Luftschutz durch alle: Die sächsische Miesrian-Kampagne 1938

Ein weiteres Kapitel Propaganda. Ein weiteres Mal NS-Propaganda. Eine weitere Analyse eines Kernelements modernen Lebens, entsprechend weit vorher einsetzend, bis heute öffentliches, ja wieder alltägliches Thema. Es wird um Luftschutz gehen, den hierzulande, nicht den in der Ukraine, in Russland, in den laufenden und den kommenden Kriegen. Den Luftschutz, der während des Ersten Weltkrieges als Thema aufkam, Ende der Weimarer Republik vielfach gefordert und gefördert wurde. Der im nationalsozialistischen Reichsluftschutzbund dann zur öffentlichen, zur völkischen Aufgabe mutierte, verpflichtend grundsätzlich für jedermann, jedefrau. Und natürlich um die damit geschaffenen Außenseiter, die Miesmacher und Kritikaster, die Miesriane, alle die, die nicht mitziehen wollten. Und die deshalb die Luftschutzgemeinschaft, die Volksgemeinschaft störten, unterminierten. Die zwingend belehrt und bekämpft werden mussten. Argumentativ, denunzierend, ausgrenzend.

Wir werden chronologisch-zwiebelhaft in mehreren Schritten vorgehen: Den neuartigen Luftschutz, dessen Ausgestaltung bis zur Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung, ihn gilt es eingangs vorzustellen, insbesondere dessen gesellschaftliche Folgewirkungen. Da alle mitziehen mussten, um die Abwehr leistungsfähig auszugestalten, musste man Abweichler integrieren. Das aber war schwierig, gab es doch Kritik und Verweigerung. Staatliche Propaganda zielte auf innere Kohäsion, grenzte Störenfriede aus, vom Ersten Weltkrieg bis hin zum Reichsluftschutzbund. Dessen Geschichte ist anschließend genauer darzustellen, sein Janusgesicht zwischen der Verteidigung des Elementaren und der für einen Angriffskrieg erforderlichen Wehrhaftigkeit. Übungen zunehmend größerer Teile der Bevölkerung waren dafür unabdingbar, denn der Feind, der äußere, würde keinen Fehler verzeihen. Um die damit einhergehende Dynamik, um die für das Gelingen unabdingbare Gefolgschaft näher einzufangen, werden wir dann eine bisher unbekannte Propagandakampagne aus Sachsen genauer analysieren. Kurz nach der Okkupation Österreichs, vor der Besetzung des Sudetenlandes, schließlich der Tschechoslowakei, schien das nötig, denn Widerstand konnte nicht ausgeschlossen werden. Diese Miesrian-Kampagne präsentierte eine der vielen (imaginären) Negativfiguren, von denen die NS-Propaganda, doch nicht nur sie, übel reich ist. Der Miesrian zog nicht mit. Die Kampagne benannte ihn, materialisierte die bösen Gedanken vieler, den Unwillen sich einzugliedern. Es geht also um den modernen Menschen, einen, der wählen kann – und dessen Wahlmöglichkeiten vom modernen Staat strikt begrenzt wurden.

Luftschutz als neue Aufgabe der Zivilverteidigung der Zwischenkriegszeit

Der erste Weltkrieg war zwar ein Krieg auch zwischen Luftstreitkräften, doch kein Bombenkrieg. Die fast 200.000 produzierten Militärflugzeuge wurden meist frontnah als Jagd- und Aufklärungsmaschinen eingesetzt. Der Krieg gegen das Hinterland war auch aus technischen Gründen limitiert, einzig die deutschen Zeppeline begannen seit Ende 1915 mit ihren insgesamt 124 Angriffen auf Großbritannien, seit 1917 folgten zudem Bomber. Der Aufwand für die Luftabwehr und die Verluste an (eigenem) Kriegsmaterial waren immens, doch auf der Insel wurden „nur“ 1414 Personen getötet und die Zerstörungen von Hafen- und Industrieanlagen blieben relativ gering. Französische, britische und US-amerikanische Bomberbesatzungen töteten im Westen des Deutschen Reichs parallel 729 Menschen (Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, Bonn 2011, 29). Auch dies hatte keine strategische Bedeutung, Transport- und Produktionskapazitäten blieben intakt. Wichtiger fast waren die propagandistischen Wirkungen, denn Erfolge und Verluste wurden auf allen Seiten genutzt, um den Feind zu benennen, Hass zu schüren, zum Durchhalten zu motivieren. Der Bombenkrieg kroch in die Köpfe, die Imagination der Vernichtung aus der Luft nahm zunehmend Gestalt an.

Bombenkrieg gegen Großbritannien; Beerdigung getöteter Kinder in Karlsruhe (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 6, 16 (l.); Die Wochenschau 8, 1916, 1001)

Der Versailler Friedensvertrag von 1919 hielt nicht nur die Reichswehr bewusst klein, sondern untersagte auch den Aufbau von Luftstreitkräften, ebenso weiteren aktiven Luftschutz durch Erdabwehrkräfte, Flugabwehrkanonen und Flakscheinwerfer. Für die Militärs, aber auch breite Teile der deutschen Öffentlichkeit, war dies demütigend, empfand man sich angesichts der weiter bestehenden und vielfach ausgebauten Luftflotten der Alliierten doch schutzlos. Während der zivile Flugzeug- und Luftschiffbau breite öffentliche Resonanz fand, Transport- und Passagierflugzeuge von Fokker und Junkers für eine neue Mobilität und globale Zukunftsmärkte standen, war man offiziell von der militärischen Entwicklung abgeschnitten. Die geheime Kooperation insbesondere mit der Sowjetunion erlaubte den Anschluss an die technische Entwicklung, doch schien man abgehängt, stand nicht an der Spitze. Die Amerikafahrt von LZ 127 „Graf Zeppelin“ unterstrich 1928 zwar die Weltgeltung der deutschen Ingenieurskunst. Doch trotz der im Januar 1926 erfolgten Gründung der Luft Hansa blieb der Makel der halbierten Luftmacht prägend (Botho von Römer, Die Deutsche Luft Hansa, Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 373-377). Während nicht nur Techniker schon über Raketentechnik und Raumfahrt sinnierten, die Populärkultur derartige Träume neu zu erschließender Räume aufgriff und multiplizierte, war die weitere Entwicklung von der Gnade der Garantiemächte des Versailler Vertrages abhängig.

Das Pariser Luftfahrtabkommen vom Mai 1926 lockerte einige der 1919 festgeschriebenen Beschränkungen, ermöglichte den Ausbau der zivilen Luftfahrt und eines zivilen Luftschutzes. Militärs und Politiker bestimmten die öffentliche Debatte, die sich einerseits auf die imaginierte Bedrohungslage konzentrierte, anderseits auf die daraus zu ziehenden institutionellen und organisatorischen Konsequenzen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923-1939, Phil. Diss. Freiburg i.Br. 2001 (Ms.), 125-207 (mit zahlreichen Quellen)). Luftschutz war eine Querschnittsaufgabe, die an sich funktional ausdifferenzierte Subsysteme der modernen Gesellschaft in einen neuen Zusammenhang bringen wollte. Luftschutz war eben nicht an Experten zu delegieren, sondern erforderte den Einsatz aller. Derartige Mobilisierung erforderte Propaganda, um ein begründetes Arsenal von „strengen, präzisen und erwiesenen Regeln“ festzuschreiben (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt a.M. 2021 (ebook), 21). Diese Propaganda richtete sich an alle, an die Masse – zugleich aber an jeden Einzelnen. Es ging, in den bereits vorgepreschten Staaten der früheren Entente, doch auch in den nun nachholenden Ex-Mittelmächten, um die freiwillige Konditionierung von Menschen in einem Bedrohungs- und Handlungskollektiv – wie etwa zeitgleich im vom Automobil umgestalteten Straßenverkehr. Jeder hatte dabei eine Funktion, seine quasi unverzichtbare Aufgabe. Doch Erfolg konnte er nur in der Gruppe haben, entsprechend umfassend war der Zwang zum Mitziehen, zur Zustimmung. Die Propaganda zielte entsprechend darauf, dem Individuum keine Möglichkeit zu geben, sich vermeintlichen Sachlogiken zu entziehen (Ellul, 2021, 25).

Aggressives Ausland, schutzloses Deutsches Reich: Militärflugzeuge in Europa 1928 (Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1153-1154)

Für unser Fallbeispiel im Sachsen des Jahres 1938 sind die weitreichenden Folgen der während der Weimarer Republik entwickelten Grundkonzeption entscheidend, nicht die Unterschiede zwischen den nach dem Pariser Luftfahrtabkommen gegründeten privaten Interessenverbänden, vorrangig dem Verein Deutscher Luftschutz (1927) und der Deutschen Luftschutzliga (1931). Das Reichskabinett hatte sich 1927 für passive Schutzmaßnahmen ausgesprochen, rechtfertigte dies mit der „Fürsorge gegen öffentliche Notstände“ der Polizeibehörden. Es herrschte ein Kult der Sachlichkeit, der Überparteilichkeit. Pointiert hieß es: „Die Durchführung solcher Maßnahmen ist weder eine militärische noch eine politische Angelegenheit“ (Vorbereitung des zivilen Luftschutzes, Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1932, Nr. 62 v. 2. März, 1).

Im Vordergrund der Propaganda stand in immer neuen Variationen die vermeintliche Schutzlosigkeit des Deutschen Reiches. Wie schon vor 1914 hieß es „Feinde ringsum!“, der Ruhrkampf 1923 hatte die aggressiven Ziele insbesondere Frankreichs scheinbar unter Beweis gestellt. Dem Kult der Sachlichkeit entsprach eine vor allem von Militärs getragene Aufklärung über die Gefahrenlage, über die mögliche Prävention. Die strukturelle Analogie zum Ernährungs- und Gesundheitssektor ist offenkundig. Es hieß, nicht der vielbeschworene Gaskrieg sei die eigentliche Gefahr, sondern die Verwüstung der ökonomischen Basis, der Infrastruktur und des persönlichen Besitzes. Das sei Folge des „Abrüstungsverrats“ der Ententemächte, des Völkerbundes ([Constantin] v. Altrock, Luftkrieg und Luftschutz, Militär-Wochenblatt 113, 1929, Sp. 1155-1156, hier 1156). Passend zur „Verständigungspolitik“ unter Außenminister Gustav Stresemann (1878-1929) wurde der Luftschutz als defensiv präsentiert, entsprach der Versöhnungsrhetorik der Vernunftrepublikaner. Die konservativ-nationalsozialistische Regierung konnte ab 1933 mit Forderungen nach „Gleichberechtigung“ daran unmittelbar anknüpfen.

Angst vor den Wirkungen: Frankreichs Prototypen des geplanten Bombers „Dyle et Bacalan“ als Drohkulisse (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 737)

Polizei-Hauptmann Rudolf Pannier (1897-1978), späterer Standartenführer der Waffen-SS, betonte entsprechend Anfang 1933: „Wir haben die Pflicht, die deutsche Bevölkerung vor einer ihr möglicherweise drohenden Gefahr, die den Charakter einer ungeheuren Katastrophe haben wird, durch vorbeugende Maßnahmen zu schützen und durch ihr Vorhandensein den Anreiz zu Luftangriffen auf deutsches Gebiet abzuschwächen“ (Deutschland in Luftnot, Hamburgischer Correspondent 1933, Nr. 59 v. 4. Februar, 5). Der private Luftschutz unter amtlicher Leitung popularisierte bereits während der Präsidialdiktatur entsprechend umfangreiche Eingriffsverpflichtungen (Für Schaffung des zivilen Luftschutzes, Wilhelmsburger Zeitung 1932, Nr. 12 v. 15. Januar, 5). Der Luftschutz des NS-Regimes intensivierte anfangs ohnehin laufende Maßnahmen (Bernd Lemke, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923 bis 1939, München 2005, 98-101). Das neu gegründete Luftfahrtministerium übernahm, eine neue Spitzenorganisation bündelte die bestehenden Luftschutzvereine im April 1933. Die Abwehrmittel schienen begrenzt, doch durch präzise Verhaltensroutinen, durch einen Gleichklang der Abwehr könne man den Gefährdungen trotzen. „Luftangriffe sind eine Nervenprobe!“, der aufgeklärte Einzelne würde daran nicht zerbrechen. Das Ziel war eine Umformung der Nation, des Volkes, passend zu den die Weimarer Republik prägenden Utopien des Neuen Lebens, des Neuen Wohnens: „Die Vielgestaltigkeit der im Luftschutz zu leistenden Kleinarbeit erfordert ein hohes Maß von uneigennützigem Leistungseifer bei allen Führern und Helfern“ ([Alfred] Richter, Nationaler Staat und Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 251 v. 14. Oktober, 9).

Luftschutzübung bei der Oranienburger Auergesellschaft im Juni 1931 (Richard Roskotten, Ziviler Luftschutz, Düsseldorf 1932, vor 17)

Kritik und Rückfragen

Während der Weimarer Republik und der Zeit der Präsidialdiktatur war der Luftschutz jedoch (noch) keine Massenbewegung. Pazifisten, Mitglieder von DDP und Zentrum, insbesondere aber Sozialdemokraten kritisierten ihn zudem als Teil einer umfassenden Militarisierung der Gesellschaft: Die wachsende Zahl öffentlicher Luftschutzübungen rief stetig Kritik hervor: „Es wurde Krieg gespielt. In Kiel stand die ganze Stadt unter dem Eindruck der Uebung. Schulkinder erhielten Mullbinden um den Mund und wurden so ins Freie geführt, Hunderte von Angestellten eines Warenhauses mußten die Flucht in bombensichere Keller üben, die Sirenen heulten, und am Abend wurde die Stadt völlig verdunkelt – alles wie im Kriege. […] Man bereitet sich würdig vor auf den nächsten Ausbruch des Wahnsinns. […] Es geht von solchem Kriegsspiel, das nach dem Vorbild anderer Länder nun auch in Deutschland geübt wird, eine psychologische Wirkung aus, die dem Willen zum Frieden und zur Verständigung der Völker schweren Abbruch tut. Dies Kriegsspiel setzt einen Feind voraus, der unter Bruch der Verträge zum Kriege schreitet und den Krieg mit den grausamsten Mitteln des Gaskrieges aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung führt“. Deutlich benannten die Kritiker die in Technokratie und militärischer Logik eingebundenen Vorannahmen: „Diese Spiele legen Zeugnis ab von wachsendem Mißtrauen, nicht von wachsender Verständigung! Das ist nicht moralische Abrüstung, sondern unmoralische Aufrüstung, und es wäre die Aufgabe einer wirklichen Abrüstungskonferenz, solche Kriegsspiele international zu verbieten“ (beides nach Luftkrieg. Die Perspektive zum nächsten Krieg, Vorwärts 1932, Nr. 423 v. 8. September, 3).

Derartige Kritik war auch im Ausland weit verbreitet. Versuche der rechtlichen Einhegung der neuen Gefahren begannen schon vor dem Abheben erster Motorflieger: Bereits vier Jahre vor dem Flug der Gebrüder Wright erließ die Haager Friedenskonferenz 1899 ein nach fünf Jahren wieder ausgelaufenes Verbot des Luftbombardements der Zivilbevölkerung. 1907 fügte man der Haager Landkriegsordnung einen neuen Artikel 25 hinzu, der die unterstützende Bombardierung angegriffener Städte zuließ, nicht aber Luftangriffe im Hinterland. Wesentlich umfassender war die Haager Luftkriegskonvention von 1923, die nicht nur die „Terrorbombardierung“ von Nichtkombattanten (Art. 22) untersagte, sondern auch eine „unterschiedslose Bombardierung der Zivilbevölkerung“ (Art. 24) (Heinz Marcus Hanke, Die Haager Luftkriegsregeln von 1923 […], Revue Internationale de la Croix-Rouge 42, 1991, 139-172, hier 144-145). Der Rechtstext wurde allerdings nicht ratifiziert, dies hätte die Luftflotten radikal limitiert, hätte man doch gegnerische Städte und Infrastruktur als solche kaum mehr angreifen können. Dennoch unterstrich die Konvention, dass es Alternativen zur aktiven und passiven Luftrüstung hätte geben können. Die Kritiker des neuen deutschen Luftschutzes nahmen dies auf, hinterfragten die immensen Kosten und den unklaren Nutzen der öffentlichen und privaten Aufwendungen. Und sie hoben stetig hervor, dass Luftschutz nur Teil der „Propaganda für Deutschlands Aufrüstung in der Luft“ sei (Luftschutz? Neue Organisation, neue Zeitschrift, neue Kosten, Vorwärts 1931, Nr. 447 v. 24. September, 2).

Der Luftkrieg wurde in der Zwischenkriegszeit angesichts leistungsfähigerer Flugzeuge und Bomben also nicht nur radikaler als zuvor durchgespielt, erschien nicht nur als eine neue Phase möglicher Destruktion und des Sieges aus der Luft, ohne den Einsatz der Landheere. Man versuchte zugleich, ihn rechtlich einzuhegen und die Gründe für einen umfassenden Luftschutz abzuschwächen. Doch das waren Minderheitenpositionen. Schon lange vor der Machtzulassung der konservativ-nationalsozialistischen Regierung gab es einen gesellschaftlichen Konsens über eine passive Wehrhaftigkeit. Auch Sozialdemokraten unterstützten und förderten. Die im Luftschutzgedanken angelegte Dynamik nahm nun Fahrt auf: Der Blick wurde anfangs auf den Feind von außen gerichtet. Danach ging es um die Festigung im Innern. Und schließlich begann der Kampf gegen den inneren Feind.

Miesmacher vor den NS-Kampagnen

Diesen inneren Feind kannte man – aus dem Ersten Weltkrieg. Er erschien in vielen Formen, bedrohte den Sieg, das Durchhalten. Und die Dolchstoßlegende sah in ihm die Ursache für die unerwartete Niederlage. Die Heimat, nicht das unbesiegte Heer, habe die Nerven verloren, den Sieg verschenkt, den Dolch in den Rücken der Soldaten gestoßen. Abstrus, denn die Oberste Heeresleitung selbst hatte seit dem 28. September 1918 auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen gedrungen, andernfalls würde die Front in absehbarer Zeit zusammenbrechen (Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, 4. durchges. Aufl., München 2014, 877-878). Deutschland und seine Verbündeten waren militärisch besiegt worden, wenngleich die Kämpfe (noch) nicht auf deutschem Boden tobten.

Der innere Feind hatte viele Gesichter, viele Namen. Besonders bekämpft wurden die „Miesmacher“, eine Antigeneralisierung des Rückfragens, der Unterminierung der Zuversicht: „Die Miesmacher sind wieder an der Arbeit. Sie tuscheln, es müsse doch ziemlich schlecht stehen, wir kämen ja gar nicht vorwärts; sie hätten zuverlässige Kunde von ‚furchtbaren Verlusten‘“ (Die Entscheidungsschlacht, Coburger Zeitung 1914, Nr. 262 v. 7. November, 1). Der Miesmacher diente anfangs als Blitzableiter, war Projektionsfläche angesichts des ausbleibenden raschen Sieges der deutschen Armeen. Wurde anfangs noch an die patriotische Pflicht erinnert, „die Stimmung in den Schützengräben zu verbessern“ (Gegen die Miesmacher, Münchner Neueste Nachrichten 1914, Nr. 663 v. 28. Dezember, 2), so setzte schon Ende 1914, trotz millionenfacher Liebesgaben, eine wachsenden Kritik am fehlenden Verständnis der Heimat ein. Der Chemnitzer Sozialdemokrat Hugo Poetzsch (1863-1946) schrieb „von einem heiligen Zorn […] gegen die Miesmacher und Schwarzseher, die mit ihrer Schreiberei im Inland und in der ausländischen Presse […] dazu beitragen, daß der Krieg verlängert, die Leiden unserer Genossen vergrößert werden.“ Für ihn ging es um „den Willen und die Fähigkeiten […] durchzuhalten, mitzuhelfen, [und so, US] den Kämpfern, die sich für uns opfern, die Nervenkraft und die Seelenstärke bis zu einem dauernden Frieden zu erhalten“ (Pulsnitzer Wochenblatt 1915, Nr. 18 v. 9. Februar, 2).

Die Miesmacher als Stimmungstöter (Lustige Blätter 145, Nr. 45, 10)

Schon Anfang 1915, als nach dem Scheitern der Offensive im Westen und dem Beginn des Grabenkrieges intern um die Gründe für die Fortsetzung des Krieges gerungen wurden, wuchs die Parade der inneren Feinde: Flau- und Miesmacher, Pessimisten, Skeptiker, Bierphilister, Besserwisser und Stubenhocker – sie alle glaubten Lügen, verbreiteten Gerüchte an Stammtischen und beim Klatsch (Prospekt, Jugend 20, 1915, 31). Die Vorstellung einer einheitlich zusammenstehenden Nation wurde nicht als kurzfristige Aufwallung und imaginäre Fiktion verstanden, sondern trotzig hochgehalten, völkisch weiter aufgeladen: „Nie lebte in einem kämpfenden Volk ein gleiches Vertrauen! Und dennoch – Es leben unter uns die ‚Miesmacher‘; also genannt nach einem jüdischen Ausdruck von seltsam zutreffendem Wortklang. Wirklich: schon der Wortklang sagt uns, mit welcher Art Leute wir es zu tun haben.“ Dabei blieb es nicht, denn im Kampf, im Krieg sind Differenzierungen unerwünscht. Stattdessen wandte man sich denunzierend gegen die inneren Feinde: Sie „bedeuten eine Gefahr, die bekämpft werden muß. Denn ihre, gelinde ausgedrückt, melancholischen Betrachtungen und Erwägungen wirken wie eine ansteckende Krankheit. Bazillenträger sind sie. Ihr Zustand ist pathologisch, sie sind seelisch nicht recht normal“ (beide Zitate n. Die Miesmacher. Plauderei des Meergeistes, Daheim 51, 1914/15, Nr. 30, 13). Die Miesmacher erschienen als alte selbstbezügliche Männer mit begrenztem Horizont: „Mit euch könnt’s man nicht wagen, / Solch Weltenschlacht zu schlagen, / Hinweg von hier, ihr Drohnen, / Sonst möcht‘ ich’s bös euch lohnen!!‘“ (H[ermann] Stockmann, Roland und die Miesmacher, Fliegende Blätter 142, 1915, 164-165, hier 165). Der deutsche Volkskörper schien gefährdet, es drohte „Ansteckung und Uebertragung. […] Wenn erst in den Adern deiner Söhne dies Gift zu wirken beginnt, dann sieh zu, wer dein Schwert tragen soll“ (Maria Diers, Der Schwarzseher deutscher Nation, Münchner Neueste Nachrichten 1915, Nr. 60 v. 3. Februar, 2).

Der Miesmacher als vielgestaltige Negativfigur während des Ersten Weltkrieges (Fliegende Blätter 145, 1916, 136 (l.); Lüner Zeitung 1917, Nr. 104 v. 31. August, 6)

Entsprechend verschärfte sich der Ton spätestens als Mitte 1915 klar wurde, dass der Krieg deutlicher länger und härter werden würde. Der Kampf gegen den inneren Feind wurde nun auch zu einem aktiven Akt der inneren Hygiene. Nicht Geldstrafen, nicht Freiheitsstrafen seien angemessen, sondern „die beste Kur für diese Nörgler, Hetzer und Miesmacher“ sei das Stahlbad an der Front (Drei Wochen Schützengraben, Münchener Stadtanzeiger 1915, Nr. 37 v. 11. September, 3). All dies weitete die Entfremdung von Front und Heimat, denn „an der Front ist man der vergiftenden Luft aller Wehleiderei, der Besserwissenwoller, der Eigensüchtigen und Miesmacher entrückt, da herrscht Größe, weiter Blick, freies Aufatmen“ (Erich Deetjen, Schützengraben-Betrachtungen, Daheim 52, 1915/16, Nr. 20, 23-24, hier 24).

In diesem Ton ging es auch 1916/17 weiter, „Herr Angstmeier, Fräulein Zitterig und Tante Miesmacher“ wurden immer wieder beschworen, um Menschen Zustimmung abzuverlangen, sich ihr Geld anzueignen (Aber wie ist es mit der Sicherheit der Kriegsanleihen?, Erzgebirgischer General-Anzeiger 1916, Nr. 210 v. 9. September, 7). Der innere Feind kam parallel auf die Bühne, war Teil der staatlichen zensierten Populärkultur. Reichsweit spielten Theater „Kriegs-Einakter“, darunter auch „Die Miesmacher oder der Krieg am Stammtisch“ (Münchner Neueste Nachrichten 1916, Nr. 13, 8). Otto Reutter (1870-1931) sang eben nicht nur melancholisch nachdenkliche Lieder auf seinen im Mai 1917 in Verdun gefallenen Sohn, sondern auch Propagandaschlager, darunter „Das sind die Richtigen, die hab‘ ich gern (Gegen die Miesmacher)“ (Dortmunder Zeitung 1917, Nr. 126 v. 10. März, 7). 1918, kurz vor der Niederlage, gab es schließlich eine neuerliche Konjunktur des Kampfes gegen die Miesmacher, die späteren „Novemberverbrecher“ ließen grüßen. Hohenzollernprinz Heinrich (1862-1929) warnte vor ihrer seelenvergiftenden Kraft, lokale Militärkommandeure verschärften angesichts von Streiks, Hungerkrawallen und Friedenssehnsucht die Strafbestimmungen (Prinz Heinrich gegen die Schwarzseher, Coburger Zeitung 1918, Nr. 183 v. 7. August, 2; Gegen die Miesmacher, ebd., Nr. 201 v. 28. August, 1). Und während Hindenburg und Ludendorff die Niederlage längst eingestanden hatten, zogen Pfarrer gegen die „Miesmacher und Bauchwehpolitiker“ zu Felde: „Wen es gelüste, die ‚Dummheit der Parlamentarisierung‘ in Berlin mitzumachen, brauche nur nach Rußland zu schauen“ (Rosenheimer Anzeiger 1918, Nr. 220 v. 24. September, 2).

Miesemanns untergründige Zersetzungsarbeit (Illustrierte Zeitung 151, 1918, 521)

Überraschend ist, dass der „Miesmacher“ auch nach dem Ende des Kaiserreichs nicht verschwand (dies und vieles andere ignoriert Stefan Scholl, An den Rändern der Zugehörigkeit verorten: Meckerer und Märzgefallene als Grenzfiguren der >Volksgemeinschaft<, in: Heidrun Kämper und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, T. 1, Göttingen 2022, 103-144). Im Gegenteil etablierte er sich just während der Weimarer Republik. Manches davon konnte noch als Wiederspiegelung der schlechten alten Zeiten dienen: Erwin Kern (1898-1922), rechtsextremer Mörder des deutschen Außenministers Walther Rathenau (1867-1922), konterte etwa die Kritik seiner Mittäter an den neben den Maschinenpistolen mitgeführten Handgranaten mit dem Freikorpsspruch: „Ihr seid ja alle Miesmacher“ (Die Rathenaumörder vor Gericht. (Fortsetzung.), Freie Presse für Ingolstadt 1922, Nr. 236 v. 13. Oktober, 1-2, hier 1). Doch der Miesmacher machte weiter Karriere, wurde demokratietauglich, mutierte zum pluralistischen Abgrenzungs- und Denunzierungsbegriff. Was immer geschah, die Miesmacher waren präsent, kritisierten die neue Rentenmark, die Nominierung Hindenburgs zum Reichspräsidentenkandidaten, die Verhandlungen um ein Ende der Rheinlandbesetzung (Coburger Zeitung 1923, Nr. 279 v. 28. November, 1; Rosenheimer Anzeiger 1925, Nr. 90 v. 21. April, 1; AZ am Abend 1926 v. 21. September, 1). Und da die Miesmacher immer die anderen waren, vermerkte man achselzuckend, dass „deren Geschlecht nicht umzubringen ist!“ (AZ am Morgen 1925, Nr. 129 v. 23. April, 3) Wie zuvor im Krieg hatte dies selbstdisziplinierende Folgen, wollte man doch nicht als Miesmacher verschrien werden (Ingolstädter Anzeiger 1925, Nr. 237 v. 17. Oktober, 2). Dennoch wurde er zu einer Art anthropologischen Konstante, denn „Menschen, die einem das Leben verekeln können“ gab es allüberall (Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 266 v. 11. Februar, 4). Man richtete den Blick daher in andere Richtung, propagierte stattdessen Optimismus, Lebensmut und Tatendrang. Selbstoptimierung sollte den eigenen Miesepeter überwinden – was man auch heutzutage in dutzenden bedruckten Papierhaufen nachlesen kann, die sich explizit gegen Miesmacher wenden.

Doch der Begriff kann und konnte jederzeit wieder autoritär aufgeladen werden. „Miesmacher“ war und ist eben ein antimoderner Begriff der Eindeutigkeit, der kulturellen Hegemonie, des gezähmten Widerworts. In modernen Gesellschaften sind öffentliche Sachverhalte jedoch kontingent, können so, aber auch anders gehandhabt, müssen daher auch kontrovers diskutiert werden. Im politischen und wirtschaftlichen Meinungskampf der Weimarer Demokratie war der Miesmacher ein negatives Flaggenwort der (ersehnten, im Kleinen geduldeten) Diktatur, des Schweigebanns gegenüber Andersdenkenden. Seine gezielte Neuaufladung während der NS-Zeit verdeutlichte zugleich den langen Schattenwurf des Ersten Weltkrieges auf den Nationalsozialismus (vgl. Gerd Krumeich (Hg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen 2010).

Der Reichsluftschutzbund

Die während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur etablierten Strukturen und Prinzipien dienten dem nationalsozialistischen Luftschutz ab 1933 als zu überwindendes Vorbild (Lemke, 2021, 126). Die bestehenden Organisationen gingen in dem am 29. April 1933 gegründeten Reichsluftschutzbund auf, verloren damit ihre begrenzte Unabhängigkeit (Paul Eduard Schriebl, Der Luftschutz im Deutschen Reich von 1933-1945, Diplomarbeit Graz 2021 (Ms.), 36-46). Sachlich-rational hieß es: „Der neue Bund wird auf nationaler Grundlage dem deutschen Volk die lebenswichtige Bedeutung des zivilen Luftschutzes vor Augen führen und streben, jeden Deutschen zu tätiger Mitarbeit zu gewinnen. Neben der Aufklärung und Werbung für den Luftschutz hat der Bund die Vorbereitung und Durchführung des Selbstschutzes der Zivilbevölkerung und die personelle Ergänzung des behördlichen Luftschutzes zur Aufgabe“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die neue Dachorganisation unterstand allerdings dem NS-geführten Reichsluftschutzministeriums, dessen Leiter, der frühere Kampfflieger Hermann Göring (1893-1946), weitere Ziele in den Vordergrund rückte: Der Reichsluftschutzbund „soll in den breiten Massen die sittlichen Kräfte wecken, die zu selbstloser Arbeit und zu Opfern begeistern. Er soll in allererster Linie die moralischen Voraussetzungen schaffen, ohne die ein Volk nicht fähig ist, einen modernen Luftkrieg zu ertragen. Denn nur eine festgeschlossene, von unbeugsamem Lebenswillen beseelte Nation wird diesen Gefahren widerstehen können. […] Ein Volk, das sich untätig und willenlos feindlicher Willkür preisgibt, hat seine Existenz verwirkt. Ein Volk aber, das den eisernen Willen zur Selbsterhaltung in sich trägt, wird auch den Gefahren aus der Luft erfolgreich trotzen“ (Kölnische Zeitung 1933, Nr. 232 v. 29. April, 2). Die NSDAP hatte den passiven Luftschutz zuvor zwar immer gefordert, doch für sie hatte „ein aktiver Luftschutz unter Verwendung von Kampfflugzeugen, Bomben und Gasen aller Art“ Vorrang. Passiver Luftschutz sei hilfreich, erfordere aber eine geistige Mobilisierung der „ganzen Bevölkerung, weil der Krieg der Zukunft durch die Luftwaffe an keine schmale Front gebunden ist“ (beides n. Luftkrieg und Luftschutz, Völkischer Beobachter 1932, Nr. 119 v. 28. April, 5). Es ging um mentale Gleichschaltung, um Akzeptanz fremdgesetzter Vorgaben.

Schutz und Wehrhaftigkeit als Ziele (Edgar Winter, Luftschutz tut not, Berlin 1933, 1 (l.); Knipfer und Burkhardt, 1935, 79)

Mit staatlicher Unterstützung wurden die bestehenden Strukturen ausgebaut. Seit 1935, parallel zur Gründung der Luftwaffe, intensivierte man dann die Werbung für den Reichsluftschutzbund, er mutierte kurz danach hinter der Deutschen Arbeitsfront und vor der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt zur zweitgrößten Massenorganisation des NS-Staates (Jörn Brinkhus, Ziviler Luftschutz im „Dritten Reich“ – Wandel seiner Spitzenorganisation, in: Dietmar Süß (Hg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007, 27-40). Der Aufbau des aktiven und passiven Luftschutzes erfolgte anfangs in kleinen Schritten. Ein Blick in meine Heimat, dem Hochsauerland, kann dies verdeutlichen. In der Kreisstadt Brilon präsentierte im August 1933 der Luftschutztrupp Ekkekard nach herzlicher Begrüßung durch Bürgermeister Sauvigny im Rathaus die Aufgaben und Ziele des „deutschen Luftschutzes“ (Sauerländische Zeitung 1933, Nr. 183 v. 11. August, 7), es folgte ein Vortrag, praktische Lehrgänge, dann die Ausbildung eines Lehrtrupps. Am 24. September feierte man im katholischen Vereinshaus die neu gegründete Ortsgruppe Brilon-Thülen des Reichsluftschutzbundes. NSDAP-Ortsgruppenführer Linhoff übernahm die Führung, Sauvigny wurde erster Stellvertreter, Feuerwehr, SA, SS und die Repräsentanten des Gymnasiums Petrinum waren im erweiterten Vorstand präsent (Ebd., Nr. 225 v. 29. September, 7). Kurz zuvor etablierte sich auch der Deutsche Luftsportverband in Brilon. Mit der vom Bürgermeister zugesagten Unterstützung wurde ein Flugplatz geplant und wenig später auch errichtet (Ebd., 1933, Nr. 202 v. 2. September). Luftabwehr und Pilotenrekrutierung gingen Hand in Hand. Josef Paul Savigny (1875-1967), rechter Zentrumsmann und aufgrund des Aufnahmestopps erst später NSDAP-Mitglied, war der bis heute stolz erinnerte Großvater des passionierten Fliegers Friedrich Merz (Merz: „Fliegen war schon immer der Traum meiner Jugend“, SZ.de 2022, Ausg. v. 3. August; Patrik Schwarz, Merz’ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied, taz 2004, Ausg. v. 22. Januar). Brilon war typisch für kleinteilige Veränderungen im gesamten Deutsche Reich.

Diese banden allerdings beträchtliche (Human-)Ressourcen. Männer hatten vorrangige Aufgaben in Produktion und Wehrmacht, Frauen und die noch nicht waffenfähige Jugend sollten die Lücken schließen: „Deren Erziehung und Schulung im Frieden für ihre Aufgaben im Krieg erweitert den Aufgabenkreis des Staates auch in geistig-ethischer Hinsicht. Jeder Staatsbürger muß von dem selbstlosen Pflichtbewußtsein und Opferwillen zum Wohle des Volksganzen durchdrungen sein, nicht nur der männliche Teil der Bevölkerung […]“ (Winneberger, Der Luftschutz als staatspolitische Aufgabe, Bergedorfer Zeitung 1933, Nr. 246 v. 19. Oktober, 9). Luftschutz war zudem ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Experten, denn Planungsaufgaben wurden zentralisiert, der Städte- und Wohnungsbau erhielt neue Impulse, die urbane Verdichtung von Industrie und Bevölkerung war zu durchbrechen. Nicht länger sollte „das holde Chaos des Friedens“ herrschen, der Einparteienstaat konzentrierte sich auf seine Kernaufgabe: „Im Krieg begründet sich der Staat als Staat, und durch die beständige Bereitschaft zu ihm begründet er sich beständig neu“ (Hans Freyer, Der Staat, 2. Aufl., Leipzig 1926, 140, 143).

Standardslogans in den Tageszeitungen (Westfälischer Kurier 1938, Nr. 4 v. 6. Januar, 4 (o.); Tremonia, Ausg. F 1938, Nr. 42 v. 19. Februar, 12)

Das wurde im Sommer 1935 deutlich, als die „Luftschutzpflicht für alle Deutschen“ eingeführt wurde. Das Luftschutzgesetz vom 26. Juni bedeutete nicht nur eine Verreichlichung, also eine Zentralisierung und eine am Führerprinzip ausgerichtete Reorganisation. Paragraph 2 bestimmte auch, „daß alle Deutschen zur Dienst- und Sachleistung sowie zu sonstigen Handlungen, Duldungen und Unterlassungen verpflichtet sind, die zur Durchführung des Luftschutzes erforderlich sind.“ Damit gewann der NS-Staat Zugriffsrechte auf alle Personen und jedes Grundeigentum, die folgenden Entrümpelungsaktionen der Vorgärten und Dachböden unterstrichen dies praktisch (Die Luftschutzpflicht der Bevölkerung, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 307 v. 9. Juli, 5). Der federführenden Polizei, zunehmend aber auch den Amtsträgern des Reichsluftschutzbundes war Folge zu leisten, Zuwiderhandlungen standen unter Strafe. Schon im Februar 1935 war das Heimtückegesetz ausgeweitet worden, so dass jegliche Sabotage und Verächtlichmachung des Reichsluftschutzbundes und seiner Amtsträger strafrechtlich verfolgt werden konnte. Auch das Jedermann-Festnahmerecht nach § 127 der Strafprozessordnung erlaubte ein Vorgehen gegen Meckerer und Miesmacher. Nichtteilnahme an den immer häufigeren Schulungen konnte geahndet werden, symbolisch verhängte Haftstrafen unterstrichen dies (Luftschutz ist Pflicht!, Hakenkreuzbanner 1935, Nr. 567 v. 9. Dezember, 4). In den Folgejahren erweiterten Verordnungen und Ausführungsbestimmungen sowohl die Eingriffsrechte als auch die Strafmöglichkeiten (Neugliederung der Aufgaben im zivilen Luftschutz, Wilhelmsburger Zeitung 1937, Nr. 77 v. 3. April, 3). All das wurde umrahmt von einer drängenden, mit Hilfe detaillierter Hauslisten durchgeführten Mitgliederwerbung. Hinzu traten jährliche Werbewochen im Frühsommer, die von einer zweitägigen Haus- und Straßensammlung begleitet wurden (Aufruf des Reichsstatthalters, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 117 v. 20. Mai, 6). Formal war alles freiwillig, doch der Druck zum Mitmachen war wesentlich schneller spürbar als bei der Winterhilfe. All das waren zugleich Steilpässe für Maßnahmen gegen frei definierbare Miesmacher oder Miesriane, stellte Kritik – auch ohne Prügel – zunehmend still.

Werbung für den Reichsluftschutzbund

Der Reichsluftschutzbund warb anfangs weiter mit der Bedrohung aus dem Ausland, mit dem Zwang einer möglichst effizienten Gefahrenminderung: „Wir dienen unserm Vaterland, / zum Schutz für Heim und Haus / vor Fliegerangriff, Bomben, Brand / und giftger Gase Graus…“ (Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Entsprechend überrascht nicht, dass die Mitgliedzahlen im Westen und Norden des Reiches rasch anstiegen. In Hamburg war Ende 1934 bereits ein Fünftel der Bevölkerung Mitglied des Reichsluftschutzbundes (Luftschutz ist Selbstschutz!, Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 318 v. 17. November, 29). In Mittel-, Süd- und Ostdeutschland sowie den Mittel- und Kleinstädten und auf dem Lande lagen die Anteile jedoch deutlich niedriger (Der Luftschutz in unserer engeren Heimat, Bergedorfer Zeitung 1936, Nr. 114 v. 16. Mai, 9).

Der schützende Aar: Mitgliederwerbung des Reichsluftschutzbundes (Hildener Rundschau 1935, Nr. 31 v. 6. Februar, 8 (l.); Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1933, Nr. 189 v. 15. August, 5)

Nach dem Luftschutzgesetz intensivierte man nicht nur die Mitgliederwerbung, sondern forderte sie zunehmend ein: „Alle Volksgenossen haben die Pflicht, die militärischen Verteidigungsmaßnahmen durch ‚Selbstschutz‘ zu unterstützen. Bei einem Angriff ist die Zivilbevölkerung im Grenzlande ebenso großen Gefahren ausgesetzt, wie der Frontkämpfer im Schützengraben.“ Schließlich mache das Schutzkollektiv „jedem etwaigen Angreifer den Versuch eines Angriffes auf das deutsche Volk zu einer aussichtslosen Sache“ (Luftschutz ist Selbstschutz!, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 260 v. 7. November, 5). Bedrohung, Angst, Pflicht, dann auch Zwang; dies waren die Grundlagen für einen bemerkenswerten Rekrutierungserfolg.

Option für das Mitmarschieren (Illustriertes Tageblatt 1937, Nr. 176 v. 31. Juli, 6)

Im Jahr nach der Gründung hatte der Reichsluftschutzbund offiziell fast 2000 Ortsgruppen und etwas mehr als 2,5 Millionen Mitglieder (Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 100 v. 30. April, 14). Bis Ende 1936 war die Zahl auf etwa sieben Millionen hochgeschnellt, viereinhalb Millionen hatten Schulungsmaßnahmen durchlaufen. Parallel wuchs die Infrastruktur, etwa 2200 Schulen wurden von einer wachsenden Schar ehren- und hauptamtlicher Kräfte bespielt (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 2 v. 3. Januar, 3). Mitte 1936 tönte es dann fanfarenhaft von zehn Millionen, vier Jahre nach Gründung schließlich von zwölf Millionen Mitgliedern (Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 166 v. 21. Juli, 5). Reichsweit zählte man damals 3400 Luftschutzschulen, 65.000 Dienststellen, 490.000 meist ehrenamtliche Amtsträger sowie viereinhalb Millionen voll ausgebildete Selbstschutzkräfte. Und doch: „Bis zur vollkommenen Luftschutzbereitschaft des deutschen Volkes ist noch ein weiter Weg“ (Vier Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 128 v. 5. Juni, 5). Die vielfach nicht verlässlichen Zahlen waren Teil einer Propaganda immer neuer Superlative. Bei Kriegsbeginn sprach man von 14 Millionen Mitgliedern. Sie wurden technisch eingewiesen, hatten Verantwortung für ein Haus, auch eine Nachbarschaft, ergänzten idealiter Polizei und Feuerwehr. Die 1938 ca. 27.000 „Luftschutzlehrer und -lehrerinnen“ – der Nationalsozialist genderte – zielten zugleich auch auf die Ausbildung von nationalsozialistischen Kämpfern: „Dem Gedanken, ihn seelisch zu härten und ihn damit in seiner eigenen Ueberzeugung zu wappnen für die Stunde der Gefahr, sei die gesamte Ausrüstung unterstellt. Front und Heimat würden in Zukunft nicht mehr Einzelgruppen sein, sondern eine geschlossene Kampfgemeinschaft mit dem unerschütterlichen Willen, auch das Letzte für den Bestand des Volkes und der Nation einzusetzen“ (beides nach Erfolge des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 50 v. 1. März, 1).

Der Reichsluftschutzbund: Fachzeitschrift und Abzeichen (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 26 v. 30. Januar, 4 (l.) Jenaer Volksblatt 1933, Nr. 251 v. 26. Oktober, 8)

Da wir eine sächsische Kampagne genauer untersuchen werden, ist der Beitrag dieses „Grenzlandgaus“ von besonderem Interesse (peinlich verkürzt Stephan Dehn, „Die nationalsozialistische Propaganda in Sachsen 1921-1945“, Phil. Diss. Leipzig 2016 (Ms.), 293-294). Insgesamt waren in diesem wichtigen Industrieland etwa 300.000 Häuser zu verteidigen. 1936 gab es 700.000 Mitglieder, etwa vierzehn Prozent der Bevölkerung (Drei Jahre Reichsluftschutzbund in Sachsen, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 119 v. 23. Mai, 9). Gemeinden und Reichsluftschutzverband kooperierten bei der Erstellung von Hauslisten zur gezielteren Werbung (Statistische Erhebung für den Zivilen Luftschutz, Erzgebirgischer Volksfreund 1936, Nr. 225 v. 25. September, 5). Ende 1936 lagen die Mitgliedszahlen bei 825.000 Personen, Mitte 1938 dann bei mehr als 1,1 Millionen (Fünf Jahre Reichsluftschutzbund, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 137 v. 21. Juli, 7). Besonderer Wert wurde auf die Humanressource Frau gelegt: Ende 1936 waren 73.000 der 185.000 Luftschutzhauswarte und zwei Drittel der 75.000 Hausfeuerwehrleute weiblich, weitere 135.000 Laienhelferinnen standen parat. Bei den geschulten Amtsträgern betrug der Frauenanteil allerdings lediglich acht Prozent (Luftschutzarbeit in Sachsen, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 2 v. 2. Januar, 2). Sie alle sollten Schulter an Schulter mit der NSDAP den „Geist der Heimat halten“ und den NS-Staatsgedanken stützen (Die Parole des Reichsluftschutzbundes, Erzgebirgischer Volksfreund 1938, Nr. 80 v. 5. April, 3).

(Übertriebene) Masse als Werbeargument (Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 125 v. 2. Juni, 6)

Jede(r) ein(e) Kämpfer(in): Propaganda der klaren Aussagen

Gruppendruck und Zwang waren gewiss wichtige Elemente für diesen immensen Zuspruch. Doch zugleich zogen die Argumente der Verantwortlichen, zog die Propaganda: Ein sozialdemokratischer Bericht aus Bayern betonte im Sommer 1935, „dass ein grosser Teil der indifferenten Bevölkerung die deutsche Aufrüstung positiv beurteilt. Man bringt Verständnis dafür auf, dass Deutschland in der Umgebung hochgerüsteter Staaten ebenfalls aufrüstet. Der Pazifismus hat keine Anhänger mehr. Die Anordnungen des Luftschutzes werden mit grosser Disziplin befolgt und die Menschen, ob für oder gegen Hitler, sehen darin eine lebenswichtige Aufgabe“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 9, A-7). Man ging davon aus, dass „ein Krieg früher oder später“ kommen würde (Ebd., A-8).

Wenngleich in anderen Regionen auch andere Einschätzungen zu hören waren, so fand die seit der Weimarer Republik betriebene Propaganda doch offenkundig Resonanz. Die anfängliche Gleichgültigkeit breiter Bevölkerungsschichten nahmen die Verantwortlichen sehr wohl wahr, reagierten darauf aber im Sinne der sich entwickelnden Werbewissenschaft: „Jede Propaganda, die Erfolg haben soll, ist […] so zu gestalten, daß sie die persönliche Anteilnahme derjenigen weckt, auf die sie wirken soll“ (Hartmann, Aufklärung im Luftschutz, Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 256 v. 19. Oktober, 16, auch nachfolgend). Gefahrensensibilisierung und der Appell an den Beschützerinstinkt gingen Hand in Hand. Dagegen setzte man erstens „Aufklärung durch Wort“, also Vorträge und Rundfunkfeatures, zweitens eine „Aufklärung durch Bild“. Sachliche Werbeplakate sollten weder übertreiben, noch beunruhigen, ebenso die wachsende Palette von Diapositiven in den Kinos, Klischees für Zeitungen und Theaterprogramme sowie Schaubilder und Fotos von der Luftrüstung anderer Nationen, insbesondere Frankreich, Großbritannien und der UdSSR. Drittens schließlich gab es „Aufklärung durch sonstige Mittel“. Dazu zählten Luftschutzausstellungen, Flugveranstaltungen, die im urbanen Raum präsenten Bombenattrappen. Luftschutz wurde Pflichtfach im Schulunterricht.

Zudem konfrontierte man die Bevölkerung immer stärker mit Vorstellungen eines totalen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung geführten Krieges: „Ein künftiger Krieg wird nicht mehr sein wie einst, ein Kampf von Armee gegen Armee, er wird ein Volkskrieg sein“. Der zivile Luftschutz wurde als Truppe der Heimat geadelt, als „Bestandteil unserer Wehrmacht, […] genau so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist, wie die Aufstellung neuer Truppenkörper“. Alle hätten „die heilige Pflicht, […] eure Heimat im Innern so zu verteidigen und in der Heimat so zu kämpfen, wie der Soldat in der vordersten Linie kämpft und sein Leben für euch und uns alle opfert“ (Zitate aus Werdet Mitglieder des Reichsluftschutzbundes!, Wilhelmsburger Zeitung 1936, Nr. 126 v. 2. Juni, 3). Die Berichterstattung über den seit 1934 laufenden Bombenkrieg Japans in China, den Giftgaskrieg Italiens gegen die abessinische Bevölkerung und den Einsatz der Luftwaffen im spanischen Bürgerkrieg verwies immer wieder auf die hierzulande erforderliche Vorsorge, den aktiven und freiwilligen Einsatz beim Reichsluftschutzbund. Das galt zumal für Frauen. Göring betonte: „‚Deutschland kann – wenn es einmal angefallen wird – keine schwachen und entnervten Frauen brauchen. Sie werden es um so leichter haben, in der Stunde der Gefahr die Nerven zu behalten, je eher und umfangreicher sie über alle Gefahren und über das, was sie dagegen zu tun haben aufgeklärt sind!‘“ (Deutsche Frau, bist Du bereit?, Erzgebirgischer Volksfreund 1937, Nr. 247 v. 22. Oktober, 3). In der Verteidigung des eigenen Heims, der eigenen Familie könne die Frau ihren Mann stehen.

Suggestion von Sicherheit: Die Volksgasmaske (Hamburger Fremdenblatt 1938, Nr. 201 v. 23. Juli, 37 (l.); Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 207 v. 5. September, 6)

Der 1937 beginnende Verkauf der „Volksgasmaske“ manifestierte nicht nur den sorgenden Staat, sondern machte die immer wieder betonte Gefahr auch leiblich spürbar. Objektiv war sie kaum effektiv, ihr Vertrieb musste zudem wiederholt aufgrund von Rohstoff- und Vertriebsproblemen unterbrochen werden (Karen Peter (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 6/I: 1938, München 1999, 849). Das galt ebenso für den aus Kostengründen vernachlässigten Bunkerbau. Doch die Propaganda, die regelmäßigen Schulungen, Appelle und Übungen im unmittelbaren Umfeld, zielte eben nicht vorrangig auf militärische Effizienz, sondern auf die Schaffung einer Luftschutzgemeinschaft, die auch den Wehrmachtssoldaten ihren Kriegsdienst einfacher machen sollte: Sichere Heimatfront, erfolgreicher Eroberungskrieg. Dieses geistige Band sei im „totalen Krieg von ausschlaggebender Bedeutung“ (Buersche Zeitung 1938, Nr. 58 v. 1. März, 1).

Einübung des Ernstfalls: Verdunkelungsübungen

Die Miesrian-Kampagne 1938 unterstützte all dies, doch sie war zugleich Teil der wohl eindringlichsten Kontroll- und Werbemaßnahme des Reichsluftschutzbundes, den Verdunkelungsübungen. Bombenkrieg wurde antizierend durchgespielt. Erst ging es um einzelne Industrie- oder Hafenanlagen, einzelne Nachbarschaften, dann um urbane Zentren, schließlich um ganze Regionen. Die Verdunkelung wurde lange vor ihrer militärischen Umsetzung während des Zweiten Weltkrieges zu einem in der Presse stetig präsenten Alltagsphänomen. Anfangs war man darüber noch erstaunt, so wenn etwa Gewährsleute berichteten, dass in Bielefeld „die ganze Stadt, mit Ausnahme des Bahnhofs, völlig verdunkelt werden musste. Auch der Verkehr war stillgelegt“ (Deutschland-Berichte 1, 1934, Nr. 10/11, A-7). Dieses Erstaunen legte sich rasch, mochte der „Luftschutzrummel“ auch immer wieder Unbehagen und Versuche des Wegduckens hervorrufen (Deutschlands-Berichte 3, 1936, Ebd., Nr. 4, A-63).

Für die Propagandisten hatten die Verdunkelungsübungen besonderen Wert, „da sie einem großen Personenkreis vor Augen führt – soweit dies übungsmäßig möglich ist –, in welchem Maße Deutschland luftempfindlich ist, wie sehr jeder einzelne und alles, was ihn persönlich angeht, im Falle eines Luftangriffes bedroht und gefährdet wird“ (Hartmann, 1933, 16). Die Effizienz der Luftschutzmaßnahmen konnte augenscheinlich überprüft werden. Wichtiger noch war der rechtsverbindliche Zugriff auf die Bevölkerung und ihre Grundstücke, Häuser und Wohnungen. Unabhängig von einer Mitgliedschaft beim Reichsluftschutzbund hatten die „Volksgenossen“ die für die Verdunkelung erforderlichen Hilfsmittel aus eigener Tasche zu bezahlen und präzisen Verhaltensroutinen zu entsprechen. Der Luftschutz gebar zugleich eine wachsende Zahl von kleinen Führern und Führerinnen, die in Haus und Nachbarschaft bedingte „Polizeifunktion und Befehlsgewalt“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17) besaßen, die Abweichungen unmittelbar weitermelden konnten. Der „Volksgenosse“ war unter dauerhafter Beobachtung, denn schließlich konnte die Verdunkelung an der Nachlässigkeit Einzelner scheitern.

Geschäftsfeld Luftschutzgemeinschaft (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 432 v. 18. September, 26)

Seit 1936, nach dem einseitig aufgekündigten Ende der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages, wurden die Übungen weiter intensiviert: „Ganze Landstriche werden verdunkelt, bis in die entlegensten Gehöfte“ (Deutschland-Berichte 3, 1936, Nr. 8, A-3). Parallel intensivierte man den Luftschutz in größeren Betrieben (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-17-A-18). Oppositionelle Beobachter sprachen von Kriegsvorbereitung, von Maßnahmen, die in den anderen Ländern nicht ihresgleichen hätten (Kriegsvorbereitung, Neuer Vorwärts 1936, Nr. 162 v. 19. Juli, 8). Sie wurden jedoch, wie auch die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen, generell willig akzeptiert. Aus München hieß es, „dass die Teilnehmer, selbst solche die sehr skeptisch die Arbeit des RLB beurteilen, durch die Vorträge von der Wichtigkeit einer wirksamen Abwehr gegen Luftangriffe überzeugt wurden und zum Teil die grossartige Organisation des RLB bewundern“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, H. 3, A-16). Auch die verpflichtende Einberufung der gesamten jüngeren Bevölkerung für den Luftschutzdienst lief relativ reibungslos. Diese Rekrutierungserfolge überdeckten jedoch Fragen nach der Effizienz all dieser Maßnahmen, denn Verdunkelungsübungen erfolgten mit längerem Vorlauf. Alarmübungen zeigten dagegen oft gravierende Defizite. Ein sächsischer Großbetrieb war angesichts plötzlich anfliegender Bomber der Luftwaffe nicht verdunkelt: „Alles flüchtete hilferufend. […] Vielfach hörte man Rufe wie: ‚Die Russen kommen!‘ Von Luftschutz war in dieser Panik nichts zu spüren“ (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 6/7, A-06).

