar, Morgenbl., 2; Ratinger Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 1). Manche Orte präsentierten Militariaschmankerl, so etwa die auf dem Dresdner Altmarkt aufgefahrenen tschechischen Geschütze, die ebenso wie Skoda-Panzer ein wichtiger Bestandteil des deutschen Aufmarsches im Westen waren (Kanonen auf dem Altmarkt, Dresdner Nachrichten 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 4).

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Tschechische Geschütze auf dem Dresdner Altmarkt (wo in der zweiten Februarhälfte 1945 fast 7.000 Bombenopfer auf Scheiterhaufen verbrannt wurden) (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 4)

Häufiger als bei früheren Sammlungen wurden die „Spähtrupps der Gebefreudigkeit“ (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Badische Presse 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 7) von kostümierten Gesellen unterstützt, häufig sammelten als Buschfiguren verkleidete Ehrenamtler (Max und Moritz, höchst persönlich, Aachener Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3).

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Karneval verboten – doch Witwe Bolte schenkt in Neuwaldegg aus und zwei junge Stuttgarterinnen spielen Max und Moritz (Der Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 3 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 5)

Fünftens erschienen nun auch erstmals die Käufer und Sammler, wenngleich in vorhersehbarer Weise. Sie erfreuten sich an den allseits belobigten Abzeichen, schmückten damit Mäntel, Hüte, Kappen. Wie üblich, war schon am Samstag vom „Abzeichenerfolg“ die Rede. Der Verkauf hatte vielfach nämlich schon am Freitag begonnen, insbesondere Sammler sicherten sich vorab ganze Serien – die Schachtel für 3,20 RM. Am Samstagmorgen waren viele der bekannteren Figuren bereits ausverkauft. In Frankfurt a.M. hatte man mittags alle 250.000 Abzeichen abgesetzt, seit dem Nachmittag gab es lediglich noch Ersatzabzeichen und Postkarten (Fromme Helene – stark begehrt, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 2. Morgenblatt, 3). Die Folge war ein reger Tauschhandel: „‚Geben Sie mir noch mal Herrn Knopp und Schneidermeister Böck‘ oder: ‚Haben Sie noch das ‚Julchen?‘“ (Nochmal Herr Knopp!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 4). Immer wieder wurde über komplett dekorierte Mäntel berichtet, über ausverkaufte Sammeltrupps (Mit Max und Moritz ins Wochenende, Bergische Post 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Und zugleich hoffte man auf neue Rekordergebnisse.

Sechstens gilt es noch an das kulturelle Begleitprogramm zu erinnern. Da waren zum einen die schon vorher, auch dank der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, immer wieder stattfindenden Lichtbildreihen, die zu Jahresbeginn häufig dem Erscheinen von „Max und Moritz“ im Jahre 1865 gewidmet waren (Stolzenauer Wochenblatt 1940, Nr. 5 v. 6. Januar, 3; Solinger Tageblatt 1940, Nr. 9 v. 11. Januar, 5). Lokale „Kraft durch Freude“-Gruppen und das Deutsche Volksbildungswerk der DAF führten Wilhelm-Busch-Abende durch, luden Rezitatorinnen wie etwa Thea Leymann ein, eng verbunden mit der Folkwang-Schule in Essen (Heitere Buschabende, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 21 v. 22. Januar, 1; Freude hilft den Sieg erringen, National-Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 6). Viele weitere Kulturabende schlossen sich an, etwa mit dem Freiburger Sprecherzieher Walter Kuhlmann (1906-1988) (Wilhelm Busch – Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 1).

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Die rote Sammelbüchse des Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt im Museum Hameln und im Einsatz (Uwe Spiekermann (l.); Tremonia 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

All das nährte seinen Mann, seine Frau. Größere Reichweite hatte zum andern der Rundfunk, der im Vorfeld der 4. Reichsstraßensammlung gleich mehrere Auftragsarbeiten ausstrahlte. Der eng mit der Wilhelm-Busch-Gesellschaft verbundene Schriftsteller Hans Balzer (1891-1960) schrieb das Hörspiel „Wilhelm Busch“, in dem dessen Leben von den eigenen Figuren erzählt wurde (Aachener Anzeiger, Nr. 27 v. 1. Februar, 4; Münstersche Zeitung 1940, Nr. 40 v. 9. Februar, 5). Deutlich aufwändiger war das musikalische Hörspiel „Tack, tack, tack, da kommen sie!“ des Reichssenders Hamburg. Unter der Regie von Günther Bobrik (1888-1957) und komponiert von Walter Girnatis (1894-1981) und Helmut Wirth (1912-1989) traten die zwölf mit Abzeichen geehrten Busch-Figuren auf, um die allgemeine Sammelpropaganda zu unterstützen (Max und Moritz, Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 3; Bremer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 5; Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6). Das waren arrivierte NS-Künstler, Giratis hatte nur kurz zuvor die DAF-Fanfare „Freut euch des Lebens“ geschaffen. Wilhelm Busch war für sie Broterwerb. Auch andere Sender sprangen auf den Propagandazug, etwa der Reichssender München mit „Klingt der Name Busch ans Ohr, heißt das Lachen und Humor“ und der Reichssender Wien mit einem vom Maler Klecksel verantworteten Bunten Abend (National-Zeitung 1940, Nr. 30 v. 30. Januar, 3; St. Pöltner Bote 1940, Nr. 5 v. 1. Februar, 6). Da konnte der Deutschlandsender Berlin nicht fehlen und präsentierte Gotthard Wlokas „lustige Sendung“ „Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit..“ (Das Kleine Radio Blatt 7, 1940, Nr. 5, 9; Volksfunk 1940, 30).

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Augenfang und Sammlungszwang (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

Kleine Beiträge für den „Endsieg“: Ergebnisse des Kriegswinterhilfswerkes

Am Ende der zweiwöchigen Kampagne herrschte Zufriedenheit. Am Rosenmontag, dem 5. Februar 1940, fanden sich in fast allen Zeitungen Erfolgsmeldungen: „Von dem Erfolg hätte sich Meister Busch wahrlich nicht träumen lassen! Bielefeld glich – mit einiger Phantasie gesehen – in diesen Sammeltagen einem großen aufgeschlagenen Busch-Album“ (Westfälische Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). Gezeichnet wurde ein heroisches Gemälde. Spendenunwilligkeit gab es, wurde aber gebrochen. Die Abzeichen wurden sämtlich verkauft. Die Heimatfont stand, die Erträge erreichten neue Rekorde. Die Meldungen waren austauschbar, bestanden aus fast identischen Textbausteinen, waren jedoch lokal koloriert worden. Stolz hieß es: „Ein Sieg bei einer Sammlung ist auch eine gewonnene Schlacht“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Solche Siege waren wichtig angesichts der unsicheren Lage inmitten des Krieges, zwischen den Kriegen. Solche Erfolgsmeldungen waren aber auch notwendig, um dem Einzelnen die Aussichtslosigkeit grundsätzlicherer Kritik, gar von Devianz und Widerstand deutlich zu machen. Der Sieg der Sammlung bestätigte die zahlende und mitmachende Mehrzahl, mobilisierte für die Ziele des Regimes: „Die Kampfformationen der Bewegung […] schlugen ihre letzte Schlacht im lustigen Abzeichen-Krieg und meldeten von allen Fronten Erfolge auf Erfolge, so daß der Endsieg nun gesichert ist“ (Hamburger Fremdenblatt am Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 2).

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Belobigung und Vorbild: Heinz Hopfer, der Spitzensammler im niederösterreichischen Kaltenleutgeben (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14392 v. 11. Februar, 13)

Ergebnisse tröpfelten ab dem 5. Februar ein, doch Zahlen wurden nur lokal aufgelistet: 3.000 RM in Hilden, alle 7.500 Abzeichen „restlos abgesetzt“ (Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). In Olpe 10.552,32 RM, alle 20.000 Abzeichen verkauft (Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 2). Aggregierte Daten fehlten, doch es galt als ausgemacht, dass die Reichsstraßensammlung die bisherigen Ergebnisse weit in den Schatten gestellt hatte. Die eingangs schon erwähnten, jährlich veröffentlichten Gesamtergebnisse des Winterhilfswerkes bestätigten dies.

Zwei Wochen Sammlungspropaganda, doch das war nun alles kein Ereignis mehr: „Die Front kämpft – die Heimat aber opfert und schweigt“ (Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 5). Die nächsten Sammlungen liefen an, die Propagandisten blickten nach vorn. Aus dem just germanisierten Lodsch hieß es, „liebe Lodscher: beim nächstenmal wir [sic!] noch mehr gegeben – auch wenn es nicht gerade Wilhelm Buschs Figuren sind, die werben werden. Niemals für etwas, sondern immer nur um der Sache willen geben“ (Max und Moritz halfen, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 39 v. 8. Februar, 4). Die 5. Reichsstraßensammlung am 2. und 3. März kreiste bald schon „Rund um den Dorfteich“. Die neuen Glasabzeichen stammten aus dem Sudentengau und würden „schnell ihre Käufer gefunden haben“ (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 57 v. 27. Februar, 6). Das nächste Rekordergebnis lockte.

Nationalsozialismus und Dichtererbe

Und Wilhelm Busch? Er wurde weiter geehrt, doch auf deutlich kleinerer Flamme. Die Zahl der Kulturabende sank schnell, auch wenn die schwer messbare Popularität des Malerdichters gewiss gewachsen war, wie die gestiegenen Mitgliedszahlen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstrichen. Manche Busch-Freunde sahen im Widerhall aber auch Bestätigung für ihren Eigensinn. General Friedrich von Rabenau (1884-1945) freute sich an den Abzeichen, war jedoch skeptisch, ob diese Präsentation dem aus seiner Sicht größten deutschen Philosophen nach Kant gerecht geworden sei (Von Geist und Seele des Soldaten, 162.-177. Tausend, Berlin 1941, 18). Buschs Humor, seine Kunst, die Wahrheit im Scherz zu sagen, sei den Deutschen nach 1918 abhandengekommen. Als Mitwisser des 20. Juli wurde Rabenau im KZ Flossenbürg erschossen.

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Wilhelm Busch gegen Winston Churchill: Propagandakarikatur (Ostmark-Woche 8, 1940, Nr. 29, 5)

Die nationalsozialistische Propaganda spielte in der Folgezeit immer mal wieder mit der neu geschaffenen Popularität Wilhelm Busches und seiner Werke. Seine Deutung als völkischer Seher erlaubte derbe Hiebe und damals gängige Hetze.

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Mit Wilhelm Busch den deutschen Bombenkrieg bemänteln (Hamburger Illustrierte 1941, Ausg. v. 18. Oktober, n. 260)

Ein Beispiel hierfür waren die beiden vom NS-Zeichner Wolfgang Hicks (1909-1983) Ende 1941 „nach Wilhelm Busch“ erstellten Comicserien „Win und Franklin“ und „Die fromme Elene“ (Carol Galway, Wilhelm Busch: Cryptic Enigma, PhD Waterloo, Ontario 2001, 258-265). Max und Moritz sowie die fromme Helene standen Pate für Hetze gegen Winston Churchill (1874-1965), Franklin D. Roosevelt (1882-1945), seiner Gattin Eleanor Roosevelt (1884-1962) und Stalin (1878-1953). Hicks zeichnete auch andernorts, etwa antisemitische und antibolschewistische Karikaturen für die „Wacht im Westen“ (Wolfgang Hicks – Lambiek Comiclopedia). Als späterer Karikaturist von Stern, Zeit und dann insbesondere der Welt führte er seine Mission unverdrossen weiter, so seine Kritiker (Politische Karikaturen | NDR.de – Fernsehen – Sendungen A-Z – Panorama – Sendungsarchiv – 1968). Er war einer der vielen NS-Karikaturisten, die in der Bundesrepublik Deutschland die politischen und humoristischen Bildwelten mit prägten. Das von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft heute weiter als „Deutsches Museum für Karikatur & Zeichenkunst“ betriebene Wilhelm-Busch-Museum könnte mit der Aufarbeitung dieser Geschichte eine wichtige Aufgabe übernehmen.

Uwe Spiekermann, 21. September 2024

Anzeigenappell: Inseratenwerbung in der NS-Presse 1935

„Wie kecke doch und schlichte / Sich drängen Zeil‘ an Zeil‘; / Es liegt Kulturgeschichte / In dem Annoncentheil!“ (Das Inserat, Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 27, 4) Dieser Vers fiel mir ein, als ich bei einer abendlichen Durchsicht der Neuen Westfälischen Zeitung eine Anzeige entdeckte, die ich gleich dem Graphiker Emmerich Huber (1903-1979) zuordnen konnte, einem führenden NS-Humoristen, der anpassungswillig später auch Kriegspropaganda und antisemitische Hetze betrieb.

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Ein Fundstück abendlicher Recherche (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 7 v. 9. Januar, 8)

„Braucht man am Nordpol Badehosen?“ Tja… Was steht hinter einem solchen Fundstück vom Januar 1935? Man lacht, gewiss, denn Pinguine gab es dort nicht. Doch es geht offenkundig um Werbung für die Werbung, um das Inserieren in Tageszeitungen. Die im Rechteck genannte Zahl verweist auf eine größere Kampagne. Ich habe weiter recherchiert, die Einzelquelle zeithistorisch eingebettet, sie „kontextualisiert“. Heraus kam eine seismographische Bohrung in die frühe, von der Forschung weniger beachtete Zeit des NS-Regimes. Sie führt uns zurück in die Dauerkrise der NS-Wirtschaft, abseits der außenpolitischen „Erfolge“, der innenpolitischen Stabilisierungsmaßnahmen, abseits der mehrheitlich gebilligten, mit Gewalt und Gewaltandrohung begleiteten Maßnahmen gegen staatlich definierte Minderheiten. Sie führt uns in den Alltagsbereich der Presse, der Tageszeitungen, die durch die Nachklänge der Weltwirtschaftskrise, Zeitungsverbote, durch Übernahmen und wirtschaftlichen Druck in eine neue, dienende und erklärende Rolle für das Regime gedrängt wurden. Die Kontextualisierung muss Zeitungen als Wirtschaftsunternehmen ernst nehmen, die sich nicht zuletzt aus Einnahmen aus Inseraten finanzierten. Sie wird Mittlerinstitutionen benennen, die im Sinne des NS-Staates die Werbung beeinflussten und lenkten. Und sie gibt auch einen Blick frei auf die Wandlung eines Graphikers hin zum Dienst für ein Regime, das öffentlich Moral hochhielt und beschwor, das zugleich von täglicher Korruption und Heuchelei geprägt war. All das steckt in diesem Fundstück über Badehosen am Nordpol. Lesen Sie weiter, wenn Sie dies interessiert.

Zerschlagung und Neuordnung: Presse und NS-Regime 1933/34

Wie war die Lage der Presse zu Beginn der NS-Zeit? Das NS-Regime erscheint uns heute kaum in Form gedruckter Texte, sondern vor allem bildmächtig, in Wochenschauschnipseln, Massenkundgebungen, den Inszenierungen der NS-Granden und zahllosen Kinofilmen. Propaganda ist darin allgegenwärtig, mag dieser Begriff auch schwer zu fassen, noch schwerer analytisch zu nutzen sein (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559). Daneben hören wir in gängigen Dokumentationen schnarrende Stimmen, die Reden der Spitzenpolitiker, die Fanfaren des Wehrmachtsberichts, Marschmusik und Wunschkonzert. Doch der Rundfunk wurde erst langsam Allgemeingut. Obwohl das Billigradio des „Volksempfängers“ ab August 1933 angeboten wurde, kann man doch erst ab 1937 von Massenverbreitung sprechen. Nicht die Presse, sondern die audiovisuellen Medien prägen den heutigen Blick auf die NS-Zeit. In der Frühphase der Diktatur aber dominierten Tageszeitungen (und auch Zeitschriften) die Alltagsberichterstattung, das Wissen der Mehrzahl (Karl-Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der nationalsozialistischen Gesellschaft, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55, 2007, 411-434; Rudolf Stöber, Presse im Nationalsozialismus, in: Bernd Heidenreich und Sönke Neitzel (Hg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn et al. 2010, 275-294).

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Presse als Meinungsmacht, als Grundlage des Weltwissens (Das Magazin 9, 1932/33, Nr. 98, 58)

Bei der Presse aber scheint das Erbe der Weimarer Republik überwältigend; und schon sind da Erinnerungsfetzen an die kulturelle Blüte der Zwischenkriegszeit. Folgt man dem Handbuch der deutschen Presse, gab es 1932 4.703 Zeitungen, darunter 980 Nebenausgaben (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der deutschen Presse. Eine Fallstudie am Beispiel der Presse Badens 1932 bis 1944, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 161, 2013, 427-456, hier 428). Die Auflagenhöhe ist schwer zu bestimmen, schwankte je nach Einbezug der Nebenausgaben zwischen 26 und ca. 19 Millionen. Das ist viel im Vergleich zu heute – im ersten Quartal 2024 wurden 10,4 Mio. Tageszeitungen verkauft – zugleich aber deutlich weniger als 1983, als 30,1 Mio. verkaufte Exemplare einen Höhepunkt in der Verkaufsgeschichte der deutschen Tagespresse markierten (Andreas Vogel, Talfahrt der Tagespresse: Eine Ursachensuche […], Bonn 2014, 19). Die Weltwirtschaftskrise führte Anfang der 1930er Jahre zum Abschmelzen der Zahlen, während die neuen Medien Radio und Kino (mit ersten Tonfilm-Wochenschauen ab 1930) absolut und relativ an Bedeutung gewannen.