Für die Verantwortlichen bedeutete dies Schulungsbedarf und eine stete Verfeinerung der Verdunkelungsübungen: In Leipzig begannen sie 1934, fanden dann in meist jährlichem Abstand statt (Noch nicht dunkel genug?, Deutsche Freiheit 1934, Nr. 232 v. 6. Oktober, 7; Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 10, A-13). Anfangs beschränkte man die Übungen auf kurze Zeitspannen und ließ Straßenverkehr und Reichsbahn großenteils unbehelligt. Die gängigen Zeitungsartikel betonten anspornend: „Alle waren mit Feuereifer und Disziplin dabei“ (Die Reichshauptstadt im Dunkeln, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 67 v. 20. März, 5). Das traf nicht wirklich zu: Bei der Dresdner Verdunkelungsübung stellte der Übungsleiter ernüchtert mangelnde Mitarbeit der Bevölkerung mit: „Es sei erstaunlich, […] daß es im Dritten Reiche noch immer Leute gibt, die nicht begreifen, um was es geht“ (Dresdner Bevölkerung macht Kriegsübungen nicht mit, Sozialdemokrat 1935, Nr. 254 v. 1. November, 2). Die Verdunkelungsübungen wurden auch deshalb zeitlich und räumlich deutlich ausgeweitet, weil man dann direkt intervenieren konnte. Berlin wurde im September 1937 gleich sechs Tage hintereinander verdunkelt (Pulsnitzer Anzeiger 1937, Nr. 221 v. 22. September, 2). An die Seite der Luftschutzverbände traten nun auch die zunehmend aufgebauten Luftschutzeinheiten der Wehrmacht. Anfangs brach das den Elan der Massenschulung, da viele davon ausgingen, dass die Destruktionsspezialisten Sicherheit garantieren würden. Dagegen aber wandte sich die Propaganda, belebte schon lange vor Kriegsbeginn die Vorstellung einer neuerlich bestehenden „Heimatfront“. In der Zeitungsdatenbank Zeit.Punkt NRW fand sich dieser Begriff 1933 ganze 64 Mal, 1935 dann 653 und 1938 424 Mal. Mit Beginn des Weltkrieges wurde er dann wieder ubiquitär (1939 2202 Nennungen).

Reichsweit ähnliche Vorgaben für Verdunkelungsübungen, hier im schlesischen Gleiwitz (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 3, 1936, H, 6, A-11)

Der innere Feind, der Miesmacher

„Miesmacher sind auszurotten, genau so wie die vielen Parteien und Verbände, die sich uns entgegenstellen“ (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 181 v. 22. Juli, 7). So hieß es während der bis zum Sommer 1933 reichenden Machtergreifungsphase, in der es nicht nur darum ging, konkurrierende Parteien zu verbieten, bestehende Institutionen zu besetzen und neue Organisationen zu schaffen. Es ging um das Stillprügeln der Opposition, das Stillstellen von Widerspruch und ein Ende der Meinungsfreiheit. Politische Meinungsäußerungen wurden nun als „Grober Unfug“ geahndet, zunehmend aber auch als Heimtücke, Vorbereitung zum Hochverrat und als Wehrkraftzersetzung. Die NSDAP und ihre Organisationen wurden unter besonderem Schutz gestellt, auch wenn sich die Verfolgung der „Äußerungsdelikte“ anfangs vorrangig gegen Mitglieder der KPD richtete (Gunther Schmitz, Wider die »Miesmacher«, »Nörgler« und »Kritikaster«, zur strafrechtlichen Verfolgung politischer Äußerungen in Hamburg 1933 bis 1939, in: »Für Führer, Volk und Vaterland …« Hamburger Justiz im Nationalsozialismus, hg. v.d. Justizbehörde Hamburg, Hamburg 1992 (ND 2019), 290-331).

Miesmacher hatte es während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur noch auf allen Seiten des politischen Spektrums gegeben, wechselseitig benannte man so Andersdenkende. Das Begriffsfeld war weit, neben die Miesmacher traten Meckerer, Nörgler, Kritikaster, Besserwisser, Kümmerlinge, Reaktionäre, Spießer, Saboteure, Störer, Stänkerer, etc. Doch 1933 wurde der Bedeutungskorridor wieder inhaltlich verdichtet. Der Miesmacher wurde Teil der staatlichen Sprache, bezeichnete Gegner der NSDAP und ihres vermeintlichen Aufbauwerkes, ebenso alle Zweifler, Widerredner, Witzereißer, alle Seitensteher (Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin und New York 2000, 403-404). Während in der Literatur die irrige Auffassung vorherrscht, dass die Miesmacher und Kritikaster erst durch die von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) im Mai 1934 initiierten Propagandakampagne „gegen Miesmacher, Kritikaster und Nörgler“ zum öffentlichen Negativthema wurden, gehörten derartige Negativbezeichnungen bereits seit Mitte 1933 zum Standardrepertoire. Die NSDAP verkörpere schließlich das Volk in seiner ganzen Breite, während der wöchentlichen Ausspracheabende ständen die ehrenamtlichen NS-Leiter Rede und Antwort, böten eine basisdemokratische Alternative zum Parlamentarismus (H. Dilcher, Die Schulungsabende der NSDAP, Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 100, 1933, 542). Negativversprechen folgten, gegen die „Miesmacher werde unerbittlich vorgegangen werden“ (Die Mobilmachung des Mittelstandes, Pfälzer Bote für Stadt und Land 1933, Nr. 157 v. 12. Juli, 3).

Das diente gewiss auch der Beruhigung der NS-Aktivisten. Doch schon im Juni 1933 hieß es in einem Runderlass des preußischen Ministerpräsidenten und Ministers des Innern Hermann Göring: „Es ist in letzter Zeit verschiedentlich beobachtet worden, daß Beamte, Angestellte und Arbeiter in der Unterhaltung mit anderen Personen Aeußerungen bekunden, die geeignet sind, Unzufriedenheit über die von der nationalen Regierung getroffenen Maßnahmen zu erzeugen und Mißtrauen zu säen. Es handelt sich um Personen, die man mit dem Ausdruck ‚Miesmacher‘ treffend kennzeichnen kann. Ich bitte, jegliche Beamten, Angestellten und Arbeiter darauf hinzuweisen, daß künftig in solchen Methoden eine Fortsetzung der marxistischen Hetze erblickt wird und Miesmacher als verkappte Marxisten angesehen werden, die sich auf diese Weise noch immer im marxistischen Sinne betätigen“ (Bekämpfung des Miesmachertums, Volksgemeinschaft 1933, Nr. 156 v. 28. Juni, 2). Derartige Miesmacher mussten durch ihre Vorgesetzten gemeldet werden, dies zu unterlassen wurde „als betonte Solidaritätserklärung mit solchen Wühlern und Hetzern“ betrachtet. Kritik hatte zu unterbleiben, andernfalls konnte die berufliche Existenz rasch zerstört werden. Zeitgenossen werteten dies teils als Wiederkehr entsprechender Regelungen des Kaiserreichs, des Kulturkampfes, des Sozialistengesetzes, der Maßnahmen gegen Majestätsbeleidigungen und der strikten Zensur während des Ersten Weltkrieges (Miesmacher hinaus!, Die Stunde 1933, Nr. 3089 v. 1. Juli, 5). Auch symbolisch publizierte Verhaftungen deutete man als Wiederkehr des Alten, des Morschen (Miesmacher in Schutzhaft genommen, Eibenstocker Tageblatt 1933, Nr. 154 v. 4. Juli, 3).

Handgreifliches Vorgehen gegen den inneren Feind (Illustrierter Beobachter 9, 1934, 957)

Doch im völkischen Staat handelte es sich nicht mehr länger um Maßnahmen, die man durch begrenztes Wohlverhalten stillstellen konnte. Die Schaffung einer „gesunden“ Volksgemeinschaft schloss Minderheiten systematisch aus. Das galt für Juden, für „Erkranke“, für „Asoziale“, Homosexuelle, für Sinti und Roma, für ernste Bibelforscher, für „Arbeitsscheue“ und „Berufsverbrecher“, für alle, die dem Ideal der zu schaffenden Gemeinschaft nicht entsprachen. Negativbegriffe wie der Miesmacher, die Miesriane, verwiesen auf den schmalen Grat zwischen Gemeinschaft und „Gemeinschaftsfremden“. Die sprachlich ubiquitäre Verwendung während der NS-Zeit machte deutlich, dass grundsätzlich alle nicht nur Einvernehmen zeigen mussten, sondern dass es praktischer Taten bedürfe, um sich als Mitglied der Gemeinschaft, auch der Luftschutzgemeinschaft zu präsentieren. 1934 handelte es sich um berechtigte Kritik vorwiegend konservativer Kräfte, „die heimlich wühlende Reaktion“ (Unser Wille und Weg 4, 1934, 183; vgl. Hans Kröger, Gestern und heute. Die Kampfbroschüre gegen Miesmacher und Kritikaster, Leipzig 1934). Doch das Verdikt konnte grundsätzlich Jeden treffen, die während der Kampagne tausendfach gezeigten Transparente „Miesmacher sind Landesverräter! Nicht meckern, sondern arbeiten!“ (Kurt Pfeil, Wie wir unsere Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster organisierten, Unser Wille und Weg 4, 1934, 226-230, hier 228) unterstrichen dies.

Der Maßnahmenstaat ruft sich in Erinnerung (Bremer Zeitung 1934, Nr. 133 v. 15. Mai, 6)

Die Negativfigur des Miesmachers unterstrich zugleich die relativ beliebige Reichweite der Ausgrenzungen, die nicht länger an klar definierte rassistische, biologisch-eugenische, politische oder soziale Kriterien gebunden waren. Sie repräsentierte den Maßnahmenstaat, den vorbeugenden Verbrecherschutz, forderte mehr als passives Einreihen, stand für eingeforderte Bejahung, den Kampf, die Tat. Die Miesmacher sollten einen inneren Läuterungsprozess durchmachen, entsprechend erhielten sie Mahnungen und Zeit zur Einkehr. Das war die Gnade des moralisch handelnden NS-Staats, der seine Machtmittel moderat einsetzte, um die „sittlich-seelischen Energien des gesamten Volkes“ zu mobilisieren und in jedem Einzelnen zu verankern: „Der einheitliche Wille also, geboren aus der Erkenntnis des Notwendigen für Volk und Nation, wird dieses Reich festigen, und daß jeder die Notwendigkeiten erkenne, darum geht es in diesem Kampf“ (Adolf Kriener, Um die Erkenntnis der Notwendigkeiten. (Zu dem Kampf der Bewegung gegen Miesmacher und Kritikaster.), Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 101, 1934, 457-458, hier 458).

Dem Miesmacher, der auch nach der 1934er Kampagne nicht nur nicht verschwand, sondern in immer wieder neuen Formen den Alltag verbal und visuell begleitete, stand entsprechend immer etwas Positives entgegen. In dessen Ablehnung lag bereits die Rechtfertigung für das Einschreiten und die Abwehr der Mehrzahl, der Gemeinschaft. Nationalsozialismus war Lebensfreude, nicht Muckertum, nicht umsonst war der schon im Kaiserreich zum Pflichtkanon der Grundschule zählende Rundgesang „Freut euch des Lebens“ auch Motto der Organisation Kraft durch Freude. Nationalsozialisten agierten öffentlich, Miesmacher und Miesriane dagegen im Dunkel, im Hintergrund, „um im ‚geeigneten‘ Augenblick ihre mißtönenden Stimmen desto lauter ertönen zu lassen“ (Dämpfling, Meck meck meck…!, Die Bewegung 4, 1936, Nr. 46, 9). Die „Meckerer und Miesmacher schließen Türen und Fensterländen vor dem Sturm der Geschichte, kochen ihr Süppchen auf kleiner Flamme, klammern sich an das Glück im Winkel. Unfähig, ihre Herzen und Hirne der mythischen Volksgemeinschaft zu öffnen, bleiben sie Gefangene des eigenen, kleinen Ich“, so das frühere BDM-Mädel Eva Sternheim-Peters (1925-2020) (Habe ich denn allein gejubelt. Eine Jugend im Nationalsozialismus, München 2016 (ebook), s.p.). Im Dunkel aber agierten die Schädlinge, die während des Karnevals 1936 staatsnah hervorgehobenen „Wühlmäuse“ (Karneval in Mariadorf, Aachener Anzeiger 1938, Nr. 28 v. 3. Februar, 4), die öffentlich stetig bekämpften Hamster. Miesmacher wurden von den staatlich geduldeten Narren ohnehin NS-brav bekämpft, so etwa vom Weiß Ferdl (1883-1949) in seiner Kölner Büttenrede 1935 (Kölnische Illustrierte Zeitung 10, 1935, 245).

Der Meckerer – im Gegensatz zum bejahenden Herrn Froh, als Zielobjekt für die Verachtung der Mehrheit (Berliner Morgenpost 1938, Nr. 1 v. 1. Januar, 14; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1936, Nr. 15637 v. 12. September, 5)

Die Verdunkelungsübung in Dresden, Leipzig und Bautzen 1938

Damit haben wir den historischen Rahmen gesteckt, um uns nun der sächsischen Miesrian-Kampagne vom März 1938 gezielt zu widmen. Sie führt uns in den Alltag dieser Zeit; so alltäglich, dass sie selbst von reflektierenden Zeitgenossen übergangen wurde. Am 20. März 1938 schrieb der in Dresden lebende Romanist Victor Klemperer (1881-1960) in sein Tagebuch: „Die letzten Wochen sind die bisher trostlosesten unseres Lebens“ (Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, 6. Aufl., Berlin 1996, 399). Er bezog sich damit auf die Integration Österreichs in das Deutsche Reich, wachsenden Antisemitismus sowie ihn persönlich betreffende Vertragsverletzungen deutscher Geschäftspartner. Die anstehende Verdunkelungsübung erwähnte er nicht; und dass, obwohl er als „Jude“, so die NS-Bezeichnung für den konvertierten Protestanten, noch Bestandteil der deutschen Luftschutzgemeinschaft war. Erst im Oktober 1938 wurde er ausgeschlossen, nur in vorrangig von Juden bewohnten Häusern durfte diese zunehmend ausgegrenzte Minderheit noch Luftschutz leisten (Lemke, 2001, 378).

Wie oben schon angedeutet, hatte es in den vier Luftschutzgauen des Staates Sachsen bereits regelmäßige Verdunkelungsübungen gegeben, die eine ganze Reihe wiederkehrender Mängel feststellten. Die künstliche Dunkelheit besaß ihren eigenen Reiz, Jugendliche und junge Erwachsende scherten sich vielfach nicht um die Vorgabe, das übliche Leben fortzuführen, sondern strömten in Innenstädte und nach Aussichtspunkten, um dem Schauspiel direkt beizuwohnen (Luftschutzübungen, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 228 v. 9. September; Rückschau auf die Verdunkelungsübung, Erzgebirgischer Volksfreund 1935, Nr. 75 v. 29. März, 5). Der Beginn der Übung blieb vielfach unklar, die Sirenensignale ebenso. Die Bevölkerung verdunkelte zwar das eigene Wohnzimmer, nicht aber die anderen Räume, so dass bei jedem Hin und Her der Lichtschein sichtbar wurde. Zudem dachten viele von der Straße her, verdunkelten die Fronten, nicht aber die Hinterhöfe. Lichtschleusen wurden anfangs nur selten berücksichtigt, so dass Licht beim Verlassen und Betreten der Häuser sichtbar wurde. Besondere Probleme bereitete der Straßenverkehr, bei dem Fahrräder, Automobile, der öffentliche Nahverkehr und teils auch die Eisenbahn rigide abblenden mussten. Die passive Sicherheit der Passanten ließ zu wünschen übrig, immer wieder rannten Fußgänger ineinander, kollidierten mit Fahrrädern oder gar Autos (Dippoldiswalde im Dunkel, Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 61 v. 13. März, 1). In der Tat bedeutete die Verdunkelung ein Abstreifen zentralen Errungenschaften der modernen Daseinsvorsorge. Die Einführung der Straßenbeleuchtung erfolgte in Leipzig bereits 1701.

Verdunkelte Stadt während einer Luftschutzübung (Unsere Frauen und die Jugend im Luftschutz, Düsseldorf s.a., 32)

Zugleich aber musste die Luftschutzgemeinschaft ihre virtuelle Höhle mit modernen Mitteln sicherstellen. Jedes Haus, teils jede Etage musste ein Alarmsignal, eine Klingel haben, die Alarmsirenen allein reichten nicht aus. Die Dachböden mussten entrümpelt sein, Sandsäcke enthalten, Hacke, Axt und Schaufel waren für jedes Haus verpflichtend. Die Bewohner hatten eine Hausapotheke einzurichten, insbesondere Verbandsmaterial vorrätig zu halten. In jedem Haus gab es Verantwortliche für den Erste-Hilfe-Einsatz. Wassereimer mussten gefüllt und an zuvor festgelegte Plätze gebracht werden. Auch wenn es keine Uniformpflicht gab, so hatte doch der Hauswart imprägnierte Kleidung und für den Ernstfall geeignetes Schuhwerk zu tragen. Volksgasmasken waren nur bei Gasalarm aufzusetzen, doch auch die Bewohner sollten gefahrenadäquat ausgestattet sein, möglichst Stahlhelme parat haben (Deutschland-Berichte 4, 1937, Nr. 12, A-08). All dies konnte von den Luftschutzhauswarten und -amtsträgern kontrolliert werden, Abweichungen wurden kritisiert, eventuell sanktioniert. Die Polizei war mit ihren vielfach aus SA-Leuten bestehenden Hilfskräften mobilisiert und sollte bei Fehlverhalten „strengstens“ eingreifen. Verdunkelungsübungen waren Bewährungsproben der Luftschutzgemeinschaft: „Von allen Kreisen der Bevölkerung wird erwartet, daß sie diese Übung, die ausschließlich im Interesse des Gesamtwohls der Bevölkerung abgehalten wird, das notwendige Verständnis entgegenbringt und sie durch sachgemäßes Verhalten und gute Verdunkelungsdisziplin wirksam unterstützt“ (Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaft Dresden-Bautzen, Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 23 v. 3. Februar, 8).

Luftschutz als Markt: Spezialversandgeschäft (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 124 v. 15. März, 13)

Die Wiederholungen schufen ansatzweise Ablaufsicherheit, doch die zeitliche Ausweitung der Übungen und auch die langsam verminderten Vorwarnzeiten stellten immer wieder neue Herausforderungen. Gefordert wurden „wirkliche Verdunkelungs-Maßnahmen“, so dass das Ausschalten des Lichtes und ein frühes Schlafengehen nicht ausreichte (Merkblatt für die Verdunkelungsübung, Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1935, Nr. 225 v. 26. September, 5). Abblendmaterial musste vorliegen, ebenso Blenden und Kappen für die Verkehrsmittel. Parallel zeigte der Maßnahmenstaat seine Zähne: Jede Verdunkelungsübung wurde offiziell bekanntgemacht, das Luftschutzgesetz und die regionalen Polizeiverordnungen erlaubten nicht nur Geld-, sondern auch Haftstrafen. Die Übungen wurden durch exemplarisches Strafen begleitet, wobei man auch Haus- und Gutsbesitzer vorführte (Wegen ungenügender Verdunkelung verurteilt, Sächsische Volkszeitung 1936, Nr. 231 v. 2. Oktober, 6). Begleitet wurde all dies schon lange vor der Miesrian-Kampagne durch Kampfansagen an die Miesmacher. Göring betonte wiederholt: „Wir wollen jenen den Kampf ansagen, die glauben, daß sie miesmachen und kritisieren könnten in einer Zeit, in der das ganze Volk in unsagbarer Hingabe an die Arbeit für die Zukunft wirkt“ (Für Deutschlands Sicherheit, Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1937, Nr. 278 v. 29. November, 7). Das war allerdings eine Gradwanderung, denn die Übungen zielten ja auf Kritik an den Vorkehrungen, an den „Volksgenossen“. Kritik, so hieß es stets, sei erforderlich, doch sie müsse positiv, konstruktiv sein. Wo die Grenze verlief, darüber entschieden die NS-Granden. Hier lag ein strukturelles Problem des NS-Staates, denn Regime mit abgedämpfter Kritik sind weniger leistungsfähig als offene Gesellschaften, da sie immer nur nach wenigen regimetreuen Richtungen hin optimieren können.

Öffentliche Erinnerung an die anstehende Verdunkelungsübung – und gereimte Begleitpropaganda (Weißeritz-Zeitung 1937, Nr. 56 v. 8. März, 3 (l.); Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 133 v. 20. März, 5)

Die „schlagartige“ Verdunkelungsübung im März 1938 wurde am 28. Februar 1938 bekannt gegeben (Bekanntmachung Betr.: Schlagartige Luftschutzverdunkelungsübung im Bereiche der Kreishauptmannschaften Dresden-Bautzen und Leipzig, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 49 v. 28. Februar, 5). Die Standardanforderungen wurden verschriftlicht, die Defizite früherer Übungen explizit angesprochen. Das betraf die Hinterhofbeleuchtung, die Lichtschleusen, die Einstellung vermeidbaren Fußgängerverkehrs. Besonderes Augenmerk legte man auf die Regulierung des Straßenverkehrs. Die Kenntnis der erlaubten „Nichtlampen“ war eine Wissenschaft für sich, gab es doch regelmäßig Verbesserungen seitens der quirlig-interessierten Industrie. Parallel schwang man die Werbetrommel für neue Mitgliedschaften im Reichsluftschutzbund, für den Kauf der Volksgasmaske (Jeder braucht –, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 52 v. 3. März, 1; Jeder erwirbt die Volksgasmaske!, Ebd., Nr. 66 v. 19. März, 1).

Der Ankündigung der Übung folgte dann Mitte März eine stete Erinnerung an den Terminkorridor (Ein Mittel des Selbstschutzes, Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3; Dass., Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 33 v. 19. März, 12). Der Termin selbst blieb erst einmal in der Schwebe, die Mobilisierung erhielt ein Spannungsmoment. Die Presse begleitete diese Zwischenzeit mit präzisen Anforderungen, mit Appellen gegen unsolidarische „Bequemlichkeit“ (Ratgeber für die Verdunkelung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 65 v. 18. März, 9). „Strengste Disziplin“ wurde gefordert, die Luftschutzaktivisten gebührend belobigt: Niemand dürfte sich „widerspenstig, gleichgültig oder unverständig“ zeigen, da er ansonsten „das Leben Tausender von Mitmenschen“ auf Spiel setzte. Licht an falscher Stelle sei „Verrat für ein ganzes Stadtgebiet“ (Zitate n. Warum Verdunkelungsübung?, Dresdner Neuste Nachrichten 1938, Nr. 66 v. 19. März, 6). Zugleich aber lockte man, denn bei reibungslosem Verlauf müsse künftig seltener geübt werden. Und schließlich hatte das Warten ein Ende: Am 21. März 1938 hieß es, dass die Verdunkelungsübung am morgigen Dienstag von 18 bis 23 Uhr in den beiden Kreishauptmannschaften (und Luftschutzgauen) Dresden-Bautzen und Leipzig stattfinden würde.

Amtliche Veröffentlichung des Verdunkelungstermins am 22. März 1938 (Ottendorfer Zeitung 1938, Nr. 34 v. 22. März, 1)

Die Miesrian-Kampagne

Eine der Verkürzungen der historischen Analyse der nationalsozialistischen Propaganda ist der Glaube an den just propagierten zentralistischen Führerstaat. Hitler auf dem Reichsparteitagsgelände, auf dem Bückeberg, vor der Ewigen Wache. Goebbels im Sportpalast, beim Reichspresseball, bei Ansprachen vor den Kulturschaffenden. Die neue Medienwelt von Wochenschau und Rundfunk hat derartige Bilder in unseren Köpfen verankert – und diese propagandistischen Ereignisse wurden gezielt choreographiert und genutzt, um den „schönen Schein der Diktatur“ schauerlich-anschaulich einzubrennen. Dieses Zerrbild des Großen ist jedoch auch irreführend, lenkt ab von der Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda. Mit dem digitalen Zugriff auf die lange ignorierte Bild- und Textwelt der Zeitschriften und Zeitungen wird diese jedoch zunehmend greifbar. Die großen Kampagnen fanden nicht nur ihren Widerhall am Frühstücktisch, beim Friseur und beim Feierabend, sondern sie wurden in der Regel erweitert und spezifiziert. Kampagnen wie Kampf dem Verderb oder Groschengrab bestanden eben nicht nur aus den häufig reproduzierten Plakaten, sondern auch und gerade aus kleinteiligen Artikeln, Bildmotiven, Comicserien, Appellen, Rezepten etc. Die NS-Propagandaforschung blickt auf die Spitze des Eisberges, kann dessen Weite aber nicht einschätzen, denn derartige Forschung fehlt. Dabei waren dezentrale, vielfach nur auf einzelne Regionen und Städte begrenzte Maßregeln für den Erfolg der allgemeinen Vorgaben und Appelle von hoher Bedeutung. Derartig kleinteiligere Propaganda war passgenauer, erläuterte die Reden und Vorgaben der NS-Granden. Dadurch wurden sie nachvollziehbarer, praktischer. Die Miesriam-Kampagne ist dafür ein Beispiel – und ihre Analyse kann helfen, die Zerrbilder des Großen zu hinterfragen. Der Alltag der propagandistischen Lockung, Unterhaltung und Lenkung war konturenreicher als es uns die gängigen Bilder in unseren Köpfen nahelegen. Erst mit ihrer Hilfe ist das nicht nur willige, sondern vielfach auch freudige Mitmachen und Tun der meisten Deutschen angemessen zu erklären.

Der Miesrian war eine in der Forschung bisher nicht bekannte regionale Variante des reichsweit bekannten Miesmachers. Solche gab es auch andernorts, etwa Herrn Mieslich, der 1936/37 mehrfach im Ruhrgebiet und im Münsterland auftauchte ((Elli Haese, Jungmädel in der Jugendfilmstunde, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1936, Nr. 286 v. 17. Oktober, 10; Was wir täglich mit Füßen treten, Münsterischer Anzeiger 1937, Nr. 408 v. 7. September, 5). Den Begriff Miesrian konnte ich abseits der hier vorgestellten Kampagne nur noch ein weiteres Mal finden, nämlich bei einem von Reichsinnenminister Heinrich Himmler (1900-1945) im Mai 1938 veröffentlichten Erlaß gegen die eifrig bekämpfte Waldbrandgefahr: „Immer und überall werden wir ihm hart auf den Fersen bleiben, wenn er sich unterstehen sollte wieder einmal einen Bummel in unseren Wald zu machen. Bei der geringsten Gelegenheit werden wir diesen Miesrian beim Schlafittchen nehmen und ihn dorthin bringen, wo er hingehört!“ (Herr Mieslich… mal sonntags früh… Kennen Sie den Waldbanausen?, Der Neue Tag 1938, Nr. 144 v. 27. Mai, 7)

Genauere Forschung dürfte das Feld jedoch weiten. Schließlich bieten die recht unvollständigen Digitalisierungen der NS-Zeitungen und Zeitschriften nur eine Scheinsicherheit des Rechercheergebnisses. Die für die Miesrian-Kampagne eigentlich einschlägige Datenbank Sachsen.digital ergibt bei Volltextrecherche lediglich eine Nennung, beredter Ausdruck sowohl der völlig unzureichenden Digitalisierungsqualität der eingescannten Mikrofiches als auch der eingesetzten OCR-Technologie. Miesrian wurde von deutsch-amerikanischen Sprachwissenschaftlern jedenfalls auch als typisch nationalsozialistische Parole der seit 1933 laufenden Erzeugungsschlacht der deutschen Landwirtschaft präsentiert: „‚Nicht meckern!‘ ‚Kein Miesrian sein!‘ auch wenn Butter und Eier mitunter knapp sind […]“ (Harry W. Pfund, Kleine Sprachwanderung – Neue Wörter in Neuer Zeit, Monatshefte für Deutschen Unterricht 31, 1939, 41-45, hier 44). Als Teil der vielen Neologismen des Luftschutzes nannte man ihn allerdings nicht.

Motive 1 und 2 (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 58 v. 10. März, 3 (l.); Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 60 v. 11. März, 4)

Nun aber blicken wir ihm endlich ins Gesicht, dem Herrn Miesrian, dessen griesgrämiges Konterfei nichts Einladendes hatte. Er wurde  den Lesern denn auch so präsentiert, wie sie ihn aus den vielen bereits erwähnten Tiraden der Kritik und der Ausgrenzung kannten: „Herr Miesrian, der Pessimist / Ein ‚Prachtstück‘ seiner Gattung ist. / Ein rückständiger, negativer / Mensch, so blicket er nicht tiefer / In die Erfordernisse ein, / Die für’s Volksganze nötig sein. / Wie stellt sich denn Herr Miesrian / Bei ‚ner Verdunklungsübung an? / Du sollst nun hier ab morgen hören / Von einem, der nicht zu belehren.“ Bild und Gedicht standen am Beginn einer zehnteiligen Serie, die am 10. sowie am 11. März 1938 in den führenden Tageszeitungen der Kreishauptmannschaften Leipzig und Dresden-Bautzen erschien. Sie war Begleitpropaganda der große Verdunkelungsübung. Allerdings fehlte sie in vier durchaus ordentlich digitalisierten Tageszeitungen der nicht direkt betroffenen Kreishauptmannschaft Chemnitz, nämlich dem Eibenstockener Tagblatt, dem Erzgebirgischen Volksfreund, dem Frankenberger Tageblatt, dem Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt und Anzeiger. Auch in anderen Regionen fand sie keinen Widerhall.

Die Serie erscheint Tag für Tag, so dass Zeitgenossen den Termin der Verdunkelungsübungen im Vorfeld fast hätten erraten können. Aufgrund unterschiedlicher Erscheinungsweisen endete die Geschichte von Herrn Miesrian in drei Fällen erst am 23. März, also nach Ende der Übung. Die als „dunkle“ Geschichte in 10 Bildern überschriebene Serie war moralisch, zeigte die Fährnisse und Abwege eines gemeinschaftsfremden Außenseiters, der beim Verdunkeln außen vor blieb, sich gegen das Volksganze stellte. Die einzelnen Episoden waren analog aufgebaut, folgten den wachsenden Verstrickungen des sich selbst ausgrenzenden Herrn Miesrian. Den Blickfang bildete stets eine Zeichnung: Achtmal war der negative Held zu sehen, dreimal Ordnungskräfte als Verkörperung der Autorität des nationalsozialistischen Staates. Die Bilder waren zumeist durchnummeriert, Ausnahmen gab es lediglich beim ersten und zweiten Motiv. An den Blickfang schloss sich im Land der Dichter und Denker durchweg ein Gedicht an. Die Einführung war zehnzeilig, dann folgten acht Sechszeiler, schließlich am Ende ein Vierzeiler. Ergänzt wurden sie ab dem zweiten Motiv durch ein mit erhobenem Zeigefinger geziertes zweizeiliges Motto, das bei Motiv 10 gar vierzeilig auswaberte. Während die Zeichnungen des von mir nicht identifizierten „Roland“ dem üblichen Standard der Zeit entsprachen, insbesondere Licht und Schatten gut einfingen, galt dies nicht für die Gedichte und Motti, deren sprachliche Qualität weit unter der üblichen Reimpropaganda lag.

Doch es ging nicht um künstlerische Werte, sondern um die ahndungswürdigen Fehler im Umfeld der Verdunklungsübung. Miesrian wurde im zweiten Bild durch den uniformierten Amtsträger an seine Pflicht erinnert, doch er wies die ausgestreckte Hand des Sendboten der Luftschutzgemeinschaft schnöde zurück: „Der Luftschutzhauswart klopfet an / Beim Zeitgenossen Miesrian: / ‚S’wird bald Verdunklungsübung sein / Drauf richten bitte Sie sich ein!‘ / Doch der sagt: ‚Kommt ja nich in Frage / Sowas, auf meine alten Tage!‘ / Motto: Zur bittren Wahrheit ward’s schon vielen: Wer nicht hören will, muß fühlen!“

Motive 3 und 4 (Der Bote von Geising und Müglitztal-Zeitung 1938, Nr. 31 v. 15. März, 11 (l.); Pulsnitzer Anzeiger 1938, Nr. 67 v. 21. März, 10)

Das dritte Motiv bringt uns den Negativhelden etwas näher. Miesrian hieß Emil, war ein mittelständischer Händler, der in seinem kleinen Laden „Bedarfsartikel für Meckerer u. Spießer“ verkaufte. Das war plumpe Häme, spielte aber auf gängige Nachlässigkeiten nicht nur dieses Inhabers an: „Miesrian schließt Laden ab / Und setzt nach Hause sich in Trap. / Dieweil sie heut Verdunklung üben, / Will er nichts sehen mehr nach sieben.– / Ei, was wird wohl der Schutzmann meinen, / Sieht er die Firm’beleuchtung scheinen?? / Motto: Laß leuchten weit Dein Licht hinaus – / Doch zur Verdunklung schalt es aus!“ Wie schon beim zweiten Motiv finden wir unterschiedliche Verantwortlichkeiten, unterschiedliche Adressaten. Der Sechszeiler präsentierte und erläuterte das Fehlverhalten des negativen Individuums, zeigte Miesrian als nachlässigen Zeitgenossen, nicht interessiert an völkischen Notwendigkeiten. Das Motto weitete jedoch den Einzelfall, richtete sich an alle Leser. Sie sollten sich selbst erkennen, ihre innere Fahrlässigkeit überwinden, sich eingliedern in die achtsame Luftschutzgemeinschaft.

Unser Negativheld wurde aber nicht nur bildlich als eine schlaffe schmerbäuchige Person ohne Haltung präsentiert. Emil war zwar noch ein gängiger Vorname, wurde aber immer seltener vergeben, hatte seine besten Zeiten bereits hinter sich. Er spiegelte also die alte, die durch den Nationalsozialismus überwundene Zeit. Und er war zudem sprechend, stand er doch nicht nur für eine heutzutage wieder hervorgehobene Eifrigkeit, sondern im Gefolge von lateinisch aemilius im Umfeld von Eifersucht und Konkurrenz. Emil M. neidete seinem Umfeld ihren Erfolg, erhob sich über andere „Volksgenossen“, bewertete sie und ihre Taten abschätzig. Wichtiger aber war sein Nachname, vor allem die erste Silbe, das kennzeichnende „mies“. Sie war jiddischen Ursprung, bezeichnete etwas Hässliches, Verachtenswertes, etwas Unangenehmes, Widerliches. Hinzu kamen Bedeutungsnuancen von krank und kränklich (Hans Peter Althaus, Chuzpe, Schmus & Tacheles. Jiddische Wortgeschichten, 5. Aufl., München 2024 (ebook), 129-134). Mies reichte zurück ins frühe 19. Jahrhundert, war damals schon in Berlin verbreitet (https://www.dwds.de/wb/mies?o=Mies). Als Abgrenzungs- und Klagebegriff war mies deutlich älter als der Miesmacher, der erst um 1900 als Teil der Soldatensprache aufkam. Festen Tropen gab er Gehalt, beim miesen Hund, beim miesen Schwein, auch bei der miesen (Börsen-)Stimmung. Das Assoziationsfeld war sprechend, ließ Begriffe wie boshaft, bösartig, garstig, gehässig, gemein, niederträchtig, ruchlos, schäbig, schändlich, übel und verrucht hervorscheinen. Ja, Emil Miesrian trug ein schweres Erbe. Und es fehlte ihm offenbar die spätere Leichtigkeit des Wiener Miesmachers, der sich aller Denunzierung zum Trotz im Flüsterwitz stolz und mannhaft zum Gegenhalten bekannte: „Achtung! Achtung! Ich muß mich nicht nennen / Sie werden mich sowieso erkennen. / Ich bin der Mann, der bescheidene Mann, / der den Goebbels zum Rasen bringen kann, / gegen den der Göring am meisten bellt, / gegen den der Hitler in Tobsucht fällt. / Ich bin einer von den Millionen, / die nicht in Wolkenschlössern wohnen, / die nicht jeden Schmäh‘ und jeden Dreh‘ / und jede Meldung des OKW / für Wahrheit halten und nicht wie die Narren / den Hitlerdreck und den Goebbelsschmarren / und die ganze Propaganda fressen / und jedes Versprechen sofort vergessen / und jeden Schwindel mit Wonne schlucken / anstatt ihn kräftig auszuspucken. / Mich macht man nicht blöd, mich haut man nicht hin. / Also, Sie wissen schon wer ich bin; ein Miesmacher“ (Franz Danimann, Flüsterwitze und Spottgedichte unterm Hakenkreuz, Wien, Köln und Graz 1983, 75).

Emil M. hatte im März 1938 ganz andere Sorgen, war er doch augenscheinlich wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten: „Miesrian kommt an zu Hause / Begibt sich gleich in seine Klause / Überlegt, was tun er könnt.— / Am Wagen noch das Standlicht brennt. / Ein Schupomann notiert die Nummer; / Für Miesrian ein neuer Kummer!“ / Motto: Ein Auto mit ‚nem Glorienschein / Darf bei Verdunklung niemals sein!“

Motive 5 und 6 (Dresdner Neueste Nachrichten 1938, Nr. 64 v. 17. März, 20 (l.); Der Freiheitskampf 1938, Nr. 76 v. 18. März, 8)

Während draußen die Polizei Meldung über Miesrians Fahrlässigkeit machte, begann dieser in seinem Heim zu lamentieren: „Herr Miesrian flucht Stein und Bein: / ‚wie schränkt man uns die Freiheit ein! /Man kann nich mal – ich seh’s ja hier – / Heut abend zum gewohnten Bier!! / Die Kneipen finster, weil verschlossen…‘ / So meckert Miesrian verdrossen. / Motto: Um Deine Lippe zu beleuchten / Brauchts Gasthaus nicht nach außen leuchten.“ Verfehlter Freiheitsdrang war den Nationalsozialisten ein steter Dorn im Auge, hatten sie doch ihre eigene Vorstellung von Freiheit, nämlich eine völkisch gebundene, eine der nicht stillzustellenden Idee ehrlichen Kampfes. Und das Lamento war offenkundig unbegründet, vorausgesetzt man wusste, wie man richtig verdunkelte. Niemand hatte schließlich die Kneipen geschlossen, verwehrte den arbeitenden Menschen ihr verdientes Feierabendbier.

Und doch, weiteres Ungemach nahte für den unleidlich hadernden Miesrian. Denn vor lauter innerem Groll hatte er abermals die Verdunkelung vergessen. Das Auge des Gesetzes aber wachte: „In seiner Wohnung macht jetzt Licht / Herr Miesrian.– Das darf er nicht!! / Weil, ohne Fenster abzublenden / Viel Lichtstrahl sie nach außen senden. / Zur Straße fällt der helle Schein – – / Mensch, Miesrian, was fällt Dir ein!?“ Motto: Willst straflos Du bei Lichte sitzen, / Mußt Du verdichten alle Ritzen!“ Miesrian wollte es nicht besser wissen, schmollte einsam vor sich hin. Der fröhlich geduzte Volksgenosse aber hatte noch die Chance auf Übungsbewährung. Er würde seine Fenster, seine gesamte Wohnung vorschriftsmäßig verdichten, für ihn war die Polizei nicht Gegner, sondern der vielbeschworene Freund und Helfer.

Motive 7 und 8 (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 132 v. 19. März, 9 (l.); Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 65 v. 18. März, 3)

Noch waren zwei, drei Tage Vorlauf bis zur Übung, noch konnte man lernen, sich den Kundigen anschließen. Selbst Miesrian bequemte sich gezwungen zum Verdunkeln; um gleich den nächsten Fehltritt zu begehen: „Als Miesrian, nach vielem Drängen / Nun seine Fenster tat verhängen – / Fand er’s zu Hause nicht mehr schön, / Und wollt mal auf die Straße gehen; / Macht Licht im Flur, macht auf die Tür, / Ein Lichtstrom flutet draus herfür! / Motto: Ne Lichtschleuse ist stets vonnöten, / Will ‚finster‘ man ins Freie treten!“ Ja, die Lichtschleuse, eines der schönen neuen Wörter des Luftschutzes. Das war ein kleiner Zwischenraum, durch schwere Vorhänge leicht zu erstellen, in den man aus einem hellen Raum trat und diesen verschloss, bevor man sich in den nächsten Raum oder auch in die Dunkelheit begab.

Miesrian aber dachte nicht mit, würde dem feindlichen Bomberpiloten im Ernstfall durch seinen Lichtschein den Weg zur Zerstörung weisen. Als ignoranter Alter konnte er sich nicht vorstellen, dass selbst ein Kerzenschein in der Finsternis strahlen könne, war für ihn doch alles grau, alles trübselig. Und folgerichtig lenkte er neuerlich der Feinde Anflug: „Voll Neugier läuft er kreuz und quer / In der stockdunklen Stadt umher. / Der Appetit auf-was zu rauchen / Läßt einen Lichtschein auf jetzt tauchen / Mensch, Miesrian, bist du verrückt?? / Hat denn der Teufel dich gezwickt??? / Motto: Im Ernstfall wird’s dem Feinde weisen, / Wo er die Bombe hinzuschmeißen!“ Miesrians Tun war unachtsam, Ausdruck fehlender Selbstzucht und einer selbstbezüglichen Genusssucht. Der Polizist, der mahnende und verwarnende „Volksgenosse“ wurde zwar nicht mit gezeichnet, doch würden auch sie die glimmende Nikotinröhre sehen, würden ihn zur Rechenschaft ziehen.

Motive 9 und 10 (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 68 v. 22. März, 1 (l.); Illustriertes Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8)

Am Ende der dunklen Geschichte stand neuerlich Ignoranz und Selbstbezüglichkeit: „Miesrian sieht Autos nahn, / Die beleuchtet fahrn heran. / ‚Die machens auch wie ich, die Leute.‘ Miesrian stellt’s fest mit Freude. / Doch gleich darauf merkt er verdattert, / Daß – Polizei vorüberrattert! / Motto: Mit Parklicht fahrn gestattet sei / Nur Feuerlösch- und Schutzpol’zei!“ Im nationalsozialistischen Volksstaat gab es durchaus Privilegien, doch sie waren Ausdruck höherer Verantwortung. Die Rettungs- und Ordnungskräfte würden im Ernstfall ihre Knochen hinhalten müssen, nicht aber Miesrian. Und daher war ihre fordernde Aufgabe kein Blindflug, denn ohne ein schwaches Licht würde die rettende und ordnende Tat die Gefahr nur vergrößern. Jeder verstand dies, jeder, der sich in eine Hierarchie einordnen konnte. Miesrian aber beharrte darauf, dass ihm die gleichen Rechte hätten zugestanden werden müssen; obwohl sein Handeln zuvor gemeinschaftsgefährdend war.

Emil Miesrian verblieb allein, verdattert ob der um ihn herum laufenden Schutzmaßnahmen. Er verstand nicht, musste entsprechend auf Linie gebracht werden: „Jetzt kommt das dicke Ende nach! / Miesrian besieht bei Tag / Den Haufen zudiktierter Strafen, / Die die ‚Belohnung‘ für den ‚Braven‘!“ Das war ein letzter Wink für den Gemeinschaftsfremden. Er traf ihn empfindlich, in seinem Geldbeutel. Und er würde wissen, dass danach die Haft drohte. Das war der langmütige Selbstschutz der Volksgemeinschaft. Selbst Pimpfe wussten das. Sie, auch andere, würden den Wandel aber auch erzwingen. Denn Miesrian hatte ja gewiss über die letzte Sonnenwendfeier in Altenberg gelesen, in denen drei Strohpuppen ins Feuer geworfen wurden, „den Miesmacher, den Neunmalweisen und den Neider“ (Der Bote vom Geising und Müglitztal-Zeitung 1937, Nr. 72 v. 2. Juni, 3). Wer seine Nachbarn, wer sein Volk fahrlässig dem Brandtod anheim gab, musste damit rechnen, dass ihm andere zuvorkommen würden. Die Leser aber würden aus Miesrians teuren Verfehlungen die richtigen Konsequenzen ziehen: „Motto: Wer ‚contra‘ gibt, hats nie bequem, / und teuer ist es außerdem. – / Drum, Volksgenossen, seid ‚auf Draht‘, / Wenn die Luftschutzübung naht!!“

Miesrian wurde strafrechtlich gezüchtigt; und so würde es allen Miesrianen, allen Miesmachern geschehen. Während die Arbeiter, die Angestellten, die Bauern und Landarbeiter, Jugendliche und Hausfrauen ihre Pflicht erfüllten, gab es immer noch bürgerlicher Überbleibsel aus liberalistischer Zeit, die allen Mahnungen zum Trotz einem verfehlten, sein Volk gefährdenden Individualismus frönten. Die Propaganda gegen die Miesriane, gegen die Miesmacher endete damit nicht. Sie fand in den Folgejahren immer neue Formen, zu nennen sind die wesentlich breiter gefassten Kampagnen über Herr und Frau Spießer 1939/40, über Herrn Bramsig und Frau Knöterich 1941/42 sowie die in Rundfunk und Wochenschau erfolgreiche Liese-Miese-Kampagne von 1943/44. Bis Kriegsende zog die NS-Propaganda gegen die Miesmacher, die Spießer, die Nörgler und Besserwisser zu Felde. Beide deutschen Nachfolgestaaten schlossen daran an, entwickelten und bekämpften ihre neuen strukturell ähnlichen Feindbilder. Und daran hat sich bis heute nur wenig geändert.

Doch leisten wir uns noch etwas mehr Distanz. Victor Klemperer überlebte die Judenverfolgung durch Nationalsozialisten und Mitbürger. Er hatte nicht nur in seinem Tagebuch Zeugnis abgelegt, sondern der Germanistik mit seiner Sprachkritik des Nationalsozialismus neue, nur zögerlich beschritte Wege eröffnet. Er verwies auf die vielen neuen Worte, summierte, „der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden“ (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Frankfurt a.M. 1982, 21) Der Fachmann für romanische Literatur des 17. bis 19. Jahrhundert unterschätzte dabei allerdings zweierlei: Die NS-Sprache nutzte erstens vielfach Wendungen und Worte aus der Kriegszeit und auch der Weimarer Republik, mochten sie dann auch umgedeutet werden. Winterhilfe und Eintopf sind dafür gute Beispiele – und ganz gewiss der chamäleonhafte Begriff des Miesrians, des Miesmachers. Zweitens wurden diese neuen Worte nicht unbedingt aufgezwungen, sondern vielmehr teils lustvoll aufgegriffen, verwendet und fortentwickelt. Die als Begriffe und Imaginationen weiterlebenden Propaganda-Figuren Groschengrab und Kohlenklau unterstreichen dies ebenso wie die seit einem Jahrzehnt ja wieder modischen „Volks“-Begriffe in der Produktwerbung. Die LTI, die Sprache des Dritten Reiches, war zudem keineswegs immer „die Sprache des Massenfanatismus“ (29). Im Gegenteil waren viele dieser Worte Ausdruck moderner Markttechniken, präzise zugespitzt auf klar definierte Zwecke. Nicht Atavismus kam hierin zum Ausdruck, sondern der Gestaltungswille formal gebildeter Experten. Der Luftschutz bot dafür zahlreiche Beispiele.

Evaluation einer Verdunkelungsübung

Die Miesrian-Kampagne hatte eine dienende Funktion, sollte Verdunkelungsübungen optimieren, Fehler vorab „ausmerzen“. Entsprechend wurde weit stärker als bei früheren Übungen über die lokalen Geschehnisse in der Presse berichtet. Dies waren, gewiss, geschönte Beschreibungen durch willfährige Journalisten. Doch in diesem Fall gab es eine Gegenöffentlichkeit, denn die Bewohner konnten selbst sehen und urteilen. Und so dürften wir in den sieben eigenständigen Berichten über Bischofswerda, Dippoldiswalde, Dresden, Leipzig und Riesa doch einen Lichtschein der Wahrheit erhaschen… (Fünf Stunden Verdunkelung, Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8; Oertliche Eindrücke von der Verdunkelungsübung, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1938, Nr. 69 v. 23. März, 3; Ost- und Nordsachsen 5 Stunden verdunkelt, Weißeritz-Zeitung 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1; Ganz Nord- und Ostsachsen lag im Dunkeln, Der Freiheitskampf 1938, Nr. 81 v. 23. März, 5; Fünf Stunden Dresden ohne Licht, Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 138 v. 23. März, 4; Wohlgelungene Verdunkelungsübung, Sächsische Volkszeitung 1938, Nr. 70 v. 23. März, 2; Heidenauer und Dresden-Pirnaer Tageblatt 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1).

Die Negativfigur hatte ihre Aufgabe offiziell erfüllt (Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1)

Die lokalen Berichte präsentierten die Verdunkelungsübung am 22. März 1938 als ein spannendes Ereignis mit durchaus offenem Resultat. War man vorbereitet? Wird alles klappen? Die Artikel waren fast durchweg chronologisch aufgebaut, setzten am späten Nachmittag ein, beschrieben die anlaufende Verdunkelung, die einbrechende Dämmerung, schließlich die freudig erwartete und öffentlich gefeierte Entdunkelung um 23 Uhr. Atmosphäre wurde geschildert, ein geplantes Geschehen mit offenen Elementen. Anders also als die Appelle, Belobigungen, das Fahnensenken und Fahnenhissen im ritualisierten Ablauf des NS-Terminplans vor Ort.

Grundsätzlich dominierte das Lob an die Teilnehmer, wurden Fortschritte gegenüber früheren Übungen gerne konzediert. Und doch gab es auch mittlere Bewertungen, abhängig auch vom Zackigkeitsgrad der Berichterstatter. Das Lob war summarisch, doch die kleinen Vergehen, die Fahrlässigkeiten vor Ort dominierten die Zeilen. Die Übung begann vor Eintritt der Dunkelheit, bot also eine gewisse Übergangszeit, die von vielen weidlich genutzt wurde, ehe um 19 bis 19.30 Uhr all dies hätte wirklich sichtbar werden können. Nutzten die Volksgenossen diesen Freiraum aus, trotz virtuell angreifender Bomberflotten? Wie strikt wurde kontrolliert, wenn die Verdunkelung erst langsam, nicht schlagartig einsetzte? Trotz klarer Ansagen im Vorfeld, trotz explizierter Präsentation in der Miesrian-Kampagne, gab es weiterhin Licht in den Hinterhöfen, beleuchtete Firmenschilder, weit scheinende Lichtschleusen. Die Journalisten bewegten sich im urbanen Raum, entsprechend eingängig berichteten sie über den abgeblendeten Verkehr, über kleinere Zwischenfälle und durchaus vorkommende Unfälle. Vor Ort gewannen sie auch einen Eindruck von der Art der Verdunkelung. Neben den fachgerechten Auskleidungen der Fenster und Türen gab es doch eine größere, nicht zu quantifizierende Zahl von Bewohnern, die im dunklen Heim verweilten, das Licht ausgeschaltet ließen oder früh ins Bett gegangen waren. Kritik gab es an den vielen, allzu vielen Passanten, den Gaffern und Schaulustigen auf den Straßen.

Bordsteinanstrich als Orientierungshilfe (Kurt Knipfer und Werner Burkhardt, Luftschutz in Bildern, Berlin s.a. [1935], 63)

Die Beschreibungen waren wertend, vielfach moralisch. Lichtverbrecher und Verräter wurden benannt, zugleich aber die pflichtbewusste Arbeit der Helfer und Amtsträger des Luftschutzbundes anerkennend belobigt. Die Journalisten waren nur selten allein unterwegs, sie berichteten „embedded“, nahmen an Kontrolltouren der Verantwortlichen Teil, sahen den offiziellen Kontrolleuren gleichsam über die Schulter. Dadurch sahen sie mehr als die Passanten, die Bewohner in ihren Wohnungen. Sie besetzten die Höhen, schauten auf die Städte hinunter, vom Weißen Hirsch auf Dresden, vom Völkerschlachtdenkmal auf Leipzig, von Wassertürmen und Anhöhen. Das war Pressedienst für die Leser. So präzise manche Einzelbeobachtung auch war, so tönte doch zugleich eine uneigentliche Sprache, verpackte Kritik in freundlichen Worten. Zugleich aber klang durch die Schilderungen die nicht explizite Rückfrage, ob die Übung nicht nur eine Simulation der Abwehrbereitschaft im Ernstfall sei, sondern die Übung selbst eine Simulation der Übung. Die Menschen agierten wie von ihnen gefordert, doch sie nutzten die begrenzten Freiräume, spielten eine Rolle in einer öffentlichen Inszenierung. Eine Bruchlinie bildeten die wenigen Zuwiderhandlungen, die klar benannt und rasch sanktioniert wurden. Hervorgehoben wurden die stets präsenten Ordnungskräfte und Strafandrohungen, die latenten Drohungen waren in die Reportagen eingewoben. Am Ende aber stand Zufriedenheit, Lob, Freude ob des gemeinsam Erreichten, Freude an der zunehmend wirklichen Luftschutzgemeinschaft eines wieder stolzen und wehrhaften Volkes. Zuversichtlich hieß es: „Aus dem 98prozentigen Erfolg, wie er gestern war, wird dann ein hundertprozentiger werden“ (Der sächsische Erzähler 1938, Nr. 69 v. 23. März, 8). Es bedurfte daher kaum der solchen Ereignissen immer nachgereichten offiziellen Bewertungen, die da lauteten – gähn –, daß die Verdunkelungsübung „ein voller Erfolg“ gewesen sei (Dresdner Nachrichten 1938, Nr. 144 v. 26. März, 5).

Defensivparolen für aggressive Wehrhaftigkeit (Die Umschau 43, 1939, 1075)

Auch des Miesrians wurde nochmals gedacht, mochte er auch bereits über alle Berge sein. Er rieb sich bei einzelnen Zwischenfällen „gewiß schmunzelnd die Hände“, manches erinnerte an „eine kleine miesrianische Episode“ („Miesrian“ war über alle Berge…, Elbtal-Abendpost 1938, Nr. 69 v. 23. März, 1). Gleichwohl war dies eine Ausnahme, denn Miesrian gehörte nach diesem Erfolg der Vergangenheit an, war überwunden. Die verachtens- und bemitleidenswerte Propagandafigur hatte sich selbst erledigt, mochten auch weitere Übungen folgen.

Nicht vergessen werden sollte, dass fast zeitgleich in Mittelböhmen eine ähnliche, von einem virtuellen Luftangriff auf Prag eingeleitete Luftschutzübung stattfand. Die Beanstandungen verdoppelten die jenseits der nördlichen Grenze (Bomben und Finsternis, Sozialdemokrat 1938, Nr. 70 v. 24. März, 4). Sozialdemokratische Gewährsleute waren angesichts dieser Übungen vom baldigen Einmarsch in die Tschechoslowakei überzeugt (Deutschland-Berichte 5, 1938, H. 5, A-24g). Der aber erfolgte anders als erwartet. Auf der Münchener Konferenz vom 29. September 1938 – kurz zuvor hatte in der Kreishauptmannschaft Chemnitz eine weitere Verdunkelungsübung stattgefunden, die sich erstmals am „Dauerzustand“ des Alarms ausrichtete (10 Gebote für Verdunkelungsübungen, Frankenberger Tageblatt 1938, Nr. 212 v. 12. September, 7) – wurde das tschechische „Sudetenland“ dem Deutschen Reich zugesprochen, auch Polen und Ungarn besetzten Teile des Staatsgebietes. Dadurch war keine sinnvolle Verteidigung der zerbrechenden Tschecho-Slowakei mehr möglich, der Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 in die westlichen Restgebiete erfolgte ohne militärischen Widerstand, ohne denkbare Luftangriffe. Für die früheren Bündnispartner Frankreich und Großbritannien bot das Münchner Abkommen allerdings einen wichtigen Zeitgewinn. Die damals eingeleiteten Rüstungsanstrengungen waren grundlegend für den Abwehrerfolg Großbritanniens in der Luftschlacht um England 1940/41.

Spiegelungen – der virtuelle und der reale Krieg

Wann beginnen Kriege? Der Rückblick auf den „passiven“ Luftschutz, auf die damit unmittelbar verwobene Miesrian-Kampagne, kann ein Anlass sein, die Periodisierungen der Kriege zumindest etwas in Frage zu stellen. Reichsluftschutzbund, Luftwaffe und Wehrmacht hatten seit Jahren den Krieg in den Köpfen durchgespielt, im Informationsraum hatte man ihn schon fast sicher gewonnen, mochte man den eigenen Friedenswillen auch immer beschwören.

Der Zweite Weltkrieg wurde in Europa wiederum von den Landheeren dominiert, doch er war von Anbeginn der direkten Kriegshandlungen immer auch ein Bombenkrieg. Am 1. September 1939 wurde das polnische Wielun bombardiert, es folgten Angriffe der Luftwaffe auf mehr als 150 polnische Städte ohne Truppen. Das Flächenbombardement von Warschau währte vom 24. bis zum 26. September 1939, und die Bomberbesatzungen töten mehr als 10.000 Menschen (Thomas Hirschlein, Deutsche Luftangriffe auf polnische Städte im Herbst 1939, in: Karin H. Grimme, Stephan Horn und Stephan Lehnstaedt (Hg.), Die Luftwaffe im „Dritten Reich“. Verbrechen, Zwangsarbeit, Widerstand, Berlin 2022, 62-74). Kurz vor der Kapitulation der Niederlande erfolgte am 14. Mai 1940 aufgrund von Übertragungsfehlern ein Bombenangriff auf Rotterdam, mehr als 800 Personen kamen dabei um. Daraufhin begann die britische Royal Air Force (RAF) Bombenangriffe auch auf Ziele östlich des Rheins.

Freude am Bombenkrieg der Luftwaffe – Abscheu gegenüber dem Bombenkrieg von RAF und US-Air Force (Simplicissimus 45, 1940, 493 (l.); ebd. 48, 1943, 239)

Der Miesmacher tauchte nun auch in den noch wenigen Luftschutzräumen auf, typologisch begleitet vom Gerüchtemacher, dem Witze-Reißer, dem Luftschutz-Superspezialist, dem Spaßvogel, dem Stänkerer (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 288 v. 7. Dezember, 9). Noch konnte man lachen, glaubte an die Effizienz der eigenen Luftabwehr. Erste recht wirkungslose Angriffe auf deutsche Städte, insbesondere auf die Reichshauptstadt Berlin, boten der deutschen Führung seit Mitte August 1940 dann den Anlass für Nacht- und schließlich auch Tagesangriffe auf London und zahlreiche weitere Industrie- und Hafenstädte. Sie führten bis zum Ende regelmäßiger Bombardierungen im Mai 1941 unter beträchtlichen eigenen Verlusten zu etwa 43.000 Toten. Die deutsche Presse, auch große Teile der Bevölkerung, bejubelten diese Attacken, sahen in ihnen nicht nur eine berechtigte Vergeltung, sondern auch Vorboten des nahen Sieges. Begriffe wie „ausradieren“ oder „coventrieren“ unterstrichen den mitleidslosen Jubel über den Tod der anderen.

Technische Fortschritte unterminierten derweil die Handlungsroutinen der Verdunkelungsübungen. Seit 1941 wurden die britischen Bomberflotten zunehmend durch Radarnavigation gelenkt, so dass der Lichtschein am Boden an Bedeutung verlor. Die mechanische Verdunkelung konnte seit 1942 auch durch Infrarotgeräte ausgehebelt werden, die Wärmestrahlung auffingen (Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, 3. Aufl., München 2002, 414-415). Und doch spielte man weiter das Spiel von Sehen und Gesehenwerden, wollte kein Ziel sein: „Mit der Allgegenwart am Himmel hatte der Feind freie Sicht erobert. Wie Gottes strafendes Auge sah er alles, […]. Dies auszuhalten ist schwer, und vermutlich gab das gemeinsame Sinken in die Höhlenfinsternis die Illusion eines Fürsichseins zurück“ (Ebd., 415).

Die Luftschutzgemeinschaft in der Bewährung (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 221 v. 16. August, 5 (l.); Illustrierter Beobachter 18, 1943, Nr. 34, 2)

Die deutschen Abwehrmaßnahmen waren bis 1942 an sich erfolgreich, denn den Briten gelang es nicht, die industriellen und militärischen Strukturen des Deutschen Reiches substanziell zu gefährden. Der aktive Luftschutz, die Kombination aus Früherkennung, Luftwarnung, Flak- und Jägereinsatz erlaubte der RAF einzig den Einsatz der Bomberflotten gegen weiche Ziele, also Flächenbombardements von Groß- und Mittelstädten aus großer Höhe. Auch wenn insbesondere die kombinierten Angriffe der britischen und US-amerikanischen Bomberflotten während der Luftschlacht um Hamburg vom 24. Juli bis 3. August 1943 zu verheerenden Schlägen gegen Hafen und Industrie führten, etwa 34.000 Menschen töteten und mindestens 125.000 verletzten, so blieb dies noch eine Ausnahme. Die Verluste der rasch expandierenden deutschen Rüstungsindustrie lagen 1943 lediglich bei etwa fünf Prozent der Kapazität, im ersten Halbjahr 1944 noch darunter (Werner Wolf, Luftangriffe auf die deutsche Industrie 1942-45, München 1985, 135). Die höchsten Produktionswerte wurden im Herbst 1944 erreicht. Die Grundlagen der Rüstungsproduktion wurden erst durch relativ präzise Angriffe der US-Air Force auf die Metallverarbeitung, die Treibstoffversorgung und das Verkehrsnetz zerbrochen – also durch die Angriffe, die die RAF 1942 aufgegeben hatte. Anders gewiss die Bilanz für die Zivilbevölkerung: „Männer, Frauen und Kinder in Nachthemden, in panischer Angst um ihr Leben in die Keller rennend, sollten die prägenden Gestalten der kommenden Realität darstellen und nicht die uniformierten, unter dem Luftschutzhelm ruhig hervorblickenden Kämpfer“ (Lemke, 2005, 331).

Der Bombenkrieg war unerbittlich, unterstrich die sittliche Verrohung aller Seiten. Die erfolgreicheren Luftwaffen der Alliierten kämpften den Luftschutz nieder. Noch im August 1944 verfügte das Deutsche Reich über 39.000 Luftabwehrbatterien, die von mehr als einer Millionen Menschen bedient wurden (Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkrieges, überarb. Neuaufl., Hamburg 2002, 619). Doch ohne angemessene Jägerunterstützung und angesichts fehlenden Treibstoffs und knapper Munition wurde die Abwehr zertrümmert. Noch aber ertönte die Propaganda des passiven Luftschutzes, etwa aus dem fast täglich bombardierten Ruhrgebiet: „Wenn die Nächte gellen: Alarm, Alarm! / Wenn die Mütter reißen ihr Kind in den Arm, / dann steigt aus der Roten Erde / grimmig der Ruf empor: / Vorwärts ihr Bombenkämpfer, / wir siegen trotz Tod und Terror“ (K. Kränzlein, Lied der westfälischen Bombenkämpfer, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 7 v. 10. Januar, 5). Doch der Reichsluftschutzbund war nicht in der Lage, die Zerstörungen der Häuser wirksam zu begrenzen. Die Vorkehrungen haben jedoch, in Kombination mit dem unzureichenden Bunkerbauprogramm, zahllose Menschenleben gerettet. Dennoch zerstob das Parolengeschwätz von Wehrhaftigkeit und größtmöglicher Sicherheit schnell, wurde von funktionierender Apathie ersetzt.

Gewiss, militärisch einzubeziehen sind auch die beträchtlichen Verluste der Angreifer, erst auf Seiten der Luftwaffe, dann auf Seiten der Alliierten. Letztere wurden auf bis zu 9.000 Flugzeuge geschätzt, auf mehr als 158.000 vielfach hochqualifiziertem „Personal“ (Wolf, 1985, 136-137). Das lag über den Verlusten der alliierten Landstreitkräfte seit der Invasion am 6. Juni 1944. Der eigentliche Beitrag der alliierten Luftstreitkräfte lag in der Verkürzung des Landkrieges. Das hat diesem Land den Einsatz von Atomwaffen erspart, die anfangs für einen Einsatz hierzulande entwickelt worden waren. Doch nicht nur dieses neue Waffensystem falsifizierte die Annahmen der Kriegstheoretiker der Zwischenkriegszeit vom Bombenkrieg. Ein strategischer Luftkrieg konnte den Gegner alleine nicht zur Kapitulation drängen. Gleichwohl zeigten die Bombardements, dass riesige Luftstreitkräfte einen relevanten Beitrag zum Sieg besteuern konnten, wenn sie mit den tradierten Verfahren des Land- und Seekrieges kombiniert wurden. Luftschutz konnte das lediglich verzögern.

Die Zahl der im Deutschen Reich im Luftkrieg getöteten Menschen ist exakt nicht zu beziffern. Gesamtdarstellungen gehen von ca. 600.000 Personen aus, davon etwa 40.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene (Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, 503). Die Fachpublikationen schwanken zwischen 380.000 und 635.000 Menschen. In Großbritannien fielen etwa 60.000 Personen den deutschen Bomben- und Raketenangriffen zum Opfer (Süß, 2011, 14-15).

Aufgeschichtete Kriegsopfer auf dem Altmarkt in Dresden, wohl 24./25. Februar 1945 (Bundesarchiv, Bild 183-08778-0001 / Hahn – Wikipedia)

Blicken wir am Ende wieder auf die Heimat des Miesrians, auf Sachsen. Die Bombenangriffe vom 13. bis 15. Februar 1945 auf Dresden, knapp sieben Jahre nach den hier näher analysierten „erfolgreichen“ Verdunkelungsübungen, wurden zum Massaker aus der Luft. Zwischen 22.000 und 25.000 Menschen starben, lediglich sechs britische Lancaster-Bomber wurden abgeschossen (Rolf-Dieter Müller, Nicole Schönherr und Thomas Widera (Hg.), Die Zerstörung Dresdens am 13./15. Februar 1945, Göttingen 2010). Doch der Krieg endete nicht, bis zum 8./9. Mai 1945 starben weitere Zivilisten, alliierte und täglich ca. 10.000 deutsche Soldaten. Die deutschen V2-Angriffe auf Rotterdam endeten erst am 28. März. Die Propaganda hatte derweil andere Töne angeschlagen, sang aber weiter das Lied der trotzigen Luftschutzgemeinschaft, der unbesiegbaren Volksgemeinschaft: „Der Menschheit Würde ist auch in unsere Hand gegeben, darum ist das viel zitierte und oft mißbrauchte Schlagwort ‚Sieg oder Untergang‘ zur schmucklosen Wahrheit und nicht mehr und nicht weniger als der Weisheit letzter Schluß für uns geworden“ (Hans Hauptmann, „Der Menschheit Würde…“ Gedanken zu Dresdens Schändung, Mittagsblatt 1945, Nr. 41 v. 17. Februar, 2).

Wann beginnen Kriege? Wenn man die Miesmacher und Miesriane zur Seite drückt, wenn man glaubt Kriege gewinnen zu können und nicht verhindern zu müssen.

Uwe Spiekermann, 4. Oktober 2025

Dieser Artikel ist dem Andenken meines Großvaters Lorenz Hammer gewidmet (Entnazifizierung NRW Abteilung Rheinland, SBE Hauptausschuss Landkreis Brilon NW 1095, Nr. 9374). Er schwieg über den Weltkrieg, doch die Ausnahme bildete der Einsatz seiner Einheit – er war nach eigenen Aussage Stabsfeldwebel bei den Pionieren – im bombardierten Dresden nach dem Massaker aus der Luft vom 13. und 14. Februar 1945. Er sagte immer, dass sein von Kindheit an verkrüppelter kleiner Finger Folge einer Kriegsverletzung gewesen sei – und hob ihn dann zur Anklage gen Himmel, von dort, wo damals der Tod herkam. Ich habe ihm nicht ein Wort geglaubt; doch diese Anklage überschattete das Leben seiner Familie, inklusive meiner heute vor 87 Jahren geborenen Mutter.

Verbrauchslenkung vor dem Zweiten Weltkrieg: „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ im Kontext

Das Volk, der große Lümmel – so klang es ironisch gebrochen in Heinrich Heines Wintermärchen, so klingt es bis heute in den Stuben von Gelehrsamkeit, Macht und Transformationswillen. Dort kennt man die Zukunft, weiß, warum sie nur so und nicht anders zu gestalten ist. Da die eigenen Händchen aber zu schwach zu deren Ausgestaltung sind, setzt man immer neue, alle möglichen Hebel in Bewegung, um den großen Lümmel in die zwingend richtige Richtung zu lenken. Dabei helfen Krisen und Kriege, denn dank ihnen können Traditionen und Routinen einfacher gebrochen werden. Und so schaffen und verstärken moderne Wissensgesellschaften immer neue Krisen und Krisennarrative, um Menschen zu motivieren und sie in eine lichte Zukunft zu lenken. Von den öffentlich propagierten Idealen pluraler Problembewältigung bleibt wenig übrig, wenn die Erde brennt, die Seuche Gegenmaßnahmen erfordert, Geld an allen Ecken und Enden fehlt, die russischen Dampfwalze alles planiert und die amerikanischen Freunde die vermeintlich gemeinsamen Werte nicht mehr teilen.

Was für eine Zeit der vermeintlichen „multiplen Krisen“ oder der „Multikrise“ gilt, galt ebenso während der Mobilisierungsdiktatur des Nationalsozialismus. Krisen wurden geschaffen und ausgerufen, mussten bekämpft und überwunden werden. Das Volk, das deutsche, schien willig zu sein, doch es bedurfte der Anleitung. Dabei stand, stärker noch als heute, die Transformation der Ernährung im Mittelpunkt, für die damals noch 40 bis 50 Prozent des Einkommens ausgegeben wurden.

Auf dem Weg zur „freiwilligen“ Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung bedeutete in den 1930er Jahren erst einmal eine Nationalisierung der Ernährung. Das deckte sich durchaus mit den Zielen der Agrar- und Wirtschaftspolitik während der Weimarer Republik, mit dem teils von amerikanischen Werbemethoden geprägten Agrarmarketing, das den Kauf deutscher Milch, deutschen Weins, deutscher Zigaretten, etc. propagierte (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen, 2018, 332-351). Nicht nur nationale Kreise forderten: „Bau‘ eigenen Weizen dir zum Brot; / Drauf streich‘ die eigene Butter; / Der deutschen Erde Glück und Not / Sei deine Nahrungsmutter!“ (Merkbüchlein für den deutschen Michel, Kladderadatsch 83, 1930, Nr. 44, 18)

Die Präsidialkabinette intensivierten diese Anstrengungen ab 1930, kokettierten mit Ideen der Autarkie, die seit den massiven Zollerhöhungen 1925 in der deutschen Öffentlichkeit breit und kontrovers diskutiert wurden (Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft in Deutschland 1930-1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984). Der Börsenkrach von 1929, vor allem aber der US-amerikanische Smoot-Hawley Zolltarif vom Juni 1930 verengten die handelspolitischen Freiräume weiter. Die US-Maßnahmen schränkten die Exporte deutscher Investitionsgüter massiv ein, verschärften die ohnehin prekäre Devisenlage des Deutschen Reiches und nahmen den Reparationszahlungen die ökonomische Grundlage (Kris James Mitchener, Kevin Hjortshoj O’Rourke und Kirsten Wandschneider, The Smoot-Hawley Trade War, The Economic Journal 132, 2022, 2500-2533). Das zuvor zumindest theoretisch noch hochgehaltene Prinzip der Meistbegünstigung fiel 1931, bilaterale Handelsabkommen gewannen weiter an Bedeutung. Während die Zölle stiegen, wurde die Devisen zunehmend staatlich bewirtschaftet, parallel wickelte man den Außenhandel vermehrt über Clearing-Systeme ab, ging also teilweise zum Tauschhandel über (Ralf Banken, Die wirtschaftspolitische Achillesferse des „Dritten Reiches“ […], in: Albrecht Ritschl (Hg.), Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit, Berlin und Boston 2016, 111-232, insb. 161-175). Der deutsche Konsum wurde dadurch stark beeinflusst: Menge und Wert der importierten Genussmittel und Frischwaren sanken, auch die für die Milch- und Mastwirtschaft zentralen Futtermitteleinfuhren nahmen schon während der autoritären Phase zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus drastisch ab. Parallel begünstigten die Präsidialregierungen deutsche Agrarprodukte: Seit 1930 musste Margarine immer auch deutsches Fett und zwischen 1931 und 1934 Backwaren vier bis fünf Prozent deutsches Kartoffelstärkemehl und Magermilch enthalten.

Importabhängigkeit des Deutschen Reiches 1931 (Illustrierte Technik 10, 1932, H. 15, V)

Das NS-Regime führte diese Maßnahmen großenteils weiter. Es profitierte von der bereits 1932 offenkundigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, setzte zugleich aber auf zuvor undenkbare und mit Schulden finanzierte Maßnahmen zur Reduktion der Arbeitslosigkeit, kommunizierte diese mit zuvor unbekannter Wucht (Christoph Buchheim, Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56, 2008, 383-414). Die finanz- und wirtschaftspolitischen Argumente für eine möglichst hohe Selbstversorgung galten weiter, wurden aber zunehmend ergänzt durch die rüstungs- und machtpolitischen Zielsetzungen des Regimes. Die schon aufgrund der notorischen Devisenschwäche des Deutschen Reiches kaum zu umgehende strikte Regulierung des Außenhandels wurde 1933 innenpolitisch ergänzt durch eine offensiv propagierte „Erzeugungsschlacht“, die propagandistisch überhöht auf „Nahrungsfreiheit“ zielte, auf eine Intensivierung der heimischen Agrarproduktion, auf eine Mobilisierung des ländlichen Arbeitskräftepotentials. Es galt, heimische Alternativen zur „Auslandsware“ zu fördern, die Milchwirtschaft, die Käseproduktion, den vernachlässigten Obst- und Gemüsesektor, die Herstellung pflanzlicher Öle und vieles mehr. Diese Maßnahmen wurden in ein neues regulatives und institutionelles Korsett gepresst: Der im September 1933 entstandene Reichsnährstand war ein vielfach begrüßter Zwangszusammenschluss der gesamten Ernährungswirtschaft, also der Landwirtschaft, des verarbeitenden Gewerbes und des Einzelhandels. Diese „größte Wirtschaftseinheit der Welt“ (Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, 226) zielte auf die korporatistische Regulierung und Koordinierung der Erzeugung, des Absatzes, der Preise und Preisspannen.

Begrenzte Erfolge wurden erzielt, doch Selbstversorgung blieb unerreichbar. Agrarimporte kosteten 1936 3,5 Mrd. Reichsmark, machten 35,5 Prozent aller Einfuhren aus (Avraham Barkai, Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus […], Frankfurt/M. 1988, 235). Ohne die Zufuhren wäre die Eiweißversorgung gefährdet gewesen, war die „Fettlücke“ auch nicht ansatzweise zu schließen. Seit 1936, seit dem Übergang zum zweiten Vierjahresplan, traten daher die schon zuvor durch Deutsche oder Braune Wochen oder auch die Kampagne „Deutsche Weihnacht! Deutsche Gaben!“ adressierten Konsumenten verstärkt in den Blickpunkt der Funktionseliten: „So scherzhaft es klingt, es ist bitterer Ernst: das deutsche Volk braucht einen politischen Magen“ (Der politische Magen, Nationalsozialistische Partei-Korrespondenz 1936, Nr. 256, Bl. 1). Neben die Erzeugungsschlacht trat mit der Propagandakampagne „Kampf dem Verderb“ eine vorwiegend von den Hausfrauen umzusetzende „Erhaltungsschlacht“ zur möglichst umfassenden Nutzung der heimischen Ressourcen. Ersatzmittel wurden als Austauschprodukte gefördert, die Vorratswirtschaft intensiviert. Lange vor Kriegsbeginn begann eine „freiwillige Verbrauchslenkung“ (Gesunde Vorratswirtschaft, Nachrichten für Stadt Elsfleth und Umgebung 1936, Nr. 16 v. 6. Februar, 3). Die später im Detail zu analysierende Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ spiegelte die Breite der nun tagtäglich eingesetzten propagandistischen Mittel. Schon während der Weimarer Republik und der Präsidialkabinette begonnene Maßnahmen wurden fortgeführt und intensiviert, die militärischen und politischen Ziele mündeten in einen aufeinander bezogenen Kranz von „Aufklärung, Werbung, Propaganda, Reglementierung und schließlich Zwang“ (Gustavo Corni und Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 355). Die explizite Lenkung der Konsumenten hieß aber auch, dass sich die anvisierte Selbstversorgung „als eine Utopie erwiesen“ habe (Die Reichsspeisekarte, Der Deutsche in Polen 4, 1937, Nr. 4, 11).

Nationaler Einkauf zwischen Ehrenpflicht und neuen Güte- und Herkunftszeichen (Schwarzwald-Bote 1933, Nr. 257 v. 3. November, 4; Bremer Nationalsozialistische Zeitung 1933, Nr. 73 v. 21. März, 5)

Diese begriffliche Differenzierung ist wichtig, um den Wandel der staatlich-korporatistisch eingesetzten Mittel einzufangen. Festzuhalten ist jedoch, dass mit Ausnahme der ja schon vor dem Krieg einsetzenden Rationierungen, die Wirtschafts- und Konsumpolitik mit Propaganda engstens verwoben war. Der Begriff selbst war Anfang der 1930er Jahre noch positiv besetzt, nicht nur bei den politischen und akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Propaganda war eben nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern wurde als ein notwendiges Grundelement moderner technischer Gesellschaften verstanden (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war (und ist) in einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft strukturell notwendig, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, dass Kernpunkte der eben nur teilweise „nationalsozialistischen“ Verbrauchslenkung auch die heutige Ernährungs- und Gesundheitspolitik prägen. Begründungen verändern sich, zielgerichtete hierarchische Interventionen werden fortgeführt. Das Volk, der große Lümmel.

Verbrauchslenkung als Maßnahmenbündel

Zielsetzungen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196)

Die Verbrauchslenkung, die es auch für andere Gütergruppen und Dienstleistungen gab, zielte auf eine aus Sicht des NS-Regimes wünschenswerte Erhöhung resp. Verminderung des Konsums bestimmter Lebens- und Genussmittel. Sie galten als Stoffträger, die Bedarfsrechnungen der Ernährungswissenschaften standen Pate, die seit den 1920er Jahren zunehmend akzeptierte „neue“ Ernährungslehre hatte die Bedeutung gerade von Mineralstoffen und Vitaminen für Gesundheit und Leistungsfähigkeit folgenreich unterstrichen (Spiekermann, 2018, 412-418). Darauf baute man auf, zielte auf einen im Systemsinne möglichst effizienten Umgang mit den verfügbaren Ressourcen.

Eine vom Institut für Konjunkturforschung entwickelte und im Dezember 1936 verbreitete Übersicht der erforderlichen Umstellungen diente machtpolitisch einer möglichst blockadefesten Selbstversorgung des Deutschen Reiches. Sozialpolitisch zielte sie auf einen staatlich festgesetzten „fairen“ Ausgleich der Ansprüche innerhalb der Wertschöpfungsketten sowie einer auch rassenpolitisch erwünschten Stärkung von Land und Landwirtschaft. All dies bedeutete eben nicht „eine mehr oder weniger offensichtlich durchgesetzte Rationierung“ (Utz Maas, Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen 1984, 32), denn mögliche Erfolge resultierten just aus der propagierten Glaubwürdigkeit, der Fairness, der Akzeptanz der neuen Konsumweisen. Der Lebensmittelverbrauch sollte möglichst heimisch sein, möglichst saisonal, möglichst gesund, auskömmlich und schmackhaft. Tierische Produkte waren keineswegs verpönt, doch insbesondere Rindfleisch und animalische Fette sollten weniger verzehrt werden. Der Anteil pflanzlicher Kost, insbesondere von Kartoffeln, Kohl- und Wurzelgemüse, sollte deutlich gesteigert werden. Die immer wieder diskutierten, schon während der Weltwirtschaftskrise offenkundigen Eiweißdefizite sollten durch verstärkten Verzehr von Seefisch, Magermilch und Milchprodukten verringert werden. Angesichts des außer Kraft gesetzten marktwirtschaftlichen Preismechanismus bedurfte eine derartige Verbrauchsumgestaltung zugleich allgemeiner Geschichten, steter Propaganda. Aufrüstung und Kriegsziele wurden nicht diskutiert, angesichts der immer wieder hervorgehobenen Bedrohung durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges waren die vermeintlich friedenswahrenden Gegenmaßnahmen des Deutschen Reiches jedoch allseits bekannt. Die Verbrauchslenkung wurde nicht plump aufgedrängt, sondern nutzte die generelle Bereitschaft der Bevölkerung, sparsam, national, regional und im Sinne der machtpolitischen Ziele des Regimes zu konsumieren. Allein bei den kolonialen Massengütern Kaffee und Tabak gab es deutliche Differenzen. Angesichts der wachsenden Einkommen führten sie zu steigenden Importen und gefährdeten tendenziell Aufrüstung und Kriegsbereitschaft.

Saisonale Umstellung der deutschen Ernährung: Reichspeisekarte und propagandistische Präsentation eines saisonalen Frühgemüses (Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 196 (l.); Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 120 v. 5. Mai, 1)

Die Blaupause für die „freiwillige“ Verbrauchslenkung lieferte die vom Institut für Konjunkturforschung, dem heutigen Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, vorgestellte „Reichsspeisekarte“ (A[lfons] Moritz, Wertvolle Ergänzungen der Erzeugungsschlacht, Milchwirtschaftliches Zentralblatt 68, 1939, 57-62, hier 57). Eine Selbstversorgung des Deutschen Reiches schien demnach weiter möglich. Angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Warenaustausches und der Klima- und Produktionsbedingungen der deutschen Agrarproduktion könne der Verbraucher aber nicht länger verlangen, „daß ihm zu jeder Zeit alle Nahrungsmittel lediglich seinen persönlichen Wünschen entsprechend zur Verfügung stehen“ (Volksernährung aus deutschem Boden. Richtlinien für die Verbrauchslenkung auf dem Gebiete der Ernährung, Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 9, 1936, 195-196, hier 195). Wichtig sei jedoch nicht nur die Grobsteuerung – mehr pflanzliche Lebensmittel, weniger (tierisches) Fett – sondern insbesondere eine Abfederung saisonaler Angebotsschwankungen (dies ignoriert Hartmut Berghoff, Methoden der Verbrauchslenkung im Nationalsozialismus. Konsumpolitische Normensetzung zwischen totalitärem Anspruch und widerspenstiger Praxis, in: Dieter Gosewinkel (Hg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur, Frankfurt a.M. 2005, 281-316, hier 310).

Strukturelles Problem Saisonalität: Eier als Beispiel (Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 289 v. 25. Juni, 9)

Die gegenüber heute deutlich stärker ausgeprägte Saisonalität des Angebotes war ein zentrales Problem der damaligen Versorgungsketten. Massive Forschungsinvestitionen sollten helfen: Verbesserte Konservierungstechniken, neue Verpackungen, Lager- und Vorratshaltung streckten das Angebot zeitlich, vereinfachten jegliche Verbrauchslenkung. Die „Erhaltungsschlacht“ der Hausfrauen, insbesondere das massiv propagierte Einmachen von Obst und Gemüse bot Flankenschutz, doch bei anderen saisonalen Lebensmitteln wie Eiern oder Fleisch begrenzten der veränderte Geschmack oder auch der fehlende häusliche Lagerraum die haushälterischen Gegenmaßnahmen. Die Saisonalität war anderseits ideologisch wichtig, denn sie half Konsumwelten temporärer Fülle zu präsentieren. Zumindest propagandistisch konnten so die offenkundigen Versorgungsdefizite in der Fett- und Eiweißversorgung ummäntelt werden. Seit Ende 1935 wurden für erste Fette Kundenlisten angelegt und Bezugsscheine ausgegeben, Ende 1936 betraf das alle Fette. Zeitweilig wurde die Herstellung von Wurst und Schinken untersagt, Schlagsahne kontingentiert (Spiekermann, 2018, 370). Die Saisonalität des Angebotes band zugleich Stadt und Land, Bauern, Arbeiter und Angestellte zusammen, imaginierte die Vorstellung einer aufeinander angewiesenen Volksgemeinschaft. Sie bot daher wichtige Ansatzpunkte für einen langsamen Wandel der Verbrauchlenkung auf der „Grundlage der Verbrauchsfreiheit“, bei der es galt, „durch psychologische Einwirkungen die für eine bestimmte Zeit gegebene Verbrauchsstruktur zu verändern“ (Werbung beeinflußt den Verbraucher, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 33 v. 8. Februar, 6) – so der seit 1923 als Präsident des Statistischen Reichsamtes tätige, 1933 flugs in die NSDAP eingetretene Ernst Wagemann (1884-1956). Die gezielte Nutzung und Neuschöpfung regionaler Traditionen und Speisen waren Teile dieser Lenkungsanstrengungen.

Die damaligen Medien präsentierten den Verbrauchern ein im Detail realistisches, insgesamt aber schönfärberisches Bild der Versorgungssituation (Corni und Gies, 1997, 355-357). Das spiegelte auch die fortwirkende Presseanweisung zu dem vom Institut für Konjunkturforschung ausgearbeiteten Lenkungsbündel: Es galt, „bei der weiteren Behandlung des ganzen Themas nicht jedesmal von Verbrauchslag((e)) und Verbrauchsregelung zu schreiben, sondern dann einfach nur noch ueber die konkreten einzelnen Themen, etwa ueber Fisch- und Kaeseverbrauch usw., was gerade aktuell sei. Die Tatsache einer geregelten Verbrauchslenkung sei also nicht stets besonders hervorzuheben. […] Bei der Verwertung des Aufsatzes soll kein Wort ueber den Vierjahresplan gesagt werden, intern aber seien die Redaktionen an die Richtlinien dieses Aufsatzes aufs strengste gebunde((n.))“ (NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 4: 1936, T. I, bearb. v. Gabriele Toepser-Ziegert, München et al. 1993, 1526). Unmittelbar drängende Versorgungsprobleme wurden angesprochen, begründet und zur Aufgabe erklärt, die grundsätzlichen Probleme der Kriegsvorbereitung und der Vorbereitung einer mit strukturellem Zwang arbeitenden Rationierung jedoch nur indirekt thematisiert. Der große Lümmel sollte gelenkt, nicht erzürnt werden.

Institutionell war die Verbrauchslenkung nicht eindeutig zuzuordnen. Formal war das Agrarmarketing, waren auch entsprechende Propagandakampagnen Aufgaben der Reichshauptabteilung III des Reichsnährstandes (Wolfgang Heidel, Ernährungswirtschaft und Verbrauchslenkung im Dritten Reich 1936-1939, Phil. Diss. Berlin 1989 (Ms.), 73-74; Corni und Gies, 1997, 357). Im Reichsernährungsministerium wurde der Generalplan festgelegt, monatliche Runden der dort angesiedelten Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung sorgten für den Feinschliff. Sie war korporatistisch zusammengesetzt, bündelte die Interessen des Reichspropagandaministeriums, der Reichspropagandaleitung, der Wehrmacht, des Reichsnährstandes, des Hauptamtes für Volkswohlfahrt, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, des Deutschen Frauenwerks, der Deutsche Arbeitsfront, des Lebensmittelhandels, des Gaststättengewerbes und des Fleischer-, Bäcker- und Konditorenhandwerks. Staatssekretär Herbert Backe (1896-1947) verstand die Verbrauchslenkung als „Gemeinschaftsarbeit aller Volksgenossen“, bei der die Mitwirkung um so ehrenvoller sei, „je weniger sie in Erscheinung“ trete (Herbert Backe, Verbrauchslenkung, Der Vierjahresplan 1, 1937, 203-205, hier 204). Eine eng hierarchische Vorstellung von Propaganda unterschätzt entsprechend die zahlreichen in die Verbrauchslenkung einbezogenen Institutionen von Staat, Partei und Privatwirtschaft. Schon die damals gängige Aufgliederung der Propaganda in wirtschaftliche Aufklärung, wirtschaftspolitische Propaganda, Gemeinschaftswerbung und die privatwirtschaftliche Einzelwerbung verweist auf zahlreiche zusätzliche Akteure, die immer auch ihre Eigeninteressen verfolgten (Alfred Helzel, Werbung und Politik, Werben und Verkaufen 23, 1939, 263-265, hier 263). Das galt insbesondere für den Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, eine Unterabteilung des Deutschen Werberates. Gemeinhin ignoriert wird auch der durchaus eigenständige Beitrag des Handels. Der Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Groß-, Ein- und Ausfuhrhandel Edmund von Sellner (1898-1939) begrüßte die vielen Artikel und Plakate, doch erst vor Ort, im kleinen Geviert des Einkaufs, würde sich der Erfolg der Maßnahmen einstellen – und es sei Aufgabe des Handels, „die Wünsche des Verbrauchers in die richtigen Bahnen zu lenken, mit falschen Vorstellungen zu brechen, aufklärend zu wirken und das Interesse des einzelnen für neue Waren zu wecken“ (Einkaufs- und Verbrauchslenkung, Deutscher Reichsanzeiger 1936, Nr. 287 v. 9. Dezember, 3).

Das NS-Regime war zugleich bemüht, Sorgen über die staatliche Bevormundung des Einkaufens und Essens aufzunehmen und umzudeuten: „Unser Ziel ist nicht: Gleichmachung aller Verbrauchsbedürfnisse, sondern: Steigerung der Lebenshaltung auf Grund einer Entfaltung der Persönlichkeit. Unser Ziel ist nicht der schematisierte Einheitsverbraucher, sondern der persönlichkeitsbewußte Kulturträger. Wenn der Nationalsozialismus stärker als seine politischen Vorgänger den Verbrauch zu lenken und zu organisieren versucht, so allein deswegen, um die Aufgaben, die über die Kraft des einzelnen hinausgehen, im Rahmen der Gemeinschaft für das Volk zu lösen“ (Robert Ley (Hg.), Lebenshaltung! Ein Beitrag zur Frage der Lebenshaltungspolitik und der Verbrauchslenkung, Berlin 1937 (Ms.), 80). Nicht Verzicht wurde propagiert, sondern eine neue reflektierte Form des (Haus-)Wirtschaftens. Die vermeintlich überholten Hausfrauentugenden, die während der Weimarer Republik vom planlosen Kauf ausländischer Angebote und dem massenhaften Wegwerfen an sich noch brauchbarer Nahrungsgüter überwölbt worden seien, müssten daher revitalisiert werden (Ebd., 82). Dadurch könnten auch viele gesundheitliche Probleme gemildert werden (Karlheinz Backhaus, Der deutsche Speisezettel. Was ist richtig – was ist falsch?, Wille und Macht 5, 1937, H. 18, 8-11, insb. 10).

Sich der Hausfrau nähern: Propagandamittel der Verbrauchslenkung

Verbrauchslenkung erschöpfte sich nicht im Schreiben und Dekretieren. Der Appell an die nationalsozialistische Moral, an den Stolz und imaginierten Wertekanon der Hausfrau, auch an die praktischen Vorteile eines regimekonformen Verbrauchs, spiegelten sich in einer Kaskade von kleinen Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen. Verbrauchslenkung war eine Herausforderung: „Aus dem Vollen schöpfen ist keine Kunst. Erst das Einteilen, das richtige Einkaufen, die kluge und geschickte Anpassung an die jeweilige Ernährungslage, und vor allem auch Sparenkönnen am rechten Platz, macht hausfrauliches Können aus“ (Zeitspiegel der Frau, Hakenkreuzbanner 1936, Nr. 465 v. 6. Oktober, 8).

Die ästhetisierte Ernährungsrichtline: Genügend Auswahl auch im kargen Monat Februar (Hakenkreuzbanner 1937, Nr. 56 v. 3. Februar, 7)

Zu Beginn jedes Monats gab erstens eine Ernährungsrichtlinie des Reichsernährungsministeriums einen allgemeinen Überblick der Versorgungslage. Die Richtlinie zeigte „Ia bei welchen Nahrungsmitteln ein verstärkter Verbrauch allgemein erwünscht ist, Ib inwieweit darüber hinaus gewisse Nahrungsmittel besonders zu bevorzugen sind, II bei welchen Nahrungsmitteln ein gleichbleibender Verbrauch möglich ist, III bei welchen Nahrungsmitteln ein verminderter Verbrauch nötig ist“ (Moritz, 1939, 58). Im Gegensatz der „Reichsspeisekarte“ des Instituts für Konjunkturforschung basierte sie auf den aktuellen statistischen Daten – und war damit deutlich präziser und umfangreicher. Die Ernährungsrichtlinie wurde vielfach in eine die Hausfrauen direkt ansprechende, einfach gehaltene und nachvollziehbare Form gebracht. Die Sprache war positiv, unterrichtete über Möglichkeiten, schwieg sich über konkreten Mangel allerdings aus.

Werbung für vorbildliches Einkaufen (Marbacher Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8)

Andere Visualisierungen präsentierten die Hausfrauen unmittelbar beim Einkauf, benannten die oben angeführten Kategorien, gaben aber keine Vorgaben für verminderten Verbrauch. Nach einer gewissen Laufzeit lernten die Leserinnen, dass Nichtbenennung Hinweischarakter hatte. Die einzelnen Zeitungen mussten die Ernährungsrichtlinien abdrucken, hatten bei der Gestaltung der Verbrauchsvorschläge aber einen gewissen Spielraum. Verbote fehlten auch in den insgesamt dominierenden Text-Meldungen (Wir notieren den Küchenzettel für Februar, Der Patriot 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 8). Wenn dort von gleichbleibendem Verbrauch geschrieben wurde, so waren diese Lebensmittel zu reduzieren, zu verringernde dagegen oft gar nicht lieferbar. Die Abbildungen selbst wurden durch Materndienste reichsweit verbreitet (analoger Abdruck Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 10). Auflagenstärkere Zeitungen nutzten allerdings ihre Pressezeichner, um sich in diesem scheinbar einheitlichen Feld der Verbrauchslenkung zumindest visuell von der Konkurrenz abzuheben.

Groblenkung durch Küchenzettel (Durlacher Tagblatt 1938, Nr. 158 v. 9. Juli, 5)

Diese allgemeinen Hinweise zielten erst einmal auf den Einkauf – und es bestand auch bei folgsamen Hausfrauen grundsätzlich die Gefahr, dass sie mit den für sie ungewohnten Produkten nicht umgehen konnten, dass diese am Ende gar verdarben. Entsprechend veröffentlichten die Zeitungen mit dem Beginn der „Kampf dem Verderb“-Kampagnen Ende 1936 zweitens auch wöchentliche Küchenzettel, die Tag für Tag, mittags und abends Speisevorschläge enthielten. Anfangs handelte es sich um einfache Standardgerichte, zentral herausgegeben vom nationalsozialistischen Deutschen Frauenwerk. Angesichts tiefgreifender regionaler und sozialer Verzehrsunterschiede stieß dies jedoch auf Kritik. Die Deutsche Frauenschaft justierte nach, schließlich handelte es sich um eine ideale Professionalisierungschance. Die Rezepte wurden zunehmend regionalisiert, zudem gab es Küchenzettel für den normalen und für den sparsamen Haushalt.

Von Frau zu Frau: Neu errichtete Versuchsküche der NS-Frauenschaft, Gau Württemberg-Hohenzollern und ein schwäbischer Küchenzettel (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 462 v. 18. Oktober, 6 (l.); Marbacher Zeitung 1939, Nr. 267 v. 14. November, 6)

Die Verbrauchslenkung wurde drittens durch Rezepte ergänzt. Neue Speisen, wie Bratlinge oder Salate, wurden dadurch handhabbar, zugleich aber konnte man darin den Fett-, Eier-, Weizen-, Butter- und Fleischgehalt bekannter Speisen reduzieren. Rezepte halfen kurz vor dem Weltkrieg auch, neue Austauschprodukte wie DPM, Milei und Migetti bekannt zu machen. Das erleichterte deren Integration in die Ende August 1939 eingeführte Lebensmittelrationierung. Die Maschinerie lief im Großen und Ganzen glatt, gleichwohl nicht ohne Knirschen – und man kann bei den Gründen mutmaßen: Geringe Akzeptanz bei den Lesern, Nachlässigkeit und Desinteresse oder aber grundsätzlichere Bedenken gegenüber zunehmend strikten Vorgaben für die tägliche Kost. 1938 gab es jedenfalls 700 „Prüfungen bei den Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen“, um „eine noch vollkommenere Einhaltung der Bestimmungen“ sicherzustellen (Aus dem Bericht des Werberates der deutschen Wirtschaft für 1938, Deutscher Reichsanzeiger 1939, Nr. 23 v. 27. Januar, 3).

Ausgearbeitete Vorgaben für die norddeutsche Küche (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 71 v. 13. März, 9)

Zu der Trias von Ernährungsrichtlinien, Küchenzettel und Rezepten gesellte sich dann lokal und regional eine vielgestaltige kleinteilige Ergänzung der Einkäufe und auch des häuslichen Kochens. Mittlerdienste leisteten auch Kochsendungen der verschiedenen Rundfunksender. Wesentlich wichtiger aber war der Einzelhandel. Vor Ort, auch in den üblichen Warteschlangen vor dem Verkaufstresen, konnten eventuelle Rückfragen zur Marktlage und zu Marktalternativen beantwortet werden. Verbrauchslenkungspropaganda war eben nicht allein medial, sondern immer auch konkret, Teil der Alltagsgespräche und der Haushaltspraxis.

Muster einer Schaufensterwerbung und an Händler gerichteter Marktbericht der Edeka (Deutsche Handels-Rundschau 30, 1937, 997 (l.); ebd., 250)

Die Verbrauchslenkung gründete demnach auf einem umfangreichen Angebot allgemeiner, letztlich im Haushalt verwertbarer Informationen. Getragen wurde sie aber immer auch von persönlichen Kontakten, vom Nachfragen vor Ort, im Laden, in der Nachbarschaft. Konflikte wurden vielfach dort ausgetragen, denn die Richtlinien wurden berücksichtigt, nicht aber direkt umgesetzt. Hinzu trat ein breites Netzwerk lokaler Einrichtungen des Reichsnährstandes, vor allem aber nationalsozialistischer Massenorganisationen wie dem Deutschen Frauenwerk, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der Deutschen Arbeitsfront. Sie organisierten Vorträge, publizierten und verteilten Broschüren, organisierten Ausstellungen, praktische Vorführungen, Schulungen und vor allem Kochkurse (Moritz, 1939, 60).

Verbrauchslenkung als Bildungsaufgabe: Kochkurs der NS-Frauenschaft in Stuttgart (Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 108, 4. März, 41)

Die regelmäßig angebotenen, billigen, teils kostenlosen Kochkurse vermittelten insbesondere jungen Frauen Grundkenntnisse im Kochen, waren zugleich eine wichtige Rekrutierungschance der einzelnen Institutionen. Die Verbrauchslenkung war Thema, ebenso das Hineinwachsen in die NS-Organisationen. In derartigen geselligen Veranstaltungen wurde die Erhaltungsschlacht erprobt, nahm die Heimatfront Gestalt an. Das galt auch für die insbesondere in Groß- und Mittelstädten üblichen hauswirtschaftlichen Ausstellungen. Sie waren ideologiegetränkt und parolenstark, hatten aber den Reiz des Anschaulichen. Typisch war das Verschwimmen der Grenzen zur Gesundheits- und Ernährungsaufklärung. Richtiges Konsumieren, richtiges Essen und richtiges Leben wurde gleichermaßen propagiert, glaubten die Funktionseliten doch, dieses bewerten und vorgeben zu können.

Weniger Fett, mehr Vielfalt. Schautisch einer Wanderausstellung (F.W. Terjung, Warum Verbrauchslenkung?, in: Ernährungspolitik und Schule, hg. v. Reichausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938, 7-26, hier 17)

All dies war nationalsozialistisch, all dies knüpfte aber an zuvor erprobte und etablierte Vorläufer während der Weimarer Republik, des Ersten Weltkrieges und auch schon des Kaiserreiches an. Damals aber waren sie marktgetrieben, Ausdruck des Sendungsbewusstseins der Lebensreformvereine, der öffentlichen Aufgaben von Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege, der Not. Die völkische Ideologie des Nationalsozialismus, die staatlichen Machtmittel und die Lenkung der veröffentlichten Meinung schufen neuartige Verpflichtungen auf (fast) allen Ebenen der Gesellschaft – und dienten zugleich dem bewussten Ausschluss unterdrückter Minderheiten. Doch selbst die sozialdemokratische Opposition, die Verbrauchslenkung als Vorwegnahme der Kriegswirtschaft deutete, konzedierte eine gewisse Breitenwirkung: „Und das Volk läßt sich auch auf diesem Weg ‚lenken‘; nicht ganz ohne Widerstand, aber doch bereitwilliger, als man früher angenommen hätte“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 4, 1937, 133).

Schaubilder zur Systematisierung der Verbrauchslenkung (Werben und Verkaufen 23, 1939, 407)

Die Verbrauchslenkung half dem NS-Regime die Aufrüstung weiter zu forcieren, die Wehrmacht kriegsfähig zu machen. Sie half zugleich bei der Bewältigung zahlreicher kleinerer Krisen, 1937/38 etwa mittels gezielter Kampagnen für den Konsum von Kohl, Äpfeln und Käse. Sie war ein wichtiges Hilfsmittel, um den Marmelade- und Zuckerkonsum zu erhöhen, Seefisch, Quark und auch Sauermilch zu allgemein akzeptierten Lebensmitteln zu machen. Die Verbrauchslenkung konnte die strukturellen Defizite der Lebensmittelversorgung allerdings nicht beseitigen oder gar eine Selbstversorgung sicherstellen. Im Sinne des NS-Regimes war sie dennoch systemrelevant, denn sie schloss für mehrere Jahre eine Fähigkeitslücke. Technisch-institutionell war die Verbrauchslenkung modern und in ihrer Vielgestaltigkeit innovativ. Sie war immer auch ein wissenschaftliches Projekt, das permanent reflektiert und verfeinert wurde (Erich August Goeggle, Untersuchungen zu Verbrauchslenkungen auf dem Gebiete der Ernährungswirtschaft in Deutschland, Diss. TH München 1938; Robert Oetker, Die betriebliche Werbung im Dienste des Vierjahresplanes. Eine Studie über die Aufgaben der betrieblichen Werbung als Mittel der Verbrauchslenkung im Dienste der Rohstoff- und Nahrungsfreiheit, Würzburg-Aumühle 1938; Hans Bliss, Verbrauchslenkung in der entfalteten Wirtschaft, Berlin 1942). Die „freiwillige“ Verbrauchslenkung war Teil der heute wieder so zackig beschworenen Kriegsbereitschaft und erlaubte einen direkten Weg in die nicht mehr freiwillige Verbrauchslenkung, in die Rationierungswirtschaft.

Die Grundkonturen der nationalsozialistischen Verbrauchslenkung sind damit umrissen. Wie aber wurde ein solch langfristig ausgerichtetes Maßnahmenbündel im Detail umgesetzt? Die kleine, in der Forschung höchstens erwähnte, nicht aber näher untersuchte Propagandakampagne „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ kann helfen, einen genaueren Eindruck von der praktischen Umsetzung der „freiwilligen“ Verbrauchslenkung zu gewinnen. Beginnen wir mit den Namen selbst, die wie bei so vielen vergleichbaren Kampagnen unmittelbar sprechend waren.

Sprechende Namen: Roderich, Schleckermaul und Gemahlin Garnichtfaul

Auch wenn die Hausfrau im Mittelpunkt der Ernährungspropaganda stand, so adressierte die Kampagne doch das eigentliche Problem der Verbrauchslenkung, nämlich den deutschen Mann. Seine Ernährung sollte im patriarchalischen Verständnis kräftig sein, insbesondere Fleisch enthalten. Genussmittel schienen unverzichtbar, zumal Alkoholika und die Importgüter Tabak und Kaffee. Neuem gegenüber, so die gängige Vorstellung, war er kaum aufgeschlossen, seinen „süßen Zahn“ befriedigte er häufig mit Schokolade, also importierten Kakaoprodukten.

Der Name „Roderich, das Schleckermaul“ spiegelte diese Problemlage. Roderich, der Ruhmreiche, war ein Name germanischen Ursprungs. Felix Dahns (1834-1912) 1875 veröffentlichtes Trauerspiel „König Roderich“ zeigte ihn in Aktion, als Anführer im Kampf des christlichen Europas gegen die muslimischen Araber, den er, der Westgotenkönig, in der Schlacht am Rio Guadalete 711 verlor, bei der er auch ums Leben kam. Die Folge war die maurische Eroberung eines Großteils der iberischen Halbinsel. Während Roderich hierzulande nurmehr selten ist – der Aufrüster Roderich Kiesewetter ist eine Ausnahme – sind Abwandlungen wie Rodrigo (Spanien), Rod oder Rory (Großbritannien) andernorts heute noch gängig. Doch die Kampagnenfigur erinnerte nur an einen vormals rechten Krieger, denn Roderich war ein gutmütiger und wohlsituierter, lenkbarer und begeisterungsfähiger Mann.

Roderich und seine Gemahlin (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 442)

Roderich war zudem Schleckermaul, ein Vorkoster der Nation, ein Erkunder ihm zuvor unbekannter kulinarischer Welten. Der Begriff steht heute einerseits für einen Feinschmecker und Genießer, anderseits für einen naschenden, bewusst wählenden Menschen (Heinz Köpper, Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache, Bd. 7, Stuttgart 1984, 2484; Synonym-Wörterbuch. Sinnverwandte Wörter, völlig neu bearb., Gütersloh und München 2001, 409). Im 19. Jahrhundert waren diese Nuancen noch vermengt, der Schlecker naschte, gern auch über die Grenzen des Schicklichen hinaus. Das Schleckermaul-Leckermaul wurde im frühen 19. Jahrhundert negativ bewertet, war nicht robust, verzärtelt, konnte Krisen nicht bestehen (Deutsches Schimpfwörterbuch oder die Schimpfwörter der Deutschen, Arnstadt 1839, 59; Friedrich Eberhard von Rochow, Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauche in Landschulen, 3. verm. Aufl., Nürnberg 1795, 51-52; Leckermaul, in: Lehrreiche Erzählungen für Kinder, Wien 1816, 16-17). Nicht der Mann, sondern Löwen, Schoßhündchen und insbesondere Bären galten als Schleckermäuler (Christoph v. Schmid, Der Tanzbär. (Ein Kinderlied.), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, Augsburg 1844, 72-73, hier 73; [Alfred Edmund] Brehm, Illustrirtes Thierleben, bearb. v. Friedrich Schödler, Bd. 1, Hildburghausen 1870, 122, 211, 334; Carl Lemcke, Populäre Aesthetik, 3. verm. u. verb., Leipzig 1870, 161). Kinder sollten vor dem Schleckern bewahrt werden, ihren Gelüsten nicht nachgeben, vielmehr mit Verstand auswählen und essen (Friedrich Harder, Theoretisch-praktisches Handbuch für den Anschauungs-Unterricht, 8. Aufl., Hannover 1884, 70-71). Ein Leckermaul war demnach kein echter Kerl, konnte auch eine Frau sein. Die sexuelle Doppeldeutigkeit von Lecken und Naschen war im 19. Jahrhundert jedenfalls präsent, die Psychoanalyse machte den Zusammenhang nach der Jahrhundertwende gar zeitweilig modisch (Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, bearb. v. Moriz Heine, Leipzig 1885, Sp. 486; Helene Böhlau, Eine kuriose Geschichte, Westermann Illustrierte Deutsche Monatshefte 74, 1892, 106-128, hier 116; Wilhelm Stekel, Die Sprache des Traumes, 2. verb. Aufl., München und Wiesbaden 1922, 198). Im 20. Jahrhundert wurde Schleckermaul dennoch zunehmend seltener verwandt, findet sich nach dem Zweiten Weltkrieg eher in Kinderliteratur, in den deutschen Übersetzungen etwa von Winnie Puuh, Disneys Lustigen Taschenbüchern oder Micky Maus. In der NS-Kampagne verwies Schleckermaul auf die stete Gefahr des Fehlessens, des völkischen Selbstmordes mit Messer und Gabel. Sie wies zugleich aber einen Ausweg, denn die staatspolitisch gebotenen Nahrungsmittel mussten nur ansprechend zubereitet und dargeboten werden, um Roderich zum Vorkämpfer guter deutscher Kost zu machen.

Seine Gemahlin war aus anderem Holz geschnitzt, denn sie war prinzipientreu, konnte sich an die neue, mit dem Vierjahresplan eingeleitete Zeit anpassen. Sie war das Gegenteil des altbekannten Zerrbildes der verschwenderischen Ehefrau: „Sie verdäntlet und verschächert alles / was ihr under die Händ kommet / kauffet darvon allerley Zucker und Schleckerwerck / sutzlet / küsslet und beisset den gantzen Tag wie die kleinen Kinder / ihr Schleckermaul hat den gantzen Tag kein Ruhe“ (J[ohann] J[oseph] P[ock], Ein Schlecker-Maul, in: ders., Gantz neu eröffneter reichlich und wol eingerichteter Glücks und Unglücks-Hafen […], Augsburg 1716, 126-129, hier 128). Der Name Garnichtfaul spiegelte demgegenüber ihre Flexibilität, ihre Erfinderinnengabe: „Die Eva, die list’ge, die war gar nicht faul, / und steckte dem Adam ‘nen Appel in’s Maul“ (Kneip-Bibel, hg. v. d. Turnkneipe zu Schönlinde, 2. verb. u. verm. Aufl., Schönlinde 1882, 64). Der Begriff Gemahlin wies zurück in frühmittelalterliche Zeiten, zielte jedoch weniger auf einen sozial höheren Status des Ehepaars, sondern auf deren Geistesverwandtschaft – prinzipientreu bei ihr, willig bei ihm. Die Gemahlin war Anvertraute, Bindeglied zwischen Gemeinschaft und dem eigenen Haus. Der im Verlöbnis, dem Eheversprechen, enthaltene rühmende und preisende Vorschuss war in ihrer Bezeichnung noch präsent, prägte die ganze Kampagne.

Die Charakterisierung Garǀnichtǀfaul tauchte in Kinderliedern oder populärer Lyrik vor der NS-Zeit vereinzelt auf, doch eher aufgrund des gefälligen Reimes auf Maul, Gaul und anderes (Heinrich Seidel, Der Hasel im Kohl, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. XI, Leipzig 1894, 181-182, hier 181; A. Haas, Volkstümliche Tänze und Tanzlieder in Pommern. (Fortsetzung.), Blätter für Pommersche Volkskunde 5 (1897), 177-181, hier 179). Als Name knüpfte dieser sprechende Vornamenersatz jedoch an die bereits während der 1920er Jahre aufkommenden, anschließend dann gängigen begrifflichen Charakterisierungen fiktiver, meist gezeichneter Personen an. Frau Knauserich und ihr Gatte scheuten die Ausgaben für ein Zeitungsabonnement, Frau Klar nutzte Geliermittel für das Marmeladekochen, parallel mit Garnichtfaul reinigte Frau Säuberlich die Wohnung mit Henkels IMI (DGA. Duisburger General-Anzeiger 1934, Nr. 52 v. 22. Februar, 14; Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 142 v. 22. Juni, Beil., 1; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 81).