Auch wenn die Vielgestaltigkeit, Informationsdichte und Periodizität der Tagespresse der frühen 1930er Jahre selbst die des späten Kaiserreichs übertraf, waren die ökonomischen Probleme jedoch beträchtlich. Die große Mehrzahl der Tageszeitungen hatte eine nur geringe Auflage. 1935 gab es lediglich zwölf Tageszeitungen mit eine Verkaufsauflage von mehr als 100.000 Exemplaren, über 30.000 lagen nicht einmal hundert Titel (Otto Suhr, Der deutsche Anzeigenmarkt, Werben und Verkaufen 20, 1936, 244). Die Tageszeitung war allgemein etabliert, doch das deutsche Zeitungswesen war dezentral organisiert – auch wenn die Großstädte von der Zahl der Zeitungstitel herausragten. Die große Mehrzahl der Zeitungen erschien in Klein- und Mittelstädten. Der Inhalt dieser Zeitschriften war abhängig von Nachrichtenagenturen und Materndiensten. Grundlage der wirtschaftlichen Existenz waren einerseits die während der Weltwirtschaftskrise sinkenden Abonnements, kaum aber der sichtbare Straßen- oder Kioskhandel. Daneben traten anderseits die Anzeigen: „Die große Presse lebt heute durchweg nicht von den Einnahmen der Verkaufskosten, die gerade die Herstellungs- und Vertriebskosten decken, sondern vom Inserat. Der Inseratenteil ist das Barometer für ihre wirtschaftliche Gesundheit. Es ist zugleich die Stelle, an der sie empfindlich getroffen werden kann“ (Eugen Hadamovsky, Propaganda und nationale Macht. Die Organisation der öffentlichen Meinung für die nationale Politik, Oldenburg 1933, 116). Dieser Markt war seit dem Kaiserreich fest in der Hand von Annoncen-Expeditionen, also Agenturen, die im Auftrage ihrer Kunden Anzeigen schalteten, vielfach auch gestalteten, dafür aber gewisse Gebühren und Rabatte verlangten. Lange dominierte die 1867 gegründete Berliner Firma Rudolf Mosse den Anzeigenmarkt, doch seit 1920 trat mit der ALA ein weiterer Großbetrieb hinzu. Es handelte sich um eine Gründung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie, die zum Kernstück des konservativ-nationalen Hugenberg-Konzerns werden sollte, gewolltes Gegengewicht zum liberal eingestellten Mosse-Konzern. Anzeigen- und Zeitungsmacht gingen dabei Hand in Hand. Während der Weltwirtschaftskrise gerieten die Annoncenexpeditionen allerdings unter massiven wirtschaftlichen Druck. Der Umsatz der ALA sank von 1929 bis 1932 auf fast die Hälfte. Mosse verschleppte die Insolvenz, die offiziell erst am 12. Juli 1933 erklärt wurde (Ulrich Döge, Max Winkler. Ein treuer Diener vieler Herrn, Hamburg 2022, insb. FN 1420). Zuvor war das Unternehmen im April 1933 an die neu gegründete Rudolf Mosse GmbH zwangsübertragen worden (Claudia Marwede-Dengg, Die Enteignung der Familie Lachmann-Mosse (MARI (mari-portal.de)). Im Mai 1934 wurde die seither den Markt klar dominierende ALA im Rahmen der Zerschlagung des Hugenberg-Konzerns vom nationalsozialistischen Franz-Eher-Verlag übernommen. Damit gewannen NSDAP und Staat einen weiteren wirtschaftlichen Hebel zur Kontrolle der Presse.

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Zeitungsverbote als Mittel der Stabilisierung während der Präsidialkabinette 1931/32 (Vorwärts 1932, Nr. 409-415 v. 3. September, 1 (l.); Kladderadatsch 84, 1931, Nr. 22, s.p.)

Zuvor hatte der Maßnahmenstaat Fakten geschaffen. Im Februar und März 1933 wurde die linke Presse verboten, im Gefolge auch liberale und einzelne zentrumsnahe Zeitungen – wobei dies anfangs durchaus in der Tradition zeitlich begrenzter Zeitungsverbote durch die Präsidialkabinette stand. Die zuvor nicht wirklich bedeutende NSDAP-Presse wurde nun massiv ausgebaut. Wichtiger war jedoch die Selbstgleichschaltung der meisten Tageszeitungen, vielfach willig, immer aber auch mit Gewalt resp. Gewaltdrohung. Dazu diente auch das brutale Vorgehen gegen linke, demokratische und jüdische Journalisten, die das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 gleichsam legalisierte. Redakteure mussten rassischen und politischen Kriterien genügen, als Mitglieder der im November 1933 gegründeten Reichspressekonferenz dem nationalsozialistischen Staat gegenüber loyal agieren. Tägliche Presseanweisungen folgten. Parallel nahm der wirtschaftliche Druck auf die bestehenden Zeitschriften zu. „Arisierungen“ erfolgten, doch auch „bürgerliche“ Zeitschriften wurden zunehmend von NS-Verlagen, insbesondere dem Franz-Eher-Verlag übernommen. Politische Kontrolle und wirtschaftliche Übernahmen verwoben sich.

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Zeitungsverbote im Gefolge der Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat v. 28. Februar 1933 (Der Kuckuck 5, 1933, Nr. 10, 1)

Die Zahl der Zeitungen nahm weiter ab, die gesamte Druckauflage sank. Die Verbote trafen vornehmlich sozialdemokratische und kommunistische Leser, denn diese verweigerten sich anderen Angeboten der gleichgeschalteten Presse (Karl Christian Führer, Umbruch und Kontinuität auf dem Hamburger Zeitungsmarkt nach 1933, Repositorium Medienkulturforschung 2013, H. 2, 16). Ansonsten aber herrschte 1933 eher Kontinuität durch Selbstgleichschaltung. Das aber betraf nicht nur Verleger und Journalisten, „sondern auch die Käufer der Tageszeitungen[, die] das Ende der freien Presse im Jahr 1933 schweigend und ohne erkennbare Reaktion hinnahmen“ (Ebd.). Neben der wachsenden Einflussnahme von NS-Staat und NSDAP verstärkte sich zugleich die während der Weltwirtschaftskrise nur ansatzweise intensivierte wirtschaftliche Rationalisierung der Presse (Konrad Dussel, Die Nazifizierung der württembergischen Tagespresse, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 78, 2019, 295-325, insb. 324-325). Dazu gehörte auch der Aufbau einer verbesserten Statistik über das Pressewesen. Die ökonomische Bedeutung der Anzeigenwerbung war zwar offenkundig, doch im Gegensatz zur USA gab es keine entwickelte Statistik der Anzeigen (Benno Ludwig Manns, Der wirtschaftliche Wert der Reklame, Badische Wirtschaftszeitung 9, 1929, 25-30; Otto Friebel, Werbungstreibende und Anzeigenstatistik, Werben und Verkaufen 19, 1935, 129-131; Alfons Brugger und Carl Schneider, Der deutsche Anzeigenmarkt, Leipzig 1936, 126-153). Man hoffte, dass der durch die „nationale Regierung“ versprochene Wirtschaftsaufschwung nun die Lage der Verlage verbessern würde, denn damals wurde prozyklisch geworben, wurde also kaum Werbung zur Bekämpfung von Umsatzrückgängen geschaltet. Die Auflagenzahlen des Jahres 1934 waren jedoch ernüchternd. Die Gleichschaltung der Tageszeitungen erodierte langsam deren ökonomische Substanz: Betrug die Druckauflage im ersten Quartal 1934 noch 16.360.349 Exemplare, so sank sie in den drei Folgequartalen über 15.958.993 und 15.742.635 auf lediglich 15.549.220 Exemplare (Die Gesamtauflage der deutschen Zeitungen, Zeitungs-Verlag 41, 1940, 374-376, hier 374). Dies schlug auch auf die an die Auflagen gekoppelten Anzeigenerlöse durch. Lustige Anzeigen über Badehosen am Nordpol waren Teil eines Maßnahmenpaketes, um diesen Schwund zu wenden.

Eigenwerbung: Eine zunehmend relevante Tradition

Mein Zufallsfund warb Anfang 1935 für vermehrte Werbung – doch dies war damals keineswegs neu. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es analoge Bemühungen, allerdings in einem Markt mit wachsenden Druckauflagen, vor dem Hintergrund immer neuer vielfach kleiner Zeitungen.

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Zeitungsreklame als Aufgabe des Geschäftsmannes vor dem Ersten Weltkrieg (Paderborner Anzeiger 1913, Nr. 117 v. 23. Mai, 4)

Derartige Eigenwerbung erfolgte jedoch eher sporadisch, wurde auch genutzt, um Lücken auf den eigenen Seiten zu schließen. Auch in den 1920er Jahren fand sie sich regelmäßig, doch von einem systematischen Einsatz, von einer wissenschaftlich reflektierten Anwendung kann nicht die Rede sein. Das gilt trotz des Wachstums der Werbewirtschaft allgemein, der Absatzorientierung im Speziellen. Für Inserate warben vorrangig die auflagenstärkeren Zeitungen gezielt in Fachzeitschriften einzelner Branchen, auch in der wachsenden Zahl der Werbezeitschriften. Doch dies erfolgte wohl eher durch die Anzeigen-Expeditionen, kaum durch die Zeitungen selbst (E[dmund] Lysinski, Die Organisation der Reklame, Berlin 1924). Deren Eigenwerbung hatte zudem noch keine klare Form gefunden. Sie bestand meist aus einfachen Appellen an die potenzielle Kundschaft, die zumeist an allgemein gehaltene (Vor-)Urteile über die Chancen der Werbung anknüpften: „Inserieren! / Das ist der Punkt, / Um den sich alles dreht, / Ob es im Leben schlecht, / Ob gut es geht. / Am Ende ist es nur die Tat, / Die dem Geschäftsmann / Bringt das Resultat, / Nichts anderes kann / Zu einem Wohlstand führen, / Als immer wieder: / Inserieren! Inserieren!“ (Die Zeitungsanzeige – ein wirksames Reklamemittel, Der Volksfreund 1927, Nr. 134 v. 11. Juni, Sdrbeil., 4). Erst Ende der 1920er Jahre führte die wachsende Verwissenschaftlichung der Absatzlehre und des Marketings zu neuartigen Formen. Auf Basis des gängigen Handbuchwissens der Zeit extrahierten einzelne Zeitungen beispielsweise Anzeigenserien, sog. Reihenwerbung, in denen sie Händler und Gewerbetreibende auf moderne Absatzorientierung – und damit auch eine systematische Anzeigenwerbung – verwiesen. Die folgenden textlastigen Anzeigen entstammen etwa einer 19-teiligen Serie der Zentrumszeitung Westdeutsche Landeszeitung, die im Oktober 1933 ihr Erscheinen einstellte.

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Den Werbetreibenden über die Werbung aufklären: Eine Anzeigenreihe 1930 (Westdeutsche Landeszeitung 1930, Nr. 286 v. 18. Oktober, 13 (l.); ebd., Nr. 304 v. 6. November, 12)

Derartige Eigenwerbung spiegelte den zunehmend reflektierteren Einsatz der Werbemittel, der durch den Bedeutungsgewinn leistungsfähiger Werbeagenturen und einer wachsenden Zahl von Werbeabteilungen zugleich professionalisiert wurde. Für kleinere Firmen gab es eine wachsende Zahl von Ratgebern, in denen die organisatorischen und insbesondere betrieblichen Aufgaben umrissen und gewichtet wurden. Werbung war unverzichtbar, stand zugleich aber erst am Ende einer langen Kette innerbetrieblicher Maßnahmen (Viktor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, 2 Bde., 2. Aufl., Stuttgart 1926; ders., Absatzprobleme. Das Handbuch der Verkaufsleitung für Erzeuger, Groß- und Einzelhändler, 2 Bde., Stuttgart und Wien 1929). Zeitungsinserate befanden sich im Wettbewerb mit anderen Werbemitteln, mit den vielfältigen Formen der Direktwerbung, der Zugaben und der Außenwerbung.

Zeitungsinserate besaßen Ende der 1920er Jahre allseits akzeptierte Vorteile, vorrangig die dichte Streuung in klar umgrenzten Gebieten und die dadurch mögliche Anpassung an die lokalen und regionalen Besonderheiten. Das häufige Erscheinen erlaubte Intensität, einen Eindruck von Neuigkeit und Dynamik. Zeitungsinserate waren billiger als Zeitschrifteninserate, zudem erfolgten sie in enger Kooperation zwischen Hersteller und Einzelhändler, erlaubten also parallele Werbung für Produkte und Produktgruppen. Doch es gab auch Nachteile: Das Zeitungspapier war qualitativ schlechter als das gängiger Zeitschriften, Beilagen federten dies nur ansatzweise ab. Inserate hatten keine Langzeitwirkung, wurden Zeitungen doch nicht aufbewahrt oder wiedergelesen. Markenartikler und Werbeagenturen waren vielfach nicht in der Lage, sich mit den Besonderheiten der lokalen und regionalen Märkte zu befassen; das relative Scheitern der „amerikanischen“ Werbung seit Ende der 1920er Jahre war dafür beredtes Beispiel. Zeitungsanzeigen standen zudem nicht allein, insbesondere bei Großformaten verschwand die Einzelanzeige angesichts der Menge der Anzeigen. Obwohl die Partei- und die konfessionelle Presse noch relativ homogene Milieus ansprachen, war außerdem eine genaue Zielgruppenansprache nicht möglich, da der Leserkreis einer Lokalzeitung recht heterogen war (Vogt, 1929, 570-572). Die Relation von Reklamepreis und Reklamewert blieb auch theoretisch unklar, da Werbeeffekte vielfach kaum zugerechnet werden konnten (Joh. Schupp, Reklamepreis und Reklamewert, Seidels Reklame 14, 1930, 414-415).

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Anzeigennot während der der Weltwirtschaftskrise (Der Führer 1932, Nr. 326 v. 16. Dezember, 8)

Während der Weltwirtschaftskrise nahm die Eigenwerbung angesichts der „Anzeigennot“ tendenziell zu. Sie stand damit gegen den prozyklischen Trend der Konsumgüteranbieter, die durch ihre wachsende Zurückhaltung die Krise tendenziell verstärkten: „Im Laufe der schlimmsten Krisenzeiten hat er [der Einzelhändler, US] sich aber vielfach unter dem Gesetz radikalster Ersparung selbst produktiver Unkosten das Zeitungswerben ‚abgewöhnt‘, und ist noch nicht genügend wieder darauf zurückgekommen“ (Das Schaufenster allein tut’s nicht!, Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 3).

Prozyklisch wirkte sich auch die zunehmende Werbeabstinenz der Annoncen-Expeditionen selbst aus. Sie erfüllten zwar weiterhin ihre üblichen Aufgaben, also die möglichst kostengünstige und wirksame Platzierung, zudem die Gestaltung der Anzeigen (vgl. zum Profil Zeitungs-Katalog der Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, 46. Aufl., Berlin 1913, VII-VIII). Angesichts ihrer wachsenden ökonomischen Probleme versuchten sie aber nicht, den Werbemarkt insgesamt zu vergrößern, sondern konzentrierten sich auf den unmittelbaren Wettbewerb mit Konkurrenten. Preisunterbietungen, Kundenabwerbungen und Einschüchterungsversuche konnten die Probleme allgemein massiv schrumpfender Werbeausgaben jedoch nicht regeln (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing, Berlin 1993, 114-115).

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Gezielte Werbung für die Werbung – durch Annoncenexpeditionen (Ulk 61, 1932, Nr. 14, 2)

Die bestehenden ökonomischen Probleme der Tageszeitungen wurden nach der Machtzulassung der Koalition von NSDAP und Konservativen trotz eines begrenzten Wirtschaftsaufschwungs 1933/34 kaum geringer. Das lag nicht allein am politischen und wirtschaftlichen Druck und den Folgen der (Selbst-)Gleichschaltung. Das war auch Folge dirigistischer, vermeintlich mittelstandsfreundlicher Eingriffe in die Wirtschaft. Errichtungsverbote bei Warenhäusern, Einheitspreisgeschäften und Konsumgenossenschaften minderten das Anzeigengeschäft, ebenso die währungspolitisch gebotenen Produktionsbeschränkungen in Handel und Gewerbe. Angesichts von Devisenzwangswirtschaft und Importrestriktionen wurde zahlreiche Rohstoffe knapp, so dass die Werbung für daraus gefertigte Produkte entfiel. Viele Anbieter und Händler beobachteten propagandistisch gefeierte staatliche Interventionen mit gebotener Skepsis, etwa die Regulierung des Radio- und Automobilsektors oder aber der Zwang zum Einsatz heimischer Ersatzstoffe, etwa in der Margarine oder dem Brot. Auch die staatlich propagierte Gemeinschaftswerbung zu Weihnachten, für Elektrogeräte oder heimische Agrarprodukte minderte den Wettbewerb, bewirkte Werbezurückhaltung (Heinrich Hunke, Ein Jahr Werberat der deutschen Wirtschaft. Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Werberates der deutschen Wirtschaft, Die Deutsche Volkswirtschaft 4, 1935, 56-60, hier 59).

Gleichwohl hatte die Zeitungsannonce weiterhin eine dominante Stellung in der deutschen Werbewirtschaft. 1934 machte sie 55% des gesamten Werbemarktes aus, während Anzeigen in Zeitschriften auf 28% und Plakate auf 6% kamen. Auch bei der Markenartikelwerbung dominierte die Anzeige mit einem Anteil von 55%, während die Außenreklame hier beträchtliche 25% erreichte (Die Zeitungsanzeige steht an der Spitze, Neusser Zeitung 1935, Nr. 13 v. 13. Januar, 2). Für die Zeitungsverleger war dies eine noch kommode Ausgangslage – trotz der durchaus erörterten „Uniformierung der Presse in politischer Hinsicht“ (Verband der Werbungtreibenden „werbefreudig“, Frankfurter Zeitung 1934, Nr. 616 v. 4. Dezember, 7). Der Anzeigenappell im Januar 1935 sollte die Dinge zum Guten wenden.