Gemahlin Garnichtfaul bezeichnete die fiktive Volksgenossin, die dem Führer strebsam zuarbeitete, die Vorbild war und in doppelter Liebe aufging, die zu ihrem Roderich und die zu ihrem Volk: „Nur die Frau, die Verständnis hat für das politische Ziel der Partei, für die politischen Aufgaben und die Tätigkeit ihres Mannes und auch ihrer Kinder innerhalb der Organisationen, kann und wird die ihr daraus erwachsenden Aufgaben innerhalb der Familie und Haushalt richtig erfüllen, und die nicht zu vermeidenden Opfer wie das Alleinsein, die vermehrte Arbeit mit Freuden auf sich nehmen. […] Die Frau welche die politischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten versteht, wird sich mit Selbstverständlichkeit in die Forderungen des Vierjahresplanes, der Verbrauchslenkung der Marktwaren finden“ (Appell an die Außenseiter!, Stuttgarter NS-Kurier 1939, Nr. 36 v. 21. Februar, 35). Frau Garnichtfaul brach mit dem alten Trott, war eine nationalsozialistische Gefährtin, Praktikerin einer neuen Zeit: „Sie bevorzugt Lebensmittel, die zur jeweiligen Jahreszeit reichlich und frisch vorhanden sind, und hilft nach Möglichkeit durch eine gesunde Vorratswirtschaft den Markt zu entlasten und vorübergehende Verknappungen zu überwinden“ (Die Hausfrau kämpft mit, Zeno-Zeitung 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 8). Gatte Roderich, das alte Leckermaul, wurde durch sie vor Abwegen bewahrt, auf den Pfad der völkischen Tugend, gar ins Rampenlicht einer Kampagne geführt.

Bilder und Gedichte: „Roderich, das Schleckmaul, und Gemahlin Garnichtfaul“

Die Propagandakampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war die erste zusammenhängende Begleitaktion zum ansonsten etablierten Instrumentarium der Verbrauchslenkung. Getragen wurde sie von den in der Arbeitsgemeinschaft für Verbrauchslenkung vertretenen Institutionen. Sie schloss einerseits an die vielgestaltigen „Kampf dem Verderb“-Kampagnen an: „Kampf um 1 ½ Milliarden“ (1936/37), „Brot als kostbarstes Volksgut“ (1937/38) und vor allem „Groschengrab“ (1938/39) mobilisierten für die Erhaltungsschlacht, für eine neue deutsche Hauswirtschaft. Sie informierten, emotionalisierten und visualisierten zugleich ein zentrales staatspolitisches Problem: Die Kampagnen kreisten in immer neuer, immer wieder variierter Form um die Mobilisierung der Haushalte, der Hausfrauen, für die Wehr- und Kriegsbereitschaft des Deutschen Reiches, für die Bewältigung zeitweiliger Mangellagen. Sie alle griffen auf Zeichnungen und Comics, auf Parolen und Texte, auf Geschichten und Gedichte zurück. Nicht das eine Bild, die eine Serie, waren charakteristisch, sondern ein Beziehungsgeflecht unterschiedlicher ineinander übergreifender Einzelelemente. „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war der Versuch, ähnliches für die umfassendere Aufgabe der Verbrauchslenkung zu wagen.

Die neue Kampagne knüpfte zugleich an frühere Werbekampagnen für deutsche Nahrungsgüter an. Betrachten wir etwa Milcheiweißpulver: 1934 wurde es einem neuartigen Milcheiweißbrot beigemengt, im April 1938 als eigenständiger Austauschstoff aus heimischer Magermilch angepriesen. Plakate, Klischeezeichnungen, ein Rezeptdienst und ein Werbefilm ergaben eine breit gefächerte Werbung, die vom Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront, der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel und Vertretern der Milchwirtschaft getragen wurde (Käse, Berlin 1938 (Ernährungs-Dienst, Folge 21), 25). Solche Kampagnen hatten Gleichschrittcharakter, vermengten Markterschließung und unternehmerische Dienstbarkeit. Rewe-Aufsichtsratsvorsitzender Blohm feierte das Engagement seiner Einkaufsgenossenschaft als Ausdruck unternehmerischen Dienstes an der Gemeinschaft („Rewe“-Lebensmittel-Großhandel, Oberbergischer Bote, 1938, Nr. 101 v. 2. Mai, 9).

Motiv I: Kartoffeln und Motiv II: Quark, Sauerkäse, Trockenmilch (Der Führer 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 43 v. 12. Februar, 15)

Fünf Bilder und Gedichte bildeten den appellativen, allseits sichtbaren Teil der Kampagne. Sie waren einheitlich aufgebaut, erschienen dadurch als visuelle Einheit. Roderich und seine Gemahlin dienten jeweils als Hingucker, verdeutlichten auch, dass es hier um die tägliche Kost ging. Der jeweils gleiche Rahmen unterstrich dies. Er präsentierte die Fülle der deutschen, der heimischen Küche. Alle fünf Motive hatten eine identische Überschrift, endeten mit Verweisen auf ergänzende Informationen und Rezepte in dem jeweiligen Blatt. Die Serie gab Einblicke in einen Privathaushalt, Kinder fehlten. Das Gedicht widmete sich der Interaktion zwischen Roderich und seiner Gemahlin, folgte deren Gedanken. Das Paar kannte einander, die Vorlieben des Haushaltsvorstandes lenkten die Hauswirtschaft seiner Gattin. Und doch gab es abseits des kleinen Glücks noch eine andere Dimension: die des vernünftigen und sparsamen Wirtschaftens, die neuer preiswerter Lebensmittel und Speisen. Von Verbrauchslenkung oder den Anforderungen der Volksgemeinschaft war nicht die Rede, ging es doch vordergründig um die Befriedigung von Roderichs kulinarischen Vorlieben. Doch Frau Garnichtfaul wusste das Leckermaul mit der neuen Zeit zu versöhnen, kochte gute, einfache Speisen, verwandelte heimische Lebensmittel und verarbeitete Produkte in schmackhafte Gerichte, so recht im Sinne ihres Gatten. Die Gedichte mündeten daher in einen im damaligen Ehealltag eher seltenen Lobpreis. In fetter Type hieß es summarisch: „Leckermaul jedoch spricht froh: / ‚Teures Weib – nur weiter so!‘“.

Motiv III: Fisch und Motiv IV: Zucker (Stuttgarter Neues Tagblatt 1939, Nr. 96 v. 25. Februar, 9 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 26)

Was heimelig daher kam, hatte allerdings einen klaren Adressaten: Leser und Leserinnen wurden in vier der Gedichte direkt angesprochen. Jeweils in Klammer wurde gefragt, ob sie nicht ähnlich handeln wolle, ob sie nicht auch schon einmal solche Speisen probiert hätten. Das war die Quintessenz des allseitigen, allgemeinen, die Leser mit einbeziehenden Lobes der Klugheit und Sparsamkeit der Garnichtfaul.

Formal handelte es sich um ein zwölfzeiliges und vier zehnzeilige Gedichte. Die Sprache war einfach, ebenso der Paarreim, Fremdworte fehlten. Jedes Gedicht stellte andere Lebensmittel und Produkte vor und in den Mittelpunkt. Das Entree bildete die Kartoffel, ein kulinarischer Tausendsassa, wandlungsfähig, eiweißhaltig, der deutschen Erde abgerungen. Es folgten Milchprodukte, genauer Quark, Sauerkäse und Trockenmilch, allesamt Eiweißträger. Die Gemahlin lebte offenbar in einer arbeitsteiligen Konsumgesellschaft, griff auf verarbeitete Lebensmittel zurück, vertraute den Angeboten auch der Industrie. Sie war modern, wählte mit Bedacht, ging mit der Zeit. Es folgte der eiweißreiche Fisch, ebenfalls vielgestaltig, nicht nur frisch eine Leckerei, eine wohlfeile Alternative zum Fleisch. Die vorgestellten Produkte waren, mit Ausnahme von Quark und Sauerkäse, länger haltbar, konnten daher die Tafel dauerhaft prägen. Der Reigen wurde mit dem stärkenden Gaumenkitzler Zucker fortgesetzt, der physiologiewidrig als Fettsparer präsentiert wurde. Die Anzeigenserie endete süß, verlängerte den Einsatz des deutschen Rübenzuckers als Mahlbegleiter. Das neu geschaffene Deutsche Pudding-Mehl und das frühere Palmmarknährmittel Sago waren Kartoffelprodukte, schlossen den Reigen der heimischen Angebote. Man fand die von Garnichtfaul genutzten Waren nicht alle im umkränzenden Rahmen, denn dieser zeigte nur einen Ausschnitt der quasi unbegrenzten Möglichkeiten der deutschen Agrarwirtschaft, der deutschen Lebensmittelindustrie. Der Rahmen war Vermittler der gesunden, der richtigen Ernährung. Und angesichts der neuen und gewiss stetig verbesserten Austauschprodukte waren weitere Angebote nicht ausgeschlossen. Garnichtfaul würde darauf achten, Roderich wohlig genießen.

Motiv V: Deutsches Pudding-Mehl und Sago (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 84 v. 25. März, 6)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ wurde erstmals am Samstag, dem 28. Januar 1939 abgedruckt (Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6; Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 11; Verbo 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 18; Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Der Start erfolgte reichsweit, in Tages- und Wochenzeitungen. Viele begannen die zwingend abzudruckende Serie erst am Sonntag, dem 29. Januar, vereinzelt auch später (Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 30 v. 3. Februar, 11; Stolles Blätter für Landwirtschaft, Gartenbau, Tierzucht 1939, Nr. 8 v. 19. Februar, 4; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 79 v. 1. April). Die fünf Motive erschienen alle zwei Wochen, entsprechend endete die Serie zumeist am 25. oder 26. März. Die vorgesehene Reihenfolge wurde fast durchweg eingehalten, ein doppelter Abdruck der gleichen Anzeige blieb Ausnahme (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 21; ebd., Nr. 41 v. 17. Februar, 7).

Die Serie stand allerdings nicht für sich alleine, die drei- bis vierzeiligen Verweise auf ergänzende Rezepte in den jeweiligen Druckwerken machten dies unmissverständlich klar. Sie fassten zugleich den Gegenstand des Gedichts zusammen, nannten nochmals die darin angesprochenen Lebensmittel und Produkte. Diese Verweise konnten von der jeweiligen Zeitschrift verändert werden. So verwies das Neue Wiener Tagblatt explizit auf die Folgerezepte in der jeweils mittwochs erscheinenden Rubrik Frau und Haushalt (Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 37). Zeitschriften lenkten das Interesse vielfach auf die Rezepte in den Tageszeitungen (Die Wehrmacht 3, 1949, Nr. 3, 22), konnte darauf aber auch verzichten (Fliegende Blätter 190, 1939, 187). Die Verweise waren mehr als Beiwerk, auch wenn in vielen Tageszeitungen entsprechende Rezepte nicht in der gleichen Ausgabe zu finden waren. „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ war eben deutlich mehr als eine fünfteilige, nett anzusehende Werbeserie. Die hier präsentierten Zeichnungen glichen der Spitze eines Eisbergs, waren lediglich der direkt sichtbare Teil einer wesentlich umfangreicheren und vielgestaltigeren Verbrauchslenkung. Die namensgebenden „Sinnfiguren der ernährungswirtschaftlichen Erziehungspropaganda“ (Erich Kupke (Bearb.), Jeder denkt mit!, Berlin 1939, 37) standen für etwas Größeres, etwas Wichtigeres. Dazu gilt es, genauer hinzuschauen.

Narrative Vergemeinschaften: Roderich und Garnichtfaul als Marker

NS-Propaganda war Verbundpropaganda. Bleibt ihre Analyse bei den scheinbaren Kernmotiven stehen, so verkennt sie deren Funktion, missversteht das Teil als Ganzes. Bilder allein verniedlichten und verharmlosten NS-Propaganda, ignorierten die verschiedenen, eng miteinander verzahnten Ebenen der Einflussnahme. Bilder sind offener, interpretationsgefälliger, luden daher stärker ein als eindeutigere, stärker fordernde Texte. Die Kampagne „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ enthielt solche einordnenden Begleittexte. Und sie bestand aus einer Kaskade ergänzender Texte und Bilder der in den Bild- und Gedichtanzeigen angesprochenen Lebensmittel und Produkten. Wie schon zuvor bei Groschengrab wurde auch diese NS-Propagandakampagne zudem durch Comics erweitert und gedoppelt. Die daraus resultierende Vielgestaltigkeit war charakteristisch für die NS-Propaganda, stand damit aber auch im Gefolge breiter gefasster Werbekampagnen der späten 1920er Jahre. Für die Funktionseliten war Wirksamkeit entscheidend, Akzeptanz und Aufgreifen völkisch vermeintlich notweniger Konsumweisen. Propaganda sollte gefällig dargeboten werden, durfte nicht langweilen. Blicken wir näher auf kleine Geschichten von Roderich und Garnichtfaul, die deren Bilder und Gedichte ergänzten.

Erinnerung an das Gesehene, an das Gelesene (National-Zeitung 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 11)

Die allmonatlichen Ernährungsrichtlinien, die wöchentlichen Küchenzettel und Rezepte griffen immer wieder über das haushälterische Feld hinaus, forderten den Gleichschritt: „Wir Frauen müssen wirklich denken, sollen wir nicht mitschuldig werden an gewissen kleinen Schwierigkeiten, die es überhaupt nicht gäbe, dächten alle Frauen logisch“ (Frauengeständnisse, Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 10). Solche unangemessenen Schuldzuweisen konnten jedoch auch freundlicher verpackt, Teil eines positiven Narrativs werden – ergänzende Geschichten über Roderich und seine Garnichtfaul zeigten dies. Kurz nach dem Beginn der Serie erschien reichsweit eine erste Home Story. Sie vertiefte das Thema der entrahmten Milchprodukte, nutzte vor allem aber das positive Vorbild der Gemahlin als völkisches und frauliches Ideal. Sie habe es als „Ergebnis langjähriger Bemühungen“ geschafft, ihrem Roderich typisch männliches Habenwollen ohne Bedacht abzugewöhnen. Dank ihr wisse er, dass jegliche Speise ihre Zeit habe, Eierkuchen nicht ganzjährig möglich seien. Von ihrer Klugheit inspiriert richte er sich nach „der Geberlaune der Natur“, die ihm „zu einer regelrecht strotzenden Gesundheit“ verholfen habe. Der eigens ausgesandte „Sonderkorrespondent für Gaumenkitzel“ berichtete auch über die Kunst der Garnichtfaul, aus einfachen Dingen wie Quark Genüsse zu zaubern. Roderich sei zufrieden, einer der nicht allzu zahlreichen „einwandfrei gefütterte[n] Männer“, die um gutes Essen als Grundlage „ihres ehelichen Glücks“ wussten. In ehelichem Einvernehmen habe Garnichtfaul, „die erst denkt und dann kocht“ jetzt gar mit einem Kochbuch begonnen, einer „Liebeserklärung an ihren lieben Roderich“. Sie gehe alle an: „Wer noch ein Herz hat, spitzt sein Ohr / wir stellen ihm als ‚Glücksfall‘ vor: / Herr Roderich das Leckermaul und seine Gattin Garnichtfaul!!“ (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 28 v. 2. Februar, 10; Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 29 v. 3. Februar, 3; Verbo 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 20; Riesaer Tageblatt 1939, Nr. 33 v. 8. Februar, 9).

Dieser Text wurde fast überall gedruckt, dabei teils leicht variiert: Mal ohne das Schlussgedicht (Der Erft-Bote 1939, Nr. 22 v. 31. Januar, 7; National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6), mal vermengt mit dem Lobpreis anderer Lebensmittel (Herner Anzeiger 1939, Nr. 34 v. 9. Februar, 7), mal aber auch schon mit nachfolgenden Rezepten. Festzuhalten ist der unterhaltende Ton der Propaganda, zugleich aber die gezielte Nutzung allgemeiner Gefühle, allgemeiner Sehnsüchte. Eheprobleme würden sich lösen lassen, Gleichgültigkeit könne der Liebe weichen, das tägliche Kochen geadelt werden – man müsse nur die ohnehin vom NS-Staat immer wieder propagierten Anregungen umsetzen. Derartige Lenkungsbestrebungen waren an sich einfach zu durchschauen; Männer dürften sich an der tumben Roderichrolle auch gestoßen haben. Doch war an der Geschichte nicht vielleicht doch etwas dran?

Freundlich wandten sich die nicht mit Namen zeichnenden Propagandisten auch an die vermeintlichen Trotzköpfe der Nation, unvernünftige Wesen fernab des Normalen. Sie wollten Blattsalat im Winter speisen, Eier im Spätherbst, beharrten auf Gänseschmalz, wo doch gerade Butter allgemein verfügbar war, bevorzugten ihr Fleisch gegenüber einer saisonal gebotenen vegetarischen Leckerei. Roderich hätte ihnen erzählen können, dass die „Natur“ auch das „verwöhnteste Leckermaul nicht Hunger leiden“ lasse, vorausgesetzt jemand gehe mit offenen Augen einkaufen und wisse, wie man aus dem Gebotenen einen Genuss bereiten könne (Die Speisekarte der Trotzköpfe, Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 21; analog Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 59 v. 11. März, 23; ohne das nachfolgende Gedicht Bremer Zeitung 1939, Nr. 77 v. 18. März, 14; Sächsische Volkszeitung 1939, Nr. 61 v. 11. März, 4). Sorge nicht, lebe – das war die implizite Botschaft, natürlich nur auf Basis haushälterischer Kompetenz. Im völkischen Ringen setzte sich der Stärkere durch – und Gemahlin Garnichtfaul unterstrich dies mit ihrer sparsamen Klugheit, ihrem Dienst für die Belange sowohl ihres Gatten als auch der Volksgemeinschaft.

Gegen die Trotzköpfe: Vertrauen in die staatliche Agrar- und Ernährungspolitik (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5)

Das vierte Bild-/Gedichtmotiv wurde analog begleitet, war doch von Deutschland die Rede, Deutschland als der größten Markthalle der Welt. Hierzulande würde die Natur alles bieten „wonach der Gaumen verlangt“, Auslandsware sei nicht erforderlich. Frau Garnichtfaul wisse das, habe sich umgeschaut, liege nicht auf der Bärenhaut wie manch andere Hausfrau. „Renntierschinken mit Burgundertunke und anschließendem Bananensalat“ sei nicht möglich. Sie wisse aber, dass jegliches Lebensmittel seinen Stichtag habe, dass man die Natur nicht zwingen könne. Sich anzupassen sei die Kunst, dann aber könne sie zaubern, aus einfachen Dingen Freude bereiten (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 59 v. 10. März, 5; Neuigkeits-Welt-Blatt 1939, Nr. 60 v. 12. März, 22).

Weitere Geschichten um Roderich und Garnichtfaul gaben mehr von ihrem Glück preis, hatten sie doch einen geliebten und gehegten Stammhalter. Roderich war mit Säuglingsspeisen nach Ende des Stillens nicht recht vertraut, kritisierte daher das aus seiner Sicht gefährliche Verfüttern von Kartoffeln. Garnichtfaul aber beendete das nächtliche Schreien des hungrigen Babys mit einem wohlig schmatzend verzehrten süßen Brei. Roderich verstand nicht, wohl aber seine Gemahlin, denn diese hatte das Deutsche Pudding-Mehl, das neue Kartoffelstärkeprodukt, genutzt. Sie ließ ihren Gatten kosten und nun leuchtete es ihm ein: Es gab eine noch größere Vielfalt als herzhafte Brat-, Pell- oder Salzkartoffeln, als die unverzichtbaren Klöße und Kartoffelpuffer. Und freudig gedachte man – Propaganda braucht solche Legenden – des alten Fritzes, der doch die Kartoffel hierzulande heimisch gemacht hatte (Vom Säugling, der nach Kartoffeln schreit!, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 73 v. 27. März, 6; Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; gekürzt Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 72 v. 25. März, 7).

Die neuen Kartoffelprodukte mussten erklärt werden, entsprechend gab es weitere Geschichte mit den beiden Propagandafiguren. Sie erschienen nun bereits als gute Bekannte, als Alltagsbegleiter. Und angesichts des kommenden Osterfestes nutzte sie, die Gemahlin, DPM und Sago, um all den Anforderungen der Festzeit zu genügen. In der Geschichte selbst war das nicht mehr exotisch. Garnichtfaul war nun, nach Ende der Bilder und Gedichte, Teil einer breiten Hausfrauenschar, die jene belächtete, die von den neuen, den guten heimischen Dingen nichts wussten. Die Volksgemeinschaft freute sich daher zurecht auf „großartige Festtagskuchen“, deren „reichlicher Verbrauch nunmehr für alle Zeiten zur Selbstverständlichkeit wird“ (Gute Sachen, die alltags und festtags Freude machen, Die Glocke, Ausg. F, 1939, Nr. 98 v. 11. April, 5).

Texte wie diese verwiesen auf das Eigengewicht von Roderich und Garnichtfaul, die sich zwar noch nicht von den Grundmotiven der Serie emanzipiert hatten, die aber in neue Zusammenhänge gestellt wurden. Das galt auch für den letzten gedruckten Text mit dem glücklichen Ehepaar. Roderich schwelgte darin von „Schweinerem“, von Salami und Schmalz. Seine Gemahlin aber wusste, dass es der Gehalt machte, dass Fleisch durch Zucker bestens ersetzt werden konnte. So die Wissenschaft, so auch ihre Küche. Roderich war nicht ganz überzeugt, doch einen Pudding, schön süß, den wollte er sich durchaus munden lassen (Kein Krach um Jolanthe, Verbo 1939, Nr. 139 v. 19. Juni, 8).

Im Nachhinein mögen derartige Narrative nicht sonderlich ansprechend wirken, doch sie waren integraler Bestandteil dieser Propagandakampagne. Wie parallel beim Groschengrab gewannen die Figuren weitere Konturen, mit denen die Propagandisten weiterarbeiten konnten. Ein ungleiches, aber miteinander glückliches Ehepaar wie Roderich und Garnichtfaul hätte Serienheld werden können, doch der Krieg setzte anstelle der noch beschworenen „freiwilligen“ eine bald allgemein verpflichtende Verbrauchslenkung, die Rationierung. Nun bedurfte es der beiden nicht mehr, Lebensmittel wurden zugewiesen und aufgerufen. Doch Roderich und Garnichtfaul hatten bereits gängige Lebensmittel des Weltkrieges propagiert, ebenso Informationen und Rezepte, um aus diesen etwas Schmackhaftes zu machen.

Empfohlener Konsum: Text- und Rezeptmassen als Kern der Kampagne

Für die Propagandisten waren Roderich und Garnichtfaul Mittel zum Zweck, so wie die Mehrzahl der großen Lümmel, der willigen Deutschen für die NS-Oberen. Sie blickten schon weiter, hin auf die im Krieg unverzichtbaren Lebensmittel und Produkte, für die das glückliche Ehepaar freudig warb. Es ging den Funktionseliten um „unermüdliche, ständig wiederkehrende Hinweise“, darum, „die Menschen allmählich dazu zu erziehen, daß ihnen auf dem Gebiet der Nahrungsverwertung nichts mehr unwichtig erscheint“ (Gerstorfer, Die Propaganda im Dienste der Aufklärungsaktion „Kampf dem Verderb“, Unser Wille und Weg 6, 1936, 355-357, hier 356, auch unten). Eine einheitliche Propaganda war unverzichtbar, daher einheitliche Bilder und Gedichte, daher einheitliche ergänzende Texte. Doch die Propagandisten wussten um die Grenzen derartiger Vorgaben, daher waren auch Journalisten und praktische Hausfrauen gefragt, denn sie und nur sie kannten die Besonderheiten vor Ort: „Generalrezepte können dafür natürlich nicht gegeben werden, da es sich gerade darum handelt, unter keinen Umständen nach einer Schablone zu arbeiten, sondern die Aktion in dem vielfältigen Mosaik all der Kleinigkeiten, aus der sie sich zusammensetzt, unter ständig neuen Blickpunkten zu beleuchten“. Bilder, Gedichte und Ergänzungsnarrative bildeten daher nicht den Kern der Propagandaserie. Dieser bestand aus zahllosen dezentral publizierten und erstellten Texten und Rezepten. Wer die Kampagne als wenig „lokalbezogen“ charakterisiert, spiegelt die eigene Oberflächlichkeit (Hans Veigl und Sabine Dermann, Alltag im Krieg 1939-1945. Bombenstimmung und Götterdämmerung, Wien 1998, 32). Gewiss, auch die kleinteiligen Texte und Rezepte bewegten sich im vorgegebenen Rahmen und nutzten einheitliche Vorlagen. Ihre (bedingte) Überzeugungskraft gewannen sie aber aus der genaueren Kenntnis und Darstellung lokaler Fährnisse, lokaler Konsummuster. Dies gilt es genauer in den Blick zu nehmen, auch um einen Eindruck von der Alltagspropaganda kurz vor Kriegsbeginn zu erhalten.

Stete Lenkung, schon vor Roderich-Garnichtfaul-Kampagne 1938 (Ernährungsdienst 1938, Nr. 20, 1)

Anfang 1939 war die Versorgungslage im Deutschen Reich weiterhin angespannt. Butter, Eier, Fleisch und vielfach auch Gemüse fehlten, verbrämt wurde dies mit der „anomalen Witterung im Dezember und Januar“. Die Alltagspropaganda griff dies auf, sah dieses als paradoxen Widerhall der Erfolge der NS-Regimes, denn das Ende der Arbeitslosigkeit und die moderat steigende Lebenshaltung hätten den „Verbrauch verfeinerter Nahrungsmittel“ deutlich erhöht (Hat die Verbrauchslenkung versagt?, National-Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 15 für beide Zitate). Versorgungsschwierigkeiten seien Übergangserscheinungen auf dem Weg hin zu besseren Zeiten, zur entwickelten nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Meckern sei unangemessen: „Wir vergessen oft sehr schnell, wenn es uns einmal schlecht gegangen ist und richten dafür unsere Aufmerksamkeit um so härter auf die Ereignisse und damit natürlich auch auf Unzulänglichkeiten des Augenblickes“ (Unsere Ernährung im Februar, Bremer Zeitung 1939, Nr. 28 v. 28. Januar, 10). Verglichen mit der immer wieder in Erinnerung gerufenen Zeit der Hungerblockade und der Weltwirtschaftskrise war das zwar richtig, lenkte vom Problem aber ab.

Die Kartoffel als wichtigstes deutsches Lebensmittel (Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Die allwöchentliche, allmonatliche Verbrauchslenkung hielt längst gegen, die Ernährungsrichtlinie empfahl für den Februar mehr Fisch, Käse und Quark, Butter und Trockenmilch (Fett, Fleisch, Eier. Dinge, an denen wir sparen müssen – Dafür Käse, Fisch, Kartoffeln, Herforder Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Das erste Bild und Gedicht der Roderich-Kampagne propagierte zudem vermehrt Kartoffeln – und die Knollenfrucht wurde nun gesondert empfohlen. Dazu dienten erstens Artikel, in denen ihre stoffliche Zusammensetzung (Eiweiß, Nährsalze und Vitamine) ebenso gepriesen wurde, wie ihre vielgestaltige küchentechnische Verwendung. Als Ergebnis beträchtlicher, propagandistisch übertriebener Ertragssteigerungen müsse auch der Konsument seinen Beitrag leisten: „Der 15prozentigen Erzeugungssteigerung muß eine ebensolche Verbrauchssteigerung folgen“ (Die Kartoffel in der Ernährung, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 10). Der Reichsnährstand hatte dazu einen Rezeptdienst ausgearbeitet, die Zeitungen verbreiteten zudem Teile einer vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung erstellten illustrierten Broschüre, um Kartoffeln mittags, aber auch abends „zum Hauptträger unserer Mahlzeiten“ werden zu lassen (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 8 v. 28. Januar, 11). Die Zeitungen präsentierten sich als Dienstleister, als Freund und Helfer (Schwerter Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 4; Altenaer Kreisblatt 1939, Nr. 21 v. 28. Januar, 11; Sächsische Elbzeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Haushaltsparole war: „Die wahrhaft kluge Hausfrau spricht: ‚Verachtet die Kartoffeln nicht!‘“ (Gevelsberger Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 15).

Nur geringe regionale Verzehrsunterschiede: Kartoffelkonsum 1908/09, 1927/28, 1937 (Spiekermann, 1997, 278)

Kartoffeln waren damals das wichtigste Lebensmittel im Deutschen Reich. 1938 wurden ca. 174 Kilogramm pro Kopf und Jahr verzehrt, die regionalen Verzehrsunterschiede waren vergleichsweise gering (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg et al., Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, 247-282). Doch die Rekordwerte der Vorkriegszeit mit rechnerisch mehr als fünf Zentnern, fast 700 Gramm täglich, erreichte man nicht mehr. Außerdem wurden Kartoffeln vor dem Zweiten Weltkrieg bereits zunehmend verarbeitet, verdrängten als staatlich gefördertes Kartoffelwalzmehl vielfach Getreide, waren als Kartoffelstärke Alltagsgut. Die in der Propaganda klar dominierenden Speisekartoffeln machten nur ein gutes Viertel der Ernte aus, Pflanz- und vor allem Futterkartoffeln mehr als die Hälfte. Die deutsche Landwirtschaft deckte den kompletten Kartoffelbedarf, so dass die Kartoffel immer stärker nationalisiert wurde und auch das öffentlich geehrte und geheiligte Brot, insbesondere das aus importierten Weizen, teilweise substituieren sollte.

Auf diese Struktur baute die Begleitpropaganda zu Roderich und Garnichtfaul vierfach auf. Erstens wurde versucht, den Verzehr insgesamt zu erhöhen. Eine kulturelle Aufladung, etwa durch Bezug an den frühen Lobpreis der Kartoffel durch Mathias Claudius (1740-1815) (Ein Loblied der Kartoffel, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 23), erhöhte die Wertschätzung der Alltagsspeise, vielgestaltige Rezepte riefen andere Zubereitungsformen in Erinnerung. Gerade in den Hauptverzehrsregionen in West- und Norddeutschland galt abseits von Salz- und Bratkartoffeln, abseits der tunkenbewehrten Sättigungsbeilage, „sie ist es wert, um ihrer selbst willen gegessen zu werden“ (Kultur der Kartoffel! Es geht um den guten Geschmack, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 72 v. 12. Februar, 3). Es folgten gleich vierzehn Rezepte bis hin zu verschiedenen Torten und Gebäcken.

Zweitens ging es darum, den Kartoffelkonsum vor allem im Süden und Südwesten des Reiches stärker einzubürgern, wurden in Bayern doch nur zwei Drittel der Reichsdurchschnittswerte erreicht, noch weniger in der „Ostmark“. Während parallel das hohe Lied regionaler Küche gesungen wurde, der 1928 erstmals erwähnte Spätzle-Eintopf Gaisburger Marsch zum typisch südwestdeutschen Gericht mutierte, propagierte man zugleich das weitere Vordringen der Kartoffel als Teil des Zusammenwachsens der einen deutschen Nation: „Ja, es war wirklich arg für die armen Norddeutschen, in Baden zu leben. Aber wie gesagt: es war. Inzwischen ist die Kartoffel auch im klassischen Lande der Mehlspeisen zu großer Beliebtheit gelangt“ (Kartoffeln ein nahrhaftes Gericht, Badische Presse 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 19). Rezepte für Kartoffelgnocchi und in Schale überbackene Kartoffeln errichteten eine Brücke zu regional üblicheren Zubereitungsweisen: „In jeder Gegend unseres Vaterlandes gibt es […] besondere Spezialitäten, zu denen in der Hauptsache Kartoffeln verwandt werden“ (Der Kartoffel ein volles Lob! Wer kennt die Zahl der Kartoffelgerichte?, Dortmunder Zeitung 1939, Nr. 48 v. 29. Januar, 3).

Lob der Kartoffel (Die Glocke am Sonntag 12, 1939, Nr. 5, 20; Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 5)

Drittens unterstützte man die häufigere Verwendung von Kartoffeln als warme Abendmahlzeit, als Suppe, als verarbeitete Beikost. Suppen, salziger Kartoffelpudding und Kartoffelsalate wurden in immer neuen Variationen vorgeschlagen (Was man aus Kartoffeln machen kann, Rheinisch-Bergische Zeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 17). Wer hatte denn schon einmal Kartoffeln in die Milchsuppe eingebaut? (Geseker Zeitung 1939, Nr. 12 v. 28. Januar, 5) Wer traute sich an Kartoffelschnee, Kartoffelrand, Kartoffelringe, gefüllte Kartoffeln und Eierkartoffeln? (Honnefer Volkszeitung 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 6). Kartoffelbällchen und Leberkartoffeln konnten den Tag durchaus abrunden (Zschopauer Tageblatt und Anzeiger 1939, Nr. 24 v. 28. Januar, 7). Auch Kartoffelnudeln oder gewickelter Kartoffelkuchen boten Ergänzungen zum abendlichen kalten Mahl (Billig, nahrhaft, abwechslungsreich. Kartoffelgerichte, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 32 v. 1. Februar, 22). Und für nährende Resteessen bot sich selbstverständlich die Kartoffel an (Kartoffeln so und so!, Wilsdruffer Tageblatt 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Wer all das nicht kannte oder konnte, für den gab es Kochkurse des Deutschen Frauenwerks (Essener Anzeiger 1939, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

Viertens schließlich koppelte man die Kartoffelpropaganda mit Fragen des Kampfes gegen den Verderb, den im Krieg systematisch propagierten Pellkartoffeln und der richtigen Einlagerung (Der Neue Tag 1939, Nr. 42 v. 11. Februar, 5). Die Propaganda für höheren Kartoffelverzehr vermischte sich dabei zunehmend mit den Empfehlungen verarbeiteter Kartoffelprodukte.

Erlaubt man sich etwas mehr Distanz, so praktizierte die nationalsozialistische Verbrauchslenkung zentrale Ideen der späteren Salutogenese (Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997). Es galt, den Volkskörper zu optimieren, seine Stärken zu stärken, seine Schwächen zu schwächen. Die Propaganda, nicht nur die von Roderich und Garnichtfaul, lenkte nicht nur, sondern bot Hilfestellungen, um das Leben im völkischen Verbund zu verstehen, es auch auszufüllen. Sie bot Handreichungen, um das eigene Haushalten und Konsumieren trotz äußerer Fährnisse handhabbar zu gestalten. Und durch die kulturelle Aufladung, durch die Integration von staatspolitisch bedeutsamen Aufgaben, schuf sie Sinngehalte, ein Leben mit Weihegehalt. Dieser Bezug erscheint erst einmal paradox, denn als Konzept wurde die Salutogene Anfang der 1970er Jahre just aufgrund von Untersuchungen an weiblichen KZ-Häftlingen entwickelt. Doch das für Aaron Antonovsky (1923-1994) zentrale Kohärenzprinzip wurde bereits von den für die Verfolgung und Verhaftung verantwortlichen Funktionseliten systematisch eingesetzt. Propaganda ist ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft, dient heterogenen Zwecken.

Wir könnten nun fortfahren: Auch beim Quark, angesprochen im zweiten Motiv der Bilder und Gedichte, gab es unmittelbar daran andockende Einzeltexte (Quark zum Mittag- und Abendessen, Lippstädter Zeitung 1939, Nr. 60 v. 11. März, 11), einen reichsweit abgedruckten, allerdings vielfältig variierten Grundtext (Erzeugung und Verbrauch von entrahmter Milch, Geseker Zeitung 1939, Nr. 18 v. 11. Februar, 5; Annener Zeitung 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6; Aachener Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 6). Die Magermilchprodukte Quark, Sauerkäse und Trockenmilch wurden darin als billige und hochwertige, in der Küche vielfach einsetzbare, einfach zu handhabende Produkte vorgestellt, ausführlich von den Anstrengungen und Verwertungsnöten der Milchwirtschaft berichtet. Es folgte eine große Zahl regional angepasster Rezeptvorschlägen. Topfenspeisen in Österreich, im Nordwesten eher Quark mit Hering, mit Haferflocken, als Brotaufstrich anstelle von Butter (Topfen in gemüsearmer Zeit, Neues Wiener Tagblatt 1939, Nr. 39 v. 8. Februar, 22; Der Erft-Bote 1939, Nr. 30 v. 11. Februar, 3; General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1939, Nr. 16372 v. 11. Februar, 15). Quark wurde als modernes Lebensmittel präsentiert, als „guter deutscher Speisequarg“ geadelt (Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 44 v. 12. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten ihn endlich würdigen, ihn nicht mehr als „rechtes Stiefkind“ behandelten, die Fülle der damit möglichen herzhaften und süßen Speisen sich zu eigen machten (Quarg macht sich beliebt, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 36 v. 11. Februar, 21 mit Rezepten für Quark-Appetitbissen und einer süßen Quarkspeise).

Quark mit Pellkartoffeln und neue Verpackungen (Die Käse-Industrie 11, 1938, 34 (l.); ebd. 9, 1936, 123)

Da die Struktur derartig ergänzender und erweiternder Ernährungspropaganda jedoch meist repetitiv ist – Grundtext, Nebentexte, ergänzende Abbildungen und dann vor allem regional passende Rezepte – will ich nur noch auf zwei der insgesamt acht mittels Roderich und Garnichtfaul in den Blickpunkt gerückten Produkte genauer eingehen, nämlich die seit Jahrzehnten intensiv beworbene Fleischalternative Fisch und das Deutsche Pudding-Mehl als Prototyp einer wachsenden Zahl neuer Ersatzprodukte.

Fischpropaganda vor und während der NS-Zeit (Das Blatt der Hausfrau 1930/31, H. 13, 37 (l.); Die Glocke, Ausg. F 1937, Nr. 108 v. 22. April, Unterhaltungsblatt, 4)

Fisch, vorrangig Seefisch, war seit der Vorkriegszeit ein immer wieder intensiv beworbenes Lebensmittel. Verglichen mit der Kartoffel war sein Konsum regional weitaus disperser, zudem handelte es sich um ein hochgradig saisonales Produkt. Frischfisch war hygienisch heikel, für einen reichsweiten Absatz fehlte es trotz der 1896 erfolgten Gründung der Deutschen Dampfschiffereigesellschaft Nordsee lange an Kühltechnik für Transport und Ladenverkauf. Marinaden und Konserven dienten sowohl als Gaumenkitzel als auch als billige, meist gesalzene Ware, doch ihr Geschmack sagte nicht jedem zu, auch der Sättigungswert einer Hauptspeise wurde vielfach in Frage gestellt. Demgegenüber standen ernährungsphysiologische und handelspolitische Vorteile, entlastete Fisch doch die Devisenbilanz des Deutschen Reiches. Seit 1926 intensivierte der „Ausschuss für Seefischpropaganda“ die „Aufklärung“ der Konsumenten, doch es war vor allem der niedrige Preis der Massenware, der den Pro-Kopf-Konsum während der Weltwirtschaftskrise moderat auf etwa zehn Kilogramm steigen ließ (Spiekermann, 2018, 374-375).

Fisch als Erweiterung der deutschen Nahrungsgrundlagen (National-Zeitung 1939, Nr. 36 v. 5. Februar, 5)

Für das NS-Regime hatte Seefisch vor allem den Charme, dass mit der Hochseefischerei eine zuvor unerschlossene „Kolonie“ genutzt werden konnte. Es galt auf „unterseeischen Weiden“ zu ernten, dadurch die Devisenbilanz zu verbessern, die Aufwendungen für die Fleischproduktion zu vermindern. Günstige Preise und eine „Arbeitsschlacht“ zugunsten deutscher Fischer erlaubten eine rasche Steigerung des Konsums auf 1936 dreizehn Kilogramm pro Kopf – und die Funktionseliten intensivierten die Forschungsinvestitionen und Subventionen nochmals massiv (Spiekermann, 2018, 376-378). Der Vierjahresplan sah eine Verdopplung der Anlandungen bis 1940 vor – und das, obwohl im Kriegsfall die Hochseefischerei, wie auch der parallel noch stärker ausgebaute Walfang, aufgrund der britischen Seemacht nicht fortgeführt werden konnte. Die weiter professionalisierte Fischpropaganda unterstrich, dass es um das Erreichen der Kriegsfähigkeit ging, dass dann die Karten neu gemischt werden sollten.

Roderich und Garnichtfaul wurden demnach in eine bestehende, immer wieder erneuerte Propaganda integriert. Seit 1936 zeigten sich nämlich die Grenzen einer raschen Umstellung der Alltagskost: Die Mengenausweitung war nicht begleitet von einer entsprechenden standardisierten Warenqualität. Es fehlte an elektrischer Kühlung, in den Läden, in der Transportinfrastruktur. Bis 1938 konnte der Konsum nur noch um ein halbes Kilogramm gesteigert werden. Es ging eben nicht mehr um die Brechung von Vorurteilen, auch der recht niedrige Preis der Standardarten war angesichts eines moderat steigenden Lebensstandards nicht mehr so wichtig. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne griff dies bedingt auf, zielte vorrangig auf drei Punkte:

Erstens setzte sie – im Gegensatz zu anderen Teilen der Serie – die Moralisierung der Hausfrauentätigkeit fort: „Deutsche Frau, in Deiner Hand liegt es, den Fischverbrauch des deutschen Volkes zu verdoppeln!“ (Auf jeden Tisch zweimal in der Woche Fisch!, Niederrheinische Volkszeitung 1939, Nr. 57 v. 26. Februar, 7). Auch wenn begleitend Kochkurse des Deutschen Frauenwerks angeboten wurden, so handelte es sich doch um eine Fortsetzung der stark fordernden allgemeinen Fischkampagne, die sich vom zumeist freundlicheren Tenor des Herrn Roderich und seiner Gemahlin parolenhaft-plärrend abhob. Auch sachlicher klingende Texte erinnerten eher an die allgemeinen Ernährungsrichtlinien der steten Verbrauchslenkungspropaganda: „Der Fisch ist also die einzige ‚Kolonialware‘, die wir aus eigener Erzeugung haben“ (Jetzt ist auf dem Meer Erntezeit, Siegblätter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 6; Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Schwerter Zeitung 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 4). Die Hausfrauen sollten zugreifen, zumal ihnen die Verarbeitung der nicht verkauften Filets zu Fischmehl zeigefingernd zur Last gelegt wurde. Laufende Propagandamaßnahmen begrenzten somit den Spielraum der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne.

Die Serie bot wiederum einen Grundtext, der die Anstrengungen der Fischwirtschaft anschaulich schilderte, daraus eine völkische Reziprozität ableitete. Darüber aber waberte eine aufgrund des Vierjahresplanes bestehende Pflicht zum massiv höheren Konsum; derartiges erfolgte ansonsten indirekt und implizit, mit Bezug auf die technischen Fortschritte des NS-Regimes und der „klugen“ Gefolgschaft der Hausfrauen (Die Bedeutung des Fisches für die Ernährung, Der Haushalt 11, 1939, Nr. 4, 6; Salzburger Volksblatt 1939, Nr. 47 v. 25. Februar, 11; Wittener Tagblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 3). Auch die in der allgemeinen Fischwerbung stets präsente Heldengeschichte des kernigen Fischers, der als Teil des ewigen Kampfes zwischen Natur und Mensch dem Meer einen lebensnotwendigen Anteil entriss, wurde nicht aktiviert.

Zweitens wurde auch der Fischkonsum als Problem regionaler Ernährungsdisparitäten verstanden. Württemberger Leser wurden gezielt angesprochen „weil Württemberg sowohl bei Fischen wie bei Kartoffeln je Kopf der Bevölkerung nahezu den geringsten Durchschnittsverbrauch aller Gaue des Reiches hat“ (Eßt mehr Fische!, Verbo 1939, Nr. 35 v. 10. Februar, 15). Mit Verweis auf neue hygienische Fischverkaufsautos und vermehrte spezialisierte Fischverkaufsstellen wurde versucht, bestehende Befürchtungen über mangelhafte Qualität und Frische der im Norden angelandeten Fische aufzugreifen und abzumildern. Dazu diente auch eine große Zahl von Fischkochkursen der Deutschen Frauenschaft. Sie sollten Qualitätskriterien, wie klare Augen, dunkelrote Kiemen, fehlenden Fischgeruch oder eine noch widerständige Textur verankern, den Hausfrauen die Angst vor Fehleinkäufen nehmen. Das „Drei-S-System“ wurde vermittelt, das Säubern der Fische und ihrer Filets, das Säuern mit regional passenden Marinadengrundstoffen und schließlich das Salzen zur Tilgung des Seegeruchs. Hinzu kamen basale Kochfertigkeiten, insbesondere das seit den 1920er Jahren immer wieder empfohlene Dünsten – und schließlich Kochrezepte, die den regionalen Geschmacksvorstellungen entsprachen. Fischeintopf mit Hülsenfrüchten wäre in Bayern kaum zu vermitteln gewesen, eher schon geräucherter oder gegrillter Fisch mit Kraut.

Gesund und preiswert: Argumente für höheren Fischverbrauch in Österreich (Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8)

Entsprechend nahmen drittens Fischrezepte einen besonders großen Raum ein. In Bochum befanden sich unter 21 einschlägigen Rezepten Fischfilet mit Speck, Fischragout, Fischkartoffelpuffer und „Sauerbraten von Kabeljau“, also Mock Food. Das passte zu regionalen Spezialitäten, zur üblichen Kost (Kleine Vorschläge für den Fischtag, Bochumer Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 5). Im Sauerland gab es unter anderem Deutsche Fischsuppe, Labskaus, grüne Heringsröllchen, Bratfisch, Fischfilet mit Sauerkraut, auch ein Bauern-Essen mit Bückling und Räucherfischauflauf (Fisch auf mancherlei Art, Sauerländisches Volksblatt 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 9). Rheinische Zeitungen enthielten Karpfen mit Meerrettichtunke, Fischschnitten auf rheinische Art, Fischauflauf mit Weißkohl und Bücklingswürstchen, Kohlrollen mit Fischhackmasse sowie Fischpuffer als Variation der beliebten Reibekuchen mit Apfelmus: „Gibt es etwas Abwechslungsreicheres? Es soll 1000 verschiedene Eierspeisen geben, aber es gibt noch viel mehr Fischgerichte“ (Fisch auf den Tisch!, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 4).

Derartige Rezepte suggerierten nicht nur die Nähe zu bestimmten regionalen Küchen, sondern auch, dass richtig zubereiteter Fisch schmackhaft, leicht verdaulich und sättigend sein konnte (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 8). Er mutierte so zum „Fleischvorrat, den uns das Meer gibt“. Ja, die große Zahl der Spezialitäten mochte die Hausfrau teils überfordern, doch dann war Garnichtfaul eine Wegweiserin: „Ein wenig Phantasie hilft über alles hinweg“ (Fleisch aus dem Meer, Kärntner Volkszeitung 1939, Nr. 14 v. 25. Februar, 8). Die Rezepte hatten den Vorteil haushälterischer Kontrolle, einer selbstbestimmten Qualität bei relativ billigen Grundstoffen. Doch für die Propagandaserie war ebenso charakteristisch, dass sie auch neuartige verarbeitete Fischprodukte vorstellte, so etwa die „nach einigen Fehlschlägen“ als kaltgeräucherte „Vollkraft-Fische“ in der Wehrmacht und im Reichsarbeitsdienst eingeführten Hauptgerichte („Vollkraft-Fische“ – eine neue Art, Herner Anzeiger 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Fisch wurde kräftige, männliche Speise. Daran hätte auch Roderich seine Freude gehabt. Derweil lief die allgemeine Fischpropaganda weiter, fordernd und weniger subtil (Werbewelle für den Fisch, General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet 1939, Nr. 56 v. 25. Februar, 11).

Werbung für Deutsches Pudding-Mehl, Sago und Kartoffelmehl (Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 85 v. 26. März, 4)

„Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ hatte eine besondere Bedeutung für die Einführung neuartiger Austauschstoffe, bot diesen einen breiteren Rahmen als üblich. Verbrauchslenkung war dann Anpreisung des Neuen, war Werbung für hochverarbeitete Produkte. Die Propagierung des Deutschen Pudding-Mehls war Teil eines Protzes des Neuen, zeigte zugleich aber die Grenzen der Verbrauchslenkung deutlich auf. DPM wurde als eines der vielen „Kinder der Kartoffel“ präsentiert, neuartige Lebensmittel aus dem Rohstoff Kartoffel. Es war Teil einer brüstend posaunten Zahl von mehr als hundert Knolleninnovationen, mit deren Hilfe die Selbstversorgung Gestalt annehmen sollte („Kinder“ der Kartoffel, Der Gesellschafter 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 8).

Als Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne kam die Vorstellung jedoch recht spät, denn DPM wurde bereits im Sommer 1938 eingeführt: „Etwas ganz Neues auf dem Gebiet unserer Ernährung ist das Deutsche Puddingmehl, das unter dem Qualitätszeichen DPM und in einheitlicher Packung nunmehr überall dem Verbraucher angeboten werden wird“ (Wir bitten zu Tisch, Die Glocke, Ausg. F 1938, Nr. 171 v. 27. Juni, 6). Ganz neu war es natürlich nicht, denn schon während des Ersten Weltkrieges gab es intensive Forschungen für einen Ersatz der aus Mais, Weizen oder aber Reis hergestellten Stärkeprodukte. Ein deutsches Puddingmehl wurde schon 1933 auf staatlichen Druck hin angeboten, die Nährmittelindustrie damals verpflichtet, 3000 Tonnen einzukaufen und zehn Prozent billiger als das aus Importmais hergestellte Mondamin anzubieten (Kartoffeln als Auslandsrohstoffersatz, Hamburger Fremdenblatt 1933, Nr. 347 v. 16. Dezember, 9). Das Produkt scheiterte, der Kartoffelgeschmack war zu dominant.

DPM-Einführung nebst späterem Küchenarrangement (Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13 (l.); Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7)

Bis 1938 war die Produktionstechnologie deutlich verbessert worden, und eine schön gestaltete illustrierte Broschüre stellte das Knollenprodukt der Öffentlichkeit vor (Kinder der Kartoffel, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Berlin 1938). Die Ernährungsrichtlinien lenkten die reichsweite Öffentlichkeit im Juli auf das neue Ersatzprodukt, auch wenn es damals kaum erhältlich war, erst „demnächst allgemein im Verkehr erscheinen“ sollte (Was essen wir im Juli?, Schwarzwald-Wacht 1938, Nr. 157 v. 8. Juli, 5; analog Der Patriot 1938, Nr. 150 v. 1. Juli, 4). Auch die Ernährungsrichtlinien von August und September 1938 empfahlen einen bevorzugten Konsum von DPM, während kleinere Artikel über kontinuierliche Lieferschwierigkeiten berichteten (Ernährungsrichtlinie für die Verbrauchslenkung im August 1938, Die Glocke, Ausg. F, 1938, Nr. 218 v. 13. Juli, 7; Was essen wir in der kommenden Woche?, Solinger Tageblatt 1938, Nr. 200 v. 27. August, 12). Noch Anfang Oktober hieß es hoffnungsfroh, dass „in allernächster Zeit Packungen mit der Aufschrift ‚DPM‘ in den Handel kommen“ würden (Deutsches Puddingmehl, Hamburger Tageblatt 1938, Nr. 268 v. 1. Oktober, 13). Und schon schrieben eilfertige Federn „vom allseitig erfolgreiche[n] Absatz von deutschem Puddingmehl“ (Marktumschau für die Hausfrau, Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 250 v. 26. Oktober, 7). Doch erst im Dezember dürfte es breiter verfügbar gewesen sein – nun beworben durch eigens in den Läden angebrachte Plakate. Nun wurden auch Einsatzmöglichkeiten genauer vorgestellt: Es diente als Puddingpulver, Nährmittel, ergänzendes Speisenpulver, als Weizenzusatz beim Backen („DPM.“ – schnell begehrt, Die Glocke am Sonntag 11, 1938, Nr. 50, 20). DPM war, wie viele Ersatzmittel dieser Zeit, auch nach seiner Einführung ein Produkt auf der Suche nach einem Markt, einer Marktnische. Rezepte folgten, spiegelten dabei regional unterschiedliche Nachtischvorlieben (Pudding für den Festtagtisch, Wiener Zeitung 1938, Nr. 315 v. 8. November, 8). Einschlägige Speisen lockten in Illustrierten, gaben einen Abglanz der kulinarischen Möglichkeiten von DPM und anderen Ersatzprodukten aus Kartoffeln.

Nettes Arrangement: Sagoauflauf und Flammeri aus Deutschem Pudding-Mehl (Das Blatt der Hausfrau 53, 1939/40, H. 15, 443)

Die Einführungswerbung lief im neuen Jahr mit Einzelartikeln im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung weiter; abseits der schon angelaufenen Roderich-Garnichtfaul-Kampagne. DPM symbolisierte Nahrungsfreiheit und deutsche Schaffenskraft (Süsse Speisen aus Kartoffeln?, Rahdener Wochenblatt 1939, Nr. 27 v. 1. Februar, 7; Noch unbekannt?, Oberbergischer Bote 1939, Nr. 30 v. 4. Februar, 11). Das Neue wurde deutlich vom früheren Kartoffelmehl abgegrenzt, als feines Produkt positioniert, das „einen wahrhaften Siegeszug durch die Küchen angetreten“ habe (Nahrhafte Kartoffel-Produkte, Gladbecker Volkszeitung 1939, Nr. 45 v. 14. Februar, 3). Im Februar schienen die Liefer- und wahrscheinlich ebenfalls bestehenden Qualitätsprobleme behoben, doch offenkundig wurde es „noch nicht allgemein von den Hausfrauen seinem Wert nach gewürdigt und darum gekauft“ (Das jüngste Kind der Kartoffel, Lenneper Kreisblatt 1939, Nr. 41 v. 17. Februar, 7). Die Einsatzmöglichkeiten schienen kaum begrenzt, auch die Kranken- und Kinderkost wurden anvisiert. Eine Rezeptbroschüre gab es kostenlos im Einzelhandel, Kochkurse der Deutschen Frauenschaft offerierten praktische Hilfen, minderten die offenkundige Skepsis: „Dieses Puddingmehl riecht und schmeckt nicht etwa nach Kartoffeln. Wer die Herkunft nicht weiß, glaubt kaum, daß man aus ‚gewöhnlichen‘ Kartoffeln ein so hochwertiges Nahrungsmittel machen kann. Es klebt und kleistert nicht, wie Kartoffelstärke das sonst tut, erinnert also in nichts mehr an die Kartoffel“ (Puddingpulver, aus Kartoffeln hergestellt, Buersche Zeitung 1939, Nr. 50 v. 20. Februar, 3). Allseits verwandt, könne DPM die 1938 noch produzierten 45.000 Tonnen Maisstärke ersetzen. Die Lebensmittelindustrie konnte zaubern, DPM wurde somit ein Produkt auch für Gemahlin Garnichtfaul und ihre Kochkünste.

Hinweis und Angebot von Deutschem Pudding-Mehl (Neckar-Bote 1939, Nr. 71 v. 23. April, 8 (l.); Ostfriesische Tageszeitung 1939, Nr. 16 v. 19. Januar, 4)

Die Integration des Deutschen Pudding-Mehls in die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne diente demnach der Verstärkung einer ohnehin laufenden Einzelwerbung im Rahmen der allgemeinen Verbrauchslenkung. Das schien nötig, denn 1937/38 wurden nach offiziellen Angaben lediglich 400 Tonnen DPM hergestellt (Der Haushalt 11, 1939, Nr. 6, 7). Neuerlich veröffentlichten die Zeitungen vielgestaltige Rezepte, auch kleine Geschichten versuchten das Interesse auf das neue, nunmehr verfügbare Produkt zu lenken (Illustrierte Kronen-Zeitung 1939, Nr. 14076 v. 26. März, 18; Die Wiener Bühne 16, 1939, H. 14, 38). Innerhalb der Kampagne war das Pulver Grundstoff für Süßspeisen, für Nachtische, andere Einsatzmöglichkeiten traten dagegen in den Hintergrund. Doch trotz der Propaganda konnte DPM weder Mais- noch Weizenstärke verdrängen. Erst als Teil der Rationierungswirtschaft etablierte es sich als Kindernährmittel neben Gustin, Maizena, Mondamin, Rizena und Weizenin (Der Gesellschafter 1939, Nr. 246 v. 20. Oktober, 4). In dieser Nische hielt es sich auch in der Nachkriegszeit. Der durch den Roman „Ich denke oft an Piroschka“ bekannt gewordene Schriftsteller Hugo Hartung (1902-1972) – Simplicissimus-Mitarbeiter und NSDAP-Mitglied – präsentierte es im freundlichen NS-Jargon noch 1960 (Hugo Hartung, Kinder der Kartoffel, Köln 1960).

Ernährungsrichtline im September 1938: Präsenz aller von Roderich und Garnichtfaul empfohlener Lebensmittel (Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 409 v. 4. September, 5)

Wie kann man angesichts dieser Fallstudien die Wirkung sowohl der allgemeinen Verbrauchslenkung als auch der Kampagne um „Roderich, das Schleckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ einschätzen? Bei der Antwort hilft vielleicht ein Blick auf die visuell nett aufbereitete Ernährungsrichtlinie vom September 1938. Darin fand man bereits alle Lebensmittel und Produkte, die dann von Roderich und Garnichtfaul prominenter präsentiert wurden. Dies spiegelt die 1938/39 zunehmend geringere Resonanz der staatlichen Lenkungsmaßnahmen, also just zu einem Zeitpunkt, in dem die durch den Vierjahresplan in Gang gesetzte lebensmitteltechnologische Forschung nennenswerte Ersatzmittel produzierte. Sie wurden während des Krieges über die Rationierung allgemein verbreitet, waren wichtige Zwischenschritte für die zunehmend industriell gefertigten Lebensmittel der Supermarkt-Ära und auch unserer Zeit.

Die Kampagne spiegelte das Beharren der NS-Funktionseliten auf einen tiefgreifenden Wandel in der Ernährungswirtschaft, im Alltagskonsum. Die von Roderich und Garnichtfaul goutierten Produkte waren allesamt deutsch, doch zugleich Prototypen einer neuen Konsumkultur, mit höherem Verarbeitungs- und Conveniencegrad, mit einem für die Konsumenten scheinbar offenkundigen Zusatznutzen. Die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne steht für das immer wieder verfeinerte Bemühen, das Volk, den großen Lümmel, in die vom NS-Regime und seinen Funktionseliten anvisierte Richtung zu leiten. Sie war Beispiel für einen weniger strikten, ansatzweise freundlicheren Ton in der Propaganda. Das war Teil einer nationalsozialsozialistischen Binnenmoral, denn totaler Krieg und Höflichkeitspropaganda waren kein Widerspruch, sondern aufeinander bezogen. Freudig Kochen, genussvoll essen, am Weg des Führers arbeiten, und dann erschrocken sagen: Davon haben wir nichts gewusst. Propaganda dient der Effizienzsteigerung in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften.

Visueller Flankenschutz: Begleitkampagnen durch Materndienste

Mit diesen vielen Informationen und Überlegungen könnte man enden. Doch dann hätte man immer noch nur einen Teil der Roderich-Garnichtfaul-Kampagne betrachtet, den unbedingten Willen einer immer wieder neu ansetzenden, immer wieder verfeinerten Verbrauchslenkung unterschätzt. Denn die Kampagne, über deren Hauptzeichner wir nichts wissen, wurde von anderen aufgegriffen und gedoppelt. Roderich und Garnichtfaul hatten – wie auch andere Propagandafiguren der NS-Zeit – Wiedergänger.

Einen Monat nach dem Beginn der Propagandakampagne trat ein neuer, ein zweiter Roderich in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Thematisiert wurde das zweite Motiv der Serie, der vom Schlecker Roderich geliebte und von Gemahlin Garnichtfaul gut hergerichtete Quark. Das war der Start von fünf weiteren Doppelbildern, kleinen Comics, die dem Leser Geschmack, Gehalt und Preiswürdigkeit heimischer Lebensmittel und Produkte nochmals freundlicher, nochmals unterhaltender darboten. Gezeichnet von dem Karikaturisten D. Aschau (ein Pseudonym des 1902 in Würzburg geborenen und für die Reichsbank tätigen Volkswirtes Friedrich Oechsner (Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T2, Nr. 1630/038), handelte es sich um ein ergänzendes, nicht verpflichtendes Angebot des Scherl-Materndienstes. Dieser wurde 1916 von einem Konsortium um Alfred Hugenberg (1865-1951) gekauft, einem Schwerindustriellen, DNVP-Politiker, Medienmogul und späteren Superminister im ersten Kabinett Hitler. Der Materndienst versorgte während der Weimarer Republik und der Präsidialdiktatur vorwiegend kleinere Zeitungen mit Texten und vielfach antirepublikanischen Meinungsartikeln. 1933 wurde er vom Zentralverlag der NSDAP, dem Franz-Eher-Verlag, übernommen und etablierte sich rasch auch als reichsweit präsenter Bildmaterndienst. Solche ergänzende Bildmotive waren typisch für die NS-Propaganda, unterstrichen deren staatspolitische Bedeutung. Kampagnen wie Groschengrab, Herr Bramsig und Frau Knöterich oder auch Kohlenklau wiesen ähnliche Ergänzungen auf.

Quark als kulinarischer Genuss (Velberter Zeitung 1939, Nr. 58 v. 27. Februar, 6)

Die zweite Roderich-Serie – das Leckermaul wurde jeweils namentlich genannt, nicht aber seine allerdings stets sichtbare Gemahlin Garnichtfaul – folgte etwa zwei Wochen nach den ersten Vertiefungstext des glücklichen Ehepaars, widmete sich wie dieser dem Quark, dem heimischen. Die Einzelbilder erschienen dann in etwa zweiwöchigem Abstand. Die Zeitungen nutzten allerdings ihren Freiraum, eine einheitlich getaktete Erscheinungsweise gab es nicht (Ersterscheinung Die Glocke 1939, Ausg. E, Nr. 57 v. 27. Februar, 4; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 63 v. 5. März, 22; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 55 v. 6. März, 7). Die jeweils zwei Zeichnungen waren zumeist horizontal angeordnet, doch sie erschienen auch vertikal, verortet meist in der ersten oder letzten Spalte (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 94 v. 25. Februar, 5). Scherl ergänzte dadurch sein Angebot eingängiger Zeichnungen der monatlichen Ernährungsrichtlinen oder aber besonders zu bevorzugender Lebensmittel. Comics waren zur NS-Zeit keineswegs verpönt, sondern ein wichtiges Element der Propaganda. Gewiss, sie hatten im Deutschen Reich eine andere Form als in den vielfach stilbildenden Vereinigten Staaten. Doch als Kindergeschichten, als humoristische Einschübe, in zahlreichen Werbekampagnen und nicht zuletzt in staatspolitischen Angelegenheiten waren sie mehr als eingängige Bildtupfer.

Frühe Propagandazeichnung Aschaus für die Reichsanleihe 1937 (Mitteldeutsche Nationalzeitung 1937, Nr. 234 v. 26. August, 8)

Zeichner Aschau hatte sich seit 1937 einen gewissen Namen gemacht, als er die Reichsanleihe beworben hatte, ein wichtiges Element der Aufrüstung. 1938 illustrierte er auch den vom Regime vorgeschriebenen Goldmünzeneintausch, der die Devisenprobleme des Deutschen Reichs kurzfristig minderte (Mitteldeutsche Saale-Zeitung 1938, Nr. 188 v. 13. August, 7; ebd., Nr. 203 v. 31. August, 7). Aschau erweiterte sein Arbeitsfeld, seine Zeichnungen zielten auf den rechtzeitigen Weihnachtseinkauf oder richtiges Wäschewaschen (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1938, Nr. 290 v. 11. Dezember, 6; Meinerzhagener Zeitung 1939, Nr. 15 v. 19. Januar, 6). Unmittelbarer Vorläufer der Roderich-Serie war eine sechsteilige Ergänzung der 1938/39 veröffentlichten Groschengrab-Propaganda (Rheinisches Volksblatt 1938, Nr. 146 v. 27. Juni, 3; Hakenkreuzbanner 1938, Nr. 315 v. 11. Juli, 5; Durlacher Wochenblatt 1938, Nr. 168 v. 21. Juli, 5; Lippische Staatszeitung 1939, Nr. 214 v. 15. August, 15; ebd., Nr. 226 v. 18. August, 8; Mindener Zeitung 1939, Nr. 207 v. 5. September, 8).

Trockenmilch als kräftigende Proteinquelle (Tremonia 1939, Nr. 64 v. 5. März, 2)

Die einzelnen Motive der Roderich-Serie hatten zumeist eine ansprechende, fett gesetzte und häufig mit einem Ausrufezeichen versehene Überschrift. Sie wurde unterhalb der beiden Bilder präzisiert und in fetter Type auf die eigentliche Botschaft zugeschnitten. Trockenmilch war der Aufmacher des zweiten Motivs, doch das Feld war breiter, umfasste die preiswerte Eiweißversorgung. Jedes Motiv bestand zudem aus zwei je vierzeiligen Gedichten, die zugleich den Inhalt der Zeichnungen näher erläuterten. Aschau arbeitete zudem mit den nicht gar so häufigen Sprechblasen, dynamisierte dadurch die Einzelgeschichten. Die abonnierenden Zeitungen besaßen bei der typographischen Gestaltung relative Freiheit, texteten teils andere Überschriften, ließen diese aber auch mal weg (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 104 v. 3. März, 4; Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 67 v. 20. März, 4).

Während sich die Roderich-Garnichtfaul-Kampagne bildlich auf das Ehepaar konzentrierte, hatten die beiden in Aschaus Serie nicht nur ein anderes Aussehen, sondern standen auch stärker im Leben, waren Teil der Volksgemeinschaft. Roderich & Co. waren eine nationalsozialistische Musterfamilie, ein virtueller Aktionsverbund, verwandt mit der zu Beginn des Krieges präsentierten Vorbildfamilie Pfundig, die viele Widrigkeiten der Heimatfront meisterte. Roderich kommentierte und korrigierte, war somit öffentlich aktiv, während Garnichtfaul zwar auch außerhalb des Hauses erschien, dort aber kaum das Wort ergriff. Ihre Wirkungsstätte war das Heim, hier salutierten ihr die anderen Familienmitglieder, priesen ihre zeitgemäße Kochkunst, ihre schmackhaften Gerichte. Die Kinder, ein Sohn und eine Tochter, waren folgsam ruhig. Heiner trieb erfolgreich Sport, seine Schwester spornte den großen Bruder an. Einen Hund gab es ebenfalls, wie putzig…

Fisch von Garnichtfaul überzeugt auch notorische Meckerer (Hakenkreuzbanner 1939, Nr. 118 v. 11. März, 7)

Roderich und Garnichtfaul waren nun Überzeugungstäter, Verbrauchsmissionare. Genuss und Leckerhaftigkeit wurden weiterhin angesprochen, doch das traute Glück war nicht mehr vorrangig. Stattdessen stand in der dritten und vierten Episode die allgemeine Konsumsteigerung im Mittelpunkt. Der Meckerer wurde mit Backfisch bekehrt (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 59 v. 10. März, 3; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 66 v. 18. März, 18; Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 78 v. 1. April, 15), Frau Dürr mit Zucker auf die rund-gebärfähige Idealfigur der deutschen Frau gebracht. Fett wurde in beiden Fällen gespart, Roderich sei Dank!

Zucker für den wohlgeformten Frauenkörper (Illustriertes Tageblatt 1939, Nr. 81 v. 5. April, 6)

Die Zucker-Episode wurde in sehr unterschiedlicher Weise abgedruckt, die Doppelstruktur teils aufgelöst, teils neue Überschriften gewählt (Der sächsische Erzähler 1939, Nr. 76 v. 30. März, 3; Derner Lokal-Anzeiger 1939, Nr. 77 v. 31. März, 8). Auch die Aschau-Serie endete süß, präsentierte DPM als schmackhafte Billigkost, die einen zusätzlichen Kinobesuch ermöglichte. Das Ende zog sich allerdings noch hin, denn auch nach dem gängigen Letztabdruck Ende April gab es bis tief in den Mai hinein noch weitere Abdrucke (NS-Volksblatt für Westfalen 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 5; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 116 v. 20. Mai, 9). Roderich & Co. boten völkisches Anschauungsmaterial, endeten mit der Überschrift „Wir wünschen wohl zu speisen“ (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1939, Nr. 94 v. 22. April, 9).

Deutsches Pudding-Mehl, schmackhaft und billig (Rheinisches Volksblatt 1939, Nr. 93 v. 22. April, 9)

Aschau zeichnete auch nach dieser Ergänzungsserie weiter, liefert nach Kriegsbeginn passgenaue politische Propaganda gegen Engeland (Mindener Zeitung 1939, Nr. 246 v. 10. Oktober, 10; Hohenstein-Ernstthaler Tageblatt 1939, Nr. 246 v. 21. Oktober, 1; Mindener Zeitung 1939, Nr. 301 v. 23. Dezember, 14; Rahdener Wochenblatt 1940, Nr. 77 v. 4. Februar, 4; ebd., Nr. 83 v. 9. Februar, 4). Weihnachten 1940 durfte er nochmals Überraschungen humoristisch aufs Papier bannen (Volks-Zeitung für den rheinisch-westfälischen Industriebezirk 1940, Nr. 305 v. 27. Dezember, 7; Westfälischer Beobachter 1940, Nr. 179 v. 28. Dezember, 67). Aschau-Oechsner konzentrierte sich seither auf seine Arbeit zur finanzpolitischen Mobilisierung des Deutschen Reichs. Er konnte seine Karriere nach dem Krieg ohne größere Friktionen fortsetzen, war seit 1952 Vorstandsmitglied der Landeszentralbank Württemberg-Hohenzollern, ab 1959 Vizepräsident der Landeszentralbank Bayern. Zu seiner Pension erhielt der frühere NS-Propagandist 1967 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Roderich und Garnichtfaul wurden während des Krieges zunehmend vergessen, die Lebensmittelrationierung wirkte effizienter als der freie Warenkauf. Genuss und privates Glück waren auf die Zeit nach dem Endsieg vertagt worden.

Dank an die UdSSR: NS-Kriegspropagandist Aschau (Nachrichten und Anzeiger für Naunhof […] 1940, Nr. 82 v. 8. April, 6)

Resümee

Die Verbrauchsregelung des NS-Regimes basierte auf einem bis weit ins frühe 20. Jahrhundert zurückreichenden Instrumentarium. Selbstversorgung schien schon vor dem Ersten Weltkrieg wirtschafts- und machtpolitisch geboten. Die Vorteile globaler Arbeitsteilung überwogen jedoch deutlich, die weit verbreitete Vorstellung vom kurzen Krieg ließ das Risiko von Versorgungsengpässen gering erscheinen. Der Erste Weltkrieg beendete derartige Illusionen. Einerseits wurden im langen Übergang zur Rationierungswirtschaft der Städter erst freiwillige, dann mit Zwang versehene Mittel entwickelt, an die der NS-Staat seit 1936 konsequent anknüpfte: Marktübersichten und Wochenspeisezettel, Kochkurse und Speisungswerke, Ersatzmittelwirtschaft und intensivierte angewandte Forschung blieben Kernelemente des raschen Übergangs zu einer freiwilligen Verbrauchslenkung, die nach nur drei Jahren in eine relativ effiziente Rationierung mündete. Anderseits nutzte der NS-Staat auch das Erbe der Weimarer Republik, dessen Agrarmarketing und Produktwerbung alliierte Anregungen aufgriffen und in vielgestaltige, aufeinander bezogene, mit Marken und Bildern unterlegte Kampagnen führten. Während der Zeit der Präsidialkabinette und der frühen NS-Zeit wurde das regulative Instrumentarium für eine Verbrauchslenkung geschaffen, die Massenorganisationen der NSDAP boten personelle Ressourcen für eine zuvor nur aus dem Weltkrieg bekannte Breitenwirkung. Für Aufrüstung und letztlich Krieg wurde Selbstversorgung ein zentrales staatspolitisches Ziel, das anfangs vor allem mit einer Ausweitung der heimischen Agrarproduktion und begrenzten Interventionen in die Lebensmittelproduktion erreicht werden sollte. Doch „Nahrungsfreiheit“ blieb eine Illusion, die Importabhängigkeit des Deutschen Reichs bei Rohstoffen, Investitionsgütern, Futtermittel und Genussmitteln, Eiweißen und Fetten konnte vermindert, nicht aber beseitigt werden.

Seit 1936 wählten die Funktionseliten einen anderen Weg, dessen Konturen zuvor ausführlich dargestellt wurden. Es gelang dem Regime ein reichsweites, noch freiwilliges Verbrauchslenkungssystem zu etablieren, durch das den Hausfrauen monatlich, wöchentlich und täglich Aufgaben präsentiert wurden, um heimische Produkte bevorzugen zu können, um höhere Selbstversorgung zu erreichen. Parallel setzte eine Erhaltungsschlacht ein, eine Effizienzsteigerung der Hauswirtschaft, durch die einerseits Lebensmittelverluste verringert, anderseits die Saisonalität der Ernährung weiter begrenzt werden sollte. In diese Richtung wirkten auch die massiven Investitionen in eine verbesserte Vorratshaltung, in schmackhafte Convenienceprodukte, in eine wachsende Palette wissensbasierter Ersatzprodukte. All dies bewirkte tiefgreifende Veränderungen in den Sortimenten und der Hauswirtschaft. Die allgemeine Verbrauchslenkung griff sie alle auf, versuchte die Hausfrauen und ihre Männer zur langsamen Akzeptanz einer neuen Konsumwelt zu bewegen. Handwerkskunst und regionale Küchen wurden beschworen, letztlich aber zerniert. Die Modernisierung von Landwirtschaft und Handel blieben aufgrund von Ressourcenmangel vielfach auf halbem Wege stecken, ließen aber in der unmittelbaren Vorkriegszeit schon die Fortentwicklung nach dem Krieg erahnen. Die allgemeine Verbrauchslenkung war von diesen Herausforderungen letztlich überfordert, zumal der moderat verbesserte Lebensstandard andere Konsummuster ermöglichte.

In dieser Situation war „Roderich, das Leckermaul, und Gemahlin Garnichtfaul“ eine aus Sicht des NS-Regimes sinnvolle Maßnahme. Sie hatte einen anderen freundlich-gewinnenden Ton, nutzte andere Propagandamedien, eine neuartige Kombination von Bildern und Texten, Geschichten und Produktinformationen, Rezepten und praktischen Hilfestellungen. Sie bildete einen zweiten Anlauf, um den Konsum schon zuvor mit recht begrenztem Erfolg beworbenen Lebensmitteln und vor allem neuartigen Ersatzprodukte zu steigern. Es ging dabei um Zeitgewinn, um Systemstabilisierung, bis ein fest anvisierter Krieg die machtpolitischen Rahmenbedingungen in neue Bahnen zwingen würde.

Roderich und Garnichtfaul waren Vorboten einer neuen Konsumgesellschaft, einer neuen Hauswirtschaft, entsprechend dominierten in der Serie Aspekte von Genuss und Selbstbezüglichkeit. Dies war eingebettet in ein System allgemeiner Sparsamkeit und völkischer Verpflichtung, doch die Motivlage hatte sich gegenüber der allgemeinen Verbrauchslenkung beträchtlich verändert. Die neue, für wenige Monate gleichberechtigt in den Vordergrund tretende Kampagne war deutlich breiter als die fünf simplen Bilder und Gedichte. Sie waren nur Entree in eine vielgestaltige, miteinander verbundene Kampagne. Die Freude des glücklichen Ehepaars gab nicht nur Anregungen und praktische Hilfestellungen, sondern beantwortete auch Fragen nach dem Sinn all der Anstrengungen, wies über völkische Verpflichtungen hinaus. Die neue Konsumwelt würde technisch-wissenschaftlich fundiert sein, dem Einzelnen Belohnung für seine Mühsal bringen, sein Glück nicht missachten. Das war leicht einzubetten in das breite Korsett nationalsozialistischer Moral, doch es wies ansatzweise darüber hinaus.

Roderich und Garnichtfaul war eine typische nationalsozialistische Propagandakampagne. Doch sie war eben nicht nur nationalsozialistisch, sondern adressierte viele Aspekte des modernen Lebens in einer Konsumgesellschaft. Effizienz, Preiswürdigkeit, Bequemlichkeit waren rote Fäden der Kampagne und verknüpfen sie eng mit den anders gelagerten Problemlagen der Gegenwart. Das Volk, der große Lümmel, war und is(s)t auch heute eigensinnig und eigenständig. Funktionseliten drängen auf mikroautoritäre Eingriffe, auf staatliche Hebel fernab der allseits praktizierten, kaum aber erfolgreichen Moralisierung der Märkte, deren Essenz eine selbstbestimmte und freiwillige Verbrauchslenkung ist. Träume von einer raschen Transformation prägen Medien und Öffentlichkeit heute in vielerlei Richtung. Dass dabei der trennende Grat zwischen verschiedenen Gesellschaften und politischen Systemen schmal ist, ist auch Ergebnis dieser Analyse einer modernen und gleichwohl nationalsozialistischen Propagandakampagne.

Uwe Spiekermann, 31. Mai 2025

Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda: Kohlenklau, Wasserplansche und Begleitkampagnen

Wie funktionierte NS-Propaganda? Die historische Forschung über diese für das Verstehen des Nationalsozialismus zentrale Frage ist nach wie vor dominiert von den großen politischen Inszenierungen, also der Selbstdarstellung des Regimes. Doch eine Propaganda des Nationalsozialismus gab es nicht, eben so wenig wie eine Verfolgung, eine Gewalt, eine Sprache, eine Kunst und eine Werbung. Der Nationalsozialismus war modern – und daher vielgestaltig. Dies war entscheidend für die mörderische Dynamik des Regimes, für seinen irritierenden Zusammenhalt bis zur totalen Niederlage. Die Vorstellung einer NS-Propaganda verdeckt daher mehr als sie enthüllt.

Das liegt auch daran, dass Propaganda eben nicht spezifisch nationalsozialistisch war und ist, sondern ein Grundelement moderner technischer Gesellschaften (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964 [französisches Original von 1954]; ders., Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [erstmals 1962]). Propaganda im engeren Sinne entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Propaganda war nicht vorrangig politisch, sondern Notwendigkeit einer effizienten arbeitsteiligen Gesellschaft, ermöglichte dem Einzelnen Orientierung, koordinierte Individuen und Gruppen, verringerte die Kosten des verzahnten Miteinanders unterschiedlicher Interessen, unterschiedlicher Praktiken. Ein beträchtlicher Teil der nationalsozialistischen Propaganda findet sich – wenngleich in modifizierter Form – auch in anderen Staaten wieder. Denken Sie an Verkehrserziehung, Brandschutz, Zivilverteidigung, Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Sparsamkeitsappelle und vieles andere mehr. Dies macht die Frage nach dem Besonderen, gar dem Spezifischen der NS-Propaganda nochmals schwieriger (Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda?, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 527-559; Stefan Scholl, Für eine Sprach- und Kommunikationsgeschichte des Nationalsozialismus. Ein programmatischen Forschungsüberblick, Archiv für Sozialgeschichte 59, 2019, 409-444).

Will man genauer hinschauen, will man die Bindekraft des Nationalsozialismus präziser verstehen, so ist daher zudem eine detaillierte Analyse einzelner Kampagnen des Staates, der NSDAP und der nationalsozialistischen Zivilgesellschaft erforderlich. Wie funktionierte die Winterhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt? In welchem Kontext standen Verbrauchslenkung und Kampf dem Verderb? Welche Bedeutung besaßen die inner- und außerbetrieblichen Kampagnen der Deutschen Arbeitsfront? Wie wurde deutsche Kultur  definiert, präsentiert und genutzt? Wie änderte sich die Propaganda während des bewusst herbeigeführten Krieges? Solche genaueren Blicke sind erforderlich, um Verbindungen zu knüpfen zwischen Alltagsproblemen und ihrer propagandistischen Einfärbung. Sie sind aber auch erforderlich, weil sich die stets eingeforderte nationalsozialistische Moral hierin stärker spiegelte als in den Marschkolonnen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände oder den Redeinszenierungen im Reichstag. Dabei stellt sich die Frage, wie man mit gebotener analytischer Distanz aus den ja bewusst öffentlichen Quellen schöpfen kann. Die nationalsozialistische Propaganda war eben nicht geheim, Führer suchten Volk, offerierten Orientierung, zielten auf ein effizienteres Handeln im Sinne des Regimes.

Doch auch dann gilt es weiter zu fragen, genauer zu analysieren. Die in der damaligen publizistischen Wirkungsforschung noch prägende Vorstellung von eindeutigen Sendern und eindeutigen Empfängern, von klar abgrenzbaren, gleichsam für sich stehenden und zu analysierenden Kampagnen ist hochgradig fraglich. Nicht nur, dass sie aufeinander aufbauten, das immer Gleiche in immer neuer, immer wieder variierter Form präsentierten. Die Kampagnen selbst standen nicht für sich, sondern wurden aufgegriffen, fortgeführt, dadurch genutzt und popularisiert. Just innerhalb der offiziellen Propaganda gab es bewusst eröffnete Freiräume, die dann regimenah, regimedienend genutzt wurden. Wer bei Kampagnen wie Groschengrab (1938/39) oder Roderich das Leckermaul (1939) allein auf die überschaubare Zahl der offiziellen Zeichnungen und Comicstreifen blickt, verkennt Breite und Bedeutung dieser propagandistischen Anstrengungen. Sie erschließen sich erst, wenn auch die umkränzenden Artikel und Rezepte, Bildgeschichten und Gedichte in die Analyse mit einbezogen werden. Dies aber fehlt in der historischen Forschung, entsprechend eng ist und bleibt die Analyse der NS-Propaganda.

Der vorliegende Beitrag wird an einem an sich wenig bedeutsamen regionalen Beispiel untersuchen, wie innerhalb einer NS-Propagandakampagne solche Weitungen und Häutungen erfolgten. Als Bezugsrahmen dient die wichtigste, kostenträchtigste und wahrscheinlich besterinnerte Kampagne während des Zweiten Weltkrieges. Kohlenklau war seit Ende 1942 allgegenwärtig. Eine bedrohlich-groteske Figur wurde genutzt, um in steter Abfolge und mit immer wieder anderen Akzenten zentrale Probleme der Kriegswirtschaft zu adressieren, um zugleich aber auch zu unterhalten, dem Ernst Humor unterzumengen. Doch dabei blieb es nicht, denn es entstanden dezentral zahlreiche weitere Unterkampagnen, von denen hier die der Wasserplansche, der imaginierten Frau des Kohlenklaus, beispielhaft hervorgehoben werden wird.

Kohlenklau – Konturen einer unterschätzten Kampagne

Die Kohlenklau-Kampagne wird in der historischen Forschung immer mal wieder erwähnt, doch sie dient in den Darstellungen der Kriegsgeschichte vornehmlich als kolorierendes Beiwerk, wird kaum gesondert untersucht. Auch genauere Untersuchungen schielen, denn sie verfolgen andere, ihrerseits durchaus wichtige und spannende Fragestellungen. Der Regisseur und Comicverleger Ralf Palandt stellte Kohlenklau unlängst in den Kontext zahlreicher Energiesparmaßnahmen der Nachkriegszeit (Ralf Palandt, Propaganda-Figuren: vom Kohlenklau zum Wattfraß, in: Eckart Sackmann (Hg.), Deutsche Comicforschung. Register der Bände 2005-2024, Leipzig 2023, 6-18). Fachwissenschaftlich näher sind die Arbeiten des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Reinhold Reith (Reinhold Reith, Kohle, Strom und Propaganda im Nationalsozialismus: Die Aktion „Kohlenklau“, in: Theo Horstmann und Regina Weber (Hg.), „Hier wirkt Elektrizität“. Werbung für Strom 1890-2010, Essen 2010, 142-157). Erst 2023 ergänzt und erweitert, geht es in seinen Beiträgen jedoch nicht vorrangig um Propaganda, sondern um die breiter gefasste Ressourcenpolitik des NS-Regimes (Reinhold Reith, Die »Kohlenkalamität« und der »Kohlenklau«. Kohle in der Ressourcenpolitik des »Dritten Reiches«, in: Lutz Budraß, Torsten Meyer und Simon Große-Wilde (Hg.), Historische Produktionslogiken technischen Wissens, Münster und New York 2023, 107-137; ders., Stromsparen/Kohlenklau (1943). Propaganda in der Kriegswochenschau, in: Nicolai Hannig, Annette Schlimm und Kim Wünschmann (Hg.), Deutsche Filmgeschichten, Göttingen 2023, 69-75). Reith liefert wichtige Informationen zum Kriegsalltag, zur Kohlenknappheit im eiskalten Winter 1939/40, der Kürzung der ohnehin engen Hausbrandversorgung um 10 Prozent erst 1942 und dann nochmals 1943, zur dann folgenden Kohlennot 1944/1945 – und analysiert all dies als Teil der Konsumgeschichte des Weltkrieges. Die Darstellung der Kampagne selbst ist allerdings lücken-, teils fehlerhaft; wohl auch, weil die herangezogenen Quellen lückenhaft sind. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist eben keineswegs „ausgeforscht“. Insbesondere die zunehmend digitalisierten Tageszeitungen erlauben vielfältige tiefere Einblicke nicht nur in das lokale Geschehen. Sie bilden eine wichtige Erweiterung zu den – im Bereich des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung – großenteils vernichteten Archivalien.

Stete öffentliche Präsenz: Litfaßsäule in Münster und Kohlenklau-Plakat (Westfälische Tageszeitung 1943, Nr. 23 v. 24. Januar, 5 (l.); Tagebuch einer Straße. Geschichte in Plakaten, hg. v. d. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1981, 251)

Blicken wir nun genauer auf die Kohlenklau-Kampagne, die nach Aussage des Journalisten und Sprachstilisten Wolf Schneider (1925-2022) „ein öffentliches Anliegen geschickt“ personifizierte, „in der zutreffenden Annahme, daß dies mehr Sparsamkeit bewirken würde, als abstrakt vor ‚Verschwendung‘ zu warnen“ (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, München und Zürich 1976, 162). Die Figur war markant, etwas Neues: „Das rechte Auge geschlitzt wie eine Katze, die mausend und miauzend durchs Dunkel streift, das linke aufgeblendet wie den Kegel einer diebisch zuckenden Taschenlampe ins finster Schleichende haltend, – ha, so duckt er sich dahin, der Millionendieb. Seine Faust ist schwarz, seine Kappe sitzt bedrohlich, sein Schnurrbart sträubt sich gefährlich. Man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, diesem Burschen“ (Der Millionendieb, Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 353 v. 22. Dezember, 3). Ihn einzuladen, in die Wohnung zu lassen, schien gefährlich, denn in seinem Sack verschwanden die Erträge völkischer Arbeit, Heizkraft, Dampfkraft, Gaskraft, Stromkraft.

Die Figur blieb in der Erinnerung haften, machte Karriere sowohl in der Nachkriegsliteratur (Günter Grass, Die Blechtrommel, 20. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1983, 301ff.), als auch in Dutzenden Erinnerungen an die kriegsgebrochene Kindheit: „Der Kohlenklau war faszinierend, ängstigend und universal wie der schwarze Mann, mit dem man im Kleinbürgertum den Kindern Angst machte. Im kindlichen Bewußtsein muß er auch eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wassermann besessen haben, der ja von den Grimms her bekannt war und sich beim Ablaufen des Badewassers grunzend bemerkbar machte. […] Aber Kohlenklau war jemand; ein Bild des Volksschädlings, der dem eigenen Volk in einer Zeit, wo jedes Brikett gebraucht wurde, in den Rücken fiel“ (Dieter Hoffmann-Axthelm, Das Kind und der Kohlenklau. Erinnerungsfunde 1943-1945, in: Johannes Beck et al. (Hg.), Terror und Hoffnung in Deutschland 1933-1945. Leben im Faschismus, Reinbek b. Hamburg 1980, 315-321, hier 320). Solche Veröffentlichungen waren bereits reflektiert, spiegelten auch daher nur unzureichend die Faszination des Ungeheuers: „Da ist er wieder! / Sein Magen knurrt, sein Sack ist leer, / und gierig schnüffelt er umher. / An Ofen, Herd, an Hahn und Topf, / an Fenster, Tür und Schalterknopf / holt er mit List, was Ihr versaut. / Die Rüstung ist damit beklaut, / die auch Dein bißchen nötig hat, / das er jetzt sucht in Stadt und Land. / Fasst ihn!“ (Horst Bosetzky, Brennholz für Kartoffelschalen. Roman eines Schlüsselkindes, München 1997, 12) Ja, man sollte ihn fassen, sein Handeln an die Imperative des schon lange vor Stalingrad ausgerufenen totalen Krieges sparend anpassen. So wie 1938/39 bei Groschengrab. Doch fern der reflektierten Erinnerung blieb da eine Faszination am Abweichler, an einer Figur, die all das tun durfte, was in der Drangsal des Krieges nicht geboten schien. Das vom humoristischen NS-Zeichner und späterem Tagesspiegel-Karikaturisten Hans Kossatz (1901-1985) gezeichnete Groschengrab wurde aus diesem Grunde populär. Das galt auch für Kohlenklau, dessen Abenteuer (wenngleich ohne Quellenhinweise) heute noch (wenngleich nur zum Teil) einfach greifbar sind (energieverbraucher.de | Im Energiesparmuseum: Der Kohlenklau: Energiespar-Propaganda im Zweiten Weltkrieg).

Kohlenklau hatte viele virtuelle Vorläufer in den zahllosen, seit dem Vierjahresplan 1936 verstärkt einsetzenden Appellen an Sparsamkeit und Ressourcensensibilität in der nationalsozialistischen Mangelökonomie. Ende 1940 bündelten der Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, der Reichskohlekommissar, die Reichsarbeitsgemeinschaft Holz und die Reichsarbeitsgemeinschaft Schadenverhütung diese zu einer ersten reichsweiten Kampagne für sparsames Heizen, visualisiert durch den freundlichen Kobold „Flämmchen“. Bis Ende 1942 wurden von der Deutschen Arbeitsfront offiziell 150.000 Männern in den „Schulgemeinschaften“ der „Heize Richtig“-Kampagne angelernt, die häuslichen Brandstätten möglichst energiearm laufen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Vorbereitungen für eine neue, dieses Mal jedoch weit umfassendere Kampagne zum Energiesparen, längst begonnen.

Vertreter der „Kohlen-, Energie- und Gaswirtschaft“ hatten Anfang Mai 1942 eine Energiesparpropaganda für mindestens zwei Millionen Reichsmark angeregt, die ab dem 15. Juli 1942 in drei gesonderten Wellen die „Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit der Bevölkerung beim Kohle-, Gas- und Energieverbrauch“ beheben sollte (Propagandavorschlag für eine Sparaktion bei Kohle, Energie und Gas v. 6. Mai 1942, Bundesarchiv Lichterfelde, NS 18/138, Bl. 23-33, hier 32). Das war aufgrund der Kriegslage, der angespannten Personal- und Materialsituation der deutschen Energiewirtschaft und auch der Lieferverpflichtungen gegenüber Verbündeten durchaus geboten, doch angesichts der bereits strikten Hausbrandrationierung schien der NSDAP-Reichsleitung folgenloses Mahnen eher problematisch. NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann (1900-1945) monierte am 20. Juli: „Dergleichen könnte leicht wie Hohn wirken! Die Bevölkerung hat ja nur ungenügend Kohle, kann also alles anders als verschwenden. […] An dieser Propaganda-Aktion werden wir uns aus genanntem Grund nicht beteiligen! Wir wollen uns nicht lächerlich machen“ (Vorlage. Betrifft: Kohlenwirtschaft; Versorgungslage v. 15. Juli 1942, ebd., 15-17, hier 17). Die Reichsministerien rangen in der Folge weiter darum, die vom Reichsrüstungsminister Albert Speer (1905-1981) geforderten Einsparungen sicherzustellen: Aktivierung der Hausfrauen zum Gas- und Elektrizitätssparen, verstärkter Einsatz von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen mit auskömmlichen Rationen oder größere Transportkapazitäten – die Lösung des Ressourcenmangels glich der Quadratur des Kreises (vgl. insb. Ministervorlage von Tieseler v. 31. Juli 1942, ebd., Bl. 9-10).

Die Kohlenklau-Kampagne wurde schließlich vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in enger Kooperation mit den Reichspropaganda- und Reichsrüstungsministerien durchgeführt, durch die Interessenvertretungen der Energiewirtschaft vielfach gefördert (Heinrich Lepthien, Kohlenklau und seine ersten Lebenstage, Die Deutsche Werbung 36, 1943, 75-79). Sie war reichsweit getaktet, die Presseanweisungen diktierten regelmäßige und – fast bis zum Schluss – vollständige Anzeigenserien.

Deutsche Mahnsprüche – Begleitreime der frühen Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1942, Nr. 297 v. 18. Dezember, 3 (l. o.); Nr. 302 v. 24. Dezember, 4; 1943, Nr. 4 v. 6. Januar, 3 (l. u.); Nr. 5 v. 7. Januar, 3 (r. o.); Nr. 9 v. 12. Januar, 3 (r. M.); Nr. 15 v. 19. Januar, 3 (r. u.))

Ab dem 7. Dezember 1942 erklangen im Rundfunk einschlägige Durchsprüche, also kleine, nicht allzu billige Werbejingels, in denen freundlich mahnend Ratschläge für die kleinen Verbesserungsmöglichkeiten im Alltag gegeben wurden. Nachhaltiger waren gewiss die ab dem 10. Dezember 1942 in der Tagespresse geschalteten Mahnsprüche. Bis Ende Januar finden sich mindestens zwanzig einheitlich umsäumte Reime: „Der spart an Gas, der sehr geschickt / zwei Töpfe aufeinanderrückt!“ (Straßburger Neueste Nachrichten 1942, Nr. 346 v. 15. Dezember, 5) Die eigentliche Kampagne begann mit dem Auftritt des zuvor nicht benannten Protagonisten in der seit dem 19. Dezember 1942 abgedruckten Einführungsanzeige „Wer ist Kohlenklau?“

„Die Jagd auf Kohlenklau geht los!“: Einstiegsanzeige und erstes Motiv der Serie „Kohlenklau’s schmähliche Niederlage“ (Stuttgarter NS-Kurier 1942, Nr. 348 v. 19. Dezember, 6 (l.); Hakenkreuzbanner 1942, Nr. 355 v. 24. Dezember, 5)

Theorie und Praxis waren fast deckungsgleich, innerhalb von vier Tagen war Kohlenklau Deutschlands Zeitungslesern bekannt (auch Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1942, Nr. 350 v. 20. Dezember, 3; Mittagsblatt 1942, Nr. 299 v. 21. Dezember, 7; Bochumer Anzeiger 1942, Nr. 300 v. 22. Dezember, 3, Hamburger Tageblatt 1942, Nr. 353 v. 23. Dezember, 3). Dazu diente aber auch der massive Flankenschutz durch bis zu 120.000 Plakate und eine gezielte Kinowerbung. Die imaginierte Hassfigur wurde durch das Würfel- und Brettspiel „Jagd auf Kohlenklau“ (Würfel- und Brettspiel), das Quartett „Sei schlau, sonst wirst du Kohlenklau“, durch Postkarten, Streichholzschachteln, Sammelmarken, Ankleber, Diapositive und vieles andere mehr verbreitet. Die Kosten hierfür stellten alle früheren Kampagnen weit in den Schatten, angesetzt waren im Winter 1942/43 5,4 Mio., im Sommer 1943 2,45 Mio. und im Winter 1943/44 5 Mio. Reichsmark (Reif, 2010, 149). Kohlenklau war eine multimediale Kampagne, bis 1944 wurden einschlägige Werbefilme produziert, waren Teil des gerade im Kriege üblichen Kinogangs (Kohlenklau – Animation 1944 (Will Dohm) – YouTube; Zugluft 1944 (Will Dohm) – YouTube). Den Kern aber bildeten, nicht zuletzt finanziell, die Anzeigenserien in Zeitungen und Zeitschriften.

Kampf gegen Kohlenklau: Beispiele aus der ersten und letzten Anzeigenserie (Badische Presse 1943, Nr. 16 v. 20. Januar, 4 (l.); Lippische Staatszeitung 1945, Nr. 72 v. 31. März, 3)

Die Kohlenklau-Kampagne wurde zu einem der seltenen Dauerläufer der NS-Propaganda, der ersten Serie folgten immer wieder neue. Das hatte mit der immer schwierigeren Ressourcenlage des NS-Regimes zu tun, aber auch mit der Attraktivität der an sich bedrohlichen Figur des Dauerdiebes. In den spätestens nach der Niederlage in Stalingrad immer dünneren, vor allem aber zunehmend bildarmen Zeitungen und Zeitschriften war Kohlenklau ein durchaus willkommener, das Einerlei durchbrechender Gast, mochte er auch an staatspolitisch zentrale Pflichten erinnern.

Die erste Serie „Kohlenklau‘s schmähliche Niederlage“ erschien vom Dezember 1942 bis zum April 1943 und umfasste zwanzig Einzelmotive, meist im wöchentlichen Abstand gedruckt. Die Nachfolgekampagne „Denk jetzt im Sommer schon an den Winter“ verzichtete auf den Kohlenklau, präsentierte die Alltagprobleme beim Energiesparen, vor allem aber bei der Pflege und Vorbereitung der Herde und Heizungen für die Winterzeit. Sie stand noch stark in der Tradition der Flämmchen- und der Heize Richtig-Kampagnen, erneuerte vielfach Ratschläge aus der vom Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung in Millionenauflage verteilten 16-seitigen Broschüre „‚Flämmchen‘ antwortet auf die Frage: Wie heize ich richtig?“. Technische Zeichnungen dominierten die von Mai bis August 1943 laufende Kampagne, doch in den fünfzehn Anzeigen fanden sich lediglich zwei Männer, sieben Mal jedoch aktive Hausfrauen. Mindestens fünf gereimte Mahnsprüche flankierten die vorrangig auf den Kohleverbrauch zielende Serie.

Meisterdetektiv Styx auf Kohlenklaus Fährte (Die Bewegung 11, 1943, 62)

Kohlenklau trieb derweil weiter andernorts sein Werbewesen: Im Frühjahr 1943, genauer im März, setzte sich der Meisterdetektiv Styx viermal auf seine Fährte. Das dürfte auch eine Referenz an den im Jahr zuvor aktiven Detektiv Pelle gewesen sein, der gegen Schleichhandel und Wucher ermittelte, auch im Kleingarten und Kartoffelkeller nach dem Rechten sah. Gezeichnet vom NS-Karikaturisten Manfred Schmidt (1913-1999), war er eines der Vorbilder für seinen Meisterdetektiv Nick Knatterton, der ab 1950 ein kommerzieller, auch später mehrfach revitalisierter Erfolg werden sollte. Kohlenklau wurde durch solche Serien zunehmend populär, verlor seinen bedrohlichen Kern, wurde mahnender Alltagsbegleiter. Das unterstrich auch die zehnteilige Kampagne „Steckbrief Kohlenklau“, die Mitte 1943 ebenfalls in Zeitschriften erschien. Sie war aufwendig gestaltet, zielte auf ein sparsames Haushaltshandeln, rechnete dieses unmittelbar in Waffen um, die durch die nötige Achtsamkeit produziert werden konnten. Nun wurden auch verstärkt Pimpfe und Jungmädel auf das „Gespenst“ angesetzt, Beginn einer verstärkten Mobilisierung der Jugend für die energie- und kriegspolitischen Ziele des NS-Regimes (Müglitztal- und Geising-Bote 1943, Nr. 42 v. 8. April, 3).

Die Volksgemeinschaft als Karikatur: Fräulein Etepetete und Bruder Leichtfuß als Beispiele einer unernsten, doch bekehrungswilligen Bevölkerung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 260 v. 6. November, 4 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 42 v. 19. Februar, 4)

Derweil wurde Kohlenklau immer mehr zum Klamauk, zu einem kleinen Lacher mit ernstem Hintersinn. Die in den Tageszeitungen abgedruckte Serie „Kohlenklau‘s Helfershelfer“ setzte im Oktober 1943 ein, die zwanzig Motive erschienen bis März 1944. Altbesetzung Kohlenklau trumpfte in seiner bewährten Rolle als gieriger Energiedieb auf, doch interessanter waren die neuen Charaktere. Die Volksgemeinschaft erschien nicht mehr stählern, sondern voller unernster, selbstbezüglicher Typen, die Kohlenklaus Raubzug immer neue Chancen eröffneten. So sehr die Texte das Hauptthema der Energieverschwendung in immer neuen, doch altbekannten Weisen präsentierten, dürfte das Interesse vieler eher der nächsten ironisch gezeichneten Knallcharge gegolten haben: Direktor Hochglanz oder Frau Erstkommich, Ella Fassade oder Lilo Hastig erinnerten allgesamt an Bekannte und Freunde, ein wenig auch an einen selbst. Gemäß dem Ideal nationalsozialistischer Moral führte das zu einer Gesellschaft rücksichtsvoller, doch erforderlicher Korrekturanstrengungen – im Alltag aber etablierte sich eher eine Kultur des Neids und der Denunziation. Kohleklau war etablierter Propagandaakteur, er verlor jedoch seine Härte und sein anfangs intendiertes Grauen.

Vollbad als Fehlverhalten: Kohlenklaus Rechenbuch Nummer 9 (Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 12, 9)

Zwei weitere Einzelkampagnen schlossen sich an: Im Frühjahr 1944 knüpfte „Kohlenklau‘s Rechenbuch“ an die Steckbrief-Serie an. In den nicht mehr allzu vielen Zeitschriften wurde ressourcenintensives Fehlverhalten wieder in Rüstungsgüter umgerechnet – während parallel die Kriegswirtschaft in diesem Jahr in der Tat ihren höchsten Ausstoß erreichen sollte. Ab November 1944 folgte die abermals zwanzigteilige Zeitungskampagne „Waffen gegen Kohlenklau“. Der gierige Held erschien nun im Umfeld der Alltagsdinge; und Handfeger und Sodawasser, Hilfsbrikett und Kellerschlüssel halfen den Deutschen, den Energieverbrauch verlässlich zu begrenzen. Kohlenklau erschien als Getriebener, als stetig Fehlender, als ein Mime ohne Fortune. Nicht alle Motive kamen noch zum Abdruck, angesichts des nahenden Endsieges wurde die anfangs getreulich begonnene Einzelzählung nach kurzer Zeit aufgegeben. Doch die meisten verbliebenen Zeitungen druckten und druckten – wie parallel im Februar/März eine Reichsbahn-Kampagne über angemessenes Verhalten bei Fliegergefahr. Der NS-Staat sorgte, warnte und lenkte bis zum Ende des Schlachtens.

Künstler für das NS-Regime: Hans Landwehrmann

Soweit die immer wieder veränderte NS-Propaganda-Kampagne, die aber nur den kleineren Teil der Auftritte Kohlenklaus in Zeitungen und Zeitschriften umgriff. Bevor wir darauf eingehen, gilt es sich aber noch mit dem Zeichner der Kernkampagnen zu beschäftigen; auch wenn es auf den Druckwerken keine einheitliche Signatur gab. Hans Landwehrmann (1895-1976) bricht nämlich mit den so bequemen und zugleich so fraglichen Vorstellungen einer klar voneinander zu scheidenden Kultur der demokratischen Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Regimes. Von den so gern als Vorläufer der demokratischen Bundesrepublik Deutschland präsentierten mehr als 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77).

Hans Landwehrmann zeichnet den Kohlenklau (Westfälische Zeitung 1943, Nr. 271 v. 18. November, 3)

Hans Landwehrmann wurde am 13. Oktober 1895 als Sohn des Küsters und Rendanten der Neustädter Marienkirche Hermann Heinrich Paul Landwehrmann (1857-1931) und seiner Gattin Johanne Wilhelmine Friederike, geb. Horstmann (1868-1941) in Bielefeld geboren (Ancestry Person; Adreß-Buch von Bielefeld 1894/95, 100; ebd. 1896, 111). Hans, geboren als Johannes Theodor Walter, war das dritte von vier Kindern, dem schon 1911 verstorbenen Hermann (*1889), Elisabeth (*1892) und Marianne (*1902) (Ancestry Person). Hans war schon früh zeichnerisch aktiv, Arbeiten des Fünfzehnjährigen wurden bereits gedruckt (Illustrationen zu Walter Schulte von Bruhl, Vom westfälischen Dorfe, Die Gartenlaube 58, 1910, 1083-1087). Er besuchte von 1912 bis 1914 die 1907 gegründete Staatlich-Städtische Handwerkerschule mit kunstgewerblichen Tagesklassen in Bielefeld, die anfangs vom Architekten und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Wilhelm Thiele (1873-[? 1945]) geleitet wurde. 1914 wechselte Landwehrmann an die Königliche Kunstakademie in Düsseldorf, wurde 1916 zum Kriegsdienst eingezogen, war bis Kriegsende Soldat. In Bielefeld wurde er dann Mitglied der Künstlergruppe „Rote Erde“, trat bei Ausstellungen als Landschaftsmaler hervor (Westfälische Zeitung 1920, Nr. 234 v. 11. Oktober, 5: Westfälische Neueste Nachrichten 1920, Nr. 152 v. 6. Juli, 2). Vor der Inflation war er in Dortmund tätig (s. unten), lebte dann zumindest kurzzeitig in Bremen (und bedingt Worpswede) (Handbuch des Kunstmarktes, Berlin 1926, 156), zeichnete ab Ende 1925 unter anderem für die sozialdemokratische Karikaturzeitschrift „Lachen Links“ (Volkswille 1925, Nr. 276 v. 25. November, 5: Lachen Links 3, 1926, 290, 366). Er siedelte nach Berlin über, wo er allerdings erst seit 1929 sicher nachweisbar ist (Amtliches Fernsprechbuch für Berlin und Umgegend 1929, 665). Auch dort pflegte er weiterhin kritische Kunst im Umfeld der Sozialdemokratie (Lübecker Volksbote 1931, Nr. 162 v. 15. Juli, Der Spatz, Nr. 29, 2). Landwehrmann gilt auch in der einschlägigen publizistischen Forschung als ein republikanischer Künstler (Frank Zeiler, Verfassungsbildsatiren zwischen Republikfeindschaft, Vernunftrepublikanismus und Republiktreue, Jahrbuch der Juristischen Zeitschrift 17, 2016, 395-435, hier 421, FN 104; Winfried Nerdinger und Ute Brüning, Bauhaus-Moderne im Nationalsozialismus, 1993, 46; Klaus Haese und Wolfgang U. Schütte, Frau Republik geht pleite. Deutsche Karikaturen der zwanziger Jahre, Leipzig 1989, 125, 127). Auch als Kunstmaler war er weiter aktiv, erreichte über die Illustrirte Zeitung ein gehobenes Massenpublikum (Tages-Post 1931, Nr. 295 v. 23. Dezember, 9).

Eigenwerbung des Graphikers Hans Landwehrmann 1932 und 1936 (Seidels Reklame 16, 1932, H. 1, XI; Gebrauchsgraphik 13, 1936, Nr. 11, 11)

Das Hauptgeschäft aber verlagerte sich auf die Werbung, wobei Landwehrmann nicht nur Markenartikelwerbung etwa für Blauring-Pfeifentabak, sondern auch Gemeinschaftswerbung für Bohnenkaffee oder aber Agrarwerbung für deutsches Obst und Gemüse gestaltete (Seidels Reklame 16, 1932, 109, 111, 113; Dokumente deutscher Werbearbeit: Der Gebrauchsgrafiker Hans Landwehrmann, Berlin, ebd. 195-197). Ob die Machtzulassung der NSDAP und ihrer nationalistischen Koalitionspartner für Landwehrmann einen tieferen Einschnitt bedeutete, ist unklar. Er arbeitete jedenfalls weiter als Werbegraphiker, zeichnete dabei auch weiterhin modern, wie etwa die Fotos und Zeichenfiguren verbindende Werbung für den Adressograph der kurz zuvor arisierten Adrema unterstrichen (Werben und Verkaufen 20, 1936, 290).

1942 beteiligte sich Hans Landwehrmann schließlich an der Ausschreibung für die Energiesparkampagne und gewann den ersten Preis. Dies gab relative Sicherheit, recht hohe Honorare, zudem öffentliches Renommee, wusste doch jeder: „Kohlenklau ist wohl im Augenblick die populärste Figur der deutschen Werbung“ (Ein Westfale schuf den ‚Kohlenklau‘, Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4). Ende 1943, Anfang 1944 präsentierten zahlreiche Artikel den „Vater“ Kohlenklaus. Seine Biographie wurde umgeschrieben, die Aufstiegsgeschichte eines Frontsoldaten präsentiert, der sich in Berlin als „Pressezeichner, Industriegraphiker, Buchillustrator“ durchgesetzt hatte (Hans Niemeier, Der Zeichner „Kohlenklaus“ Westfale, Bochumer Anzeiger 1943, Nr. 304 v. 28. Dezember, 3), der zugleich aber als Modell eines deutschen, eines kernig westfälischen Künstler diente: „Ein buntes, unruhiges Leben. Erfüllt von Arbeit und der Liebe zu allem Schönen, zur Musik, zur Literatur. Ein guter Goethe-Kenner, ein stiller Lyriker, Aphorismenschreiber – vor allem ein Mann voll warmer Menschlichkeit, ein alle Situationen meisternder Humor“ (Ders., Kohlenklaus Schöpfer, DGA. Generalanzeiger 1943, Nr. 350 v. 19. Dezember, 8; ähnlich ders., Der Zeichner „Kohlenklaus“. Hans Landwehrmann: Ein westfälischer Künstler, Westfälische Tageszeitung 1944, Nr. 5 v. 7. Januar, 3; gekürzt auch in Die Heimat am Mittag 1944, Nr. 8 v. 11. Januar, 4; Tremonia, Ausg. E, 1944, Nr. 6 v. 8. Januar, 3).

Die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Spitzen der NS-Propaganda öffnete Landwehrmann zudem Türen zu weiteren Aufträgen. So entwickelte er eine positive Gegenfigur zum Energiedieb Kohlenklau. Der Knobelmann war „der als Vorbild herausgestellte Gefolgsmann, der nach der gewissenhaften Erledigung seines Tagespensums sich mit Verbesserungsvorschlägen befaßt, die die Arbeitskameraden anspornen wollen und neue technische Höchstleistungen anstreben. Auf dieser Linie liegt überhaupt die Arbeit Landwehrmanns, der sein künstlerisches Schaffen vorbehaltlos kriegswichtigen Dingen zugewendet hat. Er zeichnet Figuren, die den Gedanken propagieren, alles zu tun und nichts zu unterlassen, um den Sieg zu erreichen“ (Kohlenklau sieht in den Spiegel, Die Glocke, Ausg. D, 1944, Nr. 316 v. 30. November, 4). Knobelmann erlangte während der NS-Zeit keine größere Bedeutung, doch in der DDR wurde Oskar Knobelmann Vorreiter einer Knobelmann-Bewegung für Verbesserungsvorschläge (Sozialistische Finanzwirtschaft 15, 1961, 219): „Sei ein Knobelmann, / streng Dein Köppchen an, / hilf, / wo man helfen kann“ (Elise Riesel, Lexikalische Auflockerung als Stilmittel und als sprachliche Umnormung, in: Probleme der Sprachwissenschaft. Beiträge zur Linguistik, The Hague und Paris 1971, 477-485, hier 482). Die Figur war Teil einer regimeübergreifenden Brigade der Verbesserer, stand Seit an Seit mit Bastelfritz, Kollege Denkmit, Peter Grips, Kollege Tüftel, Frieda Findig oder auch der Brigade Zack.