Der Reichsverband der Anzeigenmittler

Die Serie, von der die Anzeige für Badehosen am Nordpol ein Teil war, war jedoch auch Teil der für das NS-Regime (und alle modernen Gesellschaften) charakteristischen institutionellen Konkurrenz. Die viel beschworene Neuordnung der deutschen Werbewirtschaft, die die NS-Regierung mit dem Gesetz über die Wirtschaftswerbung vom 12. September 1933 auch in rechtlich-bürokratische Formen gegossen hatte, gab den Rahmen vor. Am 27. Oktober 1933 wurde der Werberat der deutschen Wirtschaft gegründet, eine Körperschaft des öffentlichen Rechtes mit starkem Einfluss der Wirtschaft. Er ordnete das Anzeigenwesens neu, beendete die „Mißstände“ einer Marktgesellschaft. Verleger und Werbewirtschaft hatten seit den späten 1920er Jahren immer wieder staatliche Regulierung gefordert: Das Anzeigengeschäft sollte transparent und berechenbar werden, die Aufgaben der Annoncenexpeditionen klar umrissen sein. In seiner 3. Bekanntmachung lieferte der Werberat, normierte die Anzeigenbreiten, etablierte verbindliche Allgemeine Geschäftsbedingungen, regulierte Rabatte und verpflichtete die Periodika zu Auflagentransparenz, regelmäßigen Meldungen, persönlicher Haftung und einer Werbeabgabe (Der Werberat ordnet das Anzeigenwesen, Badische Presse 1933, Nr. 547 v. 23. November, 8). All das hatte seinen Preis: Einerseits wurden die nun Anzeigenmittler genannten früheren Annoncen-Expeditionen als Berufsgruppe in die Nationalsozialistische Reichsfachschaft Deutscher Werbefachleute zwangsintegriert, mussten sich also an der politischen und rassistischen Elle des Regimes messen lassen (Uwe Westphal, Werbung im Dritten Reich, Berlin-West 1989, 57). Anderseits stellte der Werberat die gesamte Werbung unter Aufsicht und in den direkten Dienst für den NS-Staat: „Der Werberat soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Erziehungsinstrument sein, das das deutsche Volk mit den Zielen der deutschen Wirtschaftspolitik bekannt macht, und ein Werbeinstrument, das die deutsche Volkswirtschaft auf propagandistischem Wege zu einer richtigen Gestaltung der Erzeugung veranlaßt, durch Hinweis auf die Notwendigkeit, sich bei Befriedigung der Bedürfnisse in erster Linie deutscher Erzeugnisse zu bedienen, zur Abdrosselung des überflüssigen Imports anhält und andererseits jede Möglichkeit benutzt, den Absatz deutscher Waren und deutscher Leistungen im Auslande zu fördern“ (Hunke, 1935, 56). Werbung war damit nicht mehr länger ein Mittel im wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern diente immer auch völkischen und staatlichen Zielsetzungen. Der NS-Staat folgte mit der verstärkten Regulierung der Werbung durchaus Anregungen anderer Länder, insbesondere den britischen „Marketing Boards“ (David M. Higgins und Brian D. Varian, Britain’s Empire Marketing Board and the failure of soft trade policy, 1926-33, European Review of Economic History 25, 2021, 780-805). Doch er band diese zugleich an spezifisch nationalsozialistische Imperative, 1934 nicht zuletzt an die vielbeschworene „Arbeitsschlacht“, an „Nahrungsfreiheit“ und militärische „Gleichberechtigung“ – kurzum an die Mobilisierung der deutschen Volkswirtschaft und Gesellschaft für Krisenbewältigung, Machtgewinn und Aufrüstung. Werbung sollte die Verbraucher im Sinne des Regimes beeinflussen, den Verbrauch lenken. Der bedingte Freiraum des Konsums wurde verengt, galt als tägliches Plebiszit über die Vorgaben des Regimes.

Der Begriff „Annoncen-Expedition“ wurde nun zur Seite geräumt, da er an die „liberale“ Wettbewerbsgesellschaft erinnerte. Die NS-Sprachpflege ersetzte ihn seit dem Sommer 1934 durch „Anzeigenmittler“. Werbedienstleister hatten sich im neu gegründeten „Reichsverband der Anzeigenmittel“ einzureihen (Werbetreibende, Anzeigenvermittler und Verleger, Der Landbote 1934, Nr. 196 v, 23. August, 3). Verordnete Sprache ist Ausdruck autoritärer Regime: „Die Annoncen-Expedition heißen künftig ‚Anzeigenmittler‘“ (NS-Kurier 1933, Nr. 398 v. 23. Dezember, 4). All das wirkte nicht recht, im Mai 1935 folgte der nächste Begriff, denn nach der offiziellen Zulassung auch der Anzeigenmittler für Außenwerbung wurde der Reichsverband der Anzeigenmittler im Mai 1935 zum „Reichsverband der deutschen Werbungsmittler“ zusammengeschlossen (Dresdner Nachrichten 1935, Nr. 218 v. 10. Mai, 11).

Solche Verbände vermittelten aber nicht nur zwischen Staat und Wirtschaft. Sie traten auch zeigefreudig an die Öffentlichkeit. Am 20. November kündigte Heinrich Hunke (1902-2000), stellvertretender Vorsitzender des Werberates, öffentlich eine neue Gemeinschaftswerbung an, „die vom Reichsverband der deutschen Anzeigenmittler vorgeschlagen worden ist und die den Zweck hat, alle Kreise der Wirtschaft über den Wert und die Notwenigkeit guter Werbung aufzuklären“ (Tagung der Anzeigenmittler, Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1934, 1052). Dieser Anzeigenappell galt nachträglich als eine der wichtigen PR-Leistungen des nur kurz bestehenden Reichsverbandes (Günter Schäfer, Die Werbungsvermittler, Köln 1938, 16). Die Badehosen am Nordpol rücken näher.

Emmerich Hubers Weg zum NS-Humoristen

Gezeichnet wurde die Kampagne vom schon erwähnten Graphiker Emmerich Huber, dessen Biographie in den letzten Jahren immer konturenreicher herausgearbeitet wurde (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 1, 2005, 56-71; ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 87-92, in der Zeitschrift folgten weitere kleinere Ergänzungen). Insbesondere der Doyen der hiesigen Comicforschung, Eckart Sackmann, hat sich an ihm abgearbeitet, seine Rolle während der NS-Zeit mit wachsender Quellenkenntnis immer kritischer bewertet (Eckart Sackmann, Per aspera ad astra… 20 Jahre Deutsche Comicforschung, in: Ders. (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 3-5, hier 4). Ich kann nur empfehlen dort nachzulesen, denn die „Deutsche Comicforschung“ ist ein Muster für wissenschaftliche Entdeckerfreude nach dem viel beschworenen und fast schon wieder vergessenen „visual turn“. In einem Meer zumeist lieblos zusammengebundener und meist hochsubventionierter Fachzeitschriften ragt diese Zeitschrift turmhoch heraus.

Emerich Alexander Julius Karl Huber wurde am 24. September 1903 in Wien geboren, wuchs jedoch seit 1905 in Berlin auf. Volks- und Mittelschule schlossen sich an, Handwerksausbildungen scheiterten. Es folgten erste Ausflüge in die Kunst unter dem kritischen Realisten und Sozialdemokraten Hans Baluschek (1870-1935), dann die Ausbildung zum Gebrauchsgraphiker unter Joe Loe (d.i. Josef Loewenstein (1883-?)), einem der damals führenden Werbespezialisten, bekannt durch seine Arbeit für Salamander, Beiersdorf und Jasmatzi, Mitte der 1920er Jahre vor allem für Fachinger und Kahlbaum. 1924 bis 1926 schloss sich eine erste Anstellung bei Rudolf Mosse an, dann ein kurzer Arbeitsaufenthalt in Dresden, seither freiberufliche Arbeit in Berlin (Lebenslauf v. 17. August 1945, Bundesarchiv Lichterfelde, DR 1, Ministerium für Kultur, Nr. 91452). Emmerich Huber – so der Künstlername mit dem doppelten „M“ – heiratete am 5. September 1930 die Buchhalterin Hildegard Johanna Petero (Landesarchiv Berlin, Heiratsregister 1874-1936, 1930, Nr. 495). Das Ehepaar wohnte in Wilmersdorf, zuerst in der von Huber 1928 bezogenen Wohnung in der Prinzregentenstraße 25, von 1932 bis 1935 in der nahegelegenen Hindenburgstraße 86a, seither in der Prinzregentenstraße 86 (Berliner Adreßbuch 1938, Bd. 3, T. IV, 1468; ebd. 1932, Bd. 1, T. 1, 1349; ebd. 1936, Bd. 1, T. 1, 1084). Die Ehe blieb kinderlos.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (Eckart Sackmann und Thomas Plock, Frisch gekirnt – »Blauband-Woche« und »Fermetsa-Kurier«, Deutsche Comic-Forschung 19, 2023, 20-37; einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh als Werbegraphiker. Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber 1931/32 in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, einer auch gesondert verkauften Beilage des linksliberalen Berliner Tageblattes, des überschuldeten Herzstücks des Mosse-Konzerns. Parallel zeichnete er auch Werbegraphiken für die Rudolf Mosse-Druckerei (Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 20 v. 17. Mai, 8; ebd., Nr. 21 v. 24. Mai, 8).

09_Ulk_060_1931_Nr53_p2_Silvester_Neujahrswuensche_Emmerich-Huber_Punsch_NSDAP_Preisabbau_Weltwirtschaftskrise_Buergerkrieg_Republik_Boerse

Emmerich Hubers Abbild des Wahnwitzes der Präsidialdiktatur (Ulk 60, 1931, Nr. 53, 2)

Huber war kein politischer Karikaturist wie der Ulk-Zeichner Rudolf Herrmann, dessen Karikaturen die Republik zur Zeit der Präsidialdiktatur gegen die „Reaktion“ und die NSDAP verteidigten. Huber war Humorist, seine Beiträge spiegelten die Erfahrungen der zurückgehenden Zahl der Leser, ließen vereinzelt auch Kritik an den Hakenkreuzlern erkennen. Seine Ulk-Zeichnungen waren meist Comics mit acht bis zehn Abbildungen nebst Sprechblasen, kaum Einzelkarikaturen, zudem Wimmelbilder, die ab Mitte der 1930er Jahre für ihn als NS-Humoristen typisch werden sollten. Der Ulk gewann durch solche Beiträge, bot eine gelungene Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Parallel setzte Huber seine Arbeit für Kinder fort, illustrierte eine Reihe von Kinder- und Jugendbüchern, war Allzweckwaffe der kleinen Schmunzelei, des innehaltenden Lächelns (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

Die „nationale Revolution“ 1933 war für den österreichischen Staatsbürger Huber offenbar kein wirklicher Bruch. Seine Arbeit, sein Leben standen im Vordergrund – und er dürfte kaum Rilke zitiert haben: „Ich sehe den Bäumen die Stürme an, / die aus lau gewordenen Tagen / an meine ängstlichen Fenster schlagen, / und höre die Fernen Dinge sagen, / die ich nicht ohne Freund ertragen, / nicht ohne Schwester lieben kann“ (Rainer Maria Rilke, Der Schauende, in: ders., Gesammelte Werke. Die Gedichte, Köln 2020, 361-362, hier 362). Huber hat seinen Opportunismus nach 1945 nur beschwichtigt, nicht verleugnet. Doch es bleibt eine offene Frage, wie jemand, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft (Prinzregentenstraße 69/70) eine für 2.300 Gläubige eingerichtete Synagoge während der Novemberpogrome 1938 niedergebrannt wurde, sich auch zu einem antisemitischen Hetzzeichner entwickeln konnte (vgl. etwa Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 108, 1941, 1145; Österreichischer Beobachter 6, 1941, 2. Märznr., 24).

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Gut versus Böse, Optimisten versus Pessimist (Optimist sein, mein Herr! Ein fröhliches Bilderbuch für Große, Zeichnungen von Emmerich Huber, Verse von Hermann Schneider, Berlin s.a., 47)

Emmerich Huber empfahl sich weniger durch seine Jugendbücher oder die Werbezeichnungen für die Serie der Anzeigenmittler, sondern durch ein gemeinsam mit Hermann Schneider verfasstes, im Dezember 1933 veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Optimist sein, mein Herr!“ (Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 100, 1933, Nr. 286 v. 9. Dezember, 6092-6108). Dieses scheinbar unpolitische Buch wurde im Sommer 1934 vielfach angezeigt und positiv besprochen: „In diesem Bilderbuch, welches für Erwachsene bestimmt, zieht Herm. [sic!] Huber gegen die ewigen Pessimisten ins Feld“ (Siegblätter 1934, Nr. 217 v. 19. September, 7). Am Ende des lustigen Bandes wurde der Pessimist wahrlich ins „Pökularium“ geführt, erstickt oder verbrüht, die Welt von ihm befreit: „Die Welt ist schön, das Leben herrlich! Nur Sie sind ganz und gar entbehrlich! Und wenn Sie’s anders sehen, Mann, dann sind sie selber schuld daran – Sie und kein anderer! Marsch, hinaus!! Silentium! Schluß! Ex! Finis! Aus!“ (Optimist, s.a., 54). Damit standen Schneider und Huber in einer Reihe mit dem im Mai 1934 einsetzenden Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, für die vermeintliche Alternativlosigkeit der NS-Politik („Gegen Miesmacher und Kritikaster“. Der Feldzug gegen die Miesmacher, Hamburger Fremdenblatt Nr. 130A v. 12. Mai, 1-2, auch für die folgenden beiden Zitate).

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Emmerich Huber vor Ausgaben seines Optimismus-Buches (Deutsche Fotothek, df_e-0050274, https://www.deutschefotothek.de/documents/obj/70223162)

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) wollte damit die abschwellende Dynamik der „nationalen Revolution“ wieder anfachen, zugleich aber die Deutschen angesichts der offenkundigen ökonomischen Probleme auf ihre Pflicht verweisen, „diese Krise überwinden zu helfen.“ Schließlich sei Deutschland derweil wieder „das Land des Lächelns geworden“. Dieser Feldzug ging einher mit strikt antisemitischen und antiklerikalen Drohungen, forderte von allen eine positive Einreihung: Sag mir, wo du stehst. Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) machte dies unumwunden klar: „Es gibt auch bei uns Leute, die niemals zufrieden zu stellen sind, weil sie nicht bereit sind, positiv mitzuarbeiten. Aber diese Schädlinge werden wir ausmerzen“ (Reichsminister Dr. Frick im Kampf gegen Kritikaster und Nörgler, Jeversches Wochenblatt 1934, Nr. 124 v. 31. Mai, 1). Die Röhm-Morde mit weit über hundert Toten sollten einen Monat später folgen. Es hieß, Optimismus sei Teil des nationalsozialistischen Aufbauwerks, der dadurch mögliche gestalterische Willen werde bestehende Schwierigkeiten überwinden. Oder, in den Worten des politischen Herrn über die deutsche Presse: „Kein Deutscher darf heute mäkeln und kleinliche Kritik üben, es ist nicht die Zeit für kleinliche, persönliche Wünsche, es geht jetzt um das Ganze, um das Reich“ (Auf zum Kampf!, Mittelbadischer Kurier 1934, Nr. 120 v. 26. Mai, 6). Emmerich Huber hatte den Pessimisten zuvor der Ausmerze anheimgegeben, die jovialen krisenwendenden Optimisten gepriesen. Damit arbeitete er dem Regime entgegen: „Wir dürfen uns nicht kleinkriegen lassen von all den mehr oder weniger harmlosen Anfechtungen des Alltags. Wir müssen immun werden gegen den Bazillus der Schwarzseherei“ (Walfried Mayer, Ein Fünklein Schalk im Auge…, Edeka Deutsche Handels-Rundschau 27, 1934, 211).

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Alltagsgeschäft Werbung – Emmerich Hubers Zeichnung für das Berliner Residenz-Casino (Velberter Zeitung 1935, Nr. 15 v. 16. Januar, 8)

Das Optimismus-Buch war Hubers Eintrittsbillett in die Arbeit für Staat und Partei. Er war zuvor Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste geworden, hatte seine rassische Herkunft, politische Loyalität und seine künstlerische Tätigkeit nachgewiesen (Bescheinigung d. Reichskammer der bildenden Künste v. 12. Mai 1936, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Er war 1934 immer noch vorrangig Gebrauchsgraphiker. Erst 1937 übertrafen seine Einkünfte aus Pressezeichnungen die der Werbeaufträge. 1934 lagen die Anteile bei 37%, 1935 bei 31%, sanken 1936 gar auf lediglich 26% (Schreiben v. Emmerich Huber an d. Reichskammer der bildenden Künste v. 25. Oktober 1937, Landesarchiv Berlin A Rep. 243-04, Nr. 3709). Seither aber wurde er zum breit beworbenen Zeichner mehrerer führender Massenzeitschriften der NSDAP – und erzielte weit überdurchschnittliche Einkünfte (Erklärung zur Beitragsfestsetzung der Reichskammer der bildenden Künste f. d. Rechnungsjahr 1937 v. 19. März 1937, Ebd.). Im Berliner Adressbuch erschien er seit 1936 als Pressezeichner, nicht mehr als Graphiker (Berliner Adreßbuch 1936, Bd. 1, T. 1, 1084; ebd. 1935, Bd. 1, T. 1, 1055). Hubers Serie für den Reichsverband der Anzeigenmittler mochte über Badehosen am Nordpol witzeln. Doch durch sie gewann er das Vertrauen führender nationalsozialistischer Kreise.