Nach 1945 knüpfte Landwehrmann ohne größere Brüche an seine Arbeit als Gebrauchsgraphiker in den 1930er Jahren an, zuerst in Essen (Adreßbuch Essen-Mülheim 1953, 428; Charlotte Fergg-Frowein, Kuerschners Graphiker-Handbuch. Deutschland, Österreich, Schweiz, Berlin/W. 1959, 101), ab 1957 dann in Frankfurt/M. (Dies., Dass., 2. erw. Aufl., Berlin/W. 1967, 169; Amtliches Fernsprechbuch […] Frankfurt am Main 1957, 176). Hans Landwehrmann, der nach 1945 unter dem Namen Johannes Landwehrmann arbeitete, illustrierte anfangs auch Jugendbücher (Die Raabe-Post, Berlin 1950). Er starb am 9. November 1976. Zu Kohlenklau und seiner Rolle als Zeichner der wichtigsten NS-Propagandakampagne der Kriegszeit hat er sich nicht näher geäußert. Dabei lautete doch ein Kohlenklau-Werbeslogan: „Halt dir den Spiegel vor’s Gesicht…“.

Alliierte Pendants: Sparsamkeit als Teil jeder Kriegsanstrengung

An diesem Punkt enden die üblichen Darstellungen von NS-Propagandakampagnen, denn deren Konturen, deren zeithistorischer Kontext, deren Macher wurden benannt. Drei Aspekte sind jedoch zwingend zu ergänzen, um einer solchen propagandistischen Anstrengung gerecht zu werden. Erstens fehlt eine vergleichende Perspektive, die über die Grenzen des Deutschen, des Großdeutschen Reiches hinausweist. Mitte 1943 wurde in Großbritannien „Squander Bug“ von der Kette gelassen, eine kleine, mit Hakenkreuzen übersäte Wanze, die vor überbordender Verschwendung warnte und britische Konsumenten dazu bringen sollte, stattdessen britische Kriegsanleihen zu kaufen (Paradox of the Squander Bug, Britain 3, 1943, 20-22). Entwickelt vom Graphiker Phillip Boydell (1896-1984) und lanciert von der bereits während des Ersten Weltkriegs aktiven National Savings Movement, wurde das tuschelnde Ungeheuer im Deutschen Reich als „eine kleine Anleihe bei der so erfolgreichen deutschen Kohlenklaufigur“ präsentiert und als Methode „der geschäftlichen Reklame“ denunziert (Grosse Reklame zur Deckung der Kriegskosten, Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 23 v. 8. Juni, 3).

Alliierte Kohlenklau-Pendants: Squander Bug in den USA (l.) und Großbritannien (Gwiadzda Zachodu 1944, Nr. 10 v. 3. März, 4 (l.); Evening Star 1943, Nr. 3671 v. 30. November, A-03)

Squander Bug wurde in Australien, vor allem aber in den USA aufgegriffen und als Propagandafigur neu gestaltet (Diana Noyce, The Squander Bug: Propaganda and its Influence on Food Consumption in Wartime Australia, in: Mark McWilliams (Hg.), Food & Communication, London 2016, 305-318). In den Vereinigten Staaten beauftragte die War Finance Division des Finanzministeriums keinen geringeren als den Karikaturisten und Kinderbuchautoren Dr. Seuss, Theodor Seuss Geisel (1904-1991), mit der Vorlage für eine wie in Großbritannien multimediale Propagandakampagne (Charles D. Cohen, The Seuss, the whole Seuss, and nothing but the Seuss. A visual biography of Theodor Seuss Geisel, New York 2004, 254-257; The „Squander Bug”, Monthly Bulletin. Interdepartmental War Savings Bond Committee 1944, No. 2, 10). Trotz breiter Akzeptanz erreichten Kohlenklaus alliierte Pendants jedoch nie die Alltagspräsenz des deutschen Diebes. Umgekehrt bezichtigte der US-amerikanische Schriftsteller John Scott Landwehrmann (ungerechtfertigt), seine Figur an den Stil des US-Karikaturisten Peter Arno (1904-1968) angelehnt zu haben, einem der bekanntesten Zeichner der Zeitschrift „The New Yorker“ (John Scott, Europe in Revolution, Boston 1945, 164). Für unsere Argumentation ist dieses Hin und Her wichtig, da es die Frage nach dem spezifisch nationalsozialistischen Charakter Kohlenklaus nochmals schärfer stellt. All diese Figuren waren Antigeneralisierungen von Kriegsnotwendigkeiten, mochten sie sich auch formal und in Bezug auf ihre spezifischeren Zielsetzungen deutlich voneinander unterscheiden.

Kleinkampagnen: Markenartikelhersteller präsentieren Kohlenklau

Die stete Abfolge immer neuer Kampagnen und auch die Lagebeurteilen des Sicherheitsdienstes der SS zeugen von einer insgesamt positiven Aufnahme der Propaganda: „Die Energie-Sparaktion („Kohlenklau“-Propaganda) hat […] fast überall eine gute Aufnahme gefunden. „Kohlenklau“ sei rasch eine volkstümliche Figur geworden, und sehr häufig werde beobachtet, daß Volksgenossen sich, wenn irgendwo ein Fenster oder eine Tür offen steht, gegenseitig durch den Zuruf: „Kohlenklau“ zum Sparen anhalten. Die zeichnerische Gestaltung des „Kohlenklau“ sei recht originell und die Knittelverse sowie die übrigen Texte recht gelungen. Vor allem die Jugend habe ihren Spaß daran und trage viel dazu bei, die Gestalt und die damit verbundenen Sparparolen durchzusetzen“ (Meldungen aus dem Reich, Bd. 12, Herrsching 1984, 4718). Diese Meldungen unterstrichen zugleich eine differenzierte Beurteilung der Propaganda. Rundfunksendungen galten als Kinderkram, das propagierte Turmkochen wurde schon deshalb belächelt, weil es im mächtigen Deutschen Reich nicht mehr genügend Töpfe dafür gäbe. Bei Strom und Gas könne man wohl noch sparen, nicht aber bei der Kohleheizung. Bezeichnend war auch eine bemerkenswerte Umdeutung der Kampagne: „Die breiten Schichten der Bevölkerung bezögen deshalb den Appell zum Sparen nicht so sehr auf sich und meinten, daß in der ‚Kohlenklau-Propaganda‘ nicht nur Beispiele dafür gebracht werden sollten, wie noch mehr gespart werden könne, sondern vor allem solche Beispiele, die eine regelrechte Verschwendung sichtbar machten und den Aufruf zum Sparen deutlicher an die Kreise richteten, die es in erster Linie angeht“ (Ebd., 4719). Kohlenklau spiegelte demnach auch die allseits bekannte und hinter der Hand strikt kritisierte Korruption und den Protz führender NS-Repräsentanten.

Anderseits entsprach die Kohlenklau-Kampagne den Vorstellungen der zwar regulierten und gelenkten, durchaus aber noch eigenständigen Privatwirtschaft. Es ging um die Herstellung einer völkischen Effizienzgemeinschaft, die sich im Angesicht der Krise bewährte, die individuelle Bedürfnisse zurücknahm, um den Rüstungs- und Kriegsanstrengungen zu genügen. Kohlenklau verkörperte ein schon in den Rationalisierungsdebatten der Weimarer Zeit stetig präsentes Ideal unternehmerisch rationaler Mittelverwendung: „Heute arbeitet man so nicht mehr. Heute soll man aber auch auf Kohlenklau achten“ (Maurerschweiß, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 22 v. 22. Januar, 4). Der einzelne Arbeitnehmer, insbesondere aber die im Gegensatz zu disziplinierten Betriebsgemeinschaften noch undisziplinierten Hausfrauen sollten dies endlich umsetzen: „Hausfrauen sollen heute nicht nur Kochfrauen, sondern Kochkünstlerinnen sein, auch was das Ersparen des Brennstoffes betrifft, dann kommen wir alle mit kleinsten Rechnungen auf unsere Rechnung, nur Kohlenklau nicht“ (Schwarz auf weiß, Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 313 v. 12. November, 6). Auch der Alltag sollte effizient umgestaltet werden, das alte Mittelstandsideal von Leben und Leben lassen war veraltet. Selbstmobilisierung war just im Kleinen erforderlich, etwa bei nicht schließenden, zugigen Türen: „Dann malte ich, der Untermieter, zwei Schilder und hing sie draußen und drinnen an die Tür: Zugemacht, ist halb gelacht! Sei du schlau, nieder mit’m Kohlenklau!“ (Selbstgespräch, Hakenkreuzbanner 1943, Nr. 45 v. 14. Februar, 4) Kohlenklau war daher viel mehr als ein neugewandter schwarzer Mann. Er fungierte als eine Art schlechten Gewissens, erlaubte damit Kritik an gängigen Handlungen, ohne jedoch die eigentlichen Akteure bloßzustellen. Nicht die Hausfrau, die dumme, unaufmerksame, ließ den Eintopf zu lange kochen, sondern es war Kohlenklau (Der Führer. Aus der Ortenau 1943, Nr. 52 v. 21. Februar, 6). Man wusste, dass Anleitung und Lenkung achtsam erfolgen musste, wertschätzend. Die tägliche Denunziation und Volksschädlingsexekutionen gehörten gewiss zur Realität des NS-Regimes, doch der verpackte Hinweis war weiter verbreitet, bekam just dadurch Gewicht.

Es ist daher nicht überraschend, dass ab Februar 1943 die Markenartikelindustrie Kohlenklau nutzte, um einerseits ihre Anzeigen mit einer attraktiven Werbefigur zu zieren, andererseits ihr Effizienzideal gegenüber den Konsumenten hochzuhalten. So breit die Kohlenklau-Kampagne auch sein mochte, so wurde sie zahlenmäßig von der nun einsetzenden privaten Kohlenklau-Werbung deutlich übertroffen. Mit dieser Neugestaltung der Unternehmenskommunikation arbeiteten die Unternehmen dem Führer entgegen, folgten dabei aber immer auch eigenen Zwecken. Angesichts zumeist hoher Kriegsgewinne war zielgerichtete Kooperation mit dem NS-Staat unternehmerisch rational: „Auf fast allen hier genannten Gebieten ist die Privatwirtschaft in der einen oder andern Form im Sinne der Staatsinteressen mit tätig“ (Alfred Helzel, Der RVA und die private Wirtschaft, Werben und Verkaufen 27, 1943, 123-124).

Sparsamkeit bei Zahnpasta und heißem Wasser: Solidox-Werbung mit Kohlenklau (Junge Welt 5, 1943, H. 5/6, III (l.); Das Deutsche Mädel 1943, Nr. 11/12, III (M. o.), Illustrierter Beobachter 19, 1944, Nr. 18, 9 (M. M.); Das Deutsche Mädel 1943, H. 7/8, IV (M. u.); ebd. 1944, H. 5/6, 20)

Ein Beispiel mag genügen: Solidox war eine seit 1935 im Deutschen Reich als Mittel gegen Zahnstein vermarktete Zahnpasta (Deutscher Reichsanzeiger 1935, Nr. 215 v. 14. September, 7). Sie war Teil des Markenportfolios von Unilever resp. Elida und profitierte ab 1938 von den neuen Absatzchancen im großdeutschen Markt. Angesichts der strikten Regulierung des Fettmarktes, aber auch aufgrund der nichtdeutschen Kapitaleigner agierte die Berliner Solidox Gesellschaft für Zahnhygiene mbH regimenah, unterstützte die allgemeine Propaganda für Volks- und Zahngesundheit. 1943 gab es die allseits üblichen Produktionskürzungen und Lieferschwierigkeiten, doch Kohlenklau machte die Anzeigenwerbung staatspolitisch wichtiger. Die neuen Motive zielten dabei unter anderem auf eine Abkehr vom Zähneputzen und Gurgeln mit heißem Wasser – eine den meisten Nachgeborenen wohl bereits völlig undenkbare Praxis. Der Schlagschatten sparsamen Kriegshandelns war lang.

Markenartikelwerbung mit Kohlenklau 1942-1945: Eine Auswahl aktiver Unternehmen

Untersucht man die Anzeigen in den Zeitungen und Zeitschriften ab Anfang 1943, so findet man dutzende Firmen mit ähnlichen Kohlenklau-Kampagnen. Die Übersicht enthält zwei Dutzend Firmen, ist aber unvollständig. Das Hamburger Unternehmen Beiersdorf, „entjudet“ und regimetreu (Alfred Reckendrees, Beiersdorf. The Company behind the Brands NIVEA, tesa, Hansaplast & Co., 96-138, allerdings ohne Eingehen auf die Kriegswerbung), stellte schon im März 1943 sein Sortiment in den Dienst der Kohlenklau-Kampagne (Solinger Tageblatt 1943, Nr. 55 v. 7. März, 7; ebd., Nr. 61 v. 14. März, 8). Neben die Markenartikelwerbung einzelner Firmen trat zudem Gemeinschaftswerbung mit Kohlenklau. Angesichts dieser breit gefächerten Aktivitäten erscheint Kohlenklau nicht mehr länger als Kampagne staatlicher Akteure und der Energiewirtschaft, sondern auch als privatwirtschaftliche Anstrengung. Der Blick vorrangig auf die staatliche NS-Propaganda verkennt und verdeckt ihre zunehmend breitere Trägerschaft.

Wasser als zunehmend gefährdetes Grundgut

Das Effizienzideal der Kohlenklau-Kampagne konzentrierte sich auf den Umgang mit Kohle, Strom und Gas, griff jedoch von Anbeginn darüber hinaus. Ressourcenschonendes Handeln ist im Idealfall nur schwer zu begrenzen, führt zu allgemeiner Sparsamkeit. Entsprechend gab es immer wieder Anklänge, den Verbrauch auch von Grundgütern wie Wasser auf das notwendige Maß zu reduzieren. In der staatlichen Kohlenklau-Kampagne wurde mehrfach eine mit Warmwasser gefüllte Badewanne gezeigt. Ähnliches galt auch für die eigenständige Fortführung der Propaganda in den Werkszeitungen der Industrie. Diese zeichneten, wie im folgenden Bild des Mannheimer Landmaschinen- und Rüstungsproduzenten Lanz, ihren eigenen Kohlenklau, modifizierten den Ressourcendieb für ihre eigenen Zwecke.

Kohlenklau als Wasserdieb: Serienmotiv und Fortzeichnung der Serie in der Industrie (Straßburger Neueste Nachrichten 1943, Nr. 41 v. 10. Februar, 4 (l.); Energie 22, 1943, H. 7/8, IV)

Wasser war 1942/43 an sich genügend vorhanden, die Trinkwasserversorgung funktionierte, die Qualität war ausreichend. Der immer stärkere Druck der alliierten Bomberangriffe unterstrich jedoch, dass sich dies rasch ändern konnte, denn die an sich geltenden völkerrechtlichen Regeln waren für alle kriegsführenden Parteien längst Makulatur. Das von den Talsperren und Wasserreservoirs im Sauerland und in Waldeck abhängige Ruhrgebiet sollte dies zu spüren bekommen, nachdem Spezialeinheiten der britischen Royal Air Force in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 die Eder- und Möhnetalsperren massiv treffen konnten. Knapp 1.600 Menschen, darunter mehr als eintausend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, wurden bei dieser Operation Chastise durch Wassermassen und ihre Folgeschäden getötet. Die Wasserversorgung wurde erheblich beeinträchtigt, Notmaßnahmen und Rationierungen waren die Folge. Auch wenn die Angriffe ihre strategischen Ziele nicht erreichen konnten, und die Wasserversorgung Ende Juni 1943 wieder vollständig hergestellt war, wurde Wasser zu einem öffentlichen Thema.

Wasserknappheit als Drohung: Temporäre Versorgungseinrichtungen nach der Zerstörung der Eder- und Möhnetalsperre durch die Royal Air Force am 17. Mai 1943 (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 117 v. 21. Mai, 5)

Der recht trockene Sommer 1943 verschärfte die Versorgungssituation. Seit August 1943 begannen im Rhein-Ruhrgebiet neuerlich Kampagnen für das Wassersparen. Getragen vor allem von den jeweiligen Stadtwerken beinhalteten sie zumeist praktische Ratschläge für Hausfrauen und Haushalte – und knüpften dabei vielfach an die Kohlenklau-Motive an: Die Wanne sollte nur zum Teil gefüllt werden, das damals noch eher unübliche Duschen sei eine gute Alternative. Das Warmwasser für Heißgetränke und das Spülen sollte vorab ausgemessen werden (Lippische Staatszeitung 1942, Nr. 208 v. 2. August, 5): „Wer Wasser spart, spart Kohle!“ (Annener Zeitung 1943, Nr. 55 v. 6. März, 3) Und auch beim Wassersparen galt: „Jeder Tropfen Wasser, der im Haushalt nutzlos abfließt, fehlt an wichtiger Stelle für die Rüstung“ (Wasser sparen!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1943, Nr. 193 v. 19. August, 3). Die regionale Propaganda appellierte an Einsicht und Rücksichtnahme. Ein echter Deutscher könne sich auf die berechtigten Belange der Volksgemeinschaft einrichten, seinen eigenen Bedarf einsichtig zurückfahren (Wie kann man Wasser sparen?, Langendreerer Zeitung 1943, Nr. 186 v. 11. August, 4). Diese Selbstzucht, diese Pflege der technischen Infrastruktur sei kriegswichtig: „Wasser sparen bedeutet Beihilfe zum Endsieg!“ (Aachener Zeitung 1943, Nr. 188 v. 16. August, 4) Die andauernde Trockenheit ließ die Vorgaben bedrohlicher werden, Verschwendung würde „im Sinne der bestehenden gesetzlichen Vorschriften geahndet werden“ (Spart mit dem Wasser! Eine saisonbedingte Mahnung, Völkischer Beobachter 1943, Nr. 237 v. 25. August, 3). Freiwillige Einschränkungen könnten vor „Zwangsmaßnahmen“ bewahren (Es bleibt beim freiwilligen Energiesparen, Aachener Zeitung 1943, Nr. 224 v. 27. September, 4). Adressat all dessen war vorrangig die Hausfrau (Auch die Hausfrau hilft mit!, Lippische Staatszeitung 1943, Nr. 253 v. 15. September, 3). Im Betrieb würde ohnehin gespart, doch auch der Hausfrauenarbeitsplatz dürfe nicht schwimmen.

Wasserplansche und Kohlenklau im Hochzeitsornat (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5)

Vor diesem Hintergrund erscheint das Auftauchen der Wasserplansche nachvollziehbar. Ein neues Ungetüm, eine Ausgeburt der Verschwendung. Doch als sie am 9. November 1943 erstmals gedruckt wurde, just zwanzig Jahre nach dem in München zusammengeschossenen „Blutmarsch“ der Hitler-Bewegung und ihrer Bündnisgenossen, hatte sie Kohlenklau an ihrer Seite. Der galt als bedrohlich, war als Monster und Feind eingeführt worden. Das wurde auch der Wasserplansche nachgesagt, doch richtig ernst zu nehmen war das offenbar nicht: „Kohlenklau / Ei, wie schlau, / Nimmt sich eine reiche Frau. / Wasserplansche ist der Name / Dieser wassergier’gen Dame. / Er stiehlt Kohlen, Licht und Gas, / Ihr macht’s Wasserplanschen Spaß. / Wasserplansch und Kohlenklau, / Dieser Mann und diese Frau, / Sind im Kriege böse Geister, / Im Verschwenden große Meister. // Sollten sie sich mal verstohlen / Bei euch neue Beute holen, / Sperrt sie ein und laßt sie flittern, / Bis sie ihre Strafe wittern. / Denn Strafe folgt, das ist doch klar – Für dieses saub’re Ehepaar“ (Treliko, Kohlenklau macht Hochzeit, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 262 v. 9. November, 5). Obacht, Volksgenossen, war der Tenor der neuen Kampagne. Doch angesichts der schon viele Wochen laufenden Großkampagne „Kohlenklau’s Helferhelfer“ war tiefer Ernst auch in bedrohlicher Kriegslage kaum mehr aufzubringen.

Die Wasserplansche war eine Erfindung der Redaktion der nationalsozialistischen Parteizeitung „Westfälische Landeszeitung – Rote Erde“ in Dortmund. Die „Westfälische Landeszeitung. Rote Erde“ war seit dem 30. Januar 1934 die Parteizeitung der NSDAP und amtliche Zeitung des Gaus Westfalen-Süd. Sie folgte auf den „General-Anzeiger für das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet“, der bis zum 20. April 1933 vom Dortmunder Verlagshaus Krüger herausgegeben, dann enteignet und unter dem tradierten Namen erst einmal fortgeführt wurde. In ihr ging ab Anfang Mai 1933 die vorherige NSDAP-Parteizeitung „Rote Erde“ auf. In den Folgejahren etablierte sie sich mit einer Druckauflage von 1937 205.000 und 1939 225.000 Exemplaren und acht Bezirksausgaben als reichweitenstärkste Tageszeitung Westfalens (Kurt Peschel, Von der Asphaltpresse zur Presse des neuen Reiches, Unser Wille und Weg 8, 1938, 247-253, hier 252; Schlag nach!, 2. erw. u. verb. Aufl., Leipzig 1939, 506; Nationalsozialistisches Jahrbuch 13, 1939, 322).

Das Erscheinen der Wasserplansche war Resultat des Zusammenwirkens von Texter und Pressezeichnerin, das wir weiter unten noch genauer auffächern werden. Doch es knüpfte auch an das besondere Renommee des Kohlenklau-Zeichners Hans Landwehrmann an, der 1922/23 in Dortmund als Graphiker der Dortmunder West-Werbe-Gesellschaft tätig war und auf Anregung des Stadtbaurates Hans Strobel (1881-1953) auch Notgeld gestaltete (Das Westfalenlied als Notgeldschmuck, Düsseldorfer Zeitung 1922, Nr. 344 v. 11. Dezember, 2). Die Stadt habe dadurch „auf ihren soeben zur Ausgabe gelangten Notgeldscheinen zu 25 und 50 Mark nicht nur Kirchturmspolitik getrieben, sondern weitherzig die Ehre und Schönheit der Roten Erde, deren größte Stadt sie ist, gepriesen zu haben und so aller Welt zu verkünden“ (Das Westfalenland im Bilde, Wittener Tagblatt 1922, Nr. 292 v. 13. Dezember, 5). Landwehrmann malte damals auch Landschaftsbilder Dortmunds, Industriebilder, der Härte der Montanregion angemessen und stellte 1923 in der Stadtbibliothek Dortmund einen Zyklus „Der Reinoldus“ aus, gewidmet dem Stadtpatron der größten Stadt Westfalens (Gemäldeausstellung bei C.L. Krüger, Dortmunder Zeitung 1923, Nr. 309 v. 30. November, 2; Erich Schulz, Stadtbibliothek Dortmund. Kurzer Bericht über die ersten 25 Jahre, Dortmund 1932, 20). Die Wasserplansche dürfte daher auch eine Hommage an einen früheren Künstler im Land der Roten Erde gewesen sein.

Der machtlose Staat und das Duo der Verschwendung (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5)

Eine Woche nach dem Hochzeitsbild begann ein von einem Lesergedicht eingeleitetes Pas de Deux zwischen Zeichnerin und Texter. Sie setzten sich zusammen, fabulierten über die Fortsetzung, sie zeichnete, er schrieb, am Ende stand ein ernst gefasstes und humoristisch präsentiertes Duett. Anlass war die beträchtliche Resonanz aus der Leserschaft. Demnach habe sich das Staatliche Gesundheitsamt Klaustedt gemeldet, um die Ehe von Wasserplansche und Kohlenklau für ungültig zu erklären. Schließlich handele es sich um zwei organisch missgebildete Personen, die daher vor Eheschluss hätten sterilisiert werden müssen. Dieser Nachweis aber fehle. Im Gegenteil, ein Leser habe bereits über den Sohn der beiden geschrieben, offenbares Zeichen nicht praktizierter Eugenik. Der Humor verschwand, schließlich wurden aufgrund des im Juli 1933 erlassenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, wobei knapp 5.000, meist Frauen, an den Folgen des Eingriffes starben. Das war, wie der Judenmord, zu dieser Zeit ein offenes Geheimnis. Und die Humoreske gebar den Feind, Wasserplansche und Kohlenklau „werden in wilder Ehe weiterleben, uns Schaden zufügen, wo sie können, an Strom und Kohle, Wasser, Licht und Gas räubern, was sich räubern läßt, und wir wollen nur hoffen, daß der ‚Dr. Pforgaff‘ (der Name ist leider nicht zu entziffern, aber dafür ist es ja auch ein Doktor!) ebenso eifrig, wie er den Paragraphen schwingt, auch Licht ausknipst und die Wasserhähne schließt! Denn mit Paragraphen allein ist nichts voran zu bringen…“ (Kondi, Die Vertreibung aus dem Paradies oder „Kohlenklau und das Gesundheitsamt“, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 268 v. 16. November, 5).

Autor Kondi hat von Ende 1943 bis Herbst 1944 mindestens 28 Beiträge in der Westfälischen Landeszeitung veröffentlicht, zumeist Kommentare über Alltagsfragen, die teils in der Kolumne „Sowas gibt es heutzutage…!“ im Sinne des Regimes erläutert und bewertet wurden. Derartiger Anleitungsjournalismus prägte ab April 1944 auch die Kolumne „Auf die Art geht’s besser“. Bei der Sorge für das Ganze ging es allein um das Ganze der fast beliebig zu definierenden Volksgemeinschaft.

Wasserplansche und Kohlenklau als trautes Paar (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Getragen von Leserzuschriften und -anfragen wurde das missgebildete Paar jedoch weiter präsentiert, voller Gier, auf der Suche nach Kohle und Wasser. Sie wurden nicht gefürchtet, sondern belacht – und das war gefährlich, denn auch sie lachten den Leser aus, ergötzten sich an dessen unbedachtem Handeln, das sie nährte: „Hilfe! Rettung! Kohlenklau und Wasserplansch [sic!] bedrohen mich!“ (Kondi, Da blüht der Weizen…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 271 v. 19. November, 5)

Familie Kohlenklau beim Spaziergang (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Am 27. November ging es weiter, ein Leser konnte nun endlich die schon bekannte Nachricht über neues Glück und neues Leben formgerecht verbreiten: „Kohlenklau ist sehr benommen, / er hat einen Sohn bekommen, / der der ganze Vater ist, / am ersten Tag gleich Kohlen frißt. // Grausam ist’s mit anzuschau’n, / wie sie Strom und Gas uns klau’n, / bringt die Schlingel zum Gericht, / Gnade gibt es für sie nicht. // Frau Wasserplansche will versuchen, / am Waschtag Frauen zu besuchen. / Liebe Hausfrau’n, habet acht, / wie Wasserplansch euch Schaden macht! // Sie schwatzt gar lang und schwatzt gar breit / stiehlt schwatzend euch nicht nur die Zeit, / nein, auch noch Wasser, Kohle, Licht! / Seid wachsam, Frau’n und duldet’s nicht!“ (Rudi Simoneit, Kohlenklau – hat einen Sohn…, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 278 v. 27. November, 5)

Andere, leider nicht näher bezeichnete Quellen, diskutierten sogleich seinen Namen, warnten zugleich aber davor das wachsende Monster als Kind misszuverstehen, es gar zu füttern. Im Reimmodus der an Mahnsprüche gewöhnten deutschen Nation mutierte das gleich zum Totschlag: „Kohlenklau hat einen Sohn! / Ist das nicht ein großer Hohn? / Und sein Nam‘ ist Kohlenkläuschen. / Das junge Paar ist aus dem Häuschen. / Es will das Kläuschen so erzieh’n, / Daß es kann auf Raub ausgeh’n. // Wasserplansch, Kohlenklau und Klaus, / Faßt sie, schmeißt sie raus! / Nichts soll ihnen mehr gelingen, / Wir wollen alle drei umbringen! / Drum helft uns nun alle mit, / Gebt ihnen den verdienten Tritt!“ (Wie soll der „Knabe“ heißen?, https://www.energieverbraucher.de/de(kk-s-familie__1461)

Parallel begann jedoch eine Selbstreflektion innerhalb der Westfälischen Landeszeitung, die den offenkundigen Spaß der Leser an den selbst kreierten, zunehmend aber fremd imaginierten neuen Gefährten Kohlenklaus einzufangen hatte: Sie alle seien westfälische Geschöpfe, entstammten somit der Roten Erde: „Jedenfalls stammt der Zeichner, der den Herrn Kohlenklau erdacht hat, aus Westfalen. Und die Frau Kohlenklau, geborene Wasserplansche, hat ihre geistigen Eltern in der Schriftleitung der ‚Roten Erde‘. Als drittes hat der Sprößling der beiden bei unseren Lesern seine geistigen Urheber, und würden wir die Kohlenklau-Familiengeschichte nicht schleunigst beenden, dann würden wir in kurzer Frist ein eigenes Kohlenklau-Familienblatt herausgeben müssen. Wir haben so viele Gedichte und andere Beiträge zur Familiengeschichte der sauberen Spitzbuben-Familie bekommen, daß wir beim besten Willen mit dem Abdruck nicht nachkommen können. Wir machen also einen dicken Strich und lassen die Familiengeschichte der Kohlenklaus nunmehr auf sich beruhen“ (Kondi, Die Kohlenklau-Familiengeschichte, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 283 v. 3. Dezember, 5). Denn noch vergnüglicher als das Umfeld der Wasserplansche sei die Zeit nach dem Sieg, dem über Familie Kohlenklau, dem über die Alliierten. “Kohlenklau, Wasserplansche und ihr Sprößling sind zwar die heitere Form, ernste Dinge zu behandeln, aber davon werden diese ernsten Dinge nicht aus der Welt geschafft. Ueber Kohlenklauscherze wollen wir lachen, aber im Ernst wollen wir das tun, was damit doch immer wieder geraten wird: Kohlen sparen, Licht sparen, Strom sparen, Wasser sparen, bei sich und auch bei andern und wo es heutzutage noch ‚so etwas‘ gibt, dort wollen wir energisch zupacken!“ (Ebd.)

Doppelte Verschwendung im Brausebad (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5)

Doch die Schriftleiter wurden die Geister nicht mehr recht los, die sie einst gerufen hatten. Wohl auf Ansinnen der Leser folgten noch weitere Episoden, nun aber in ernster, mahnender Manier. Herren im Brausebad verschwendeten heißes Wasser – und schon tauchen sie auf, „Kohlenklau und Wasserplansche, das saubere Ehepaar; er begierig nach sinnlos vergeudeter Kohle und sie in vollen Zügen nutzlos verplanschtes Wasser schlürfend“ (Kondi, Kohlenklau im Bade, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 290 v. 11. Dezember, 5). Und die beiden Herren redeten derweil, vielleicht gar über die gierigen Ungeheuer, die sie doch nährten.

Familienstreit um Wasser und Kohlen (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Familie Kohlenklau blieb auch danach Gesprächsthema in Westfalen. Die Texte kreisten stärker um das Thema der Energie- und Wassereinsparung, doch die Familiengeschichte wurde mit dem ersten Krach der jungen Ehe fortgesetzt. Sie wollte Wasser, er Kohle, man stritt um die Wasserleitungen, ob diese gefroren platzen oder aber mit loderndem Feuer zum Fließen gebracht werden sollten. Da kannte die Wasserplansche keinen Spaß, begoss wutrasend Vater und Sohn. Die Moral war klar: „Aber irren wir uns nicht, sie sind bald wieder einig und ziehen wieder zusammen aus, Wasser, Kohlen, Licht, Strom und Gas gemeinsam zu stehlen, wo sie können! Drum lacht über sie – aber legt ihnen das Handwerk!“ (Krach im Hause Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 298 v. 21. Dezember, 5)

Das Über-Ich der Volksgemeinschaft: Wasserplansche und Kohlenklau beobachten alle (Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Und da waren sie schon wieder, nutzten die gute Laune und den laufenden Wasserhahn freudig aus. Und schon nahte der mahnende Zeigefinger des NS-Texters: „Nein, wenn auch noch so gut rasiert, gute Laune kann man bei solchem Unfug nicht mehr haben!“ (Kondi, Frisch rasiert – gut gelaunt!, Westfälische Landeszeitung 1943, Nr. 304 v. 29. Dezember, 3)

Familie Kohlenklau unter Druck (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Mahnung und Gewissenserforschung gingen jedoch miteinander einher. Die Leser wurden ernst genommen, gar ein Kohlenklau-Jahr ausgerufen. Sein Sinn aber wurde umgedeutet, Ausdruck spezifisch deutschen Humors. „Humor ist, Wilhelm Busch sagt es uns, wenn man trotzdem lacht. Und Kohlenklau ist Humor, ist die heitere Behandlung einer bitterersten Sache. Ist kein Witz, der leicht dahertändelt, sondern handfester Humor, der eine Sache derb und fest und humorig sagt, wie sie ist. […] Weiß Gott, dieser Krieg ist eine harte Schule, aber sie ist gut und leider für viele auch notwendig. Seien wir dankbar, auch wenn es wehe tut, auch wenn wir weinen müssen, auch dann, wenn wir nicht mehr lächeln, sondern nur noch grimmig grinsen, wenn wir nur hinter zusammengebissenen Zähnen lachen können. – Das kann man! Rüsten wir uns auf ein Kohlenklaujahr! Auf ein Jahr, das schwer, hart, vielleicht sogar noch ärger wird. Rüsten wir uns darauf, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, sie zu nehmen und dabei doch zu lachen.“ Der Krieg erfordere Humor, „heitere Herzen, steife Nacken, zähen Willen, feste Zuversicht“. Dann werde man die Feinde, werde auch Wasserplansche und Kohlenklau besiegen: „Rückt ihnen auf den Leib, jagt sie hinaus, laßt sie verhungern und verdursten und mit ihnen alle [sic!, US] Kleinmut, alle Zaghaftigkeit, alles Wehleidige und Müde – nun erst recht!“ (Kondi, Das Kohlenklau-Jahr, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Wasserplansche, Kohlenklau und Söhnchen Kohlenklaus mit reicher Jahresernte (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 1 v. 3. Januar, 6)

Fast schien es, als sei dadurch das letzte Wort geschrieben, die Kampagne beendet. Doch bei einer Auflage von über 200.000 Exemplaren finden sich immer Zuschriften, die nicht übergangen werden konnten. Elf Dortmunder, Reichsarbeitsdienstmännern im „Hohen Norden“, beschrieben ihren eifrigen Kampf gegen den unrühmlich bekannten Energiefeind Kohlenklau. Das beigefügte Gedicht entsprach allerdings nicht den Grundansprüchen an deutsche Reimkunst. Daher wurde es graphisch umgesetzt, und die regimetreue Moral in verbesserten Reimen dargeboten: „Nun, liebe Leute, seid ganz Ohr: / kommt sowas auch bei ihnen vor? / Habt ihr Kohlenklau im Haus, / schmeißt ihn gleich zur Tür hinaus! / Dann wird so ein Tag gewonnen, / spart der Rüstung viele Tonnen“ (Kohlenklau im RAD, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5).

Ergänzung der Kohlenklau-Kampagne aufgrund einer Leser-Zuschrift (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 24 v. 29. Januar, 5)

Danach ebbte der Zufluss offenbar ab. Doch für ein Grande Finale war noch Raum. Im Frühling wurde nochmals des schnurrigen Kohlenklaus gedacht, der „uns im Winter viel Spaß gemacht“ hat. Die Gefahr der Kohleverschwendung sei durch das Ende der Heizperiode verringert, auch wenn weiterhin „die Dame Wasserplansch, die wir dem wüsten Kohlenfresser angetraut haben, umso fleißiger nach allem umtun [wird, US], was sich schlucken läßt.“ Doch es galt nun die Blicke zu weiten, hin auf neue Schädlinge. Kohlenklau, dessen Helfershelfer im Märzen just alle besiegt waren, habe allen die Augen geöffnet, ebenso die Wasserplansche: „Den Kohlenklau sind wir los, seine Trabanten, die Schädlinge jeder Art, wollen wir aber weiter jagen, wo sie sich zeigen“ (O. Schr., Abschied von Kohlenklau, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3). Das war der letzte Auftritt von Wasserplansche, Kohlenklau und Kohlenkläuschen – noch wusste man nichts von den Fortsetzungen der staatlichen Propaganda, von den „Waffen gegen Kohlenklau“. Nun standen wieder andere Fraßfeinde im Mittelpunkt, die Motten, die Ratten, die Kartoffelkeime, der abzuwehrende Verderb.

Familie Kohlenklau im Umfeld weiterer „Volksschädlinge“ (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 74 v. 28. März, 3)

Leisten wir uns nach alledem ein wenig Abstand: Die Wasserplansche erschien exklusiv in der führenden westfälischen Tageszeitung von November 1943 bis März 1944 an der Seite ihres Gatten Kohlenklaus, häufig mit ihrem Sohn Kohlenkläuschen. Die Familienerweiterung war eine Folge der zunehmend humoristischen Perzeption der staatlichen Hauptserie und deren zunehmender Umdeutung durch das lesende und schauende Publikum. Zeichner und Texter der Westfälischen Landeszeitung gaben dem anfangs nach, wurden dann jedoch vom Druck des Volkes teils unwillig mitgerissen. Der Ernst des Kampfes gegen Energie- und Wasserverschwendung ging zunehmend verloren, wurde zugleich aber umso stärker beschworen. Die Fortführung der Geschichte von Wasserplansche und Kohlenklau war eine Konzession an ein Publikum, das Unterhaltung wollte, ein wenig Amusement im brutalen Tagestrott, das Sparsamkeit zumal bei denen einforderte, die von diesem Regime profitierten. Diese Tendenz schwindender Wirksamkeit wohnte auch der staatlichen Kohlenklau-Kampagne inne, konnte dort durch Berücksichtigung der spielerischen und humoresken Akzente der Hauptfigur aber begegnet werden. In den Nebenkampagne aber zeigten sich die Grenzen der Propaganda auch und gerade des Nationalsozialismus. Zeitgleich optierte das Publikum in der Ende 1943 einsetzenden Liese-Miese-Kampagne, zumindest in den Kinos, eher für die eigensüchtig agierende Miese statt für die blonde linientreue Liese (Brigitta Mira, Kleine Frau, was nun? Erinnerungen an ein buntes Leben, München 1988, insb. 100). Auch Wasserplansche war so wie man gerne hätte sein wollen, ein wenig eigensüchtig, ein wenig verschwenderisch. Dennoch hat diese Figur dem realen Problem der Wasserverschwendung ein Bild gegeben. In den weiter gepflegten Hilfsangeboten der Tageszeitungen fragten Leser nicht nur wie man Verluste im Wasserkasten der Toilette begrenzen könne, sondern direkt, „wie der Wasserplansche“ beizukommen sei (Wenn der Wasserkasten im WC dauernd läuft, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 109 v. 11. Mai, 3). Die Nebenkampagne wurde in der Nachkriegszeit und auch der Erinnerungskultur allerdings rasch vergessen.

Künstlerin für das NS-Regime: Erika Beccard-Pilius, Pressezeichnerin und Kampagnenhelferin

Damit könnten wir eigentlich ein allgemeineres Fazit ziehen – und Herunterscrollen ist Ihr Privileg. Doch angesichts der biographischen Näherung an Hans Landwehrmann scheint mir ein paralleles Eingehen auf Erika Beccard-Pilius, die Schöpferin der Wasserplansche, hilfreich und notwendig. Eine Pressezeichnerin als NS-Propagandistin, das ist auf den ersten Blick besonders spannend: Die „Interpress“, von 1940 bis 1942 führende Bildagentur für politische Zeichnungen, vertrieb Arbeiten von mindestens 80 Männern – und von keiner Frau. Für die Bild- und Textagentur „Bilder und Studien“ zeichneten mindestens 26 Männer – und auch darunter kein weibliches Wesen. Doch dies ist eine Einseitigkeit, die das Vordringen von Frauen im NS-Pressewesen unterschlägt. Nicht nur bei Mode- und Kinderzeichnungen oder ein wenig Kunst, sondern auch im Alltagsgeschäft konnten sie sich während der NS-Zeit zunehmend etablieren. Neben Erika Beccard-Pilius ist im westfälisch-rheinischen Gebiet an Erika Feder (Remscheider General-Anzeiger), Magdala Häußer-Poly (Bonner General-Anzeiger) und insbesondere an Gerda Schmidt (Essener Allgemeine Zeitung) zu erinnern, die 1942 auch eigene Beiträge für die ebenfalls ausfransende Propaganda-Kampagne um Herr Bramsig und Frau Knöterich zeichnete. Der Anteil von Frauen bei den Schriftleitern (inklusive der Pressezeichnerinnen und Fotografinnen) lag 1935 reichsweit bei ca. 5,6, 1939 dagegen schon bei 8,8 Prozent (Susanne Kinnebrock, Frauen und Männer im Journalismus. Eine historische Betrachtung, in: Martina Thiele (Hg.), Konkurrierende Wirklichkeiten, Göttingen 2005, 101-132, hier 122, FN 29). Dieser Anteil stieg während des Krieges weiter, allerdings in einem insgesamt schrumpfenden Arbeitsmarkt.

Erika Beccard-Pilius im Selbstporträt (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8)

Erika Beccard – der Name verweist auf hugenottische Vorfahren – war die Tochter der Bürovorstehers Wilhelm Beccard und seiner ihm 1903 angetrauten Gattin Luise (1881-1956), die unter dem Doppelnamen Beccard-Blensdorf bis heute als „Siegerländer Heimatdichterin“ gilt (Dortmunder Adreßbuch 1903, T. 2, 19; Siegener Zeitung 1903, Nr. 242 v. 16. Oktober, 3). Ihre Lyrik, gedruckt vor allem in der Siegener Zeitung, wurde 1909 in „Gedichte“, dann 1918 in „Aus Sturm und Stille“ gebündelt. Sie verband protestantische Innerlichkeit mit einer Vergötterung der Natur, mit melancholisch-hymnischem Nationalismus. 1936 folgte „Nachsommer“ mit einer Einbandzeichnung von Erika und Scherenschnitten ihrer Schwester Hanna (Münsterischer Anzeiger 1939, Nr. 435 v. 23. September, 2). Eine dritte Schwester, Trude, ist nachweisbar (Siegener Zeitung 1926, Nr. 301 v. 24. Dezember, 4).

Das junge Ehepaar Beccard-Blensdorf zog spätestens 1906 nach Bielefeld, wo Wilhelm als Generalagent einer Schweizer Versicherung tätig war, wo 1906 Hanna und 1909 eine weitere Tochter, wahrscheinlich Erika, geboren wurden (Bielefelder General-Anzeiger 1907, Nr. 171 v. 1. Juli, 8; ebd. 1906, Nr. 72 v. 26. März, 10; Volkswacht 1909, Nr. 278 v. 29. November, 8). Die Familie zog ca. 1912 nach Dortmund. Wilhelm arbeitete auch dort als Generalagent, seit Kriegsbeginn als Buchhalter, in den frühen 1920er Jahren als Versicherungs- resp. Bürobeamter und war seit 1929 schließlich wieder als Generalagent tätig (Dortmunder Adreßbuch 1912, T. 2, 18; 1915, T. 2, 21; 1924, T. 2, 29; 1929, T. 2, 28). Erika dürfte also im gesicherten bildungsbürgerlichen Umfeld aufgewachsen sein. Ihre Schwester Hanna reüssierte schon früh mit ihren Scherenschnitten, Erika steuerte 1929 Zeichnungen zum Heft „Dortmunder Fasching“ bei (Siegener Zeitung 1918, Nr. 69 v. 22. März, 2; ebd. 1926, Nr. 161 v. 13. Juli, 7; Dortmunder Zeitung 1929, Nr. 57 v. 3. Februar, 7). Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits als „Helferin“ tätig, eventuell in der Imkerei, wie zuvor ihre Schwester Trude (Dortmunder Adreßbuch 1928, T. 2, 19; Landwirtschaftliche Mitteilungen für das Siegerland 1925, Nr. 15 v. 22. Juli, 4).

Die Biographie Erika Beccard-Pilius ist nur ansatzweise zu rekonstruieren, Archivalien fehlen, Widersprüche bleiben. Doch es handelt sich um das Hereinwachsen einer jungen begabten Frau in das NS-Regime, um das Werden einer gläubigen Propagandistin abseits des Martialischen. Sie präsentierte 1933 jedenfalls „elegante Farbzeichnungen“ bei einer Ausstellung, erschien damals auch erstmals mit einem Doppelnamen – analog zu ihrer Mutter („Fleiters gute Stuben“, Dortmunder Zeitung 1933, Nr. 525 v. 9. November, 7). Ihr Gatte dürfte Hans Pilius gewesen sein, der 1930 als Baupraktikant firmierte, dann als Schlosser, ab 1934 als Zeichner, seit 1938 als Polier, schließlich als Bauführer (Dortmunder Zeitung 1930, Nr. 26 v. 11. Juni, 7; Dortmunder Adreßbuch 1930, T. 3, 21; ebd. 1934, T. 2, 421; ebd. 1938, T. 2, 441). Möglich, dass sich das Paar 1938 getrennt hat, jedenfalls signierte die Zeichnerin von 1938 bis 1941 meist als Erika Beccard. Im Dortmunder Adreßbuch tauchte sie 1938/39 noch als „Erika Pilius, Ehefr[au]“ auf, ab Ende 1939 als „Pressezeichnerin“ Erika Beccard (Dortmunder Adreßbuch 1938, T. 2, 441; 1939, T. 2, 444; 1940, T. 2, 25). Erika Pilius-Beccard dürfte zuvor hinter ihrem Mann als Haushaltsvorstand verschwunden sein. Ob die Trennung mit einem 1940 gegen Hans Pilius geführten Prozess zusammenhing ist unklar (Bundesarchiv Lichterfelde R 3001/114014, NS 14/313). Die Ehe blieb jedenfalls kinderlos, während Erika, die auch den Doppelnamen Pilius-Beccard wählte, sich innerhalb der NSDAP-Gauzeitung etablierte.

Dort zeichnete und textete sie anfangs Mode- und vor allem Kinderzeichnungen, schwärmte darin „von der großen Aufbauarbeit unseres deutschen Volkes“ (Erika Pilius Beccard, Deutsche Frühjahrs-Moden, Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 83 v. 25. März, Beil. Wir Frauen, 10). 1934 nahm die Zahl ihrer Zeichnungen in der Westfälischen Landeszeitung rasch zu, sie illustrierte teils mit ihrem Namen, teils mit ihrem Kürzel ebp, teils aber auch ohne jede Signatur die wöchentliche Kolumne „Von Sonntag zu Sonntag“, lieferte zudem zahlreiche Beiträge für die illustrierte Wochenbeilage „WLZ am Sonntag“. Ende des Jahres zeichnete sie sich als selbstbewusste junge Frau, die Neid und Klatsch den Kampf ansagte, die das Leben einfing und feierte: „Strömt herbei zur ebp, es wird gemalt und tut nicht weh“ (WLZ am Sonntag 1934, Nr. 52 v. 30. Dezember, 8).

Alltags- und Kinderwelten: Wochenendfahrt ins Hochsauerland und der Osterhase (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 42 v. 11. Februar, 6 (l.); WLZ am Sonntag 1936, Nr. 15 v. 12. April, 6)

Erika Beccard-Pilius illustrierte vorrangig Unterhaltungsartikel, visualisierte Alltagseindrücke, sei es den Wochenendausflug ins Hochsauerland oder den Bratwurststand in Dortmund. Dabei kooperierte sie eng mit den virtuell federführenden Textern. Zugleich aber begann sie das politische Geschehen freundlich und anheimelnd zu illustrieren (Hans Terlinden, Deutsche Jugend heraus zum Wettkampf!, Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 48 v. 17. Februar, 16). Urlaub, Alltags- und Wochenendfreuden, Trinken und Betrunkensein, Liebe und Familienthemen waren ihr Beritt, sie zeichnete die Freuden des Alltags, die guten Dinge der neuen Ordnung. Hinzu traten vielfältige Hilfen zur Alltagsgestaltung, kleine Anleitungen im Sinne des NS-Regimes.

Zeichnungen als Alltagshilfe: Aufhängen nasser Kleidung und Vorgartenentrümpelung (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 6 v. 7. Januar, 1 (l.); Westfälische Landeszeitung 1938, Nr. 317 v. 22. November, 7)

Parallel illustrierte sie Jugendbücher, etwa das in der Tschechoslowakei später verbotene „Jungmädelleben“ der Gauführerin und Pressereferentin in der Reichsjugendführung Trude Höing (Trude Höing, Jungmädelleben. Ein Jahrbuch für 8-14jährige Mädel, Leipzig 1934; Lippische Staatszeitung 1934, Nr. 325 v. 12. Dezember, 6; Illustrirte Zeitung 185, 1935, 388). Erika Beccard-Pilius visualisierte das NS-Frauenbild, zeigte, „wie das Jungmädel als Glied seiner Organisation auf das kampf- und arbeitsreiche Leben einer deutschen Frau vorbereitet wird“ (National-Zeitung 1936, Nr. 265 v. 12. November, 8). Hinzu traten „Kulturarbeiten“ im Umfeld der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ (Wolfgang Hirschfeld, Die Betreuung des Dorfes, 31.-35. Tsd. Berlin 1937). Sie lieferten im Kampf gegen die „Landflucht“ Anregungen für Dorfgemeinschaftsabende, insbesondere Theaterarbeit, Musik, Gesang und Marionettentheater (Kulturarbeit auf dem Lande, Beobachter für das Sauerland 1937, Nr. 208 v. 4. August, 3). Der Kontext war agrarromantisch, auch rassistisch (Wolfgang Hirschfeld, Bäuerliche Volkstumsarbeit auf rassischer Grundlage, Rasse 2, 1935, 336-345). Beccard-Pilius‘ Zeichnungen waren freundlich, nett, visualisierten Vorstellungen einer gelingenden Volksgemeinschaft, traditionsbewusst und schollengebunden (Otto Schmidt (Hg.), Feste und Feiern im Jahresring, Berlin 1940; Wilhelm Schleef, Düet es dat Bauk van Schulte Wuordelbuk, hg. aus Anlass d. 800-Jahrfeier d. Ortsteils Dortmund-Sölde v. d. Bauerschaft Sölde in Verb. mit der NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ Kreis Dortmund, Abt. Volkstum-Brauchtum, Dortmund 1938). Wilhelm Schleefs (1889-1968) Band wurde 1971 von der Stadtsparkasse Dortmund neu aufgelegt, unverändert, mit einer Schallplatte ergänzt.

Die junge Zeichnerin etablierte sich lokal, lieferte die Dekoration für das Dortmunder Pressefest 1937 (1500 vergnügte Menschen, Tremonia 1937, Nr. 66 v. 8. März, 5), begann einzelne Zeichnungen über den Deike-Materndienst auch überregional zu platzieren (Ebd. 1937, Nr. 222 v. 25. September, 21; Zeno-Zeitung 1937, Nr. 203 v. 25. Juli, 14). Sie waren zumeist „unpolitisch“, Kinderthemen, Landschafts- und Stadtansichten. 1939 zeichnete sie den Weihnachtsgruß für die Branchenzeitschrift „Deutsche Presse“ (Ebd. 29, 1939, 420). Erika Beccard-Pilius war lokal verwurzelt und überregional bekannt. Politische Themen bediente sie selten, doch sie bediente sie. Frausein mochte helfen, die Simplicissimus-Karikaturistin Franziska Bilek (1906-1991) konnte mit dem Verweis, dass Politik nur etwas für Männer sei, die gängigen, vielfach antisemitischen und antibolschewistischen Hetzzeichnungen dieser bis heute gern als „kritisch“ verklärten NS-Zeitschrift großenteils vermeiden. Erika Beccard-Pilius näherte sich staatpolitisch unmittelbar relevanten Themen in kleinen Schritten, etwa in Zeichnungen gegen die insbesondere von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) seit 1934 immer wieder kritisierten Miesmacher und Meckerer, Spießer und Klatschbasen, präsentierte den Nationalsozialismus als jugendliche Kraft überlegener Moral und wechselseitiger Rücksichtnahme (Westfälische Landeszeitung 1935, Nr. 357 v. 31. Dezember, 18). Ihr Harmonieideal war das der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Gleichsam folgerichtig lieferte sie auch eigene, ergänzende Beiträge zu staatlichen Propagandakampagnen, etwa den Eintopfsonntagen oder der Groschengrab-Kampagne.

Beiträge zu staatliche Propagandakampagnen: Groschengrab und Eintopfsonntag (Beobachter für das Sauerland 1939, Nr. 219 v. 15. August, 1 (l.); Bremer Zeitung 1939, Nr. 71 v. 12. März, 14)

Während des Weltkrieges zeichnete Erika Beccard-Pilius unverdrossen weiter, meist schöne und nette Alltagsgeschichten, ebenso Landschaften und viele markante Gebäude. Doch sie veröffentlichte zugleich Arbeiten, die im Sinne des NS-Regimes freundlich anleiteten, nationalsozialistische Moral vor Augen führten. Höflichkeit und wechselseitiger Respekt wurden (im Rahmen und in Weitung einschlägiger staatlicher Kampagnen) vor Augen geführt – und das ging bis hin zum Umgang mit den Exkrementen der Mitte des Krieges nicht mehr allzu zahlreichen Hunde.

Für Höflichkeit zwischen Verkäuferinnen und Käuferinnen, für die Beseitigung der Exkremente des eigenen Hundes (Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 63 v. 5. März, 5 (l.); ebd. 1942, Nr. 186 v. 16. Juli, 5)

Ausgrenzung der Gemeinschaftsfremden: Anonyme Briefschreiberin und – im historischen Umfeld – der jüdische Hausierer (Westfälische Landeszeichnung 1944, Nr. 70 v. 23. März, 3; ebd. 1944, Nr. 76 v. 30. März, 3)

Nationalsozialistische Moral sollte die Volksgemeinschaft prägen, definierte und bekämpfte zugleich auch Gemeinschaftsfremde. Sie waren teils grotesk-drastisch, wie das obige Porträt einer anonymen Briefschreiberin, teils stereotyp wie die nebenstehende Illustration eines jüdischen Hausierers. Beccard-Pilius stellte ihre Arbeiten auch aus, als Teil der nationalsozialistischen Künstler der Gegenwart (Ausstellung im „Dietrich-Eckart-Haus“, Westfälische Landeszeitung 1942, Nr. 163 v. 20. Juni, 8). Dominant aber blieben, zumal in der Kolumne „Das bunte Leben“, Eindrücke aus dem kleinbürgerlichen Alltagsleben, dann vielfach eskapistische Naturzeichnungen resp. Abbilder der imaginierten friedlichen und guten Welt vor dem Krieg, eines schönen Septembertages, eines trommelnden Spechtes oder aber der Weinlese. Insgesamt harrt eine vierstellige Zahl von Zeichnungen ihrer stärker systematischen Erschließung.

Wassersparen als Aufgabe der Hausfrau (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 98 v. 27. April, 4 (l.); ebd. 1943, Nr. 258 v. 4. November, 5)

Die Schaffung und Zeichnung der Wasserplansche passte in dieses Umfeld, die mit der Wasserversorgung verbundenen Alltagsfährnisse fanden auch nach Ende dieser Nebenkampagne zu Kohlenklau weiter Beachtung. Auch Texter Kondi bediente kontinuierlich das Feld: „Wasser, das zwar noch keine Kostbarkeit ist, wie in der Wüste, das wir aber trotzdem so behandeln wollen, wie alle Dinge, die wir brauchen: sinngemäß, vernünftig und so, daß sie den größten Nutzen für unsere Kriegsanstrengungen bringen!“ (Kondi, Hier muß was zugedreht werden…, Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 258 v. 4. November, 5). Erika Beccard-Pilius zeichnete bis Ende 1944, dann erfolgte ein Bruch, erst 1949 findet man vereinzelte Anknüpfungen an die produktive Arbeit während der NS-Zeit (Westfälische Landeszeitung 1944, Nr. 278 v. 28 November, 3; Westfälische Nachrichten 1949, Nr. 85 v. 21. Juli, 4).

Näheres zum Umbruch, zur Entnazifizierung, zum Neubeginn gibt es kaum. Die nun durchweg als Erika Pilius-Beccard erscheinende Zeichnerin nahm 1947 erstmals wieder an einer regional ausgerichteten Ausstellung im Hagener Karl-Ernst-Osthaus Museum teil (Martin Papenbrock, „Entartete Kunst“, Exilkunst, Widerstandkunst in westdeutschen Ausstellungen nach 1945. Eine kommentierte Bibliographie, Weimar 1997, 226). In den Vordergrund traten jedoch Illustrationen für Fibeln und Kinderbücher: Die nicht mehr als solche tätige NS-Pressezeichnerin schuf eine heile Welt für Kinder, für Leseunterricht in der Grundschule (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1947; Lüdenscheid 1947; ebd. 1948, 1951 und 1953). Pilius-Beccard nutzte ihre persönlichen Kontakte für Arbeitsmöglichkeiten, sicher auch für gebrochene Formen der Selbstfindung. Zum Kinderbuch „Die ertrunkene Sonne“ (Frowalt von Woldenberg [d.i. Karl Heinrich Schmidt], Die ertrunkene Sonne und andere Märchen, Recklinghausen 1943, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; 1-5. Tsd. und 6.-10. Tsd. Recklinghausen 1948) hieß es beredt: „Das titelgebende Märchen ist noch ganz vom Trauma des Zweiten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt.“

Bildwelten in der Nachkriegszeit (Dietrich Rodenbeck (Bearb.), Das offene Tor. Fibel für unsere Kleinen, Lüdenscheid 1948, 34)

Weitere Illustrationsarbeiten folgten (Otto Blensdorf, Was sollen wir spielen und singen. Spielturnformen und daraus entstandene Spiel- und Bewegungslieder für Kindergarten, 1. und 2. Schuljahr, Bad Godesberg 1947; Paula Münster, Walddorle und andere Märchen, Leipzig und Frankfurt a.M. 1948; Recklinghausen 1948; Georg Breuker, Es klopfte dreimal an mein Tor. Ein Sommeridyll, Bochum 1950). Doch dann endeten einschlägige Arbeiten, mit Ausnahme der Illustration eines späten Buches des Bochumer Schriftstellers Georg Breuker (1876-1964) (Gedichte eines Bergmanns, Hattingen 1961).

Fassen wir zusammen, so unterschied sich Erika Beccard-Pilius Karriere deutlich von der Hans Landwehrmanns. Als Frau leistete sie mit der Wasserplansche einen ergänzenden Beitrag zur Kohlenklau-Kampagne, der versuchte, nationalsozialistische Propagandaziele mit den nur teils deckungsgleichen Wünschen der Leserschaft miteinander in Balance zu bringen. Dazu war ihre Arbeit besonders geeignet, denn sie chargierte während der NS-Zeit zwischen schönen Bildern eines fröhlichen und guten Lebens und den aus ihrer Sicht berechtigten Anforderungen der Volksgemeinschaft und des Regimes. Erika Beccard-Pilius steht für die Einbindung und Nutzung eines zerbrechenden nationalen Bildungsbürgertums, das mit dem Nationalsozialismus kooperierte, ihm gläubig diente, ohne aber in ihm aufzugehen. Diese in den Bildern auch und gerade der Wasserplansche offenkundige Differenz ermöglichte zugleich eine breitere Wirkung der staatlichen Propagandakampagne. Erika Beccard-Pilius baute Brücken, begünstigte das letztlich willige Mitmachen in zunehmend kritischer Zeit, war Teil einer bis zur totalen Niederlage selbstverachtend mitziehenden Volks- und Kampfgemeinschaft.

Humor als popularisierendes Element der Sparsamkeitsappelle

Die Wasserplansche war gewiss der groteske Höhepunkt in der Ausdifferenzierung der Kohlenklau-Kampagne. Sie unterstrich deren Vielgestaltigkeit, die so gewiss nicht geplant war, die aber wesentlich zu ihrer Popularität, eventuell auch zu begrenzten Erfolgen im Sinne des NS-Regimes führte. Während die Wasserplansche-Zeichnungen jedoch noch einen inneren Zusammenhalt besaßen und eine zusammenhängende Geschichte ermöglichen, gilt dies kaum für die abschließend nur anzureißenden vielen kleinen Einzelinitiativen im Umfeld der Kohlenklau-Kampagne. Sie spielten mit den Vorlagen der staatlichen Propaganda, machten sie handhabbar, zu etwas Eigenem. Doch war es NS-Propaganda, wenn Klein-Erika im zur Ersatzbadewanne mutierten Kohleneimer posierte? War dies nicht eher Ausdruck von nicht stillzustellender und doch lenkbarer Phantasie, die für die Leistungsfähigkeit jedes Systems unabdingbar ist? Und was bedeutet dieses Eindringen der Propaganda in die Alltagsbilder für die Analyse der NS-Propaganda als solcher?

Kohlenklau ein Schnippchen schlagen: Humoristische Überdeckung der Alltagsenge (NS Frauen-Warte 12, 1944, 174)

Viele professionelle Zeichner vermengten die politische Zeichnung, die regimetreue Verächtlichmachung des Feindes, mit der Kohlenklau-Kampagne. Dafür gab es keine Anweisung, so etwas erfolgte eigenständig. Das galt auch für die Schaufensterdekoration in der 1809 gegründeten Karlsruher Eisenwarenhandlung Hammer & Helbing: Turmtöpfe lenkten auf das eigene Angebot. Doch im Hintergrund lugte Kohlenklau, gierte nach Energie, auch nach Zuschauern der Inszenierung seiner Schandtaten (Der Führer 1943, Nr. 83 v. 24. März, 3). Endlich ein Schauspiel „Alle gegen Einen“ (Ebd. 1943, Nr. 120 v. 1. Mai, 4).

Kohlenklau als Statthalter Churchills (Oldenburgische Staatszeitung 1943, Nr. 169 v. 25. Juni, 6)

Die Vielgestaltigkeit der Kampagne spiegelte sich auch in immer neuen Sprachkreationen. Groschengrab und Kohlenklau galten nicht nur als Energie-, sondern auch als „Zeitdiebe“ (Nur eine halbe Stunde!, Die Bewegung 11, 1943, 67). Der NS-Vorzeigehumorist Emmerich Huber (1903-1979) visualisierte den „Stundenklau“, auch den „Kartoffelklau“ (Arbeitertum 12, 1943, Nr. 10, 8; ebd. 13, 1944, Nr. 9, 8). Im Lexikon der deutschen Gegenwartssprache finden sich weitere Komposita, unter anderem der Nervenklau.

Auch visuell schrieb man die Kohlenklau-Kampagne fort: Hans Landwehrmann zeichnete 1943/44 für den Reichsausschuß für volkswirtschaftliche Aufklärung den „Dreckspatz“ für Kampagnen zum schonenden und chemikalienarmen Wäschewaschen (Kohlenklau als Wäschemarder, Pforzheimer Anzeiger 1943, Nr. 153 v. 4. Juli, 4). Kohlenklau inspirierte neue NS-Propagandawelten, auch wenn die von Erika Beccard-Pilius geschaffene Wasserplansche kein Pendant hatte. All dies war funktional für die neuerliche Mutation des Kohlenklaus in der Nachkriegszeit, in der er begründete Widerständigkeit verkörperte, den Diebstahl von Kohle und mehr für das eigene Wohlbefinden oder gar das Überleben insbesondere im Winter 1946/47.

Fazit: Die Vielgestaltigkeit der NS-Propaganda

Wie funktionierte NS-Propaganda? Unsere empirisch valide, gleichwohl teils nur an der Oberfläche kratzende Analyse konnte belegen, dass von einer gleichsam in sich geschlossenen Kohlenklau-Kampagne auch nicht ansatzweise die Rede sein kann. So gewichtig und alltagsprägend die Propaganda auch war, so war sie doch nicht einzigartig, denn „Squander Bug“ verweist auf ähnliche, aber doch anders ausgerichtete Kampagnen der westlichen Demokratien, deren Kriegswirtschaft ähnliche Probleme wie das NS-Regime zu bewältigen hatte und zu ähnlichen Negativgeneralisierungen griff. Kohlenklau war die umfangreichste NS-Propagandakampagne während des Zweiten Weltkrieges. Doch sie wurde durch die vielfach eigenständigen Parallelaktionen der Privatwirtschaft nicht nur umkränzt, sondern von der Motiv- und Anzeigenzahl her übertroffen. Werkzeitungen und Annoncen griffen die Kohlenklau-Figur folgsam und doch eigenständig auf, nutzten deren Popularität für eigene Zwecke in den Betrieben und bei der Vermarktung. Die Wasserplansche-Kampagne schrieb die Hauptgeschichte weiter, machte Kohlenklau zum Anhängsel, zur Unterhaltungsware, zur Lachnummer. Dies entsprach der Wahrnehmung der Figur durch die Volksgenossen, die sich in ihrem Alltag an vielen weiteren Fortschreibungen erfreuten. So sehr die Sparsamkeitsideale des NS-Regimes und der Privatwirtschaft auch grundsätzlich geteilt wurden, so enthielt Kohlenklau doch zugleich ein kritisches, rückfragendes, auf die Praxis der NS-Eliten gerichtetes Moment. Die kriegsbedingte Einschränkung der Zeitungen und Zeitschriften hob Kohlenklau unverdient besonders hervor, die Kunstfigur wurde eine auch eigenständig genutzte Projektionsfläche für Ansprüche abseits der Kriegsnotwendigkeiten. Diese Vielgestaltigkeit, teils auch Widersprüchlichkeit machten Kohlenklau zur besterinnerten Kampagne ihrer Zeit, waren auch Garanten für ihre Uminterpretation in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Wie funktionierte NS-Propaganda? Gewiss nicht so, wie es uns die großen politischen Inszenierungen, die Selbstdarstellung des Regimes und auch deren zu enge Analyse in der Geschichtswissenschaft nahelegen.

Uwe Spiekermann, 19. April 2025

Leistungskampf und NS-Betriebsgemeinschaft: Die Abenteuer des Tobias Groll

Tobias Groll war ein Strichmännchen, eine Bannerfigur des nationalsozialistischen Leistungskampfes vor dem Zweiten Weltkrieg. Zwanzig vierbildrige „Abenteuer“ spiegelten damals Herausforderungen des betrieblichen Alltags, zeichneten ein Idealbild gemeinsamer Arbeit und kameradschaftlichen Miteinanders. Sie waren eingebettet in den 1936 einsetzenden Leistungskampf der deutschen Betriebe. Die Comicstrips begleiteten und lenkten die Arbeitsintensivierung während des Vierjahresplanes, während der forcierten Umstellung der deutschen Wirtschaft auf Kriegsbedarf. Getragen von der Deutschen Arbeitsfront präsentierten die Abenteuer des Tobias Groll zugleich möglichen Lohn für all die Mühsal: Nicht nur das Leben, auch der Arbeitsalltag sollte schöner, gar schön werden, umrahmt von vielfältigen Angeboten für Geselligkeit und Fortbildung, für Hygiene und eine völkischen Betriebsgemeinschaft. All das würde gelingen, wenn man sich, wie letztlich Tobias Groll, in den Dienst für die gemeinsame Sache stellte, Teil der deutschen Leistungsgemeinschaft wurde. Die Comicstrips waren plakative Mahnungen, eröffneten Möglichkeiten des Einreihens. In ihnen wird zugleich die Vielgestaltigkeit nationalsozialistischer Alltagspropaganda deutlich, handelte es sich doch um Massenbeeinflussung abseits des großen Gepränges, der nationalen Weihetage, der Betriebsappelle und Führerreden. Tobias Grolls Abenteuer waren kleine Helfer gegen den täglichen Zweifel, gegen Widerstände im Inneren der Einzelnen. Sie waren eintröpfelnde Propaganda in kleiner Münze, als solche kaum bedeutsam, im Ensemble aber ein wichtiges Element des Alltagslebens und des willigen Mitmachens während der NS-Zeit.

Kampf und Leistungskampf: Dynamisierende Sprache

Die kleine Serie wird verständlich, führt man sich die veränderten Rahmenbedingungen des Arbeits- und Alltagslebens vor Augen: Die Zerschlagung der Betriebsverfassungen und der Gewerkschaften seit 1933, den Bedeutungsgewinn der Deutschen Arbeitsfront, die zunehmende Arbeitsintensivierung nach Abbau der Arbeitslosigkeit, die veränderte Stellung der betrieblichen Sozialpolitik. All das gilt es näher zu beleuchten, bevor wir Tobias Groll und seine Abenteuer genauer analysieren. Falls Sie gleich zu den Bildgeschichten vorstoßen wollen, so können Sie natürlich auch herunterscrollen.

Herunterscrollen ist Teil unserer heutigen Sprache – und wäre vor einem Jahrhundert nicht verstanden worden. Wir müssen uns eingangs daher umgekehrt auf die andere Sprache von Tobias Grolls Zeit einlassen, die nicht nur euphemistisch Ausgrenzung, Raub, Mord und Vernichtung ummäntelte, sondern auch die Interessengegensätze des Lebens im Begriff des Kampfes bündelte. Das hing teils mit den Besonderheiten der deutschen Sprache zusammen, denn Zusammensetzungen und Ableitungen bieten immense Möglichkeiten kreativer Wortschöpfungen (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, 4. Aufl., München und Zürich, 1987, 45-52). Kampf war einerseits zentral für den nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Zugleich aber spiegelte dieses Wort schon lange zuvor die Kontingenzerfahrung der Moderne, also das Grundbewusstsein, dass Sachverhalte nicht einfach mehr gegeben sind, sondern so oder auch anders verstanden und behandelt werden können. Unterschiede münden in den Konflikt, in den Kampf.

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Kampf als Schlüsselbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts (erstellt auf Basis des Wortkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache, DWDS.de)

Weiter auszuführen würde uns auf Abwege führen, allerdings auf breite. Die 1870er Jahre waren hierzulande vom Kulturkampf geprägt, parallel waberte der darwinistische Kampf ums Dasein langsam ins soziale Leben. Der Reichstag schien vom Parteienkampf, vom neuartigen Wahlkampf geprägt, in den Grenzregionen des neuen Reiches nahmen Nationalitätenkämpfe an Schärfe zu. Aufstrebende Kräfte mobilisierten im Sinne von Klassen- und Geschlechterkampf. Nicht nur sprachlich drang das Kämpfen in die Worte ein: Feuer- und Brandbekämpfung wurden modernisiert, Seuchenbekämpfung mittels neuartiger Impfstoffe möglich. Die Ernten konnten dank Schädlingsbekämpfung sicherer werden, der bürgerliche Garten gewann durch regelmäßige Unkrautbekämpfung. Auch Freizeit und Konsumsphären waren von Kampfesmetaphern erfüllt. Der Wettkampf um den Kunden war entbrannt, der Ringkampf stand für den Kampf um den Sieg im zunehmend kommerzialisierten Sport.

02_Ueber Land und Meer_103_1910_p445_Wiener Blaetter_03_1898_Nr33_p15_Kampf-ums-Dasein_Sozialdarwinismus_Seidel-Naumann_Rosa-Schaffer

Qualität und Schönheit als Hilfsmittel im Kampf ums Dasein (Über Land und Meer 103, 1910, 445 (l.); Wiener Bilder 3, 1898, Nr. 33, 15)

Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur Leid und Tod mit sich, sondern spiegelte sich auch in zahllosen neuen Worten. Das galt nicht nur für Kämpfer der eigenen Truppen, auch für Komposita wie Einzelkämpfer, Nahkampf, Grabenkampf, Stellungskampf, Straßen- oder Häuserkampf, mit denen die Intensität des wechselseitigen Massakrierens eingefangen wurde, während der Luftkampf anfangs noch an die althochdeutschen ritterlichen Kämpen und die Tugenden des Zweikampfes zu erinnern schien. Dieser Mythos des ehrsamen Kampfes war tief eingewurzelt, fand seinen Widerhall in der Kriegslyrik dieser Zeit: „Sorge flieht, und Not wird klein, / Seit der Ruf geschah. / Mag ich morgen nimmer sein – / Heute bin ich da!“ (Hermann Hesse, Nachtgefühl auf Vorposten, Die Woche 17, 1915, 141)

Das Kriegsende war sprachlich jedoch kein Einschnitt, denn während der Barrikadenkämpfe des Kampfes um die Republik reimte sich nicht nur der Pulverdampf gefällig. Begriffe wie Weihnachtskämpfe, Ruhrkampf, Ruhreisenkampf sowie die zahllosen Kampfbünde – von dem der Deutschen Architekten bis hin zu dem gegen den Bolschewismus, später auch den Faschismus – kennzeichnen bis heute die zerklüftete, widerstreitende, kaum auf breitem Einvernehmen gründende Weimarer Republik. Das galt aber auch für den Kampf gegen die Pfunde angesichts neuer Körperideale oder des Kampfes im Massensport der Zeit, im Boxkampf und Kampfsport, bei Olympiakämpfern, Fünf- und Zehnkämpfern.

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Kampf auf allen Seiten (Die Leuchtrakete 11, 1933, Nr. 10, 2 (l.); Der Rote Stern 8, 1931, Nr. 5, 7)

Für die nationale Opposition, die völkischen Gruppen, dann für die NS-Bewegung war Kampf sprachlich auch nach 1918 weiterhin Alltag, wurde der Kampf um den Staat kriegsgemäß geführt – und dies galt ebenso für linkssozialistische und kommunistische Akteure in und außerhalb des Reichsfrontkämpferbundes. Der „Messerkampf“ (Jugend 35, 1930, 370) war für sie alle Lebenserfahrung, auch wenn sich die bedächtigere Eiserne Front in ihrem Freiheitskampf stärker zurückhielt. Der Bürgerkrieg seit Beginn der Präsidialregime und die Machtzulassung der NSDAP durch ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner bedeuteten gleichwohl noch keinen Höhepunkt der Begriffsverwendung. Das NS-Regime blickte eben nicht nur zurück auf Hitlers „Mein Kampf“, auf die vergangene Kampfzeit und den Kult der alten Kämpfer. Stattdessen wurde seit 1933 der Kampfesbegriff auf das Alltagshandeln übertragen, für die anstehenden Aufgaben gar geweitet (ahistorisch: Mark Dang-Anh, Kampf, in: Heidrun Kämpfer und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 413-444).

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Kampf gegen Hunger und die Roten (Baruther Anzeiger 1936, Nr. 5 v. 1. Oktober, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 176 v. 25. Juni, 28)

Dabei übernahm das NS-Regime einerseits Kampfesmetaphern der Arbeiterbewegung, führte die Rhetorik linker und linksextremistischer Parteien fort. Zugleich aber wandelten sich die Gegenspieler, denn Klassenkampf konnte es in der neuen Volksgemeinschaft nicht mehr geben. An dessen Stelle traten abstrakte Gefährdungen, wie etwa Hunger oder Arbeitslosigkeit, zugleich aber die erklärten Feinde der NSDAP und der von ihr angestrebten Rassengemeinschaft. Das galt für den „Marxismus“, den „Bolschewismus“ und das „Judentum“. Ähnliches galt für Begriffe, die den Kampf unmittelbar positiv besetzten. Man kämpfte für Nahrungsfreiheit, für ein besseres, den Adel der Arbeit ehrendes Leben. Ebenso wie bei den Linksparteien war Kampf jedoch nicht stillzustellen. Kampf galt eben als elementar, als überindividuelles Schicksal, als Grundbedingung im nicht stillzustellenden Rassenkampf. Der Einzelne hatte sich dem anzupassen, konnte mitkämpfen oder sich volksvergessen abducken. Dadurch definierte der Einzelne selbst seine Stellung zur Volksgemeinschaft. Um seinen Beitrag wurde geworben, im Falle des Zuwiderhandelns der „Gemeinschaftsfremde“ dagegen exkludiert, in einem Akt völkischer Notwehr letztlich gar ausgemerzt. Die Gemeinschaft war aber nicht nur naturwüchsig unverrückbar, sondern zugleich fordernd: Es ging ihr um einen Beitrag für die Volksgemeinschaft, um Leistung für Alle: „Maßgebend allein ist für uns die Feststellung, welchen Wert diese Leistung der Gesamtheit, dem Volksganzen gebracht hat“ (W[ilhelm] Börger, Neue Werte!, Der Führer 1933, Nr. 8 v. 8. Januar, 7).

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Im Einklang mit der Volksgemeinschaft: Leistungssteigerung und Leistungsfähigkeit durch Kolapräparate (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1060 (l.); Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 330 v. 17. Juli, 14)

Gewiss wurden derartige Semantiken im Alltag nur gebrochen angewandt und realisiert. Doch sie waren zugleich ideologische Grundlage „einer ständigen ‚Kämpferei‘ im Zusammenhang mit Kampagnen, die die verschiedenen nationalsozialistischen Ämter und Reichsstellen, z.T. unabgestimmt und miteinander konkurrierend, mit großem Aufwand in Gang setzten“ (Jürgen Reulecke, Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad. Der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ 1937-1939, in: Detlev Peukert und ders. (Hg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, 245-269, hier 248). Das betraf nicht zuletzt Tobias Groll, unseren Comicstriphelden. Er stand im Leistungskampf der deutschen Betriebe, einer in den Analysen der NS-Zeit häufig übergangenen Massenkampagne zur Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung vor und während des Krieges.

Institutionalisierter Leistungskampf

Der Begriff des Leistungskampfes drang 1935 vor. Zu dieser Zeit hatte die 1933 ausgerufene Arbeitsschlacht zu einem mächtigen Abbau der Arbeitslosigkeit geführt, der durch geänderte statistische Aufnahmekriterien nochmals gewaltiger erschien. Arbeitsdienst und Arbeitsbeschaffung zielten vor allem auf Arbeit an sich: Bei den frühen Infrastrukturmaßnahmen wurde vielfach auf arbeitssparende Maschinen verzichtet, sollte die Arbeit doch auf viele Schultern verteilt werden. Dies erlaubte Koppeleffekte, verstärkte die seit Ende 1932 ohnehin wirkenden Erholungstendenzen der deutschen Wirtschaft und mündete in ein seinerzeit international breit diskutiertes „deutsches Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Seither ging es wirtschaftlich immer weniger um die Extensivierung, sondern zunehmend um die Intensivierung der Arbeit. Der Fokus verschob sich von der Arbeitstätigkeit zum Arbeitsertrag. Es galt nun eine höhere Produktivität und höhere Leistungen zu erzielen – wie schon während der breit gefächerten Rationalisierungs- und Amerikanisierungsdebatten in den späten 1920er Jahren.

Den Anfang machte 1935 die Deutsche Studentenschaft, also der seit 1931 nationalsozialistisch dominierte Zusammenschluss der Allgemeinen Studentenausschüsse. Sie plädierte für einen Reichsleistungswettkampf von Studenten und Dozenten, zielte auf „Gemeinschaftsarbeit für unser deutsches Volk“ als „Mittel der geistigen Leistungssteigerung“. Es ging um die Lenkung des Geistes auf völkische Themen wie Landesplanung, Volksdeutsche Arbeit, Auslandskunde, Kulturpolitik, Deutsche Geschichte und Vorgeschichte, Rassenhygiene, Gesundheitswesen, Deutschen Sozialismus, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Judenfrage, Presse, Film, Rundfunk, Theater, Musik, Dichtung, usw. (Wettkampf des Geistes, Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 225 v. 26. September, 7). Die Leistung des Einzelnen sei Teil einer völkischen Gesamtanstrengung, erhalte ihren Wert nur aus dem Nutzen für das Kollektiv, für den nationalsozialistischen Staat. Dieser völkische Utilitarismus bedeutete einen klaren Bruch mit den (vielfach auch nur auf dem Papier stehenden) Grundprinzipen der Humboldtschen Universität. Akademiker sollten sich im „Lebens- und Machtkampf, den unser Volk in der Gegenwart auszutragen hat“ einbringen. Das würde Studenten- und Dozentenschaft über die antisemitischen, politischen und antifeministischen Maßnahmen hinaus weiter sieben: „Schwätzer, Nichtskönner, Intriganten haben wir genug“ (Könner und Schwätzer, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 573 v. 8. Dezember, 32).

Leistungskampf wurde seither zu einem zentralen politischen Schlagwort, das immer breiteren Gruppen aufgebürdet, teils aber auch willig angenommen wurde. Der Leistungskampf des Landvolkes bezweckte „Bauern und Landwirte zu noch stärkerem Einsatz im Kampfe um die Nahrungsfreiheit anzuspornen“ (Wer wird der beste Bauer?, Jeversches Wochenblatt 1937, Nr. 127 v. 4. Juni, 1). Immer neue Leistungskämpfe hielten die Parteiorganisation auf Trapp, insbesondere die SA. Wichtiger noch wurde der „Leistungskampf der Jugend“ (Nachrichten für Stadt und Land 1935, Nr. 73 v. 15. März, 10), zu dem der 1934 begonnene Reichsberufswettkampf mutierte.

Es handelte sich um einen Wettbewerb für noch nicht Volljährige in der beruflichen Ausbildung. Die Deutsche Arbeitsfront hatte die Federführung, die Hitler-Jugend kooperierte. Gleichwohl handelte es sich um eine der vielen Übernahmen aus anderen politischen Lagern: Seit 1925 hatte der etwa 300.000 Mitglieder starke liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten einen solchen Wettbewerb durchgeführt, der spätestens seit 1928 auch breitere Resonanz hervorrief (Deutsche Reichs-Zeitung 1930, Nr. 15 v. 20. Januar, 5; Westfälische Zeitung 1928, Nr. 238 v. 10. Oktober, 7). Dieser Reichsberufswettbewerb der Angestelltenjugend stand bereits unter nationalen Vorzeichen: „Tüchtige Arbeit ist der beste Dienst am Vaterland“ (Kölner Lokal-Anzeiger 1928, Nr. 518 v. 11. Oktober, 3). Unternehmen und auch viele Ministerien unterstützten ihn als Teil einer Qualifizierungsoffensive, 1930 übernahm gar der sozialdemokratische Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt (1864-1943) die Schirmherrschaft (Essener Allgemeine Zeitung 1930, Nr. 22 v. 22. Januar, 3). Parallel startete die Katholische Kaufmännische Vereinigung einen eigenen „Reichsberufswettkampf“, ebenso der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (Münsterische Zeitung 1931, Nr. 332 v. 2. Dezember, 3). Bessere „berufliche Leistungsfähigkeit“ (Lippische Post 1930, Nr. 22 v. 27. Januar, 6) war ein parteiübergreifendes Ziel – und daran knüpfte man an.

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„Adel der Leistung“: Jungarbeiterin der Metallindustrie, Jungapotheker beim Fahnenappell (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 23, 4 (l.); Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 245)

Seit 1934 stand der Reichsberufswettkampf offensiv im Dienst des NS-Staates, war Ausdruck des vielbeschworenen Willens zum Sozialismus, wurde Jahr für Jahr erweitert. Mit Beginn des Vierjahresplans galt der Elan der Jugend vermehrt der Aufrüstung, galt es doch fehlende devisenträchtige Rohstoffe durch „gesteigerte Leistung und verdoppelten Pflichteifer“ zu substituieren (Reichsberufswettkampf 1937 im Zeichen des Vierjahresplanes, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6). Neben berufspraktische und theoretische Fertigkeiten traten zudem weltanschauliche und geschlechtsspezifische Anforderungen: Hauswirtschaftliche Kenntnisse für die Frauen, Wehrsport für die Männer, abzuleisten bis ins Alter von 35 Jahren: „der totale Mensch soll die totale Leistung vollbringen“ (Die Leistung allein entscheidet, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 323 v. 29. November, 11).

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Leistungsorientierung im Einzelhandel: Tengelmann und die Konsumgenossenschaften (Der deutsche Volkswirt 8, 1933/34, Nr. 12/13, Sdr.-Beil., 16 (l.); Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 5, 32)

Für die Deutsche Arbeitsfront (DAF) war dies Teil einer immer ausgefächerteren Erfassung der Arbeitskräfte (Rüdiger Hachtmann, >Volksgemeinschaftliche Dienstleister?< Anmerkungen zu Selbstverständnis und Funktion der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«, in: Detlef Schiemchen-Ackermann (Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘?, Paderborn et al. 2012, 111-131). Die nationalsozialistische Organisation war nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 10. Mai 1933 mit dem Ziel eines vermeintlichen Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit gegründet worden. Die DAF war kein Rechtsnachfolger der Gewerkschaften, sondern stand für eine andere, eine völkisch-nationalsozialistische Pazifierung des Klassenkonfliktes und der wirtschaftlichen Gegensätze. Aufgrund verpflichtender Mitgliedschaft hatte sie Mitte 1933 bereits sieben bis acht Millionen Mitglieder, bis 1938 mehr als 23 Millionen. Damit war sie die größte Organisation der NSDAP, weit größer als die Einheitspartei selbst. Trotz einer anfangs eher ständischen Arbeitsverfassung, wurde sie zunehmend ein innerbetrieblicher Machtfaktor, offerierte Rechtsberatung und Betreuungsprogramme, organisierte die Berufsbildung und förderte die Gesundheitsfürsorge. Mit der Übernahme des Vermögens der Gewerkschaften besaß sie bereits 1933 ein vielgestaltiges Wirtschaftsimperium, Konsumgenossenschaften oder die Volksfürsorge wurden Teil davon. Auch durch die verpflichtenden Mitgliedbeiträge war die DAF die finanzstärkste NS-Organisation. Mit der 1933 gegründeten Organisation „Kraft durch Freude“ gewann sie neue Gestaltungskraft innerhalb der Betriebe, manifestierte dadurch ihren Anspruch, die Freizeit der meisten Deutschen zu organisieren. Und mit dem Volkswagenwerk schuf sie 1937 einen nach amerikanischen Vorbildern gestalteten Automobilkonzern zur Massenmotorisierung (und für Rüstungszwecke), plante großzügigen Wohnungs- und Siedlungsbau und vieles mehr. 44.000 hauptamtliche Beschäftigte und ca. 1,3 Millionen Ehrenamtliche verkörperten damals das offizielle Versprechen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, eines artgemäßen Lebens in relativem Wohlstand.

Leistungskampf der deutschen Betriebe

Unserer Serienheld Tobias Groll war Teil dieser breit gefächerten Leistungskämpfe. Er wurde zu einem Gesicht einer neuen, 1936 einsetzenden Kämpferei, dem Leistungskampf der deutschen Betriebe (vgl. allgemein Matthias Frese, Betriebspolitik im »Dritten Reich«. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933-1939, Paderborn 1991; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989). Dieser war von Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) angestoßen worden, als er am 29. August 1936 eine neue Auszeichnung verfügte, die Ehrenbezeichnung „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“. Diejenigen Betriebe, „in denen der Gedanke der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft […] auf das vollkommenste verwirklicht“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 242 v. 2. September, 2) worden sei, würden am Maifeiertag eine Urkunde erhalten und dürften ehrenhalber ein Jahr lang eine goldene DAF-Fahne mit goldenen Fransen führen. So weit, so klar. Überraschend aber war, dass dieser Kampf nicht von den eigentlich zuständigen Wirtschaftsorganisationen resp. den 1933 eingesetzten Treuhändern der Arbeit, sondern von der DAF veranstaltet und ausgestaltet werden sollte (vgl. Matthias Frese, Nationalsozialistische Vertrauensräte. Zur Betriebspolitik im „Dritten Reich“, Gewerkschaftliche Monatshefte 43, 1992, 281-297; Sören Eden, Die Verwaltung einer Utopie. Die Treuhänder der Arbeit zwischen Betriebs- und Volksgemeinschaft 1933-1945, Göttingen 2020, insb. 143-151).

Für den Reichsleiter der NSDAP und Leiter der DAF Robert Ley (1890-1945) bot dies eine lang erhoffte Chance, den Einfluss der Partei in den Betrieben zu vergrößern, Unternehmen und ihre Belegschaften stärker gleichzuschalten und zugleich die DAF zum entscheidenden sozialpolitischen Akteur zu machen (Reulecke, 1981, 246). Die schwammige Zielsetzung einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft wurde in ihrem Sinne in eine soziale, technische und wirtschaftliche Dimension aufgefächert: „Es wird dabei u.a. der Geist der Betriebsgemeinschaft gewertet, weiterhin die technischen Voraussetzungen, unter denen die Leistungen zustande kommen und schließlich die wirtschaftlichen Bedingungen und ihre Ergebnisse“ (Der Totalitätsanspruch der DAF., Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Der Leistungskampf sollte entfacht werden, seine Resultate aber dem deutschen Volke und der deutschen Wirtschaft insgesamt zugutekommen. Ley wies von Beginn an jede Ähnlichkeit mit „Antreibersystemen“ in Ost und West zurück – vornehmlich also dem Taylorismus/Fordismus der USA und der 1935 einsetzenden sowjetischen Stachanow-Bewegung. Deutsche Arbeit sei Ausdruck eines kulturell hochstehenden und leistungsbereiten Volkes, sie müsse in einem Rahmen erfolgen, der Arbeitsfreude erhalte und fördere, der zugleich die Arbeitskraft und die völkische Reproduktion sicherstelle (zur ideologischen Einordnung s. Franz Horsten, Die nationalsozialistische Leistungsauslese, Würzburg 1938; Achim Holtz, Nationalsozialistische Arbeitspolitik, Würzburg 1938; Karl Arnhold, Menschenführung im Betriebe, Berlin und Wien 1941; Richard Bargel, Neue deutsche Sozialpolitik, Berlin 1944). Die Deutsche Arbeitsfront konnte dadurch ihrem programmatischen Anspruch einer Besserstellung der Arbeiter und Angestellten durch eine gezielte betriebliche Sozialpolitik Taten folgen lassen – und zwar durchaus zu Lasten und auf Kosten des Einflusses der Unternehmensleitungen und der staatlichen Bürokratien (Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975, 126). Da die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe mitbewertet wurde, erhielt die DAF Zugang zu betriebsinternen Daten (Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, 6. erw. u. aktualisierte Auf., München 2001, 110).

Doch schon der stetig ausgeweitete Reichsberufswettkampf hatte gezeigt, dass die „Kämpferei“ nicht übers Knie gebrochen werden konnte. Die sozialdemokratische Exilpresse vermerkte völlig zurecht, dass die Beteiligung 1936/37 recht gering blieb, dass auch viele Großbetriebe dieser Art des Kampfes reserviert begegneten (Dreißig Musterknaben – Muster ohne Wert, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 207 v. 30. Mai, 8). Zugleich war für viele Arbeiter klar, dass das Streben nach der goldenen Fahne nicht nur ein Kampf gegen vermeintliche innerbetriebliche „Faulenzer“ und „Drückeberger“ war, sondern sozialpolitische Fortschritte eng an erhöhte Arbeitsleistungen geknüpft wurden (Grundsätzliches zur faschistischen Sozialpolitik, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 215 v. 25. Juli, 8). Zudem war die Verbindung zu dem im September 1936 verkündeten Vierjahresplan allzu offensichtlich. Es ging um eine „Mobilmachung für den Vierjahresplan“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 68).

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Güldene Fransen, gelbes Rad: Die Goldene Fahne für NS-Musterbetriebe und Vergabe des Siegeszeichen mit Theo Hupfauer und Adolf Hitler (sitzend) (Der Schulungsbetrieb 5, 1938, n. 204 (l.); Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 4)

Gleichwohl unterschätzt eine derartige Engführung auf den Kampf von Arbeit und Kapital die Anstrengungen der DAF um größeren Einfluss. Sie setzte sich 1937 gegen führende Unternehmen und insbesondere das Reichswirtschaftsministeriums durch, die ein Ende des Leistungskampfes forderten, damit aber scheiterten. Zudem kostete der Leistungskampf: Bis 1938/39 erhöhten sich die Lohnkosten in der Industrie nicht zuletzt durch sozialpolitische Maßnahmen um ca. 6,5 Prozent (Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, 2. Aufl., Opladen 1978, 252). Und zugleich knüpfte die DAF mit der Idee öffentlich ausgezeichneter Musterbetriebe an US-amerikanische Vorbilder Marketingmaßnahmen deutscher Unternehmer während der Weimarer Republik an (Karin Hartewig, Kunst für alle! Hitlers ästhetische Diktatur, Norderstedt 2018, 169). „Musterbetriebe Deutscher Wirtschaft“ waren damals Garanten deutscher Wertarbeit. Die DAF stellte sich zudem in die bis weit ins Kaiserreich zurückreichende Tradition betrieblicher Sozialpolitik, die auf eine enge Bindung zwischen Belegschaft und Unternehmen setzte, die Arbeiterbewegung so außen vor lassen wollte. Und nicht nur bei Krupp oder Carl Zeiss war man sich 1936/37 bewusst, dass man die Sonderkonjunktur der Aufrüstung nur mit zusätzlichen Arbeitskräften bewältigen konnte – und dafür waren innerbetriebliche Sozialleistungen ein wichtiger Faktor.

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Kernelemente des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1937, Nr. 40 v. 16. November, 6)

Die DAF unterstützte den neuen betrieblichen Wettbewerb, indem sie die Bewertungskriterien klärte und ihn propagandistisch unterstützte. Während 1936/37 vor allem um die Auszeichnung als „NS-Musterbetrieb“ gerungen wurde, gab es im Folgejahr relative klare, auf die Breite der gewerblichen Wirtschaft zielende Bewertungsmaßstäbe. Der nun explizit als „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ ausgelobte Wettbewerb begann auf regionaler Ebene, wo um Gaudiplome „für hervorragende Leistungen“ gerungen wurde. Dazu mussten die Betriebsführer sich bis zum 1. August bei der DAF anmelden, anschließend einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Danach wurde der Betrieb anhand von fünf Kriterien bewertet: Die Erhaltung und Gewährung des sozialen Friedens, die Erhaltung und Steigerung sowohl der Volkskraft als auch der Arbeitskraft, eine gesteigerte Lebenshaltung und Wirtschaften im Einklang mit den politischen Zielen des NS-Regimes. Man rang dabei aber nicht nur um Urkunden, sondern auch um vier von der DAF etablierte Leistungsabzeichen über vorbildliche Berufserziehung, Arbeit auf dem Gebiet der Volksgesundheit, die Förderung von Siedlungs- und Wohnungsbau sowie der Unterstützung der DAF-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“. Die Gausieger qualifizierten sich für die Reichsebene, die mit neuerlichen Prüfungen verbunden war. Parallel gab es vielfältige innerbetriebliche Aktivitäten, Appelle, Leistungspräsentationen und Selbstbeschwörungen. Am 1. Mai schließlich wurden sowohl auf Gau- als auch auf Reichsebene die errungenen Diplome und Ehrenzeichen überreicht. Sie konnten auf Plaketten im Betrieb angebracht, aber auch in Werbung und Geschäftskorrespondenz genutzt werden.

Selbstverständlich handelte es sich bei alledem nicht um einen fairen Leistungswettbewerb: Proporz zwischen Gauen und Branchen bestimmte die Auswahl, die gängige Günstlingswirtschaft und Kungelei innerhalb der DAF schlugen auf das Ergebnis durch. Innerbetrieblich setzte der Wettbewerb vielfach Dynamik frei, verblieb vielerorts aber auch an der Oberfläche von Parolen und Sprechblasen. Insgesamt nahm der Leistungsdruck innerhalb der Betriebe zu, die politische Einvernahme, aber auch das von Tobias Groll dann im Detail durchdeklinierte Arsenal sozialpolitischer Maßnahmen. Zugleich darf man nicht ausblenden, dass der Leistungskampf eine immanent rassistische Dimension hatte, Teil der Judendiskriminierung und -verfolgung war. Jüdische Arbeitnehmer durften der DAF nicht angehören, sie blieben organisationslos, da entgegen anfänglicher Verlautbarungen keine Ersatzorganisation anerkannt wurde (Zur Frage der Organisation der jüdischen Arbeitnehmer, Informationsblätter 1, 1933, Nr. 16, 4). Robert Ley vermerkte von Beginn an: „Wir stehen im Leistungskampf. Nicht der Jude gehört zum auserwählten Volk“ (Dortmunder Zeitung 1936, Nr. 523 v. 9. November, 5). Und 1938 entschied das Arbeitsgericht Leipzig, dass man jüdische Mitarbeiter bei Teilnahme am Leistungskampf entlassen dürfe, da deren Beschäftigung die Chancen auf eine Auszeichnung entscheidend mindere (Betriebe mit jüdischen Beschäftigten im Leistungskampf, Israelitisches Familienblatt 40, 1938, Nr. 32, 11). Leistungskampf war praktizierter Antisemitismus, „Juden stören im Leistungskampf“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1938, Nr. 183 v. 8. August, 4).

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Leistungsabzeichen der Deutschen Arbeitsfront (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 113 v. 28. April, 12 (l.); Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 154 v. 5. Juli, 4)

Diese Verrechtlichung von Unrecht war dem „deutschen Sozialismus“ immanent, der von den führenden DAF-Repräsentanten dröhnend propagiert wurde, um die als strukturell unzuverlässig geltende Arbeiterschaft für die Ziele des Regimes einzunehmen ([Theo] Hupfauer, Auf Vormarsch zum Sozialismus, Unser Wille und Weg 7, 1937, 364-366). Dabei schloss man nicht ohne Erfolg an autoritäre Traditionen an, nutzte zudem den selbstbewussten Stolz auf „deutsche Qualitätsarbeit“ (Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Neuauflage Münster 2015, 373-380). Der Leistungskampf deutscher Betriebe war Teil der politischen Neutralisierung der Arbeiterschaft – und dass, obwohl den meisten Beschäftigten klar war, dass die Beschwörungsformeln Propaganda waren und die Enge der eigenen Lebenshaltung weiterhin spürbar blieb. „Deutscher Sozialismus“ war Teil einer künstlich geschaffenen und durchaus integrativen Volksgemeinschaftsideologie. Die Zerschlagung von Gewerkschaften und Parteien, von Presseorganen und Buchverlagen bedeutete zugleich ein Zerschlagen von Gegennarrativen zur NS-Ideologie. Distanz zum Regime konnte daher sehr wohl mit Zustimmung zu einer verbesserten betrieblichen Sozialpolitik einhergehen (Ian Kershaw, Alltägliches und Außeralltägliches: ihre Bedeutung für die Volksmeinung 1933-1939, in: Peuckert und Reulecke (Hg.), 1981, 273-292, insb. 278, 285, 287). Der Leistungskampf der deutschen Betriebe verdichtete nämlich nicht nur die Arbeit, sondern verhieß auch individuelle Besserstellung und sozialen Aufstieg, zernierte damit auch die teils noch bestehenden sozialdemokratischen und katholischen Milieus. Die Abenteuer des Tobias Groll sollten die wachsende Heimatlosigkeit des Einzelnen gezielt aufgreifen.

Der Leistungskampf der deutschen Betriebe spielte entsprechend mit integrativen Zukunftsverheißungen einer gerechten und mehr als auskömmlichen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Sie schien möglich, doch sie musste erkämpft und erarbeitet werden: „Der Nationalsozialismus lehrt einen männlichen Sozialismus. Wir versprechen kein bequemes Leben und maßen uns nicht an, das Paradies herbeizuzaubern, sondern wir wissen, daß alles, was der Mensch an Gütern gewinnen will, vorher durch ihn oder andere erarbeitet werden muß. Einem Volke wird nichts geschenkt, sein Lebenserfolg liegt einzig und allein in seiner mühsamen Arbeitsleistung. Daraus folgert der Grundsatz, daß – je höher ein Volk entwickelt ist – um so größer seine Ansprüche an das Leben sind – desto größer auch eine Leistung sein müssen“ (Auf zum zweiten Leistungskampf!, Volksstimme 1938, Nr. 1 v. 1. Juli, 1-2, hier 1). Der Leistungskampf verhieß ein besseres Leben – und dieses Aufstiegsversprechen wirkte bis weit in den Krieg hinein; die Ratenzahlungen für den geplanten Volkswagen oder das Eiserne Sparen unterstrichen dies.

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Der Glaube an die Masse: Mobilisierungszahlen 1937 (Gelsenkirchener Zeitung 1937, Nr. 313 v. 15. November, 7)

Der Leistungskampf deutscher Betriebe war schließlich auch ein Plebiszit über das NS-Regime und seine Politik. Entsprechend wichtig wurde die reine Anzahl der nominell ja freiwillig teilnehmenden Betriebe. Das galt auch für die Preisträger: Die Zahl der NS-Musterbetriebe war von dreißig 1937 auf 103 im Folgejahr gestiegen (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 116 v. 1. Mai, 5). Schrieb man anfangs noch zurückhaltend von der „November-Aktion der Deutschen Arbeitsfront“ (Oberbergischer Bote 1937, Nr. 267 v. 13. November, 12), so berichtete man später markig von einer stetig wachsenden Zahl teilnehmender Betriebe. Auch Drohungen waberten: „Wer sich aus diesem Leistungskampf ausschließt, vergeht sich an unserer Volks- und Leistungsgemeinschaft“ (Hier spricht die Deutsche Arbeitsfront!, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 201 v. 29. Juli, 9). Gleichwohl nahm 1937/38 die Mehrzahl der Betriebe nicht teil, darunter auch Großunternehmen wie Siemens oder die Gutehoffnungshütte (Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, 480-481). Man glaubte, dies nicht nötig zu haben – oder die Teilnahme schien zu teuer.

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Moralischer Druck: Appell zur Teilnahme am Leistungskampf der deutschen Betriebe (Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 202 v. 30. Juli, 11)

Bei der Neuauflage 1938/39 wurde die Teilnahme daher moralisch weiter aufgeladen: Sie galt als „Gradmesser dafür, wieweit sich jeder deutsche Betrieb aus innerer Verpflichtung gegenüber Führer und Volk in die vorderste Front des Nationalsozialismus stellt und die Ziele des Führers an seinem Platz und unter Ausnutzung seiner Möglichkeiten zu seinen eigenen Zielen Macht“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 165 v. 19. Juli, 4). Die DAF weitete den Kreis der adressierten Betriebe bewusst aus, verlieh nun auch ein fünftes Leistungsabzeichen für vorbildliche Kleinbetriebe (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 200 v. 27. Juli, 6). Die Teilnehmerzahl von zuvor ca. 84.000 sollte mehr als verdoppelt werden.

Eingefordert wurde ein Bekenntnis der Unternehmer und selbständiger Gewerbetreibender für das Regime – und zugleich lockte man sie. Robert Ley sprach von einem neuartigen edlen Wettbewerb, einer neuen Form der Menschenführung, „die aus unserem Volke weit mehr herausholen wird, als es die Peitsche und Antreibung jemals vermögen. Es ist der Weg der nationalsozialistischen Erziehungsarbeit, der Aufklärung, des Ansporns, des Einsatzes“ (Rechenschaftsbericht, in: Der Parteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938, München 1938, 224-234, hier 226). Der Leistungskampf gehe eben nicht in Lohnforderungen auf, sondern ziele auf eine klügere und zielgerichtetere innere Sozialpolitik, auf engere Bande zwischen Unternehmen und Beschäftigten, auf Wachstum für alle Deutschen im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Zielen des NS-Regimes (Astrid Gehrig, Nationalsozialistische Rüstungspolitik und unternehmerischer Entscheidungsspielraum. Vergleichende Fallstudien zur württembergischen Maschinenbauindustrie, München 1996, 162). Parolen wie „Leistungskampf ist Leistungssteigerung!“ (Bremer Zeitung 1938, Nr. 205 v. 28. Juli, 11) oder „Betriebsgemeinschaft—Leistungsgemeinschaft—Schicksalsgemeinschaft“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 350 v. 29. Juli, 6) unterstrichen dies. Dass man dabei an noch weit verbreitete Formen patriarchaler Unternehmensführung anknüpfte, zielte insbesondere auf Handwerk und Handel. Zugleich aber sprach insbesondere der DAF-Bevollmächtigte für den Leistungskampf Theo Hupfauer (1906-1993) von Sozialtechnologie, von der „Steuerung der sozialen Leistung“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 202 v. 31. August, 3; Ders., Die Auszeichnung gilt der Gemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10-11). Der Leistungskampf war für ihn artgerechtes Management – und er dürfte damit in einer Linie mit der großen Zahl junger aufstrebender Betriebsführer gestanden haben, die für die Kriegsführung entscheidend werden sollten. Leistungsfähig und leistungsfroh trotz ständiger Höchstleistungen – nur so könne man die Zukunft gewinnen (Die großen Ziele des Leistungskampfes, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 189 v. 16. August, 2).

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Einschwören der Unternehmer und DAF-Repräsentanten: Eröffnung des Leistungskampfes der deutschen Betriebe in der Stuttgarter Liederhalle (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 301 v. 1. Juli, 3)

Diese neuen Eliten – die wie Hupfauer ihre Karrieren nach 1945 meist ohne größere Brüche haben fortsetzen können – akzeptierten und begrüßten durchaus die politischen Ziele von DAF und NSDAP: „Das gesteckte Ziel dieses Leistungskampfes ist das Hinsteuern darauf, daß in Bälde die ganze deutsche Wirtschaft als einziger NS.-Musterbetrieb angesprochen werden kann“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit!, Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8). In diesem Betrieb gab es nur einen Willen, dominierte das gemeinsame Ziel im Völkerringen: „An die Stelle von Humanität und Gefühlsduselei, von Klassenhaß und Klassenvernichtung setzen wir die Gemeinschaft, geboren aus der Rasse, und die Gerechtigkeit als das, was dem Volke nützt“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 424 v. 10. September, 2). Tobias Groll war ein werbendes Hilfsmittel, um die Zielsetzungen des Regimes auch bei denen zu verankern, die noch nicht überzeugt waren, die aber gewonnen werden konnten.

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Aufforderungen zum freiwilligen Leistungskampf (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 156 v. 7. Juli, 3)

Tobias Groll – Name, Mann und Zeichner

Obwohl die NS-Sozialpolitik insbesondere in den 1970er bis 1990er Jahren ein wichtiger Forschungsbereich war (heute ist dies leider anders), konnte ich in der Fachliteratur nicht einen Hinweis auf die Comicstrips „Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll“ und „Neue Abenteuer von Tobias Groll“ finden. Die hier gezeigten und analysierten Quellen entstammen denn auch der letzten „Geheimquelle des ‚Dritten Reiches‘“, der Tagespresse (Peter Longerich, NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene, in: Christian Kuchler (Hg.), NS. Propaganda im 21. Jahrhundert […], Köln, Weimar und Wien 2014, 15-26, hier 15). Obwohl diese zunehmend digital verfügbaren Massenquellen aufgrund von Gleichschaltung und Presselenkung nur mit Vorbehalt genutzt werden können, spiegeln sie treulich das Selbstbild des NS-Regimes und ermöglichen insbesondere im Konsumsektor vielfältige Neuentdeckungen – dieser Blog zeugt davon. Digitalisierte Tageszeitungen werden dennoch von der Mehrzahl der Historiker bisher nicht genutzt, denn ihre Auswertung ist (auch aufgrund der vielfach qualitativ schlechten Digitalisierung) arbeitsintensiv und erfordert eine bedingte Abkehr von der leider immer noch weit verbreiteten Texthörigkeit der Zunft. Zudem tappen viele Regionen Deutschlands aufgrund fehlender Arbeitsamkeit von Archiven und Bibliotheken weiterhin im pressetechnischen Dunkel. Aus nicht nachvollziehbaren volkspädagogischen Überlegungen sind ferner die wichtigsten nationalsozialistischen Tages- und Wochenzeitungen weiterhin digital nicht verfügbar; zumindest nicht im deutschen Inland. Dies steht im klaren Widerspruch zu der hierzulande offiziell immer wieder beschworenen vermeintlich vorbildlichen „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus. In diesem von Antisemitismus weiter und neu durchfurchten Land liebt man es halt öffentlich ein verlogenes „Nie wieder!“ zu heucheln, um zugleich den Nationalsozialismus im politischen Alltagsgeschäft als denunzierende politische Waffe unkundig zu verzwecken. Dafür braucht man in der Tat keine seriöse Forschung oder die Breite der Quellen. Gleichwohl entstammt die Mehrzahl der nachfolgend verwandten Quellen aus (leider kaum koordinierten) deutschen Digitalisierungsprojekten. Wenig ist besser als nichts.

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Ein seltsamer Zeitgenosse wird vorgestellt (Wittener Volks-Zeitung 1938, Nr. 151 v. 1. Juli, 4)

Und hier erscheint nun endlich unser „Held“, Tobias Groll. Er erschien erstmals während der Anmeldephase für den zweiten Leistungskampf der deutschen Betriebe im Juli 1938. Lassen Sie das Bild auf sich wirken, das Bild eines gesetzten Herrn im schlecht sitzenden Anzug, der trotz Sonnenschein den Regenschirm nutzte. Sprechend war schon der Name: Tobias war eine überraschende Wahl. Zum einen war dieser Vorname in den 1930er Jahren relativ selten, zum anderen hatte er eine ins Alte Testament zurückreichende Geschichte, war hebräischen Ursprungs, Name eines Erzengels. Im Katholizismus wurden gleich zwei Heilige mit Namenstagen geehrt. Doch der gemeinhin langsam ausgesprochene dreisilbige Vorname bot einen guten Einstieg in den dynamischen, schnell ausrollenden Gesamtnamen. Das gab ihm rhythmisierende Qualität, zumal durch die verborgene Alliteration des Buchstabens O.

Die Wahl des Nachnamens erfolgte dagegen sicher mit Bedacht: Groll war ein seit dem späten Mittelalter im deutschen Sprachraum verwandtes Substantiv, das während der NS-Zeit aber nur noch selten verwandt wurde. Während ältere Bedeutungsnuancen eher den im Jähzorn ansprechend eingebundenen plötzlich hervorbrechenden Zorn stärkten – das mittelhochdeutsche Grellen entspricht dem von Zorn hervorgerufenen laut Schreien – war Groll vor allem im 19. Jahrhundert ein zunehmend auf Dauer angelegter Begriff. Der Groll war still, verinnerlicht, versteckt, ein verborgener, doch steter und kaum zu brechender Zorn. Er war von Ressentiments geprägt, gegen etwas gerichtet, präsent und feindlich, schwer zu brechen. Das deckte sich – im Gegensatz zur öffentlichen Propaganda – durchaus mit der Stellung der vielgestaltigen Arbeiterschaft und auch vieler Unternehmer zum NS-Regime zur Zwangsinstitution der DAF. „Tobias Groll“ war 1933 bereits Held einer Kurzgeschichte, war damals ein kleiner Trickbetrüger (Alois Brunner, Tobias Groll findet eine Uhr, Merseburger Tageblatt 1933, Nr. 73 v. 27. März, 7). Doch dies galt nicht für seinen Nachfolger, einen ambivalenten, schwer zugänglichen Charakter, der vielleicht schon zu alt war, um sich zu ändern, um in der neuen Zeit bestehen zu können. Wäre er doch ein Kind: „Kinder hegen keinen Groll, das rettet sie“ (José Saramago, Das steinerne Floß, Hamburg 2015, 69) – allerdings dann im Sinne einer gläubig angenommenen NS-Ideologie.