Die Kampagne: Motive und Zielsetzungen

Damit sind wir am Jahreswechsel 1934/35 angekommen. Entgegen der gängigen Vorstellung eines durch die Regierung Hitler initiierten schnellen Wirtschaftsaufschwungs, dessen Widerhall sich vor allem in der überraschend schnellen Reduktion der Arbeitslosenzahlen zeigte, blieb die wirtschaftliche Lage 1933/1934 prekär. Im Sommer 1934 stand das Deutsche Reich gar „am Rande einer wirtschaftlichen Katastrophe“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2006, 95). Devisenmangel führte zu Rohstoffmangel, dieser betraf vor allem die Konsumgüterbranchen. Der Wirtschaftsaufschwung geriet ins Stocken, politische Imperative förderten vor allem die Schwer- und Investitionsgüterindustrie. Die für Zeitungsannoncen zentralen Branchen Textil und Bekleidung, Nahrungsmittel, Kosmetika und Drogerieartikel stagnierten, die öffentlichen Kampagnen gegen vermeintliche Miesmacher, Kritikaster und Spießer hielten im Sommer 1934 dagegen, konnten aber die allgemeine Kritik nur im Zaum halten, nicht wirklich brechen.

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Versprechungen 1933 – Ernüchterung 1934 (Der Nebelspalter 59, 1933, Nr. 11, 1)

Der Anzeigenappell begann in den meisten Tageszeitungen am Mittwoch, den 2. Januar 1935, spätestens aber am Freitag, dem 4. Januar. Er währte einen Monat, endete während des am 28. Januar 1935 einsetzenden Inventurverkaufs, zumeist am 30. Januar 1935 (etwa Verbo 1935, Nr. 26 v. 30. Januar, 12; Duisburger General-Anzeiger, Nr. 30 v. 30. Januar, 5). Auch andere Medien trommelten: Am 2. Januar 1935 strahlte der Rundfunk reichsweit einen Vortrag des Juristen und alten Kämpfers Hans Culemann (1901-1944) über „Das neue Gesicht der Zeitungsanzeige“ aus (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12; vgl. Matthias Rücker, Wirtschaftswerbung unter dem Nationalsozialismus […], Frankfurt a.M. 2001, 361). Vor Ort gab es Ausstellungen, etwa eine Werbeschau der Reichsfachschaft deutscher Werbefachleute in Bonn über neuzeitliche Werbung (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 3).

Gleichwohl gab es – typisch für die meisten NS-Kampagnen – Friktionen. Eine erste Anzeige findet sich schon am Heiligabend 1934 (Westfälischer Kurier 1934, Nr. 297 v. 24. Dezember, 4), in wenigen anderen Zeitungen setzte die Kampagne bereits Ende Dezember ein (Langenberger Zeitung 1934, Nr. 302 v. 28. Dezember, 5). Andere Zeitschriften begannen die Kampagne teils beträchtlich später (Bremer Zeitung 1935, Nr. 10 v. 10. Januar, 4; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 12 v. 15. Januar, 10; Lenneper Kreisblatt, Nr. 15 v. 18. Januar, 4). Und entgegen der Vorstellung einer effizient funktionierenden Diktatur beendeten andere Zeitschriften den Abdruck der Serie schon mal früher (Annener Zeitung 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 4; Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 11 v. 25. Januar, 4; Echo der Gegenwart 1935, Nr. 22 v. 26. Januar, 8). Dafür findet man einzelne Motive noch Anfang Februar (etwa Rheinisch-Bergische Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 10; Bürener Zeitung 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 4), die letzten Anzeigen erschienen in der zweiten Februarwoche (Welt am Sonnabend 1935, Nr. 6 v. 9. Februar, 16; Haaner Zeitung 1935, Nr. 36 v. 12. Februar, 7).

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Motiv 1: Einleitung (Verbo 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 6)

Der Anzeigenappell bestand in den Tageszeitungen aus acht Anzeigen, die allesamt ähnlich aufgebaut waren. Am Kopf stand jeweils ein in Sütterlin gedruckter Einzeiler. Er war appellativ gehalten, enthielt durchweg Satzzeichen, meist Frage- und Ausrufungszeichen, teils Auslassungspunkte. Es folgte die eigentliche Aussage der Anzeige, durchweg in lateinischer Schrift, noch nicht aber in der 1941 gängigen Deutschen Normalschrift. Sie war üblicherweise elf Zeilen lang, konnte aber auch bis zu dreizehn Zeilen umfassen. Am unteren Rand enthielt die Anzeige dann einen zumeist zweizeiligen in Sütterlin-Schrift gehaltenen Abschluss, meist die Quintessenz des Gesagten. Den eigentlichen Hingucker bildete jedoch die stets rechts eingefügte Zeichnung Emmerich Hubers. Sie besaß durchweg Sprechblasen, deren Inhalte auf den Anzeigentext Bezug nahmen, ihm damit eine humoristische Note verliehen. Huber präsentierte Durchschnittsmenschen, durchweg Männer, Leute im gesetzten Alter, Menschen wie Du und Ich. Nur in vier Fällen finden sich weitere Geschöpfe, am Nordpol die dort fehlplatzierten Pinguine, ein Singvogel, eine Maus und der für Huber unverzichtbare Zwergschnauzer. An der linken unteren Ecke prangte ein Dreieck mit der Abkürzung RAM, dem Signet des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. An der rechten unteren Ecke wurde die Anzeige mit einem Rechteck abgeschlossen, der die Nummer des Motivs enthielt und mit einem befehlshaften „Aufheben!“ die Wertigkeit der Anzeige unterstreichen sollte. Die Anzeigen besaßen eine in sich geschlossene Erscheinung, stachen aus den sonstigen Inseraten klar hervor. Mitreißend und innovativ waren sie nicht, wohl aber gefälliger Durchschnitt.

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Motiv 2: Die negativen Folgen fehlender Werbung (Velberter Zeitung 1935, Nr. 7 v. 8. Januar, 8)

Während das erste Motiv Spannung erzeugte und „Wichtiges“ ankündigte, thematisierte die zweite Anzeige die Macht der Anzeigenwerbung: Sie setze „die Armee der Kunden in Marsch“, lasse „den Schornstein rauchen“. Sie müsse gepflegt werden, andernfalls drohe der ins Bild gesetzte Räumungsverkauf. Wie schon im Feldzug gegen die Pessimisten, Miesmacher und Kritikaster wurde wirtschaftliches Scheitern individualisiert, dem Fehlverhalten des Einzelnen zugerechnet. Wer breiter dachte und die Möglichkeiten annahm, die der nationalsozialistische Volksstaat bot, der würde jedoch nicht scheitern, wäre aufgehoben in einem Netzwerk des Gebens und Nehmens.

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Motiv 3: Der Preis der Werbung (Bremer Zeitung 1935, Nr. 17 v. 17. Januar, 4)

Das dritte Motiv thematisierte die während der Weltwirtschaftskrise so wirksame Vorstellung, dass Werbung teuer sei, tendenziell ein kostspieliger und überflüssiger Luxus. Dies aber, so die Anzeigenmittler, sei allein bei falsch und unreflektiert geschalteter Werbung gegeben. Sie sei jedoch eine ernste Angelegenheit, erfordere Selbstreflektion und Kompetenz. Wie der einzelne Volksgenosse erst zu sich kommen müsse, um völkische Verbundenheit zu erfahren, um sich als Teil eines gemeinsamen Aufbauwerkes zu verstehen, so müsse man auch als Geschäftsmann seine Rolle im Wirtschaftsgeschehen verstehen. Dann aber würde man einsehen, dass Inserate ein unverzichtbares und wirksames Hilfsmittel für den eigenen Erfolg im Rahmen einer prosperierenden Gemeinschaft seien.

Der Inhalt dieser Anzeige machte schon deutlich, dass die Serie einer inneren Logik, einer nachvollziehbaren Argumentation folgte. Die korrekte Reihung war für den Erfolg also wichtig, ebenso das Ausschneiden, Aufheben und nachträgliche Bedenken der einzelnen Anzeigen. Und die meisten Zeitschriften veröffentlichten die Serie in der vorgesehenen Reihenfolge. Das in Dortmund-Hörde erscheinende „Volksblatt“ begann dagegen mit dem letzten Motiv, druckte das erste Motiv gar als Abschluss (Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 4; ebd., Nr. 22 v. 26. Januar, 12). Andere Zeitungen begannen mit späteren Motiven, gingen dann zum gewünschten Reihenabdruck über (Velberter Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 8). Weitere wiederum unterbrachen die vorgegebene Abfolge. Dies waren Ausnahmen, zumeist folgte der Abdruck willig den Vorgaben.

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Motiv 4: Werbehilfe durch die Anzeigenmittler (Ottendorfer Zeitung 1935, Nr. 5 v. 11. Januar, 4)

Das vierte Motiv griff die Abwägung des vorherigen Inserates wieder auf. Gegen die Skepsis vor Ort setzte sie nun aber die professionelle Unterstützung: Siehe, Du bist nicht allein, denn wir, der Reichsverband der Anzeigenmittler, haben eine Broschüre mit allen wichtigen Informationen zusammengestellt. Sie weise nicht nur „den rechten Weg“, sondern sei auch „vollkommen kostenlos“ erhältlich. Das Motiv präsentierte den neuen Staat und seine Institutionen als sorgende und zugleich besorgte Instanz: Der Einzelne sei im neuen Volksstaat nicht allein, sondern könne sich auf die Hilfe der Gemeinschaft verlassen. Darin liege allerdings auch eine Pflicht. Wer nicht auf den fahrenden Zug springe, sei selbst schuld, vergehe sich gegenüber sich selbst und der hilfswilligen Gemeinschaft.

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Motiv 5: Unterstützung durch die Werbefachleute (Kölnische Zeitung 1935, Nr. 27 v. 15. Januar, 4)

Dieses Motiv der Hilfe und Unterstützung – die wirtschaftlichen Effekte wurden völlig ausgeblendet – wurde in der fünften Anzeige geweitet. Neben die Anzeigenmittler traten nun auch die Werbefachleute selbst. Mit deren Hilfe könnten auch größere Unternehmen passgenau werben; und diese Profis hätten Spezialisierungsvorteile, entwickelten erfolgsversprechende Ideen. Sie seien nicht nur auf ein einzelnes Unternehmen begrenzt, sondern vermöchten durch ihre breiteren Kenntnisse von Markt und Verbraucherseele Wege zu weisen, die dem Einzelnen erst einmal fremd seien. Dieser Rat sei nicht kostenlos, gewiss. Doch er werde sich rechnen, für Firma und Volk.

Halten wir angesichts derartiger Beschwörung von Hilfsinstanzen kurz inne. Die Kampagne wurde durch den Reichsverband der Anzeigenmittler initiiert, doch im Rahmen des Werberates umgesetzt. Der Abdruck der vom Reichsverband gelieferten Werbeklischees erfolgte kostenlos, war zugleich aber Dienstleistung für andere Werbetreibende. Das unterstrich ein Gemeinschaftshandeln der Fachleute, bot ein Vorbild für den Umgang auch der Geschäftsleute untereinander. Allerdings spiegelten die Anzeigen nicht immer die Federführung der Anzeigenmittler: Das Dreieck in der linken Ecke war zumeist Bestandteil der Anzeige, mindestens ein Achtel der von mir herangezogenen Vorlagen druckte dieses jedoch nicht mit ab (etwa Wittener Tageblatt 1935, Nr. 2 v. 5. Januar, 2; Bergische Landes-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 1; Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 8). Die am rechten unteren Rand verzeichnete Motivnummer fehlte ebenfalls ab und an, allerdings seltener als das Dreieck des RAM (Oberbergischer Bote 1935, Nr. 17 v. 21. Januar, 12).

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Motiv 6: Die wirksame Anzeige (Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Das sechste Motiv fächerte das Gemeinschaftsgebot für die Inseratenwerbung weiter aus, nun wurden auch die Zeitungsverlage erwähnt. Bei den Fachleuten herrschte scheinbar Eintracht und Hilfsbereitschaft – und die Anzeige machte dem Werbetreibenden Mut, dass auch sein Beitrag erfolgreich sein könne. Der Einzelne war eingewoben und trotzdem speziell – so wie die Anzeige in der Zeitung.

Auch hier noch eine Ergänzung: Die Motive wurden zumeist in regelmäßigen drei- bis viertägigen Intervallen geschaltet. Ausnahmen bestätigten die Regel, etwa die parteiamtliche NSDAP-Zeitung „Bremer Zeitung“, die mit dem Abdruck spät begann, dann die Motive 2 bis 7 innerhalb von acht Tagen veröffentlichte, ehe nach drei weiteren Tagen die Serie ihren recht frühen Abschluss fand. Zu beachten ist auch, dass die Motive hier gleichsam rein präsentiert werden: Die große Mehrzahl erschien in der Tat ungerahmt, doch es gab auch solche mit Ober- und Unterstrichen (Karlsruher Tagblatt 1935, Nr. 21 v. 21. Januar, 8), Seitenbalken (Bremer Zeitung 1935, Nr. 23. v 23. Januar, 4) oder Komplettrahmen (N.S. Volksblatt für Westfalen 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 8). Die Normierung der Anzeigen durch den Werberat schuf eine gewisse Normierung im Anzeigenteil, nicht aber vollständige Uniformierung.

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Motiv 7: Badehosen am Nordpol oder Zielgruppenfindung (Badische Presse 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 16)

Damit kommen wir schließlich zum siebenten Motiv, dem Fundstück, das diese Tiefenbohrung in Gang setzte. Ja, Werbung für Badehosen war am Nordpol offenkundig unangemessen. Werbung benötige eine innere Begrenzung, bedürfe klarer Zielgruppen, müsse sich auf die Medien konzentrieren, mit denen diese angesprochen werden könnten. Auch hierfür gab es Hilfe, denn die Anzeigenmittler kannten nicht nur den Markt, sondern auch die Medien und ihre Publika. Der Anzeigenappell ging dem Ende entgegen, die federführende Organisation hob ihre Kompetenz nochmals gebührend hervor.

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Motiv 8: Die Partner nachhaltiger Wirtschaftswerbung (Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 27 v. 27. Januar, 12)

Das achte und letzte Zeitungsmotiv fasste den kleinen Serienkurs nochmals zusammen: Es griff die Skepsis gegenüber der Werbung auf – die man wohlweislich nicht „Reklame“ nannte, denn dieser Begriff war Teil der überwundenen ungezügelten „liberalen“ Marktwirtschaft. Zugleich aber plädierten die Macher für einen Vertrauensvorschuss gegenüber der neuen Ära der Werbung, gegenüber den staatlich zugelassenen Fachleuten und dem NS-Staat als Ordnungsmacht. Sie lenkten die Aufmerksamkeit neuerlich auf das kostenlose Vertiefungsmaterial der Anzeigenmittler. Der Werbetreibende hatte durch die Serie nicht nur Anregungen erhalten, sondern auch Kontaktadressen. Zwischen Erfolg und Misserfolg stand nurmehr der Einzelne, der durch die Serie gewappnet wurde, um die Kraft der Werbung auch für sich wirken zu lassen. Anzeigenwerbung wurde nicht befohlen, doch ein um das Volkswohl und das eigene Fortkommen bemühter Geschäftsmann würde den neuzeitlichen Gesetzen wirtschaftlicher Kommunikation folgen. Wer sich anders entschied, würde die Konsequenzen seines Zauderns und Fehlens selbst tragen müssen.

Der Anzeigenappell des Reichsverbandes der Anzeigenmittler richtete sich vorrangig an Zeitungen, darin erschien er reichsweit und fast flächendeckend. Daneben gab es zwei weitere Motive für Zeitschriften. Es ist unklar, ob sie in gleichen Umfang erscheinen sollten. Sie boten jedenfalls eine konzise Zusammenfassung der Zeitungskampagne, präsentierten die Anzeige als „Heilmittel“ gegen die wirtschaftliche Krise, gegen die Stagnation des eigenen Geschäftes. Und sie verwiesen deutlicher auf die kostenlose Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“. In den Zeitschriften im Januar und Februar 1935 aber finden sie sich nur selten (Mitteilungen an die Mitglieder der Hahnemania 1934, 4; Neue Bienen-Zeitung 34, 1935, 32; Westermanns Monatshefte 1935, 96; Illustrirte Zeitung 184, 1935, 90). Zeitschriftenanzeigen folgten einer anderen Werbelogik, ihre teils wöchentliche, vielfach aber auch nur monatliche Erscheinungsweise erlaubte nicht die intensive Verdichtung einer Kampagne. Emmerich Huber illustrierte auch diese Anzeigen, doch die Zeichnungen traten gegenüber dem Text deutlich zurück. Der Anzeigenappell erfolgte vorrangig in Zeitungen, zudem in der auch andernorts angebotenen Broschüre.

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Zwei Motive für Zeitschriften – nicht mehr (Marienbote 18, 1935, Nr. 2, 16 (l.); Jugend 35, 1935, 61)

Flankenschutz und Vertiefung: Die Broschüre „Anzeigen helfen verkaufen“

Nimmt man die Broschüre zur Hand, so fühlt man sich an den Lateinunterricht erinnert: Repetitio delectat. Sie wiederholte im Wesentlichen die Kernargumente der Anzeigen, vertiefte sie ein wenig, war aber mehr Beschwörung als ein Für und Wider der Anzeigenwerbung. Eine klare Gliederung fehlte, die Broschüre erscheint als Nacheinander von Textbausteinen. Am Anfang stand ein Überblick verschiedener Werbemittel, der sich aber rasch als Lob der Anzeige entpuppte (3-6). Sie galt als Königsweg zum deutschen Verbraucher, stand daher zurecht im Mittelpunkt des Werbegeschehens (6-7). Ein längerer praktischer Teil folgte, in dem die Inserate nach verschiedenen Zielsetzungen unterschieden, der mögliche Aufbau dargeboten wurde. All das war präsentistisch, diente dem Einschwören auf Standardlösungen, auf die erforderliche Hilfe durch Fachleute (7-14). Es ging dabei nicht um unmittelbare ideologische Einbindung, denn diese war durch die Auswahl der Fachleute und den wirtschaftspolitischen Rahmen ohnehin gegeben. Der Ton war sachlich, argumentativ, nannte und kannte allerdings kaum Alternativen. Bemerkenswert war die immer wieder aufscheinende ökonomische Engführung: „Die Umsatzsteigerung ist der einzige Wertmesser des Werbeerfolgs.“ (13) Nur Fachleute könnten derartigen Werbeerfolg „garantieren“ – allerdings nicht ohne Risiko. Wichtig sei der Wille zur Werbung – ansonsten aber hieß es „loswerben!“

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Die offizielle Broschüre des Reichsverbands der Anzeigenvermittler (Anzeigen, 1935, I; ebd., 1)

Ausführungen zum Werberat und seinem bisherigen Wirken schlossen sich an (15-17), gefolgt von der Beschreibung der Aufgaben und ständischen Position der Helfer, der „Fachleute“, der Werbeberater, der Anzeigenmittler und der Verlagsvertreter (18-20). Es folgten Adressenlisten einerseits der regional ansprechbaren Werbegestalter (21-24), dann auch der zugelassenen Anzeigenmittler (25-29). Die Broschüre endete mit den zehn Motiven des Anzeigenappells. Zuvor dominierte der Text, auch wenn einzelne Zeichnungen Emmerich Hubers diesen auflockerten und Lücken füllten.

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Anzeigen als Brücke zwischen Konsumenten und Werbetreibenden (Anzeigen, 1935, 24 (l.); ebd., 2)

Trotz der hohen Intensität der Anzeigen, trotz ihrer zeitweilig großen Alltagspräsenz ist unklar, wie viele Exemplare der Broschüre gedruckt, wie viele nachgefragt wurden. Die Zahl heutiger Antiquaritätsangebote ist überschaubar, der Preis von 9 bis 15€ höher als der gängiger Massenbroschüren; das ist nicht unbedingt ein Ausdruck späterer Millionenauflagen, etwa im Umfeld der Kampf-dem-Verderb-Kampagnen oder aber der Anleitungen zum richtigen Heizen. Die Broschüre war schwarz-weiß gehalten, erschien auf gängigem Druckpapier, keinem Tiefdruck. Die Konsumenten wurden zwar immer wieder indirekt beschworen – man war schließlich deren Sachwalter –, doch wie in der Anzeigenserie selbst waren sie nicht präsent. Die Broschüre stammte von einer nationalsozialistischen Körperschaft, vermied aber eine zu offenkundig ideologische Einbettung, die dröhnende NS-Propaganda. Es galt schließlich Zurückhaltung aufzubrechen, einvernehmlich für die eigene Sache zu werben.

Die Kampagne nährt die Massenkampagne: Eigenwerbung der Zeitungen

Der Anzeigenappell wurde reichsweit durchgeführt, war Bestandteil der meisten Zeitungen, nicht aller. Er präsentierte den Reichsverband deutscher Anzeigenmittler einer breiteren Öffentlichkeit, wandte sich dabei vorrangig an Werbetreibende, weniger an die Konsumenten. Als solcher scheint er nicht sonderlich bedeutsam gewesen zu sein: Zehn Anzeigen, ein Monat intensives Trommeln für die Inseratenwerbung – welchen Effekt soll das gehabt haben? Solche Engführungen unterschätzen jedoch die Folgen einschlägiger Kampagnen. NS-Kampagnen waren materialisierte Vorgaben, deren Ausgestaltung von den Volksgenossen – hier den Zeitungsverlegern und Inserenten – selbst unternommen werden sollte. Dahinter stand die Idee eines von einzelnen Institutionen verkörperten Volkswillens, der in Gang gesetzt werden musste, dann aber eigenmächtig wirkte. Dies war Teil deutschen Selbstbewusstseins, deutschen Idealismus: Theodor Körners (1791-1813) nachgelassene Zeile „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“ war Anfang des 19. Jahrhunderts Ausdruck des freiheitlichen Aufbegehrens gegen die französische Fremdherrschaft (Männer und Buben, in: Theodor Körners Gedichte, Bd. 1, Stuttgart 1818, 199-201, hier 201). In der Goebbelsschen Sportpalastrede vom 18. Februar 1943 wurde sie umformuliert und als Mobilisierungsappell genutzt. Appelle gaben vor, das Handeln sollte, ja musste folgen. Dieser simple Mechanismus war eine der wichtigsten Grundlagen der destruktiven Dynamik des NS-Regimes.

Anzeigen waren damals eben nicht Ausdruck einer kommerziellen Mittel-Zweck-Relation, sondern Ausdruck völkischer Verbundenheit: „Es ist so mühelos Deiner Zeitung zu nützen. Berufe Dich bei allen Einkäufen auf die Anzeigen in Deiner Zeitung (Neusser Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8). Die Begleitappelle zielten auf die Nähe zur Heimatzeitung, mit „unserer“ Zeitung, mit dem großen, wohligen „Wir“. Das war ein Geben und Nehmen: „Der Anzeigenteil einer Zeitung ist der beste Berater. Tausende treffen ihre Wahl nach den Zeitungsanzeigen. Das weiß der fortschrittliche Geschäftsmann deshalb inseriert er!“ (Buersche Zeitung 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 8) Der Anzeigenappell gründete auf etwas Überpersönlichem, etwas Gemeinschaftsbildendem. Er setzte auf die Volksgemeinschaft, war Ausfluss der willig geglaubten NS-Parole „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Allerdings war die Grenzziehung schwierig, da parallel immer auch Artikel aus den USA über die Erfolge kommerzieller Selbstwerbung veröffentlicht wurden, da Amerika immer auch als Land gewürdigt wurde, das den Wert der Zeitungsanzeige umfassend verstanden habe („Ich bin faul, unzuverlässig, unehrlich“, Werner Zeitung 1935, Nr. 2 v. 2. Januar, 8; Dortmunder Zeitung 1935, Nr. 15 v. 10. Januar, 6). Entsprechende rein ökonomisierte Formulierungen gab es: „An die Kundschaft heran durch Zeitungsanzeigen, die unter allen Werbearten den 1. Rang einnehmen“ (Neusser Zeitung 1935, Nr. 3 v. 3. Januar, 10; ebd., Nr. 27 v. 27. Januar, 5). Doch die Anzeigen und die Broschüre des Reichsverbandes der Anzeigenmittler wollten Anfang 1935 Werbung und Zeitungen durchaus völkisch aufladen.

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Kleine Schläge ins Gehirn: Werbungswerbeanzeigen (Stadtzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1935, Nr. 32 v. 2. Februar, 10 (beide oben); Die Uhrmacherkunst 60, 1935, Nr. 35, Beil., 8 (Mitte, l.); Bergische Zeitung 1935, Nr. 24 v. 29. Januar, 12 (Mitte, r.); Weißeritz-Zeitung 1935, Nr. 19 v. 23. Januar, 4)

Im Januar 1935 waren die deutschen Zeitschriften daher voller Inserate für die Zeitungswerbung: Sie klangen stakkatohaft, schienen nicht still zu stellen: „Anzeigen helfen kaufen und verkaufen“, „Anzeigen helfen gegen Umsatzrückgänge“, „Anzeigen helfen aufbauen“, „Zeitungs-Anzeigen helfen richtig kaufen und verkaufen!“, „Kleine Anzeigen helfen auch Ihnen“, „Bewußt werben! Klug werben! Durch Zeitungsanzeigen werben!“ Sie wollen mehr? Kein Problem: „Die Bearbeitung Tausender von Interessenten und Käufern jeden Alters erreichen sie durch eine Zeitungsanzeige“, „Dauernde Werbung hebt das Geschäft! Wir machen es dem Geschäftsmann leicht, regelmäßig durch die Zeitungsanzeige zu werben“, „Die beste Reklame ist und bleibt die Zeitungsanzeige“, „Unerreicht an Wirksamkeit ist von allen Reklamemitteln die Zeitungsanzeige.“ Die Kleininserate für die eigene Sache, für das Wohlergehen der Zeitungen (und damit der Leser) erschienen in immer neuen Formulierungen: „Die Zeitungsanzeige ist ein Verkaufsgespräch!“, „Versuche es auf jeden Fall! Die Zeitungsanzeige hilft überall!“, „Erfolg, Umsatz, Gewinn – wo dies groß geschrieben wird, ist man auch von der Werbekraft der Zeitungs-Anzeige überzeugt“, „Vertrauen Sie der hohen Werbekraft der Zeitungsanzeige“. Es klang wie eine Schallplatte mit Sprung, war die Variation des Immergleichen.

Dieses Begleitrauschen war lauter und sinnesbetörender als die eigentliche Kampagne des Reichsverbandes der Anzeigenmittler. Es kumulierte im Inventurausverkauf, der am 28. Januar 1935 begann: „Versäumen Sie unter keinen Umständen die Gelegenheit, durch zugkräftige Anzeigen […] Ihr Geschäft während dieser Inventur-Verkauf-Tage günstig zu belegen. Wer nicht durch Zeitungs-Anzeigen sagt, was er zu verkaufen hat, wird beim Einkauf übersehen! Wer nicht inseriert, wird vergessen!!“ (Sauerländisches Volksblatt 1935, Nr. 20 v. 24. Januar, 7). Nun fand man ergänzende Worte, zumeist für den deutschen Kaufmann: „Die billigste und beste Werbung, die dem Kaufmann zur Verfügung steht, ist die Anzeigenwerbung. Durch die Zeitungsanzeige ist die Möglichkeit gegeben, an die Käufer in all ihren Schichten heranzukommen. Diese müssen über die Vorteile, die der Inventurverkauf bietet, aufgeklärt werden. Und diese Aufklärung geschieht einfach und billig durch die Zeitungsanzeige“ (Gelsenkirchener Zeitung 1935, Nr. 24 v. 25. Januar, 10). Zugleich aber erging der Appell an die Kundinnen: „Die Hausfrau tut gut, wenn sie nicht wahl- und planlos kaufen will, vorher genau die Zeitungsanzeigen zu verfolgen und sich eine Liste über die Dinge anzufertigen, zu deren Kauf sie sich entschlossen hat. Natürlich muß diese Liste im Einklang mit dem Geldbeutel stehen. Kaufen schafft Arbeit!“ (Inventurverkäufe, Wittener Tageblatt 1935, Nr. 23 v. 28. Januar, 3).

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Einer Dauerschleife abstrakten Nutzens (Velberter Zeitung 1934, Nr. 355 v. 29. Dezember, 8 (l.); ebd. 1935, Nr. 22 v. 23. Januar, 8)

Zeitungsinserate wurden als einfaches und zugleich modernes Hilfsmittel präsentiert: „Der Mensch von heute bedient sich bei jeder passenden Gelegenheit der Zeitungsanzeige“ (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 28 v. 28. Januar, 7). Die Anzeige wurde naturalisiert, metaphorisch mit der Nordorientierung des Kompasszeigers verglichen (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 26 v. 31. Januar, 4). Selbstverständlich durfte die „Wissenschaft“ dabei nicht fehlen: Anzeigen präsentierten die Quintessenz einer Studie des Berliner Psychotechnikers und NSDAP-Mitglieds Walther Moede (1888-1953), aus der hervorgehen sollte, „daß das weitaus zugkräftigste und erfolgreichste Werbemittel die Zeitungsanzeige ist“ (Bergische Wacht 1935, Nr. 2 v. 4. Januar, 2). Daher sollten Geschäftsleute auch nicht allzu viel experimentieren, denn das koste nur Geld. Anzeigen waren wirksam und einfach, die Anzeigenmittler würden ihre Brückenfunktion preisgünstig erfüllen (Rheinisches Volksblatt 1935, Nr. 1 v. 5. Januar, 6). Derartige Eigenwerbung wurde zugleich auf die eigene Zeitung gelenkt, somit die Bande zwischen Inserenten, Leserschaft und Verlagen gestärkt. Das galt auch für die vielgestaltigen Kleinanzeigen, also die gleichsam private Welt der Diktatur.

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Anzeigenlenkung auf die eigene Zeitung (Duisburger General-Anzeiger 1935, Nr. 4 v. 4. Januar 1935, 15 (l.); Der Gemeinnützige 1935, Nr. 1 v. 2. Januar, 12 (Mitte, o.); Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 10 (Mitte, u.); Bremer Zeitung 1935, Nr. 20 v. 20. Januar, 12)

Derart kleinteilig, pseudofreiheitlich blieb es allerdings nicht: Die Werbung für das Inserat machte den einzelnen als Schmied seines eigenen wirtschaftlichen Glückes verantwortlich. Nicht die auf die Mitarbeit des Einzelnen setzende staatliche Wirtschafts- und Währungspolitik war für Umsatzrückgänge oder fehlenden Erfolg verantwortlich, sondern die fehlende Werbeinitiative im Rahmen der ja weiterhin laufenden „Arbeitsschlacht“. Einerseits schien der Weg klar: „Man kann alles durch die Zeitungsanzeige verkaufen!“ (Gevelsberger Zeitung 1935, Nr. 2 v. 3. Januar, 5). In der seit Jahren andauernden Krise habe sich die Kluft zwischen Handel, Gewerbe und Verbrauchern vergrößert, doch nun, im laufenden Aufschwung, müsse man sie wieder verringern, mit frischem Mut die Anzeige als „sicherste Brücke von Produzenten zum Konsumenten“ nutzen (Bürener Zeitung 1935, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Anderseits sei der Einzelne dafür verantwortlich, die Reserven des Marktes für sich und die allgemeine Wohlfahrt zu nutzen: „Alles mobil machen! Ihre Reserven heranholen. Auch den säumigsten Käufer für Ihr Haus, für Ihre Waren interessieren!“ (Zeno-Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 4) Erfolg erfordere einen Mentalitätswandel, hin zum Dienst am Kunden, hin zur stetigen Kundenwerbung mittels Annonce (Bochumer Anzeiger 19355, Nr. 6 v. 8. Januar, 11).

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Teil der Arbeitsschlacht: Werbung für Anzeigen in der Tageszeitung (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 10)

Die damalige Wirtschaftskrise wurde nur selten direkt benannt, stattdessen die Verantwortung des Einzelnen hervorgehoben. Werbung war Kernelement der Arbeitsschlacht des Handels, des Gewerbes. Und Marktbeobachtung der Beitrag des Verbrauchers.

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Sonderkampagnen vor Ort: Frau Schlauberger als fiktives Bremer Vorbild (Bremer Zeitung 1935, Nr. 25 v. 25. Januar, 4 (l.); ebd., Nr. 26 v. 26. Januar, 4)

Der Anzeigenappell der Reichsverbandes der Anzeigenmittler war somit Ausgangspunkt und Referenz einer wesentlich umfangreicheren Selbstmobilisierung der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft. Er wurde flankiert vom üblichen Storytelling, etwa über die Geschichte der Kleinanzeige (Kuriositäten aus der „Zeitungskiste“, Gütersloher Zeitung 1935, Nr. 3 v. 4. Januar, 5). Vor Ort wurden eigene Werbefiguren ersonnen, die kaufenden und verkaufenden Stände gleichsam an die Hand genommen, auf ihre wechselseitigen Verpflichtungen füreinander verwiesen. „Kleinigkeiten – auf die es ankommt…“ hieß eine Serie in der Gevelsberger Zeitung. Das war die vom NS-Regime gewünschte Eigeninitiative. Sie ging einher mit üblichen Kaskadeneffekten. Auch die Werbung für Werbemittel wurde intensiviert: „Gedrucktes Wort ist Werbekraft, das ständig neue Arbeit schafft!“ (Velberter Zeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 8)

Begrenzter Erfolg und weitere Werbung

Insgesamt steigerte die Werbewirtschaft seit 1934 ihre Umsätze deutlich. Die Ausgaben für Inserate stiegen von 258 Mio. RM 1934 über 276,1 1935 und 305,9 1936 auf 336,1 Mio. RM 1937 (Westphal, 1989, 60). Auch die Annoncen-Expeditionen fassten wieder Tritt, konnten ihren Anteil am Werbekuchen allerdings nicht wirklich ausbauen: Nach Angaben des Werberates stiegen ihre Umsätze von 47,3 Mio. RM (1934) über 64,1 (1935), 73,2 (1936) und 78,9 (1937) bis auf 93,5 RM (1938) (Reinhardt, 1993, 117). Dies war gewiss nicht auf den Anzeigenappell zurückzuführen, denn das damals viel diskutierte nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schlug letztlich auch auf die Konsumgütermärkte durch. Doch er war Teil einer nicht nur propagandistischen Kraftanstrengung, die psychologisch wirkte.

Die Auflagenverluste der Tageszeitungen setzten sich bis 1937 moderat fort. Danach nahm sowohl die Druck- als auch die Verkaufsauflage der deutschen Zeitungen aufgrund der Okkupation Österreichs, des Sudetenlandes und der sog. Resttschechei zu (Gesamtauflage, 1940, 374-376), während die Relation Auflage und Bevölkerung weiter sank. Die Zeitungsverleger initiierten 1936/37 resp. 1939 (in Österreich) dagegen die von Albert Schaefer-Ast (1890-1951) gezeichnete Herr Hase-Kampagne, konnten damit aber keinen durchschlagenen Erfolg erzielen. Generell nahm die Bedeutung der Tageszeitungen weiter ab: Die NSDAP übernahm immer mehr Blätter, während die Zahl der Zeitungstitel insbesondere 1935/36 nochmals deutlich abnahm. Innerhalb der deutschen Presse wurde der Kampf gegen den inneren Feind, gegen vermeintliche Kritikaster in weiteren Kampagnen verstetigt. 1939/40 galt das für „Herr und Frau Spießer“ von dem auch in der Nachkriegszeit sehr erfolgreichen Gerhard Brinkmann (1913-1990), 1941/42 dann für die Kampagne „Herr Bramsig und Frau Knöterich“, zu der mehrere Graphiker beitrugen.

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Vorgaben für ein geordnetes Anzeigenwesen während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 15 v. 18. Januar, 38)

Die Eigenwerbung der Zeitungen wurde großenteils verstetigt, vom Werberat zugleich durch immer neue Vorgaben und Ratschläge ergänzt (vgl. etwa Aug[ust] Hans Brey und Fritz Gerathewohl, Werben und Verkaufen im Kunstgewerbe- und Hausrathandel, Bamberg 1937). Werbung wurde eine Pflicht des „deutschen Handels“, diente insbesondere ab 1937 in immer neuen Figurationen der Verbrauchslenkung, die Blaupausen auch für heutige Kampagnen für „gesunde Ernährung“ oder aber die Reduktion der Lebensmittelabfälle schuf.

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Anzeigenkurse in der Tageszeitung (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 130 v. 13. Mai, 16 (l.); Westfälischer Kurier 1936, Nr. 136 v. 19. Mai, 4)

Die Rahmensetzung des Werberates begünstigte zudem eine wachsende Zahl von Werbelehrgängen oder Werbetipps, die immer wieder die Anspruchshaltung an Konsumenten, vor allem aber an die werbetreibende Wirtschaft transportierten: Man habe „einen Schlußstrich gezogen unter die Methoden marktschreierischer Anpreisungen mit ihrem vielfachen Hang zur Täuschung und Unwahrheit, so daß es besonders dem kleinen Geschäftsmann wieder möglich gemacht wurde, seine auf dem Wahrheitsprinzip aufgebaute Werbung im Anzeigenteil der Tageszeitungen zur verdienten Beachtung zu bringen.“ Nun aber müsse gehandelt werden: „Werbung tut not! Anzeigen helfen verkaufen!“ (Beide n. Anzeigen helfen verkaufen! Weihnachtswerbung von Einzelhandel und Handwerk, Bremer Zeitung 1936, Nr. 333 v. 30. November, 7). Die den Anzeigenappell prägende Parole „Anzeigen helfen verkaufen“ sollte bis in die 1970er Jahre ein gängiger Slogan bleiben.

Uwe Spiekermann, 13. Mai 2024

Familie Pfundig meistert den Krieg – Alltagshilfe und NS-Propaganda

1940, zu Beginn der „Luftschlacht um England“, dem Angriff des Deutschen Reiches auf die britische Hauptinsel. Kriegsberichterstatter Hans-Herbert Basdorf berichtete begeistert von einem Fliegerhorst: „Immer wieder, wenn er dazu ansetzen will, wird die Tür seiner Stube aufgerissen. Ein braungebrannten Kopf guckt durch den Türspalt und ruft ihm das Wort ‚pfundig‘ zu. Was ist denn pfundig, erkundigt er sich verärgert. Na, hast Du es nicht gehört. Nein! Nun, wir fliegen nach London“ (Metropolis auf einem Vulkan. Londons Feuerschein über dem Kanal, Haaner Zeitung 1940, Nr. 217 v. 14. September, 6). Der Krieg, eine offenbar pfundige Sache. Nun ja, Kriege heißen heute militärische Spezialoperationen, Interventionen oder Friedensmissionen, Kriegsbeteiligungen gelten als Sanktionen oder Waffenlieferungen. Doch pfundig?

Fündig wird man doppelt: Zum einen sprachlich, im Worte „pfundig“ selbst. Zum anderen aber sachlich, denn nur wenige Monate vor dem Abnutzungskrieg der deutschen und britischen Luftwaffen hatte „Familie Pfundig“ vielen Deutschen freundliche Ratschläge für einen gedeihlichen Umgang mit den Problemen im Kriegsalltag gegeben. Die Anfang 1940 laufende Kampagne ist offenkundig nicht mehr bekannt, in der Fachliteratur fehlt sie in der langen Reihe der gern gestriffenen, selten näher behandelten NS-Propagandaaktionen. Nicht nur angesichts unserer heutigen Bemühungen um die Bewältigung von Kriegsfolgen scheint ein Blick in die Vergangenheit daher sinnvoll zu sein.

Der Weltkrieg verändert den Alltag

Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen angriffen, waren die wichtigsten Maßregeln für eine weiter leistungsfähige Heimatfront schon in Gang gesetzt worden. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zu vielfältigen Planungen geführt, um die damaligen Fehler insbesondere bei der Rationierung zu vermeiden. Dazu gehörten nicht nur eine umfassende Vorratswirtschaft und die Entwicklung zahlreicher als „Austauschstoffe“ bezeichneter Ersatzmittel im Rahmen des seit 1936 laufenden Vierjahresplanes. Dazu gehörte insbesondere eine schon am 27. August 1939 beginnende Rationierung der meisten Lebensmittel und vieler Gebrauchsgüter. Der kriegerische Staat gab sich sorgend: „Um eine gerechte Verteilung lebenswichtiger Verbrauchsgüter an alle Verbraucher sicherzustellen, ist für gewisse Lebensmittel, ferner für Seife und Hausbrandkohle sowie lebenswichtige Spinnstoffwaren und Schuhwaren eine allgemeine Bezugsscheinpflicht eingeführt worden“ (Bezugsscheine garantieren Bedarfsdeckung für jedermann, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 240 v. 28. August, 7). Textil- und Schuhgeschäfte wurden zeitweilig „wegen Inventur“ geschlossen, Brot, Kartoffeln und Mehl waren dagegen noch frei käuflich. Obwohl Polen (im Einklang mit der UdSSR) rasch geschlagen werden konnte, stand der offenkundig verlustreichere Waffengang mit den Westmächten noch bevor. Diese hatten ihre anfangs massive Überlegenheit nicht genutzt, stattdessen gab es einen vielmonatigen „Sitzkrieg“ mit relativ begrenzten Kampfhandlungen vornehmlich von Marine und Luftwaffe. Er war begleitet von intensiven Luftschutzmaßnahmen, von Verdunkelung gemäß der schon im Mai 1939 erlassenen Verordnung. Allen Vorbereitungen zum Trotz veränderte sich der Alltagskonsum nicht unerheblich, denn die für den Kampf um die „Sicherheit des Reiches und seine Rechte“ (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 245 v. 2. September, 3) mobilisierten Männer fehlten: Die Werbung wurde langsam zurückgefahren, es mangelte an Gebrauchsgütern, auch die Qualität vieler Angebote ließ zu wünschen übrig. All das, so wurde versichert, wäre nur vorläufig – und wurde begleitet vom gängigen Arsenal der Kriegspropaganda: Wir wollen den Krieg nicht, die Gegner tragen dafür die Verantwortung, unsere Sache ist gerecht, die Mission heilig, unsere Berichterstattung ehrlich und nicht in Zweifel zu ziehen (Anne Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2004; Arthur Ponsonby, Falsehood in War-Time, London 1928). Zweifel und etwaige Kritik waren zu zerstreuen, Mut angesichts der kleinen Hürden des Alltags zu machen: Das war auch die Aufgabe der Pfundigs: „Die Familie Karl Pfundig / Ist fürwahr des Lebens kundig, / Weil sie innerlich begeistert, / Alle kleinen Sorgen meistert! Wie die Pfundig’s stets zufrieden, / Stolz an ihrem Glücke schmieden, / Ungestört von kleinen Dingen, / Wollen wir in Bildern bringen. Was die Pfundig’s noch erleben, / Gilt auch für dein eignes Streben!“ (Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 8 v. 6. Januar, 5). Der Tenor klang bekannt: Krisen seien Bewährungsproben, vielleicht gar Chancen. So nur zwei Jahre später auch der US-Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975) in seinem Drama „Wir sind noch einmal davongekommen“, hierzulande eines der wichtigsten Stücke nach der totalen Niederlage 1945.

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Die biedere Familie Pfundig (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 1 v. 5. Januar, 5)

Das Wortfeld „pfundig“

Familie Pfundig kam bieder daher, entsprach schon dadurch nicht der vermeintlichen Freude und Hochspannung von Kampffliegern vor dem Einsatz. Bei den fünf Familienmitgliedern – Vater Karl, den Kindern Inge, Fritz und Max sowie Mutter Emma – handelte es sich offenbar um ganz normale Deutsche, um den idealisierten Bevölkerungsdurchschnitt. Mit ihnen konnte man sich identifizieren, in ihnen sich wiederfinden. Was aber besagte der Name „Pfundig“?

Das Wort ist süddeutschen, vorrangig südwestdeutschen Ursprungs, bedeutet „großartig, außergewöhnlich, außerordentlich“ (Bayerisches Wörterbuch, Bd. II, hg. v. d. Kommission für Mundartforschung, München 2021, 706). Es entstand aus der bis heute bekannten Gewichtsbezeichnung, die präzise daherkam, etwa beim 5-pfündigen Brot. Doch pfündig war auch ein auf schweres, auf ansprechendes hinweisendes Eigenschaftswort, etwa bei pfündigen Forellen oder – und hieran sehen wir die einfache Verschiebung des einen Vokals – bei pfundigen Karpfen. Derartige Teichfische waren gewichtig, man freute sich sprachlich vorab schon auf ein gutes, weil mehr als auskömmliches Essen. Pfündig war lange auch Teil der Militärsprache, bezeichnete die Geschossgröße von Mörsern und Kanonen. Angesichts immer schwererer Munition lief diese Verwendung aber spätestens im Ersten Weltkrieg aus.

Pfündig wurde in der folgenden Zwischenkriegszeit inhaltlich neu aufgeladen und die Schwierigkeiten in Deutschland mit dem ü und dem u (Benutzer vs. Benützer…) ließen das Pfundige im Süden aufkommen, ehe es sich dann auch im Norden und Osten etablierte. Entsprechend habe ich vorrangig badische Zeitungen analysiert, in deren Verbreitungsraum das Wort Teil der Alltagssprache war: Pfündig wurde schon vor der NS-Zeit ein Begriff des Außeralltäglichen, des Ausfluges, des Erlebnisses: Natürlich durfte das Münchener Oktoberfest nicht fehlen, denn hier gab es auch mitten in der Weltwirtschaftskrise „eine wirkliche und ‚pfundige‘ Gaudi!“ (Badischer Beobachter 1932, Nr. 265 v. 25. September, 3). Ein alpines Studentenheim lud meist gutbürgerliche Skifahrer ein, die sich auf eine pfundige Abfahrt freuten (Badische Presse 1931, Nr. 112 v. 7. März, 7). Auch im Trendsport Kanufahren hoffte man auf eine „pfundige Strömung, heftiger Wellengang, ab und an einen annehmbaren Schwall, prächtige Floßgassen mit mehr oder weniger heimtückischen Widerwellen“, denn so „war immer etwas los“ (Badische Presse 1931, Nr. 270 v. 13. Juni, 6). Die von den Bergfilmen der späten 1920er Jahre näher gebrachten Gipfel wollten erklommen werden, Kletterer erzielten entsprechend pfundige Leistungen im Fels (Badische Presse 1933, Nr. 225 v. 16. Mai, 5).

Hier war das Beiwort aber noch abhängig von Äußerem, von einem besonderen Umfeld. Auch das legte sich in den frühen 1930er Jahren, denn pfundig mutierte zu einem zunehmend beliebigen Beiwort, mit dem man Schwere, Größe und Bedeutung von fast allem wabernd bezeichnen konnte. Es gab plötzlich pfundige Regierungskrisen, pfundigen Applaus, eine pfundige Überschrift (Der Führer 1931, Nr. 136 v. 20. Juni, 1; Karlsruher Zeitung 1931, Nr. 164 v. 17. Juli, 3; Der Führer 1931, Nr. 200 v. 20. September, 5). Der mächtig aufkommende Fußball kam ohne das Attribut kaum mehr aus, Schüsse, Lattentreffer, selbst Niederlagen waren nun „pfundig“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 78 v. 20. März, 7). Sollte aber die Verteidigung pfundig gestanden haben, so war auch eine „pfundige Ueberraschung“ (Badischer Beobachter 1933, Nr. 112 v. 2. Mai, 7; Badische Presse 1934, Nr. 341 v. 23. August, 7) möglich.

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Pfundiges Training, pfundige Cliquen (Badische Presse 1934, Nr. 403 v. 3. November (l.); ebd., Nr. 6 v. 8. Januar, 8)

Was sich freundlich, spielerisch anhörte hatte jedoch auch strikt politische Seiten. Pfundig wurde nämlich auch zu einem anklagenden Wort, das von der NSDAP Anfang der 1930er Jahre vielfach zur Denunziation des vermeintlich korrupten demokratischen „Systems“ genutzt wurde. Subventionsnehmer hatten ein vermeintlich „pfundiges“ Gehalt, lokale Politiker einen entsprechenden Vertrag, die Oberen nahmen sich einen pfundigen Happen aus den öffentlichen Kassen (Der Führer 1931, Nr. 284 v. 17. Dezember, 5; ebd., Nr. 293 v. 29. Dezember, 6; ebd. 1932, Nr. 61 v. 2. März, 6).

Nach der Machtzulassung wurden die öffentlichen Kassen noch stärker geplündert; und so verschwand das Adjektiv aus diesem Felde. Es wurde nun vermehrt mit Gemeinschaftshandeln im NS-Verbund verbunden, zumal in der Hitler-Jugend. Bei den Pimpfen war eine Keilerei Spaß, eine pfundige Angelegenheit, im Zeltlager herrschte pfundige Stimmung, selbst der Schlafsack wurde pfundig inmitten des Rudels (Badische Presse 1934, Nr. 301 v. 7. Juli, 13; Durlacher Wochenblatt 1934, Nr. 187 v. 13. August, 5; Der Führer 1934, Nr. 230 v. 22. August, 6). War pfundig zuvor ein Wort junger Erwachsener, so entwickelte es sich Mitte der 1930er Jahre auch zu einem der Jugend, der Bewegung. Die Jungen nahmen Elemente der bürgerlichen Freizeitkultur der späten 1920er Jahre auf, im Rahmen der zunehmend von der NSDAP dominierten Jugendverbände waren Sport und Reisen angesagt: Am Obersalzberg gab es nicht nur Hitlerplausch und Almenrausch, sondern man traf auch pfundige Mitstreiter (Ebd. 1933, Nr. 195 v. 17. Juli, 7). Eine pfundige Abfahrt lockte, den entsprechenden Sturz steckte man lachend weg (Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 288 v. 11. Dezember, 3; Badische Presse 1934, Nr. 19 v. 12. Januar, 7).

Pfundig war jugendbewegt, das Wort bezeichnete impulsives Leben ohne Intellekt, ohne größeren geistigen Überbau. Es stand für ein einfaches, simples Leben, ohne großes Nachdenken. Pfundig war kein Leben im Wallgraben seines Selbst, es war offen, dynamisch, stand für Teilhabe und Teilnahme, für ein Leben in Gemeinschaft, im völkischen Umfeld. So sollte das Leben sein, instinktiv. Leben als Wollen, Schaffen und Tun. Von Pfundskerlen umgeben glich das Leben einem Rausch, einem Wirbelwind: Im Augenblick leben, nur den nächsten Tag im Blick, die Vergangenheit vergessen, die Zukunft im Vertrauen auf sein Umfeld angehen. So machen das viele bis heute, das Bungeespringen steht dafür.

Der 1939 losgebrochene Krieg schien all dies zu beenden. Und doch dürften viele den Kampf als ultimativen Kick verstanden haben, mochte es einer großen Zahl Deutscher bei Kriegsbeginn auch mulmig gewesen sein. Mehr als zwei Millionen tote deutsche Soldaten waren nicht vergessen, amputierte Beine und Arme markierten Verletzungen, eine halbe Million Kriegsversehrte wurden anerkannt. Noch wusste man um die Nöte und Härten der „Heimatfront“, um die Abmagerung aller. Doch das innere Feuer löschen, die Träume vom pfundigen Leben stillstellen? Just hier setzte „Familie Pfundig“ an, denn sie bot ein anständiges Vorbild im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit. Das innere Feuer konnte weiter brennen, die Träume der eigenen Jugend. Doch Krieg war keine Zeit der Ekstase, sondern des ruhigen, beharrlichen Handelns. Der Feind würde jede Unbedachtheit nutzen, es galt ihm zuvorzukommen – nicht in der Ferne, sondern auf dem Bewährungsgrund Heimat. Die Landser mochten in die Ferne ausschwärmen, bei Widerstand pfundig schimpfen (Der Führer 1939, Nr. 294 v. 24. Oktober, 3). Doch mit pfundiger Kameradschaft und ebensolchen Weisen auf den Lippen würde es schon gehen (Ebd., Nr. 320 v. 19. November, 5; ebd. 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 4). Der nationalsozialistische Reichsfußballtrainer Sepp Herberger (1897-1977) schrieb entsprechend an einen seiner Nationalspieler: „Sie haben ja eine schöne Irrfahrt durch ganz Frankreich gemacht. Aber pfundig muss die Sache gewesen sein“ (Gregor Hoffmann, Mitspieler der »Volksgemeinschaft«. Der FC Bayern und der Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 246). Der Krieg war ein Spiel, mit manch pfundigem Schuss.

Anregungen und Vorbilder

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Herr Hase: Werbekampagnen für Zeitungsabonnements 1936/37 (Westfälische Neueste Nachrichten 1936, Nr. 235 v. 7. Oktober, 6 (l.); Schwerter Zeitung 1937, Nr. 73 v. 30. März, 3)

Die Anfang Januar 1940 einsetzende Kampagne mit „Familie Pfundig“ wurde vom Reichsverband der deutschen Zeitungsverlage in Kooperation mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda durchgeführt. Bezugspunkt und bedingt Vorbild war eine frühere Kampagne der Zeitungsverleger, die ebenfalls kaum mehr bekannte Herr Hase-Kampagne von 1936/37 (Herr Hase als Anzeigenwerber, Zeitungs-Verlag 37, 1936, 720; Herr Hase auf der Anklagebank, ebd. 36, 1937, 135). Dieser Herr, der von nichts wusste, weil er keine Zeitung las, wurde als Negativfigur des unbedarften, am Gemeinschaftsleben nicht teilnehmenden Sonderlings präsentiert, der am Ende zwingend mit dem Gesetz und der Gemeinschaft in Konflikt geriet und seine wirtschaftliche Existenz verlor (Gustav Lange, Schöne Grüße vom Schaefer-Ast (1890-1951). Postkarten und Geschichten für Werbekampagnen im Dritten Reich, Romerike Berge 72, 2022, H. 2, 12-31; unkritisch Werner Greiling, Werbegraphiker und Kunstprofessor in Weimar – Albert Schaefer-Ast (1890-1951), Das kulturhistorische Archiv von Weimar-Jena 1, 2008, 110-138, hier 120-125). Die Auftraggeber reagieren damit auf den massiven Auflagenrückgang der Tagespresse, einerseits Folge der Verbote der SPD- und KPD-Zeitungen und dem Ende auch liberaler Zeitungen, etwa der Vossischen Zeitung 1934. Sie war anderseits aber eine rationale Entscheidung der Leser, die ein zunehmend uniformes Nachrichten- und Propagandaangebot nicht auch noch finanzieren wollten, die sich fern hielten vom betreuten Denken in der vermeintlichen Volksgemeinschaft. Gleichwohl bemühten sich Verleger und Machthaber um höhere Abonnementzahlen, denn darauf gründete nicht nur eine einigermaßen erfolgreiche Verhaltens- und Verbrauchslenkung, sondern auch der Vertrieb zahlloser Angebote und Anzeigen (Norbert Frei und Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 1989, 36-38).

Herr Hase tauchte in zwei längeren Serien Ende 1936 und Anfang 1937 in deutschen Zeitungen auf, wurde nach der halbwilligen Besetzung Österreichs dann 1939 in der „Ostmark“ abermals aufgelegt, dabei mit neuen Motiven ergänzt. Künstlerisch war sie wenig ansprechend, inhaltlich teils peinlich. Die Gründe für das Zeitungslesen waren teils hanebüchen, konnten die strukturellen Defizite einer fast gänzlich gleichgeschalteten und von Presseanweisungen recht genau gesteuerten Zeitungslandschaft ja nicht angesprochen werden (Konrad Dussel, Wie erfolgreich war die nationalsozialistische Presselenkung?, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 543-561). Hinzu kam, dass der 1939 begonnene Krieg für die Presse fast wie ein Konjunkturprogramm wirkte, stiegen die Auflagen doch rasch an, war man durch die Rationierung und die Zivilverteidigung doch von behördlichen Informationen zunehmend abhängig. „Familie Pfundig“ knüpfte daran an. Hans Fritzsche (1900-1953), Leiter der Abteilung „Deutsche Presse“ im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, betonte, diese Serie, ähnlich wie zuvor die Serien über Herrn Hase, solle „generell von allen deutschen Zeitungen gebracht werden“ (Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, 309). Doch sie würde positiv sein, keine Negativfiguren enthalten, Willigkeit hervorrufen. Und so geschah es…

Naja, nicht ganz. Offen bleibt die Frage, warum man den Namen „Familie Pfundig“ wählte. Die Antwort liegt wohl in der Person des Zeichners Emmerich Huber (1903-1979). Dieser, wir kommen darauf zurück, hatte sich seit Mitte der 1920er Jahren als Zeichner, Illustrator und Werbegraphiker einen Namen gemacht, versah er doch gleichermaßen Güter und Gebote mit dem Charme des Freundlichen. Seine Arbeit kombinierte – wie schon Paul Simmel (1887-1933) und Walter Trier (1890-1951) – unmittelbar eingängige Zeichnungen mit humorvollen, selten auch bissigen Kommentaren. Huber arbeitete allerdings stärker seriell, erzählte kleine Geschichten, versah sie oft mit Sprachblasen, eingefügten Textzeilen und gereimten Unterzeilen. Huber war populär und daher gleichermaßen wertvoll für das Regime und die Konsumgüterindustrie.

Einer seiner vielen Auftraggeber in den späten 1930er Jahren war der niederländische Handelskonzern C&A. Als Filialbetrieb anfangs nicht wohl gelitten, gar Boykotten ausgesetzt, passten sich die offiziell gut katholischen Besitzer dem NS-Regime rasch an, entließen 1933 jüdische Mitarbeiter, übernahmen in der Folge jüdische Konkurrenten (Kai Bosecker, Vom ‚unerwünschten Betrieb‘ zum Nutznießer des NS-Regimes […], in: C&A zieht an! Impressionen einer 100-jährigen Unternehmensgeschichte, Mettingen 2011, 94-105; Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911-1961, München 2016, insb. 132-175). Emmerich Huber war 1938 Teil einer breit gefächerten Werbekampagne für Konfektionsware und Barkauf (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 499 v. 26. Oktober, 9). Dabei wurde auch ein Herr Pfundig eingeführt. Den Kundinnen dürfte dies kaum im Gedächtnis haften geblieben sein, doch ein Graphiker erinnert sich solcher Namen, anregender und weiter verwertbarer Figuren.

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Ein Herr Pfundig taucht auf: rechts, sechste Zeile (Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 298 v. 17. Dezember, 3)

Alltags- und Versorgungsprobleme zu Kriegsbeginn – Die Motive der Serie

Die NS-Propaganda hatte anfangs auf eindimensionale Identifikationsfiguren gesetzt, brachiale, biestige Figuren, kraftstrotzend und gesinnungsstark. Derart leblose Vorkämpfer waren nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft zwar noch immer weit verbreitet, kamen im öffentlichen Raum als martialische Symbole von Sieg und Zukunft auch stetig vor. Doch in den Zeitungen dominierten eher freundliche Durchschnittspersonen, in der Werbung die schürzenbewerte Hausfrau. Gezeichnete Werbefiguren kamen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg auf und etablierten sich seit den frühen 1920er Jahren. Das NS-Regime nutzte sie seit Mitte der 1930er Jahre. Dabei lernte man durchaus von angelsächsischen Werbegraphikern und den zahlreichen in Deutschland vertretenen US-Werbeagenturen. Doch diese waren dem deutschen Markt nicht wirklich angepasst, zudem meinte man Besseres bieten zu können. Die immer wichtigere Verbrauchslenkung nutzte vielfältige Graphiken, Schaubilder, zunehmend auch kampagnenfähige Zeichenfiguren. Im Rahmen der „Kampf dem Verderb“-Propaganda symbolisierten „Groschengrab“ und „Roderich das Leckermaul“ Gefahren und Fehlverhalten. Doch die Machthaber, die noch an die starke Wirkung von Medien glaubten, wussten, dass der erhobene Zeigefinger allein nicht ausreichte. Positive, durchaus alltägliche Gegenfiguren kamen auf, Vorbilder für ein Alltagsnudging. Auf Groschengrab folgte der allerdings wenig erfolgreiche „Übeltöter“, Roderich fand in seiner Gemahlin Garnichtfaul einen im Sinne des Volksganzen denkenden Gegenpol. Dadurch war Verhaltenslenkung möglich, ohne den Einzelnen direkt zu attackieren. „Familie Pfundig“ stand in dieser Linie hin zum zivilen Vorbild. Innerhalb der fünfköpfigen Familien konnte Fehlverhalten verdeutlicht und zugleich korrigiert werden. Durchaus konsequent folgte auf „Familie Pfundig“ Ende 1940 das ebenfalls positive „Flämmchen“, ein Helfer beim Energiesparen.

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Kiebitz: Pfundig als Modewort auch im Norden; Ankündigung einer Serie über die Familie Pfundig (Altonaer Nachrichten 1936, Nr. 53 v. 3. März, 5 (l.); Hamburger Neueste Zeitung 1940, Nr. 4 v. 5. Januar, 3)

All dieser Aufwand wurde betrieben, um letztlich den Einzelnen dazu zu bringen, seine Interessen zu Gunsten des kriegsführenden Staates zurückzustecken. Die Pfundigs machten das vor, machten voller Glauben mit, erfüllten alle an sie gestellten Anforderungen. „Familie Pfundig“ war personifizierte nationalsozialistische Moral (Lothar Fritze, Die Moral der Nationalsozialisten, Reinbek 2019; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014; Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a.M. 2010). Während die Wehrmacht den Krieg gegen Frankreich und Großbritannien führte und vorbereitete, ging es an der Heimatfront um Zusammenhalt, Zurückstecken und Opferbereitschaft. Wie dies in kleiner Alltagsmünze möglich war, das zeigte „Familie Pfundig“.

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Pfundigs „verkohlen“ sich selbst (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 2 v. 13. Januar, 5)

Blicken wir dazu auf die Einzelmotive der Serie. Sie bündelten drängende Alltagsprobleme der frühen Kriegszeit, gaben einen Widerschein der von Beginn an bestehenden Probleme in der Konsumgüterversorgung (Christoph Buchheim, Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58, 2010, 299-328). Nach der reichsweiten Vorstellung der Familie Pfundig am 5./6. Januar 1940 erschienen im Halbwochentakt – in manchen Fällen auch in längeren Intervallen, in Österreich später als im Norden – thematische Kleincomics. Huber verwandte in den Bildern nur selten Sprachzeilen, eigentlich sein Markenzeichen, stattdessen dominierten Unterzeilen. Die jeweils drei Bilder wurden durch eine zusammenfassende Merkspalte ergänzt, in der die Botschaft nochmals verdichtet gebündelt wurde.

Dass als erstes die Probleme des Transportwesens und der Heizstoffversorgung thematisiert wurden, war naheliegend, denn die Requirierungen für Wehrmachtszwecke hatten tiefe Lücken nicht nur bei Automobilen und Lastkraftwagen hinterlassen, sondern auch bei den nach wie vor dominierenden Pferden und Fuhrwerken. Zudem war der Winter 1939/40 besonders kalt, betrug die Durchschnittstemperatur im Januar 1940 -9 °C. Der durch die Kriegsanstrengungen und wachsende Lieferverpflichtungen an neutrale Staaten ohnehin gebeutelte Wasser- und Bahntransport der heimischen Kohle stockte. Die Antwort hierauf war Eigeninitiative, waren Aushilfen mit privaten Karren, war vor allem Verständnis für Lieferprobleme.

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„Reste-Tag“ bei Pfundig’s! (Salzburger Volksblatt 1940, Nr. 11 v. 13. Januar, 4)

Ähnlich drängend waren offenkundige, durch Transportprobleme ebenfalls verschärfte Versorgungsprobleme mit Lebensmitteln. Die Planer waren ohnehin von einem leichten Gewichtsverlust der Deutschen aufgrund der Rationierung ausgegangen. Nun aber griffen schon lange laufende Kampagnen für sparsame Haushaltsführung, praktische neue Convenienceprodukte und die vielbeschworene Resteküche (W. Plaetke, Lebensmitteleinkauf und Resteverwertung, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 92, 104-105, 119-121; Der durchdachte Haushalt. Kochplanung und Resteverwertung, Die Genossenschaftsfamilie 31, 1938, Nr. 1, 11; dass derartige Bestrebungen im letzten Jahrzehnt eine bemerkenswerte Renaissance erfuhren, sei nur am Rande vermerkt). Familie Pfundig beging nicht nur den zunehmend gängigen Reste-Tag, sondern fand das ungewohnte Essen so fabelhaft, dass sie das Rezept gleich mit den Volksgenossen teilte.

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Pfundigs „alltägliche“ Feldpostsendung (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 3 v. 18. Januar, 4)

Es folgte eine Reminiszenz Familie Pfundigs an die Herrn-Hase-Kampagne und die Interessen der auftragsgebenden Zeitungsverleger. Trotz wachsender Auflage warb man für die Tageszeitung im Felde. Wirtschaftliche Werbung und Kriegspropaganda gingen hierbei Hand in Hand, denn es ging hier nicht nur um Einnahmen, sondern auch um ein enges Band zwischen Front und Heimat. Anders als im Ersten Weltkrieg waren Liebesgaben 1939/40 zur Soldatenversorgung nicht wirklich erforderlich, wurde das enge Band zwischen Soldaten und den Zurückgeblieben vornehmlich durch einfache Feldpostbriefe gestärkt. Dass hierbei Inge Pfundig von einem wackeren Soldaten träumte, wird Uniformträger ebenso gefreut haben wie Vertreter einer pronatalistischen Politik, die immer auch an die demographischen Konsequenzen der Trennung gebärfreudiger Erwachsener dachten.

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Begleitkampagnen zu pfundigen Anregungen (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 49 v. 27. Februar, 6)

„Familie Pfundig“ wurde von zahlreichen dezentralen Initiativen unterstützt, die die allgemeinen Zielsetzungen der Kampagne konkreter ummünzten. Das war bei der Werbung für zusätzliche Feldabonnements offenkundig, doch in den Folgewochen gab es zahlreiche ergänzende Hinweise und Angebote für fast alle Motive der Kampagne.

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Vater Pfundig wird im dunklen „Helle“! (St. Pöltner Zeitung 1940, Nr. 4 v. 25. Januar, 5)

Moderne Kriege gründen auf einer leistungsfähigen Industrieproduktion, sind deshalb vielfach umkränzt von Sorge um Arbeiter und Angestellte. Es gilt Unfälle zu vermeiden, Vorsorge zu treffen, das Humankapital möglichst lange intakt zu halten. Nicht umsonst gewannen zu dieser Zeit Anzeigen für Heft- und Wundpflaster stark an Gewicht. Parallel aber schuf die mit Kriegsbeginn zwingend einsetzende Verdunkelung neue, bisher unbekannte Gefahren. Das betraf nicht ausgeleuchtete Gehwege, abgedunkelte Fahrrad- und Autoscheinwerfer. Herr Pfundig erlitt fast folgerichtig eine Beule als er mit jemand anderen zusammenstieß – was die Jungen gleich zu Spott veranlasste. Sie wussten nämlich um die neuen, auch in der Schule behandelten Alltagsregeln für Fußgänger. Hier galt es zu lernen, ansonsten würden die pfundigen Jungs die gebeutelten Älteren abhängen. Die Fußgänger wurden zwar faktisch belehrt und mit zehn Regeln vertraut gemacht. Doch es handelte sich um „Anregungen“, nicht um die zuvor stets tönenden „Gebote“ oder um die sprachlich schon weniger rigiden „Ratschläge“. Hier sprachen Volksgenossen miteinander, war Respekt und Freundlichkeit gewährleistet, mochte schadenfreudiges Schmunzeln über den hölzern-gutwilligen Karl Pfundig auch erlaubt sein.

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Vater Pfundig und „Minna von Barnhelm“: Auch mal im Hochformat (Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 4 (l.); spiegelverkehrt: Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4)

Diese nach innen gewandte Kameradschaftlichkeit war immer auch Ausdruck deutscher Bildung und deutscher Kultur (natürlich nur im „arteigenen“ Sinne). Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Schöpfer von „Nathan der Weise“, einem bis heute beeindruckenden Plädoyer für Toleranz und friedliches Miteinander, wäre gewiss vergrätzt gewesen, hätte er von der Aufnahme seines 1767 erschienenen Lustspiels „Minna von Barnhelm“ in die Familie-Pfundig-Kampagne erfahren. Dieses war ein Bühnenklassiker, blieb es auch während der NS-Zeit, wurde bis März 1945 wieder und wieder gespielt. Warum? Gewiss, weil es leicht und leidenschaftlich war, zu Herzen ging, einem dem Alltag entzog. Für die Kampagne aber wichtiger dürfte das Spiel gegen „den überspitzten Ehrbegriff“ gewesen sein, mit dem Ziel, „das lockende, reizende Werben aufgeschlossener Fröhlichkeit, den finsteren, verschlossenen, in Dogmen und Maximen erstarrten Ernst zu besiegen“ (Wilhelm Antropp, Akademietheater, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 287 v. 14. Oktober 1939, 4). Minna von Barnhelm war pfundig im Sinne des Begriffs; und Pfundigs zielten durch den Theaterbesuch nicht nur auf eine kriegsgemäße Work-Life-Balance, sondern sie nährten auch das pfundige Grundgefühl ihrer Jugend, das sich nun geläutert zu bewähren hatte.

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Pfundigs Kameradschaft immer guten Rat schafft! (Mittelrheinische Landes-Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Wir könnten so fortfahren, Motiv für Motiv. Denn Entspannung war für die Pfundigs nicht nur selbstbezüglich, sondern war Nährboden für die organische Gemeinschaft, für Familie, Haus- und Volksgemeinschaft. Nachbarschaftshilfe war für sie selbstverständlich, die Sorge für den Nachwuchs weckte mütterliche Gefühle, ließ den Mann wieder zum Kinde, zum Spielkameraden werden. Dass dies die innere Seite der Hege eines nach außen aggressiven Regimes war, ist offenkundig.

Doch ebenso ermüdend wie das beigefügte Lob der Hilfsbereitschaft sein konnte – im Sommer 1942 folgte gar eine breit gefasste Kampagne des Reichspropagandaministeriums für Höflichkeit – ist eine Auflistung ohne wirklich fundiertes Eingehen auf den Inhalt der einzelnen Motive. Sie finden sie gleichwohl hier abgedruckt, denn sie spiegeln die Probleme des Deutschen Reichs schon zu Kriegsbeginn. Leder war knapp, musste geschont und gepflegt werden – entsprechend wurde für Schuhpflegemittel bis Kriegsende immer schlechterer Qualität zum Trotz geworben. Wie mit Humankapital war auch mit Sachkapital sorgfältig, achtsam umzugehen.

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Fritzen’s Schuhe stören Pfundigs Ruhe! (Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 6)

Auch die Textilproduktion diente immer stärker dem Militär, doch auch sie konnte dessen Bedarf nicht annähernd decken, wurde der Krieg gegen die UdSSR mit unzureichender Ausrüstung geführt. Während „Deutsche Mode“ zu einem devisenträchtigen Exportartikel wurde – Berlin überholte in der Folgezeit kurzfristig Paris als europäische Modehauptstadt – glich der Umgang mit Altkleidern denen mit Lebensmittelresten. Damit galt es hauszuhalten, daraus konnte aber auch Neues geschaffen werden – wenn denn die Frauen, wie Tochter Inge Pfundig, neben ihrer gewerblichen Arbeit noch Zeit fanden, selbst zu schneidern.

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Auch „alte“ Kleider machen Leute! (Briesetal-Bote 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Angesichts der zu Kriegsbeginn nur sporadischen Luftangriffe auf Reichsziele ließ die Neigung zur steten Verdunkelung nach, beträchtlicher Kontrollen zum Trotz. Selbst Karl Pfundig wurde nachlässig, konnte aber wiederum mit Hilfe seines Jungen (und der ausgedünnten Polizei) auf den Pfad der Kriegsgemeinschaft zurückgebracht werden. Dass nun „Ratschläge“ erteilt wurden, verweist auf eine gewisse Renitenz zumal im ländlichen Bereich.

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Die Polizei kommt zu Pfundigs! (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1940, Nr. 16673 v. 7. Februar, 4)

Dieses Motiv war für viele Zeitungen in der Tat das letzte Motiv ihrer Familie-Pfundig-Kampagne; bereits die Streifen zur Schuhpflege und zum Kleiderschneiden waren nur noch selten gedruckt worden. Die folgenden drei Motive fanden sich nur selten – wobei immer zu berücksichtigen ist, dass die Zeitungsdigitalisierung in diesem Staate, trotz erfreulicher Fortschritte in NRW, auf dem Stand eines rückschrittlichen Landes liegt.

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Pfundigs Idee für’s Winterhilfswerk! (Baruther Anzeiger 1940, Nr. 18 v. 9. Februar, 2)

Dieses Abebben und Ausfransen der Kampagne mochte auch daran liegen, dass die nun folgende Propaganda für das Winterhilfswerk und das Papiersparen ohnehin weit verbreitet war. Sammlungen waren längst der Freiwilligkeit enthoben, die aufgrund fehlenden devisenträchtigen Holzes akute Papiernot wurde durch staatliche Maßnahmen bereits zu mildern versucht (etwa die Reduktion des Zeitungsumfanges und der Größe und Ausstattung der Werbeanzeigen).

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Beim Papier sind Pfundigs „eisern“! (Fehrbelliner Zeitung 1940, Nr. 16 v. 16. Februar, 3)

Die Motive knüpften an die den NS-Alltag schon seit langem prägenden Sparsamkeitsappelle an – und der wachsende Zwang von Partei und Staat verwies schon auf die sich seither immer wieder verschärfende, nur selten sich wieder entspannende Versorgungssituation. Von einer „Wohlfühldiktatur“ kann man kaum sprechen. Obwohl sich Familie Pfundig durch die Themensetzung auch inhaltlich in die allgemeine NS-Kriegspropaganda einreihte, endete die Serie mit einem sowohl untypischen wie charakteristischen Motiv. Fritz hatte durch Unachtsamkeit seinen Anzug zerrissen, seine Mutter drängte auf eine tüchtige Tracht Prügel. Doch sein Vater beließ es bei einem eindringlichen Appell, künftig anders zu handeln. Leben war eben pfundig, nicht immer zu zügeln. Das drängende Dasein, es war durch Gewalt nicht zu einzudämmen. Ihm eine Richtung zu geben, Karl Pfundig hatte dies durch Selbstzucht erreicht. Sein Sohn würde auch ohne Prügel in seine Fußstapfen treten.

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Wie sagt’s Pfundig seinem Kinde? (Sauerländisches Volksblatt 1940, Nr. 53 v. 2. März, 4)

Die Familie-Pfundig-Kampagne ist aber – wie jede Kriegspropaganda – nicht nur spannend durch die darin enthaltenen Aussagen und Ratschläge. Historisch ebenso wichtig war, was in ihr nicht thematisiert wurde. Indem die kleinen handhabbaren Probleme des Alltags humoristisch angegangen wurden, konnte die große Frage nach dem Krieg als solchen, nach dessen Ursachen und dessen Sinn überdeckt werden. Die Einreihung in Familie, Haus- und Volksgemeinschaft, die kleinen Problembewältigungen, sie waren schon Bejahung, ein Nachjustieren, Teil der Kriegsanstrengung. Der gute Menschenverstand kam scheinbar zum Durchbruch, der Pragmatismus des Alltags; doch die Kampagne zielte zugleich auf dessen Ausschaltung zugunsten des Regimes, zugunsten eines möglichst reibungslosen Kriegsgeschehens. Bestehende Probleme des Kriegsalltages wurden in der Kampagne angerissen, doch die strukturellen Probleme der Rationierung, weiterhin bestehender Devianz, weit verbreiteter Korruption und Bereicherung, sie wurden bestenfalls angedeutet, nicht aber rückfragend aufgegriffen. Dafür gab es andernorts eine offiziöse NS-Härte, die Inklusion und Exklusion aus der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Sie schwang immer mit: „Familie Pfundig“ stand in der Mitte, weil sie mitschwamm. Doch irgendwann wäre die Grenze überschritten gewesen, wäre eine ordentliche Tracht Prügel und mehr die Folge gewesen. Dem konnte jeder Vorbeugen, durch Handeln im Sinne des Regimes. Die unterschiedlichen Motive der Kampagne spiegeln begrenzte Sprach- und Handlungsräume innerhalb der NS-Diktatur, innerhalb der NS-Kriegspropaganda. Sie spiegeln zugleich auch die sich verengenden Sprach- und Handlungsräume innerhalb jeder Kriegssituation. „Familie Pfundig“ adelte das biedere Mitmachen, das Zähne-Zusammenbeißen, das bereitwillige Durchhalten. Aktives, freudiges, aufheiterndes und begeisterndes Handeln war weiter von Nöten – nun aber für die Volksgemeinschaft, unter Vernachlässigung der eigenen Interessen. So konnte auch der Krieg zu einer pfundigen Sache werden.

Emmerich Huber, NS-Humorist

Die NS-Propagandaserie „Familie Pfundig“ wurde ersonnen und umgesetzt vom wohl wichtigsten NS-Humoristen, von Emmerich Huber. Er ist heute nur noch wenigen bekannt, auch wenn er bis in die 1960er Jahre gut beschäftigt war (Eckart Sackmann, Emmerich Huber, Deutsche Comicforschung 2005, 56-71; Ders., Emmerich Huber – zum Zweiten, Deutsche Comicforschung 2010, 87-92). Er zog sein Ding durch, doch anders als in derart oberflächlicher Forschung suggeriert, war er während der NS-Zeit nicht allein der nette Zeichner von Nebenan, dessen kleine Episoden und Figuren kurze Freude in den tristen (Kriegs-)Alltag zeichneten, der sich nur ein wenig anpasste. Huber war ein Pendant zum Filmstar und Biedermann Heinz Rühmann (1902-1994), lieferte wie dieser bräsigen, massenkompatiblen Humor, der sich in jedem politischen System findet (Torsten Körner, Ein guter Freund Heinz Rühmann, Berlin 2003; eingängig populär: Hans Sarkowicz (Hg.), Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2004; nicht überzeugend, ja vielfach peinlich: Michael H. Kater, Kultur unterm Hakenkreuz, Darmstadt 2021). Täter wie Huber und Rühmann tönten vom Miteinander, vom Freund, dem guten Freund. Doch mit mehr Distanz erscheinen sie als Personen, denen es sich vorrangig um sich ging, um ihr Einkommen, ihre Sicherheit, ihre Uk-Stellung.

Huber wurde in den 1920er Jahren bekannt als Zeichner von Kindergeschichten, kleinen Comics in der Kundenzeitschrift Blauband-Woche, für die er neue Figuren schuf: „Das Neueste von Onkel Jup“ und „Hans und Lottchen“ waren nicht nur bei Kindern beliebt (einschlägige Digitalisate finden Sie unter Archive.org). Parallel arbeitete er schon früh für Werbekunden, etwa die Berliner Firma L.M. Baginski mit ihren Fitnessartikeln (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 50 v. 12. Dezember, 10). Man findet Hubers Zeichnungen in so herausragenden Zeitschriften wie „Sport im Bild“, vor allem aber in der Karikaturzeitschrift „Ulk“, dank der bissigen politischen Karikaturen von Rudolf Herrmann Anfang der 1930er Jahre ein wichtiges Kampfblatt für die Weimarer Republik, gegen die „Reaktion“ und die NSDAP. Huber selbst witzelte über die Enttäuschungen der Woche, zeichnete optimistisch (Ulk 61, 1932, Nr. 1, 1), half dem Ulk zu einer stärken Balance zwischen Unterhaltung und republikanischer Agitation. Auch durch Buchillustrationen gewann er den Ruf eines lustigen Zeichners, der für alles und jedes gut zu verwenden war (H[ermann] K[arl] Frenzel, Emmerich Huber. Ein lustiger Zeichner, Gebrauchsgraphik 9, 1932, Nr. 4, 4-11).

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Beispiel für Hubers Werbezeichnungen für Wybert (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1837)

Die Machtzulassung der NSDAP war für Huber kein wirklicher Bruch. Er arrangierte sich mit der neuen Lage, zeichnete Werbung etwa für die Radios von Saba (Sport im Bild 40, 1934, 1117), oder eine umfangreiche, bis 1941 fortgeführte Serie für Wyberts Pastillen. Einzelzeichnungen und Buchillustrationen festigten den Ruf, dass er „immer wieder mit seinen köstlichen Figuren die Schwächen der Menschen festzuhalten“ (Der Sächsische Erzähler 1936, Nr. 264 v. 11. November, 9) wisse. Huber prägte das, was Deutsche unter lustig verstanden, voller Schenkelklatschen, mittels strikter Geschlechtscharaktere, draller Damen und gutmütiger Kleinbürger. Heroisch war das alles nicht, ein Gegenbild zu Marschkolonnen und Arierertypen. Doch diese waren in der deutschen Unterhaltungskultur keineswegs so dominant, wie dies im Blick auf strikte NS-Propaganda erscheinen mochte. Hubers „lustigen Karikaturen“, seine Seiten „lustiger Zeichnungen“ (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 155 v. 7. Juli, 5; Der Sächsische Erzähler 1938, Nr. 39 v. 16. Februar, 10) waren zeichnerisch gut gemacht, machten aus ihm eine Marke. Ab Mitte der 1930er Jahre etablierte er sich als einer im Graphikbereich wichtigsten, schließlich im Krieg zum wichtigsten NS-Humoristen. Er gestaltete anfangs ganze Seiten für die hochwertig gedruckte „Neue Illustrierte Zeitung“, die seine Werke in der Werbung stetig pries (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1936, Nr. 302 v. 19. Dezember, 2; Bergische Landes-Zeitung 1937, Nr. 228 v. 30. September, 3; Bergische Landes-Zeitung 1938, Nr. 35 v. 2. November, 3). Seine Zeichnungen brachen die offenkundigen Härten des NS-Regimes, der ubiquitären Verfolgung und Denunziation nicht nur von Minderheiten.

20_Die Kunst fuer alle_56_1940-41_H10_Anhang_p14_ebd_H03_Anhang_p27_Briefpapier_Papier_Sparsamkeit_Max-Krause_Emmerich-Huber

Sparsamkeit und Zurückhaltung: Werbekampagne für Max Krause 1940 (Die Kunst für alle 56, 1940/41, H. 10, Anhang, 14 (l.); ebd. H. 3, Anhang, 27)

Die zunehmenden Werbeeinschränkungen seit Beginn des Zweiten Weltkrieges ließen Werbekunden seltener werden. Emmerich Huber konnte dies kompensieren, zeichnete und textete bis 1945 für führende NS-Illustrierten, für den parteieigenen „Illustrierten Beobachter“, die „Münchener Illustrierte“, für das Magazin der Deutschen Arbeitsfront „Arbeitertum“. Der Umfang der Zeitschriften schwand, doch Emmerichs letzte Seite blieb stehen, war kriegswichtig, nicht nur für die Stimmung an der Heimatfront und im Betrieb. Die „Emmerich-Huber-Seite“ (Völkischer Beobachter 1943, Nr. 6 v. 6. Januar, 5) spornte freundlich an, zielte auf ein Es-geht-noch-was, auf ein stetes in-die-Hände-Spucken, zielte ohne Knute auf beschwingtes, pfundiges Handeln der Volksgemeinschaft. Emmerich Huber war ein Meister des Selbst- und Fremdbetruges, der auch dem Leben im Bombenkrieg manch heitere Seite abgewinnen konnte.

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Die Juden als gewissenlose Geschäftemacher, als Ausdruck des jüdischen Bolschewismus – Hubers Benennung der deutschen Hauptfeinde nach dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 38)

Der biedere Emmerich Huber war jedoch mehr als ein humoristischer Sorgenbrecher des Großdeutschen Reiches. Er war auch ein antisemitischer Hetzzeichner. Das betraf etwa eine antibritische und antisemitische Propaganda-Broschüre, die er 1941 zusammen mit dem geschätzten Kollegen Hans Herbert Schweitzer (1901-1980) verfasste (Die Plutokraten-Presse. Wie sie lebt und lügt, wer sie macht, wer sie bezahlt, Berlin 1941). Unter dem Pseudonym Mjölnir, dem Namen des durch Marvel-Comics ja allseits bekanntem Hammers des nordischen Donnergottes Thor, war letzterer nicht nur seit 1926 für die NSDAP agitatorisch tätig, sondern wurde 1933 auch zum „Zeichner der Bewegung“ ernannt (Carl-Eric Linsler, Mjölnir – Zeichner des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Bd. 7, Berlin 2015, 313-316).

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Der „ewige Jude“ im ausgebombten London – Zeichnung von Emmerich Huber (Illustrierter Beobachter 16, 1941, 248)

Doch Huber hat auch in seinen wöchentlichen „heiteren“ Serien wiederholt Ideen einer jüdisch-bolschewistischen Weltherrschaft in Szene gesetzt, hat zugleich den „ewigen Juden“ gezeichnet, dessen vermeintlich zerstörerische Natur immer wieder zum Ausdruck kam. Fast pfundig ist, dass dies im Gefolge der „Luftschlacht um England“ erfolgte, die mit einer empfindlichen Niederlage der deutschen Luftwaffe endete, die ihrem britischen Gegner in fast allen Belangen unterlegen war. Huber zeichnete das Hauptquartier der siegreichen Royal Air Force als Stelldichein exzentrischer Dummköpfe, regiert von Juda. Dem Mannheimer Medienwissenschaftler Konrad Dussel, der vorgab, die Huberschen Zeichnungen im Illustrierten Beobachter durchgesehen zu haben, sind diese Karikaturen offenbar entgangen (Bilder als Botschaft, Köln 2019, 239-241) – entsprechend freundlich seine Einschätzung des biederen Herrn Huber und seines NS-Werkes.

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Juda regiert – Hubers Einblicke in das Hauptquartier der Royal Air Force (Illustrierter Beobachter 16, 1941, Nr. 45)

Familie Pfundig verschwindet

Familie Pfundig verschwand Anfang März 1940 ohne viel Aufhebens, wurde vergessen. Sie war Teil der nationalsozialistischen Kriegspropaganda, zeigte deren scheinbar freundliche, verständnisvolle, pfundige Seite. Sie handelte von den Sorgen und Aufgaben des Kriegsalltags, zielte auf das für jeden Krieg erforderliche Einvernehmen, Mitmachen und Dulden der Zivilbevölkerung. „Familie Pfundig“ personifizierte nationalsozialistische Moral, deutsche Zuversicht und deutschen Optimismus. Serien wie „Familie Pfundig“ appellierten an deutsche Werte, solche der Selbstleugnung und der Pflichterfüllung. Besser als repressive und warnende Propaganda, besser als die Kampagnen gegen Hamsterei und Wucher, besser als direkte Denunziationen der „plutokratischen“, der „jüdisch-bolschewistischen“ Feinde vermochte sie Zusammenhalt zu schaffen, Verständnis für die Härten der Zeit. Sie war typisch für die frühe Phase des Krieges, in dem die Fährnisse des Alltages noch überschaubar waren, in der noch nicht täglich zehntausend deutsche Soldaten verreckten, wie in der Endphase des Höllensturzes.

„Familie Pfundig“ knüpfte an die Werte einer antiintellektuellen Erwachsenen- und Jugendkultur an, geprägt von realem, vor allem aber virtuellem Leben und Abenteuer. Die Form der Comic-Zeichnung zielte auf die große Mehrzahl, auf einfache Problem-Lösung-Strukturen, auf Aufgabe und Erfüllung. Ihr Gestalter Emmerich Huber bettete all dies in humoristische Watte, doch andere seiner Zeichnungen präsentierten auch den rassistischen Grundtenor des Nationalsozialismus. Angesichts der breiten Klaviatur der NS-Propaganda war dies all denen klar, die lesen und sehen konnten und wollten.

„Familie Pfundig“ ist eine abgeschlossene, nicht wirklich bedeutsame Episode im breiten Kranz der NS-Kriegspropaganda – mochte sie auch abermillionenfach gedruckt und verbreitet worden sein. Sie steht für die Wandlungsfähigkeit und Vielgestaltigkeit der Kriegspropaganda. Die steten Einseitigkeiten, Halbwahrheiten und offenen Irreführungen in der staatsnahen, vielfach staatsgleichen Presse waren einfacher zu erkennen als die nette Umrahmung, die freundliche Bitte zum Mitmachen, die Alltagshilfe. Und vielleicht kann der Blick auf „Familie Pfundig“ das Verständnis dafür schärfen, auf welch samten Pfoten sie uns bis heute umschleicht.

Uwe Spiekermann, 5. November 2022