Die Nutzung eines solchen Namens war dennoch recht typisch für die NS-Zeit. Tobias Groll reihte sich ein in eine rasch wachsende Zahl einschlägiger Bildreihen und Comicstrips, in denen ein sprechender Name den Charakter widerspiegelte: Herr Hase, Herr und Frau Spießer, Familie Pfundig, Herr Bramsig und Frau Knöterich (auch Herr Knöterich). Sie wurden ergänzt von nur kurzfristig in Kampagnen auftauchenden Personen, etwa Herr Knauserig bei Sammlungen des Winterhilfswerkes (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175) oder Herr Gebefroh beim Eintopfsonntag (Erzgebirgischer Volksfreund 1939, Nr. 60 v. 11. März, 10). Charakterisierende Namen wurden während des Weltkrieges gar modisch, ein gängiges Element in Werbung und Propaganda: Herr Soll in der Groschengrab-Kampagne (Neußer Zeitung 1940, Nr. 155 v. 8. Juni, 4); Herr Pfiffig in der Bramsig-Kampagne (Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1941, Nr. 342 v. 13. Dezember, 3); Herr Freundlich in der Wybert-Werbung (Schlesische Sonntagspost 13, 1942, Nr. 12, 11) und Herr Friedlich in den Anzeigen für Schaub Radios (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 4, Anh., 17). Derartig sprechende Namen gab es schon zuvor, sie wurden teils fortgeführt, symbolisierten auch in der Nachkriegszeit Kontinuität. Dr. Unblutig war seit 1925 im Kukirol-Einsatz gegen Hühneraugen, hatte auch zu Grolls Zeiten seine Tätigkeit noch nicht eingestellt (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1064), setzte sein Werbewesen während des „Wiederaufbaus“ fort (Hamburger Abendblatt 1952, Nr. 189 v. 16. August). Einen zeitgenössischen Höhepunkt derartig sprechender Namensverwendung stellte aber die Werbung für Darmol-Abführmittel dar: Während des sich ausweitenden Weltkrieges diskutierten dort typisierende Gegensatzpaare, etwa Herr Fettlich und Herr Schläuling, Frau Launig und Frau Nett, Frau Sauertopf resp. Schlau, etc. (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 8, Anhang, 18; ebd., H. 7, Anhang, 16; ebd., H. 9, Anhang, 12). Genug der Abschweifung, nähern wir uns wieder Herrn Groll.

Tobias Groll war ein Auftragsprodukt, gezeichnet von dem in Karlsruhe geborenen Graphiker und Schriftsteller Franz Roha (1908-1965). Er hatte den Leistungskampf bereits 1937 in Schaubildern illustriert, die Sie schon oben haben sehen können. Im gängigen Lexikon, verfasst von einem fidelen NS-Humoristen, heißt es schwammig und irreführend: „Karikaturist der Berliner Presse in den dreißiger Jahren, Illustrator eigener Reportagen mit Sinn für’s [sic!] Aktuelle“ (Kurt Flemig, Karikaturisten-Lexikon, München etc. 1993, 237; Dank an Eckart Sackmann für den Hinweis). Da die nationalsozialistische Presse von der Berliner Staatsbibliothek recht konsequent nicht digitalisiert wurde, ist dies kaum zu überprüfen. Roha erscheint Mitte der 1930er Jahre abseits der Hauptstadt jedoch als Illustrator von Schaubildern (Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 86 v. 5. April, 8), etablierte sich zugleich aber als systemtreuer politischer Karikaturist.

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Sich dem Regime andienen: Stangenware von Franz Roha 1938 (Arbeitersturm 1938, Nr. 90 v. 28. Juni, 5; Die Glocke, Ausg. A 1938, Nr. 261 v. 25. September, 8)

Der Comicstrip war für den jungen Zeichner eine Chance, um sich als Pressezeichner etablieren zu können. Er nutzte diese, seit 1941 firmierte er unter dieser Bezeichnung im Berliner Fernsprechbuch, obwohl er noch 1939 einen ersten Roman veröffentlicht hatte (Franz Roha, Stiller Ozean Insel X. Ein abenteuerlicher Roman, Berlin 1939). Roha war publizistisch breit einsetzbar, schon in der Vorkriegszeit visualisierte er antisemitische Verschwörungsmythen. Während des Krieges avancierte er zu einem der meistgedruckten deutschen Pressezeichner – und ich behalte mir vor, nach Einsicht in seine NS-Personalakten hierzu genaueres zu veröffentlichen. Franz Roha war freiberuflich tätig, Auftragszeichner, dessen Arbeiten anfangs über Scherl-Matern und den RD.-Dienst verbreitet wurden. Während des Krieges wurde er jedoch zum Hauptzeichner einer seit Frühjahr 1939 vom Berliner Verlag Rudolf Dehnen herausgegebenen modernen „Korrespondenz des politischen Zeitgeschehens“ (Zeitungswissenschaft 16, 1941, 140) namens „Bilder und Studien“. Diese vertrieb anfangs vornehmlich Karten, erweiterte ihr Angebot aber während des Krieges um politische Kommentare und Hintergrundberichte – und eben gängige Karikaturen (Handbuch der deutschsprachigen Zeitung im Ausland, hg. v. Walther Heide, Essen 1940, XVIII; Zeitungswissenschaft 15, 1940, 584). „Bilder und Studien“ bündelte die Pressezeichnungen dutzender führender visueller Propagandisten und war neben der Agentur Interpress eine der auch europaweit wirkmächtigsten deutschen Presse- und Materndienste. Franz Roha arbeitete nach dem Krieg als Graphiker und Kunstmaler weiter, erst in Celle, dann in Hamburg, wo er nicht zuletzt für das sozialdemokratische Hamburger Echo zeichnete.

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Der Jude als weltbewegende Kraft: Antisemitische Zeichnungen von Franz Roha (Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 293 v. 15. Dezember, 1; Innsbrucker Nachrichten 1938, Nr. 257 v. 5. November, 1)

Während wir den Zeichner der Comicserien über Tobias Groll zumindest einordnen können, bleibt der Texter unbekannt. Die Serien wurden zudem kaum eingeleitet. Die meisten Zeitungen veröffentlichten die Comics ohne Vorrede, häufig auch ohne die Zeichnung des Mannes mit dem Regenschirm bei Sonne. Die Schriftleiter konnten gewiss voraussetzen, dass Leser und potenzielle Teilnehmer um den neuerlich anlaufenden Leistungskampf der deutschen Betriebe wussten. Vielleicht genügten sie auch einfach nur einer vermeintlichen Publikationspflicht oder meinten, die Einzelepisoden würden für sich sprechen. Derartig fehlende Einrahmung war nicht ungewöhnlich, war eher charakteristisch für den NS-Journalismus, die NS-Propaganda. Auch die 1938 anfangs parallel laufende, vom NS-Zeichner Hans Kossatz (1901-1985) ausgestaltete Comicserie „Groschengrab“ verzichtete auf eine gesonderte inhaltliche Einführung, schloss inhaltlich aber an die drei 1937/38 durchgeführten Kampagnen „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“ und „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ an. Dennoch gab es vereinzelte Einführungen der Tobias Groll-Serie, geschrieben auf Grundlage der Handreichungen der DAF. Lesen wir nach, was unser Held bezwecken sollte.

Einerseits ging es um die Bildwerdung eines seit 1933 immer wieder kritisierten Menschentypus: „Groll. Grollt immer ein wenig, nimmt übel, hockt auf veralteten Anschauungen, will Neues nicht anerkennen, nicht verstehen. Lebt in der ‚guten alten Zeit‘. Tobias Groll, ein wenig erfreulicher Herr, so will uns zunächst scheinen. Ganz so arg ist er vielleicht nicht, aber schließlich hatte jeder schon seine Kollision mit ihm. Solcher Grolls gibt es viele im Alltag. Im Frack erscheinen sie, im Sportdreß, aber ebenso im Arbeitskittel. Das ist einerlei. Das Tobias-Groll-sein ist ein Zustand. Mal erheitert er uns, meistens verursacht er aber Aerger, selten erfreut er“ (Kiebitz, Gestatten: Tobias Groll .., Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 135 v. 2. Juli, 3). Tobias Groll stand damit in der Reihe mit den spätestens seit 1934 vom NS-Staat offensiv attackierten und in immer wieder neuen Kampagnen adressierten „Meckerern“ und „Kritikaster“, den der Milleniumsmission des Nationalsozialismus nicht aufgeschlossenen „Spießern“. Diese vermeintlich egomanischen Gestalten wurden in der NS-Propaganda durchweg entlarvt, dienten als Negativbeispiel, von der sich der echte Volksgenosse abzugrenzen hatte. Das war Teil innerer Überwindung – und entsprechend zielte der Comicstrip auch auf den kleinen Groll, der in den meisten steckte.

Anderseits sollte Tobias Groll unterhalten, ein ambivalentes, sich selbst erkennendes und korrigierendes Lachen ermöglichen. Die Bildgeschichten verwiesen offensiv auf noch bestehende Hindernisse im Leistungskampfe der deutschen Betriebe, boten zugleich aber eine Handreichung für die Willigen: Tobias Grolls „tragisch-komischen Erlebnisse, die aus dem täglichen Arbeitsleben herausgegriffen sind, werden jede Lachmuskel reizen und so das Eis brechen. Tobias Groll wird mit seinen Abenteuern allen, die noch nicht froh und frei mitmarschieren können, mögen sie nun Betriebsfüührer [sic!] oder Gefolgschaftsmitglieder sein, mögen sie im Betrieb hohe oder niedrige Stellen bekleiden, einen Spiegel vorhalten. Und jeder wird sich in die Brust werfen und sagen: ‚Nein, so bin ich nicht, so handele ich nicht!‘ […] Er wird die Herzen öffnen helfen, und darauf kommt es im Leistungskampf ja an, daß nicht nur das Hirn, der kalte Verstand, sondern daß das Herz marschiert“ („Tobias Groll“ hilft mit!, Westfälisches Volksblatt 1938, Nr. 189 v. 15. August, 9). Entsprechend handelte es sich bei dem Comicstrip um eine in immer neuen Konfigurationen dargebotene Erlösungsgeschichte. Tobias Groll, allein und ohne Familie, nahm misstrauisch, ja feindlich, die raschen Veränderungen in seinem Lebensumfeld war, räsonierte, wurde mitgezogen, eingebunden – und am Ende zum eifrigen Protagonisten des Leistungskampfes.

Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll

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Der Albtraum: Der Leistungskampf als Bruch mit dem Alten (Der Patriot 1938, Nr. 175 v. 30. Juli, 5)

Tobias Grolls Abenteuer begannen mit einem Albtraum: Der Held, offenkundig ein kleiner Unternehmer, wurde von der Regsamkeit anderer Firmen aufgeschreckt. All das ängstigte ihn, befürchtete er doch von des „Fortschritts schnellen Tritt“ überrollt zu werden. Doch Nachdenken führte zum Wandel: Groll reihte sich ein, „ist belehrt“, „ist zum Leistungskampf bekehrt“. Die Konversion mag abrupt anmuten, doch die erste Episode will noch keinen inneren Wandel nachzeichnen, sondern ein dem relativen Anpassungszwang folgendes Einreihen. Zugleich machte sie den Leser mit dem Leistungskampf der deutschen Betriebe bekannt, erinnerte an die schon 1937 an vielen Unternehmen prangenden Banner. Es galt als „das Ehrenschild, das an die Hauptfront jedes deutschen Betriebes gehört“ (Nationalsozialistische Gesinnung entscheidet!, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 12). Selbstverständlich handelte es sich um einheitliches Bestellgut, käuflich erwerblich bei der jeweiligen DAF-Kreis- oder -Stadtverwaltung: Das Banner war eine Art Vordiplom, griff dem Zeigestolz der gewonnenen Auszeichnung vor. Zugleich war es ein Bekenntnis: „Zeige mit diesem Schild der Oeffentlichkeit, daß du mit deiner Gefolgschaft selbstverständlich dem Führer entgegenmarschierst mit dem unerschütterlichen Willen deinen Betrieb zum nationalsozialistischen Musterbetrieb zu gestalten!“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 164 v. 18. Juli, 10). Wie die geflaggten Hakenkreuze suggerierten die mit dem DAF-Signet versehenen Marsch-Banner einheitliches Wollen, einheitliches Tun. Der Einzelne hatte sich zu entscheiden, für oder gegen das große „Wir“. Wer auf einer schmissigen Demonstration schon einmal die 1968er-Parole „Solidarisieren – mitmarschieren“ skandiert hat, wird ein Gefühl für die damit verbundenen Emotionen, für die damit verbundene Dynamik haben.

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Bekenntnisparolen: Bannertext des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10)

Die erste Episode zeigt zugleich den Aufbau der Serie: Vier Einzelbilder, jeweils von einem sechszeiligen Gedicht unterlegt. Einfache Sprache. Paarreim. Groll anfangs am Grollen, am Schwanken, schließlich mit einem verhaltenen, doch vorhandenen Lächeln. Abstrakt: Getragen von der Erwartungszukunft einer leistungsfähigen und wohlhabenden NS-Konsumgesellschaft, geht die Serie unmittelbar in eine Art Gestaltungszukunft über – so, als wären mit dem Start des Leistungskampfes auch gleich Ergebnisse verbunden (Rüdiger Graf und Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung, Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, 497-515, hier 505, 508). Analog waren die NS-Musterbetriebe allein durch die Auszeichnung schon Vorbilder – was innerhalb der Unternehmen geschehen war, blieb meist recht unklar. Tobias Groll machte jedenfalls mit, wusste um die einmonatige Zeitspanne, in der er den Banner „Wir marschieren mit!“ werbeträchtig nutzen durfte (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 66-67).

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Betriebssport: Ein Volk macht gemeinsam mobil (National-Zeitung 1938, Nr. 203 v. 28. Juli, 10)

Tobias Groll war Eigenbrötler, zudem unsportlich. Freiwillig würde er sich körperlich nicht betätigen, aus dem Alter des Vereinssports war er entwachsen, als Chef hatte er andere, vermeintlich wichtigere Aufgaben als einem Ball hinterherzujagen. Doch die DAF vertrat noch höhere Ziele: „Es gilt […] ein körperlich gestähltes Volk zu erreichen.“ Turnen, Sport und Spiel waren einerseits Ausgleich zum Einerlei der Arbeit. Anderseits beharrte der NS-Staat auf einer Pflicht des Einzelnen zur Gesunderhaltung. Das diente nicht nur der Kostendämpfung im Gesundheitswesen, sondern auch der eigenen Leistungsfähigkeit. Betriebssport sollte vielgestaltig sein, jedem das Seine bieten, doch dazu mussten Sportstätten und -geräte vorgehalten werden. Richtig umgesetzt würde er die Betriebsgemeinschaft stärken. Groll verstand dies, die Niederlage im sportlichen Kampf wog demgegenüber wenig. Der Betriebssport erschloss körperlichen Fähigkeiten, stärkte das Durchhaltevermögen. Als Gemeinschaftswerk war er „Quell der Lebensfrische und Leistungsfähigkeit unseres Volkes“ (Alfred Kettler, Betriebssport, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 1, 1938, Nr. 1, 17-18 (beide Zitate)). Großbetriebe bereiteten hierfür den Weg, Betriebssportgemeinschaften kämpften miteinander. Einzelne oder Mannschaften standen dabei für das gesamte Unternehmen, unterstützten damit beträchtliche öffentliche Sportinvestitionen, die während der Olympiade 1936 zu einem hierzulande nie wieder erreichten Medaillensegen geführt hatten. Zugleich erlaubten sie die Schaffung betrieblicher und völkischer Geschlossenheit. Dem Betriebssportappell bei Robert Bosch in Stuttgart wohnten im September 1938 fast alle der 8000 Beschäftigten bei (Schwäbischer Merkur 1938, Nr. 2144 v. 11. September, 11).

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Schönheit der Arbeit: Bruch mit den grauen Mauern des Betriebs (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 233 v. 21. Juli, 8)

Das 1933 von der DAF gegründete Amt „Schönheit der Arbeit“ zielte auf eine Verbesserung der innerbetrieblichen Arbeitsbedingungen. Jahr für Jahr wurde ein neues Ziel ausgegeben, einschlägige Verbesserungen sollten nun auch Teil des Leistungskampfes sein: „Saubere Menschen in sauberen Betrieben“ hieß es 1933, danach „Grün in die Betriebe“, „Kampf dem Lärm“, „Gutes Licht – gute Arbeit“, 1938 dann „Gesunde Luft im Arbeitsraum“, begleitet von der bis 1939 laufenden Aktion „Warmes Essen im Betrieb“. Disziplinierung und Humanisierung gingen dabei Hand in Hand (Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Zeitalter, Bielefeld 2014, v.a. 95-162). Die Arbeit des Amtes erschöpfte sich wahrlich nicht in dem vielfach verspotteten Blumenschmuck in den Firmen, auf den auch der Comicstrip anspielte. Tobias Groll repräsentierte darin den gewalttätigen Patriarchen der alten Zeit, und sein Lernprozess war hier nachvollziehbarer als in anderen Episoden. Beschämt von der eigenen Grobheit, vom ehrenamtlichen Engagement eines Lehrlings, besann sich der Chef und kehrte – den Schirm geschlossen geschultert – mit Blumen zurück in den Betrieb. Die „Schönheit der Arbeit“ blieb vielfach Propaganda, doch die immer wieder beschworenen Verheißungen veränderten das Bild des Betriebes als solchen: „Ein netter, in der wärmeren Jahreszeit in frischem Grün prangender Fabrikgarten in frischem Grün prangender Fabrikgarten grüßt sie bei ihrem Eintreten, und an ihren eigentlichen Arbeitsplätzen erwartet sie blitzende Sauberkeit. Keine Maschine, die früher viele Unfälle, ja selbst Menschenleben forderte, die nicht in hinreichendem Maße gesichert wäre. Aus den weiten Fabrikhallen sind die matten, den Blick ins Freie verwehrenden Milchtafelgläser verschwunden“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit! Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8-9, hier 8). Der Leistungskampf stand in der Tradition reflektierter Humankapitalwahrung, schuf zugleich aber Anspruchshaltungen und Vorstellungen, die in beiden Nachfolgestaaten weiter wirksam blieben.

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Betriebsausflug: Geselliges Miteinander als Ziel (Bergedorfer Zeitung 1938, Nr. 187 v. 12. August, 6)

Die weit zurückreichende Rationalisierung und Mechanisierung gewerblicher Arbeit veränderte die Produktionswelt aber auch indirekt, denn Freizeit und Konsum gewannen zumal in den 1920er Jahren für viele Arbeitnehmer eine immer größere Bedeutung. Die DAF bemühte sich, wie zuvor schon Gewerkschaften, Parteien und eine wachsende Zahl von Unternehmen, diese Aufgabe im Sinne des NS-Staates aufzugreifen. Durch die Konsumgenossenschaften, vor allem aber durch die Organisation „Kraft durch Freude“ besaß sie ein elaboriertes Instrumentarium für gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten (Karsten Uhl, Visionen der Arbeit im Nationalsozialismus. Automatisierung und Menschenführung in der Leistungsgemeinschaft, in: Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann (Hg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2019, insb. 107-126). Die Parolen zielten auf Einflussnahme: „Mindestens einmal im Jahr, mitten in der Woche, einen KdF.-Betriebsausflug ins deutsche Land!“ (Betriebsausflüge nur an Wochentagen, Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 198 v. 26. August, 15). Während der Sommerzeit, meist im Juni oder Juli, standen Betriebsausflüge daher auf der Tagesordnung einer wachsenden Zahl von Betrieben. Sie waren nicht immer wohlgelitten, erfolgten vielfach im kleineren Rahmen etwa der Betriebsleitung oder der Facharbeiter. Groll versuchte sich dieser Zwangsvergemeinschaftung zu entziehen, wurde aber von den Ausflüglern eines Konkurrenzunternehmens abgepasst und zu seinem Glück gezwungen. Am Ende marschierte Groll wieder im Leistungskampf, der Schirm blieb geschlossen, mutierte zum Taktstock.

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Genrebeitrag ohne direkte propagandistische Einbettung (Ostmark-Woche 7, 1939, Nr. 22, 7)

Dieser vierte Comicstrip lenkt unseren Blick zugleich auf die Form der Bildergeschichten. Die vier Einzelbilder erschienen zumeist als fast quadratischer Block, meist als Eckenfüller der Zeitschriften. Variationen waren jedoch möglich, in diesem Fall als Bilderabfolge in horizontaler Reihung. Für den Leser war dies einfacher, denn die im Block teils noch erfolgte Nummerierung der Einzelbilder verwies auf Probleme im Verständnis der jeweiligen Reihenfolge. Zugleich spielte die Serie mit Abenteuermotiven, die von anderen Medien parallel aufgegriffen wurden. Betriebsausflüge waren damals ein gängiger Anlass für humoristische Auslassungen. Das galt auch für Tobias Groll, für sein angestrengtes Sackhüpfen. Doch die Serie verblieb nicht in Witz und Schabernack, sondern bettete diese in eine völkische Verpflichtung ein: Der Betriebsausflug sollte Volksgemeinschaft im Kleinen zelebrieren, die Kampfgemeinschaft als Feiergemeinschaft darstellen.

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Warmes Essen im Betrieb: Dezentrale Versorgungsstrukturen (Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 181 v. 10. August, 4)

Eine der Begleitparolen des zweiten Leistungskampfes war: „Fort mit Stulle und Butterbrot“ (Der Grafschafter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Das folgte dem schon im Februar 1938 einsetzenden „Aufklärungsfeldzug“ für „Warmes Essen im Betrieb“ (Speiseräume für die Gefolgschaft, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 528 v. 10. November, 3). Das fünfte Grollsche Abenteuer führte die Leser entsprechend in die Mängel insbesondere der Mittagsverpflegung ein. Arbeitszeit, Arbeitsweg und Überstunden konnten sich auf zwölf, gar vierzehn Stunden aufaddieren – und die üblichen Stullen konnten den Substanzverlust nur teilweise kompensieren. Die DAF unterstützte daher einen deutlichen Ausbau betrieblicher Kantinen bzw. auch mittäglicher Verpflegung durch zentralisierte Küchen. Der Comicstrip präsentierte die oft desolate Ausstattung betrieblicher Kochgelegenheiten, setzte unausgesprochen ein Interesse der Arbeitnehmer an einem einheitlichen Mahl voraus. Das widersprach der betrieblichen Realität, doch man kann davon ausgehen, dass sich die Zahl der Kantinen in der unmittelbaren Vorkriegszeit auf Anfang 1940 geschätzte 7.000 bis 7.500 verdoppelte (Otto Suhr, Neue Formen der Werkverpflegung, Monatshefte für NS-Sozialpolitik 9, 1942, 215-216, hier 215). Die weitere Entwicklung unterstrich, dass Kantinen als wichtige Grundlage einer leistungsfähigen Rüstungswirtschaft galten. 1943 gab es bereits 17.500 „Werksküchen“, zudem 2.000 Fernverpflegungsbetriebe, 1944 nahmen 26 Millionen Beschäftigte an der Gemeinschaftsverpflegung teil (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363; Arbeitertum 13, 1944, Nr. 18, 7). All das wurde – wie bei den öffentlichen Eintopfessen – als Teil einer Volksgemeinschaft am Tisch präsentiert. Doch anders als im Comic, wo Tobias Groll und der Vorarbeiter August Schmidt gemeinsam das Mittagessen einnahmen, speisten Chefetage und Belegschaft weiterhin zumeist anderes und andernorts.

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Das Schwimmbad oder Solidarität mit dem Chef (Tremonia – Westdeutsche Volkszeitung 1938, Nr. 227 v. 22. August, Bl. 2, 1)

Bei der sechsten Episode der Abenteuer kam mir unwillkürlich August Bebels (1840-1913) spöttische Sentenz vom „Paradies der großen Fabrikbetriebe“ in den Sinn (Heinz Marr, Die Industriearbeit (Das Fabriksystem), in: Karl Peppler (Hg.), Die Deutsche Arbeitskunde, Leipzig und Berlin 1940, 115-138, hier 129). Ein Schwimmbad in einem Industriebetrieb? Das gab es natürlich, die Anlage der Uhrenfabrik Junghans diente ganz Schramberg zum Pläsier (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 13, 22), generell ging es um ein sicheres Erlernen des Schwimmens (Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1022). Doch in der Bildgeschichte ging es vorrangig um die Solidarität der Arbeiter mit ihrem Chef, aber auch um den Willen zur Selbsthilfe. Eine Gemeinschaftsaktion abseits der eigenen Hierarchieebene unterstrich die Kraft des Gemeinschaftsgedankens: Alle für einen, einer für alle. Zugleich erinnerten die Bilder an die stetig wiederholte Parole, dass es im Leistungskampf keine Geschenke gäbe, sondern jede Verbesserung erarbeitet werden müsse. Tobias Groll war jedenfalls hoch erfreut über den Wandel der nationalsozialistisch inspirierten „Gefolgschaft“ – und sprang stellvertretend für seine Volksgenossen in das kühle Nass.

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In variabler Form: Vertrauensrat und Kameradschaftsabend (Der Führer 1938, Nr. 222 v. 14. August, 5 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 229 v. 21. August, 5)

Die folgenden zwei Abenteuer spiegeln eine weitere formale Variation der Serie, die in einigen Zeitungen nicht nur im Quer-, sondern auch im Längsformat erschien. Inhaltlich ging es um zwei weitere Elemente des betrieblichen Alltags während der NS-Zeit. Da war zum einen der Vertrauensrat, der als Vermittlungsinstanz an die Stelle der bis 1933 bestehenden Betriebsräte trat. Das im Januar 1934 erlassene Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit führte das Führerprinzip auch in die Betriebe ein. Die Gefolgschaft hatte dem Betriebsführer treu und gehorsam zu folgen, während sich letzterer um das Wohl seiner Beschäftigten sorgen musste. Für sozialpolitische Konfliktfälle gab es einen beratend arbeitenden Vertrauensrat, dessen Mitglieder der DAF angehören mussten (Frese, 1992, 282-283). Sollte kein Einvernehmen erzielt werden, so entschieden die staatlich ernannten Treuhänder der Arbeit. Der Leistungskampf der deutschen Betriebe sollte diesem recht zahn- und machtlosen Gremium neuen Glanz verleihen, sollte es doch den „Generalstab des Leistungskampfes“ bilden (Die Parole des Monats, Bremer Zeitung 1938, Nr. 214 v. 6. August, 6). Der Vertrauensrat war vertraut mit der innerbetrieblichen Sozialpolitik – und sollte nun Vorschläge für die Maßnahmen im Leistungskampf machen (Unser Betrieb im Leistungskampf, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 2, 1939, Nr. 6, 20). Der Betriebsführer sollte sie abwägen, dann mit dem Vertrauensrat besprechen. Konflikte konnten dabei kaum offen ausgetragen werden, denn der Betriebsfrieden stand über allem.

Kameradschaftsabende waren ähnliche Gesprächsforen, allerdings weniger reguliert. Sie dienten vornehmlich der Geselligkeit, dem Erfahrungsaustausch und der Sozialisation. Der Begriff war Teil einer idealisierten Rückbesinnung auf das Fronterlebnis des Weltkrieges, gewann im NS-Umfeld vor allem seit 1933, im betrieblichen Bereich seit 1934 an Bedeutung. Beide Episoden spiegelten die im Leistungskampf nicht berührten innerbetrieblichen Machtverhältnisse. Chef Tobias Groll etablierte beide Institutionen, versuchte damit die Beschäftigten formal einzubinden und Konflikte abzumildern. Doch trotz neuer Besprechungen und eines Klaviersolos behielt er die eigentliche Macht in der Hand – wobei er nun erstmals ohne Schirm gezeichnet wurde.

27_Der oberschlesische Wanderer_1938_08_27_Nr235_p06_Tobias-Groll_Lehrlingswerkstatt_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Lehrlingswerkstatt: Qualifizierung als Anrecht (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 235 v. 27. August, 6)

Die Qualifizierung des Nachwuchses war schon während der Reichsberufswettkämpfe ein zentrales Anliegen sowohl der Wirtschaft, des Staates und der DAF. Die Massenarbeitslosigkeit hatte zu einer relativen Dequalifizierung vieler Lehrlinge geführt, so dass Facharbeiter rasch Mangelware waren. Die Neugründung vieler Lehrlingswerkstätten nach der Weltwirtschaftskrise war eine Reaktion auf den „merklichen Mangel an qualifizierten Arbeitern“ (Herner Zeitung 1934, Nr. 77 v. 3. April, 3), der das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schon früh gefährdete. Der im Comic verwandte Begriff der „Lehrlingswerkstatt“ griff allerdings über die betriebliche Bildung hinaus. So hatte etwa die Zeche Zollverein schon 1934 eine Lehrlingswerkstatt geschaffen, „die nicht nur den beruflichen Fortschritt fördern soll, sondern auch außerhalb des Berufes dem jugendlichen Arbeiter Gelegenheit gibt, sich durch Turnen und Wandern körperlich zu ertüchtigen und durch vielseitigen Unterricht geistig weiterzubilden.“ Auch die Eltern wurden einbezogen, waren Gast bei gemeinsamen Unterhaltungsabenden. Ziel der Einrichtungen war es, „die ihr anvertrauten jungen Menschen zu körperlich und geistig tüchtigen Volksgenossen […] im Sinne unseres Führers“ zu erziehen (Essener Allgemeine Zeitung 1934, Nr. 19 v. 20. Januar, 4 (auch zuvor)). Sie waren, wie das duale System der Lehrlingsausbildung, eine Erbschaft des Kaiserreichs und dienten vornehmlich der Ausbildung von Kernbelegschaften (Marhild v. Behr, Die Entstehung der industriellen Lehrwerkstatt, Frankfurt a.M. und New York 1981). Lehrlingswerkstätten waren typisch für Großbetriebe, gewannen aber auch in Mittelbetrieben schon lange vor dem Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe an Bedeutung, waren sie doch kostengünstiger als Einzelausbildung. Für Tobias Groll war es daher keine Frage, dass er dem Lehrling Fritz letztlich bessere Rahmenbedingungen zubilligte. Zugleich mutierte er vom erschreckten Griesgram zu einem zunehmend aktiven Gestalter. Im Gegensatz zu dem im Alten verharrenden Vorarbeiter nahm er den Flügelschlag der neuen Zeit wahr. Groll verinnerlichte langsam Grundlagen des Leistungskampfes und füllte seine Funktion als Betriebsführer zunehmend zum Wohle seiner Mitstreiter aus.

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Werkswohnungen: Betriebsanbindung und Familiengrund (Siegblätter 1938, Nr. 207 v. 6. September, 8)

Das NS-Regime hat im Vergleich zum Weimarer Staat deutlich weniger Wohnungen gebaut. Gleichwohl berichtete die Propaganda immer wieder von neuen kleinen Siedlungen, hob die Bedeutung auch des betrieblichen Wohnungsbaus stetig hervor. Anfangs setzten die neuen Machthaber auf eine begrenzte Reagrarisierung des Neubaus. An die Stelle der fabriknahen Mietswohnung sollte ein einfaches, häufig nicht wirklich unterkellertes Kleinhaus mit einem großen Wirtschaftsgarten und Kleintierhaltung treten. Diese „Eigenheimstätte“ blieb als gerade noch zu finanzierendes Ideal bestehen, doch spätestens mit dem Vierjahresplan war sie zu teuer. Angesichts von 1938 ca. 1,5 Millionen fehlenden Wohnungen versuchte man nachzubessern, da ansonsten die wirtschaftlichen und politischen Ziele des Regimes gefährdet seien: „Ein Gefolgschaftsmann, der in einer dunklen, dumpfigen, beengten Behausung mit Frau und Kindern zu leben gezwungen ist, kann am Arbeitsplatz bei den schönsten und besten Einrichtungen der Arbeitsstätte kein leistungsfähiges, vollwertiges und besonders frohes Mitglied der Betriebsgemeinschaft sein“ (Heimstätten – nicht Mietswerkwohnungen, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 318 v. 11. Juli, 6). Die DAF steuerte um, zielte nunmehr auf eine Mischung von Eigenheimen und Vierraumwohnungen in Wohlblocks ohne Garten. Man gab vor, damit auch dem Willen der Arbeiter zu entsprechen – die angesichts der hohen Arbeitsbelastung vielfach keine Möglichkeiten für Nebenerwerbslandwirtschaft hatten (Carl Wellthor, Richtige Wirtschaft – falsche Wirtschaft, Württemberger Zeitung 1938, Nr. 206 v. 3. September, 2). Waren im ersten Leistungskampf der deutschen Betriebe 1937/38 nominell knapp 29.000 Werkswohnungen gebaut worden, so sollte diese Zahl nun einerseits deutlich erhöht, die Förderung zugleich auf Mittel- und Kleinbetriebe, auf kleinere Projekte konzentriert werden (Der Wohnungsbau im 2. Leistungskampf, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 409 v. 2. September, 4).

Tobias Groll hatte diese Veränderungen bereits verinnerlicht. Wie zuvor vom eigenen Lehrling lernte er nun vom Vorbild seines Konkurrenten. Er investierte in einen Wohnblock, bot seinen Beschäftigten damit einen festen Grund. Am Ende der ersten Staffel der Abenteuer des Tobias Groll lachte die Sonne und der Schirm steckte in der zu besiedelnden Erde. Unser Held hatte die Anregungen des Leistungskampfes angenommen, handelte sozial verlässlich, von „der Gefolgschaft dicht umringt“. Am Ende verspürte er gar ein „Gefühl des Glücks“ – und unterstrich damit, dass er seinen Weg gefunden hatte, da er „im Leistungskampf marschiert!“

Perspektivwechsel: Neue Abenteuer des Tobias Groll

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Die Abenteuer des Tobias Groll: Ein thematischer Überblick

Damit sind wir an das Ende der seltsamen Abenteuer des Tobias Groll gelangt – und zehn neue Abenteuer sollten folgen. Neue Themen des Leistungskampfes wurden angesprochen, die vielgestaltigen Verbesserungsmöglichkeiten weiter ausgelotet. Wichtiger aber war, dass Tobias Groll seine Rolle wechselte. Aus dem Chef der ersten Reihe wurde nun ein Kollege, der teils als Werkmeister, teils auch als einfacher Arbeiter agierte. Durch diesen Perspektivwechsel konnten innerbetriebliche Aufgaben anders angesprochen werden. Das folgerte auch aus dem fortschreitenden Leistungskampf. Der Abdruck der ersten Reihe begann im Juli, die einzelnen Geschichten folgten bis August/September im Wochentakt. Genau getaktete Erscheinungsdaten gab es allerdings nicht, ebenso fehlte eine verbindliche, gar logische Abfolge. Die Zeitungen variierten durchaus. Die Serie selbst erschien reichsweit. Sie fand sich in einer recht großen, aber doch überschaubaren Zahl von Tageszeitungen, nicht jedoch in Wochenzeitschriften oder Illustrierten.

Die zweite Reihe setzte Ende September ein – und fokussierte sich auch deshalb stärker auf innerbetriebliche Aufgaben, weil die Mobilisierung der Betriebe zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war, es nun um die Arbeit in den Unternehmen selbst ging. Dass dabei die Belegschaften auf die besonderen Bedingungen eines Krieges eingeschworen werden sollten, ist angesichts von Hitlers Kriegswillen offenkundig – auch wenn das Münchner Abkommen 1938 einen unmittelbaren Waffengang auf Kosten der Tschechoslowakei noch abwenden konnte. Die neuen Abenteuer des Tobias Groll erschienen weiterhin im Wochentakt, setzten im September ein, endeten im November/Dezember. Parallel franste der Abdruck jedoch zunehmend aus. Während die einzelnen Episoden anfangs noch durchnummeriert waren, endete diese innere Ordnung spätestens mit dem vierten Abenteuer. Die Abfolge geriet in Unordnung, variierte zwischen verschiedenen Presseorganen, teils wurde die Reihe vor ihrem Ende beendet. Für mehrere Zeitschriften schien es sich um eckenfüllende Einzelepisoden zu handeln. Entsprechend ist nicht verwunderlich, dass die neuen Abenteuer in Einzelfällen auch später einsetzten resp. endeten. Der letzte Abdruck stammt aus dem Februar 1939. All dies entspricht nicht der Imagination eines zackigen und mörderisch-effizienten NS-Regimes, war aber durchaus kennzeichnend für ein Umfeld großen Wollens und improvisierten Tuns: Die Presse war teils nicht in der Lage, die gezeichnete NS-Propaganda einheitlich an den Mann, an die Frau zu bringen. Das galt nicht nur für Propaganda, sondern auch für die visuelle und textliche Propagierung der vielgestaltigen Sammelaktivitäten einer Mangelökonomie, zumal des Winterhilfswerkes.

Zugleich unterstreichen die Abenteuer des Tobias Grohl, dass gängige Vorstellungen von einer Comic-Feindlichkeit des NS-Regimes mehr als zu relativieren sind (vgl. bereits Eckart Sackmann, Die Braune Post – die Nazis und die Sprechblase, Deutsche Comicforschung 12, 2016, 74-83; ders., »>Comics< sind als undeutsch verpönt.« Die Nazi-Jahre, ebd. 15, 2019, 56-93). Auch wenn die Abenteuer nicht in Form der vermeintlich „amerikanischen“ Sprechblasencomics erschienen – die aber durch NS-Zeichner wie Emmerich Huber schon lange zuvor auch in offiziellen Kampagnen angewendet wurden – so unterstreicht der aus zwanzig Episoden bestehende Comicstrip, dass das NS-Regime Comics auch für staatspolitisch vorrangige Themen und für Erwachsene nutzte. Zeitgenössische NS-Kritik an bestimmten Ausprägungen der US-Comickultur darf nicht mit grundsätzlicher Ablehnung verwechselt werden. Comics waren sowohl für Propaganda- als auch für Unterhaltungszwecke eine gängige literarisch-visuelle Form der NS-Zeit – auch und gerade in den bisher kaum beachteten Tageszeitungen. Doch nun zu den neuen Abenteuern:

30_Muensterischer Anzeiger_1938_09_21_Nr436_p6_Tobias-Groll_Berufsbildung_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Berufsbildung oder Kämpfen und Können (Münsterischer Anzeiger 1938, Nr. 436 v. 21. September, 6)

Schon in der ersten Folge sehen wir einen äußerlich gewandelten Tobias Groll: Schirm und Anzugsjacke waren weggefallen, wurden ersetzt durch ein schlecht sitzendes Arbeitshemd und eine Hose, beide unvorteilhaft für den übergewichtigen Griesgram, der den gängigen Idealbildern deutscher Kämpfer und nationalsozialistischer Aktivisten wahrlich nicht entsprach. Unser Held donnerte gleich los, konnte der Leserei des Lehrlings nichts abgewinnen. Doch anders als in der ersten Serie wurde Werkmeister Groll nun rasch überzeugt, ließ den Jungen gewähren, verstand seine eigenen Defizite, ging in die Betriebsbücherei und arbeitete an sich – in trauter Gemeinschaft mit dem ehedem getadelten Lehrling, der den Sinn des Leistungskampfes schon früher verstanden hatte. Die Konversion des Griesgrams erfolgte in den neuen Abenteuern schneller, das Abwägen wurde vermehrt durch rasches Begreifen und Folgsamkeit ersetzt.

Da Berufsbildung bis heute eine mit massivem Ressourceneinsatz verbundene Gemeinschaftsaufgabe von Staat, Wirtschaft und Individuum ist, gilt es den NS-Kontext der Bildgeschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Berufsbildung stand damals im Spannungsgefüge einer vermeintlich „liberalistischen“ Vergangenheit und der nationalsozialistischen Gegenwart. Erstere sei durch „selbstsüchtige Wünsche“ nach raschem Fortkommen und Reichtum geprägt gewesen, letztere berücksichtige auch „die höheren und höchsten Interessen des Volkes“. Egoisten hätten materialistische Gruppenbildungen, etwa von Gewerkschaften, vorangetrieben, während nun „das Wohl und das Leben der Volksgemeinschaft einzige Richtschnur für das Handeln des einzelnen“ sei (Zitate aus Der Angestellte und die Wirtschaft, Vestische Neueste Nachrichten 1934, Nr. 300 v. 31. Oktober, 3). Derartiges Wortgeklingel unterschlug, dass just während der NS-Zeit viele Facharbeiter gezielt in ihren sozialen Aufstieg investierten und sich ihnen insbesondere nach Beginn des Vierjahresplans neue Chancen in Betrieben und der Wehrmacht eröffneten. Volksgemeinschaftsrabulistik konnte die erodierenden Solidaritätsstrukturen innerhalb der Milieus nicht ansatzweise substituieren. Erfolgreiche Fernunterrichtsangebote wie etwa des Rustinschen Lehrinstituts in Potsdam, des Konstanzer Christiani-Fernunterrichts oder der Berliner Fernunterrichts-Gesellschaft bewarben „den Weg nach Oben“ und ließen eine Berufsbildung für das völkische Ganze zur Feiertagsphrase verkommen – mochte beide Wege für die expansiven Ziele des Regimes auch dienlich gewesen sein.

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Kleiner Betriebsknigge: Der Ton macht die Musik (Herner Zeitung 1938, Nr. 222 v. 22. September, 4)

Das NS-Regime propagierte offiziell einen respektablen Umgang der Volksgenossen untereinander, kernig und versöhnlich, direkt und auf Gemeinsames zielend. Das stand quer zum generellen Ton dieser Zeit, der schon aufgrund der hierarchischen Strukturen eines „Führersystems“ und dem Ausgrenzungs- und Vernichtungswillen gegenüber allem nicht „Arteigenen“ gänzlich anders klang. Das spiegelte sich etwa in der Tätigkeitsbeschreibungen der sozialen Ehrengerichte, die offenkundige Verstöße gegen den undefinierten Betriebsknigge sanktionierten. Sie sanktionierten „asoziale Gesinnung, […] Mißbrauch der Machstellung, […] versteckte Böswilligkeit, […] Mißachtung und sozialen[n] Unverstand.“ Die vielbeschworenen gekränkten Leberwürste sollten dort aber ebenfalls kein Forum erhalten: „Der viel belächelte Kommißton sei keine Kränkung der Soldatenehre, und auch der Arbeiter schätze eine kernige Sprache, den rauhen aber herzlichen Ton, während ihm Leisetreterei und doppelzüngige Ironie verhaßt sei.“ Im Betrieb ging es normativ um eine richtige soziale Gesinnung, um Taktgefühl angesichts von Kränkungen und kleineren Pflichtwidrigkeiten (Zitate aus Soziale Ehrengerichtsbarkeit als Erziehungsinstrument, National-Zeitung 1936, Nr. 129 v. 5. Juni, 8). Der kleine Betriebsknigge zielte auf wechselseitige Achtung. Soweit folgte er dem Vorbild des Freiherrn Adolph von Knigge (1752-1796). Dessen 1788 erschienenes Hauptwerk „Ueber den Umgang mit Menschen“ war allerdings eine Handreichung für den höflichen Umgang ständisch unterschiedlicher Menschen. Benimmregeln in einer Volksgemeinschaft der nominell Gleichen konnten daraus nur bedingt abgeleitet werden.

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Die Betriebsbrause: Hygienepflicht und Unfallschutz (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 229 v. 1. Oktober, 6)

Waschgelegenheiten waren seit dem späten 19. Jahrhundert eine von Sozialreformern und Arbeitervertretern beharrlich eingeforderte Schutzmaßregel, um insbesondere im Umgang mit Staub, Glas, Metallen und Chemikalien Gesundheitsgefährdungen einzudämmen. Doch gerade in mittleren und kleineren Unternehmen waren sie meist unzureichend (von den Aborten ganz zu schweigen). Während der NS-Zeit wurde das Thema im Rahmen der Gesundheitsführung propagandistisch weiter aufgeladen, Vorzeigeeinrichtungen wie das 1935 von Daimler-Benz in Gaggenau erbaute „Haus der Gesundheit“ (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 128) illustrierten Notwendigkeit und Ideal zugleich. Tobias Groll war dennoch skeptisch gegenüber derartigen Neuerungen, die er erst schätzen lernte, als ein kleiner Unfall ihn an das Labsal der Reinigung erinnerte. Er fügte sich in sein Schicksal, auch wenn er scheinbar noch mit dem Dreck der alten Zeit gut hätte leben können.

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Urlaubsfahrt mit „Kraft durch Freude“ (Der Patriot 1938, Nr. 234 v. 7. Oktober, 7)

Die DAF zielte auf eine Kompletterfassung der arbeitenden Bevölkerung: „Die betriebliche Betreuung darf daher keinesfalls am Betriebstor enden“ (Hans Rasch, Pioniere der neuen Sozialordnung, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 3-4, hier 4). Entsprechend hoch war die nicht nur propagandistische Bedeutung der DAF-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, die breit gefächerte Freizeitaktivitäten anbot. Reisen und Wanderungen galten vornehmlich den deutschen Landen, doch propagandistisch wichtiger wurden die im Mai 1934, also lange vor Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe, mit gecharterten Passagierdampfern begonnenen Kreuzfahrten. Die kurzen Reisen nach Norwegen, insbesondere aber zum portugiesischen Madeira standen für den Traum einer erschwinglichen Fernreise, von Urlaub allgemein (Sascha Howind, Kraft durch Freude und die Illusion eines besseren Lebens. Sozialpropaganda im Dritten Reich 1933-1939, Phil. Diss. Hannover 2011 (Ms.), insb. 150-189). Als „deutsche Friedensflotte“ dienten die Schiffe auch außen- und bündnispolitischen Zwecken. Die Kiellegung und der Stapellauf der beiden für knapp 2000 Personen ausgelegten Dampfer „Wilhelm Gustloff“ und „Robert Ley“ wurden reichsweit zelebriert, sollten diese mit Einheitskabinen ausgestatteten Schiff doch Vorstellungen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft nähren. Nicht jeder konnte zudem mitfahren, politische Zuverlässigkeit war verpflichtend: „Die Fahrten ‚Kraft durch Freude‘ sind keine einfachen Vergnügungsfahrten, sondern einer der Wege der Verwirklichung des Gedankens nationalsozialistischer Volksgemeinschaft“ (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Wer sich in diesem Rahmen daneben benahm, konnte unmittelbar entlassen werden.

Trotz vergleichsweise hoher Kosten, die ebenso wie beim KdF-Wagen mit einer eigenen Reisesparkarte zusammengekratzt werden mussten, handelte es sich um ein gern genutztes Angebot – schon, weil die Zahl der Reisenden sehr überschaubar blieb. Tobias Grolls Ängste sind daher unglaubwürdig – im Gegensatz zu seinen grundsätzlich positiven Erfahrungen. Dagegen passte sein Glücksgefühl, denn der Poesiealbumspruch „Lebe glücklich, lebe froh, wie der Mops im Paletot“ reichten bis ins Kaiserreich zurück und stand – auch durch den 1933 veröffentlichen Foxtrott „Immer lustig, immer froh, wie der Mops im Paletot“ – für eine gewisse spießbürgerliche Häuslichkeit (Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung 1933, Nr. 26 v. 31. Januar, 8). Der Texter dürfte aber kaum an den Refrain „Denn die große Pleite kommt ja so wie so“ gedacht haben (Mittelrheinische Landeszeitung 1936, Nr. 118 v. 23. Mai, 14).

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Werkskapelle: Wir machen Musik – im Betrieb (Lippische Staatszeitung 1938, Nr. 287 v. 18. Oktober, 5)

Weniger bedeutsam waren die Werkskapellen, die es – anders als die noch zahlreichen Männergesangvereine – zumeist nur in Großbetrieben gab. Werkskapellen spielten zu besonderen Anlässen auf, gaben vereinzelt auch die in der Episode angesprochenen Mittagskonzerte (Die Bewegung 4, 1936, Nr. 40, 7). Sie standen für Frohsinn und Freude, gegen das „Heer von Tränenklößen und Lebensverneinern“ (Walter Krause, Der Weg zur Leistung. Wir brauchen Herrenmenschen, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 6, 3-4, hier 3). Das angetönte, aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Lied zielte mit seiner Hauptzeile „Waldeslust, Waldeslust, / o wie einsam schlägt die Brust“ direkt auf den im „Jammertal“ verharrenden Tobias Groll. Schunkelnd reihte er sich ein, mutierte zum passionierten Mitmarschierer.

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Betriebsarzt: Gesundheitsfürsorge und Expertenwissen (Wittener Tageblatt 1938, Nr. 304 v. 29. Dezember, 5)

Mit der sechsten Episode der neuen Abenteuer wurde eine weitere Facette der DAF-Arbeit vorgestellt, der Implementierung von Betriebsärzten auch durch das Amt für Volksgesundheit. Dessen Ziel war es, jeden „deutschen Menschen zu der auf Grund seines Erb- und Rassegutes überhaupt erreichbaren höchsten Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu führen und Gesundheit und Leistung bis ins höchste Alter zu erhalten“ (Die Deutsche Arbeitsfront, ihre Ämter und Leistungen. XV. Das Amt für Volksgesundheit, Illustrierter Beobachter 12, 1937, 949-950, hier 949). Dabei legte man besonderes Gewicht auf Frauen ab ca. 35, Männer ab 40-45 Jahren, der damaligen Zeitspanne nachlassender Arbeitskraft. Tobias Groll spürte diese vor allem aus wehrwirtschaftlichen Gründen bedrohlichen Entwicklung bereits am eigenen Leibe. Der Betriebsarzt empfahl, wie schon seine seit dem späten 19. Jahrhundert eingestellten Kollegen in den Berufsgenossenschaften und auch Großbetrieben, Ernährungsumstellung, vor allem aber den Verzicht auf Fett und Alkohol. Ob unser Held diese Ratschläge umgesetzt hat, ist nicht bekannt.

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Betriebskindergarten: Kinder als Zukunftsgaranten (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 309 v. 9. November, 8)

Die neuen Abenteuer des Tobias Groll spielten in einer reinen Männergesellschaft, obwohl die DAF auch für Frauen zuständig war – und die Erwerbstätigkeitsquote im Deutschen Reich vor dem Krieg europaweit relativ hoch lag. Frauenarbeit wurde nicht zuletzt durch den Vierjahresplan immer wichtiger, stand jedoch in Konflikt mit der pronatalistischen Politik des NS-Regimes. Betriebskindergärten erlaubten Kompromisse, die im Pathos der Zeit gleichsam hymnisch belobigt wurden: „Bewundernd blicken wir auf die Unmenge von Maßnahmen weitblickender und gesund denkender Betriebsführer, die darauf abzielen, bei der deutschen betriebstätigen Frau die Freude am Kinde zu wecken, die dem Zwecke dienen, die Zeit der Mutterwerdung zum größten und schönsten Erlebnis werden zu lassen, die eine verstärkte Menschenbetreuung darstellen und jede ernste Sorge der Schwangeren und Mutter nehmen“ (Hupfauer, Auszeichnung, 1938, 10). Tobias Groll teilte derartige Begeisterung nicht, verband Kinder mit Lärm und Störungen. Doch auch hier lernte er im Umgang mit den Kleinen andere Seiten seines Ichs kennen, folgte der Belehrung durch „Kindermund“ und wurde so neuerlich durch „Leistungskampf belehrt“.

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Rücksichtnahme: Tobias Groll als Helfer (Herner Zeitung 1938, Nr. 262 v. 8. November, 7)

Das NS-Regime war gnadenlos gegenüber den selbst definierten Feinden, doch der Vernichtungsfuror ging einher mit immer wieder eingeforderten und praktizierten Formen der Hege, des Respektes und der Höflichkeit. Daran wurde öffentlich immer wieder appelliert, im Mai 1942 initiierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) gar eine eigene Kampagne für mehr Höflichkeit, zumal in Berlin (Wer ist der höflichste Berliner?, Bremer Zeitung 1942, Nr. 124 v. 7. Mai, 6). Dies war Ausdruck nationalsozialistischer Moral, ebenso wie die Mutter- und Tierliebe (Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014). Kampf und Gewalt, Mord und Vernichtung standen in engem Zusammenhang zu diesem Tugendkatalog, zur Scheidekunst zwischen Lebens- und Liebenswerten einerseits, Unterdrückungs- und Vernichtungswertem anderseits. Entsprechend überrascht der neuerliche Schwenk der Reihe auf Umgangsformen innerhalb des Betriebes kaum. Die Betriebsgemeinschaft war rassistisch konnotiert, innerhalb half man auch Schwächeren und Älteren: „Einer beobachtet den anderen. Jeder hilft ohne Aufforderung, wenn er sieht oder auch nur empfindet, daß die Arbeit des andern durch seine Mithilfe – und häufig sind ja nur kleine Handreichungen erforderlich – gefördert wird“ („Kamerad wart, ich helfe dir!“, Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 319 v. 12. Juli, 3). Tobias Groll verkörperte dies, dämpfte seinem Unmut über den älteren Kollegen, überwand in gar. Fast könnte man eine Referenz an den alttestamentarischen alten Tobias sehen, der auch in der assyrischen Gefangenschaft an seiner Treue zu Gott festhielt, der sich durch Nächstenliebe und Almosen auszeichnete. Doch dieser Tobias war ein Jude – und Tobias Groll hätte dann wohl seine andere Seite gezeigt.

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Theaterbesuch: Kultur als Ressource (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 270 v. 19. November, 13)

Groll selbst war ein einsamer, in sich gekehrter Mann, der trotz ärztlicher Mahnungen immer wieder dem Alkohol zusprach. Die Angebote der Kraft durch Freude-Organisation verschmähte er, selbst wenn es um einen verbilligten Theaterabend ging. Doch auch in diesem Falle lernte Groll hinzu, schämte sich seines Katers, seiner selbst gewählten Isolation. Gemeinsam mit anderen setzte er dann doch auf einen freudigen Theaterabend. Robert Ley hätte dies anders gefasst: „Gebt dem Volke einen wahrhaften Feierabend, aus dessen Jungbronnen [sic!] es neu emporsteigen kann, und man wird die höchste Leistung von diesem Volke verlangen können“ (Der Schulungsbrief 5, 1938, 2. S. n. 276). Theaterbesuche waren Teil des Leistungskampfes.

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Kraft durch Freude-Wart: Mitgestalten statt Meckern (Wittener Tageblatt 1939, Nr. 44 v. 21. Februar, 5)

Auch die zweite Tobias Groll-Comicserie endete in anderem Ton, präsentierte einen gewandelten und geläuterten Helden. Er, der ewig Griesgram und Meckerer, ging ohne Anlass, aus innerem Antrieb gegen Kollegen vor, die wie einst er selbst meckerten um des Meckerns willens. Zuvor hatte er sich endlich auch formal eingereiht, hatte das Amt des KdF-Wartes übernommen, war damit zuständig für die betrieblichen Freizeitangebote der DAF. „Eifer, Saft und Kraft“ waren an die Stelle seines früheren Missmutes getreten. „Heiter“ und licht würde die gemeinsame Zukunft sein, die Errungenschaften des Leistungskampfes würde er mit ausbauen helfen. Tobias Groll marschierte mit, hatte endlich seinen Platz gefunden, im Gefolge seines Betriebsführers Leitungsaufgaben übernommen. Das freute auch die Initiatoren des Leistungskampfes, die diese Neumenschwerdung immer beabsichtigt hatten: „Kraft durch Freude soll mithelfen, den Begriff des Proleten zu überwinden und aus dem deutschen Arbeiter eine unbekümmerte und stolze Herrennatur zu machen“ (Ein stolzer Rechenschaftsbericht der DAF, Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9).

Auf Dauer gestellter Leistungskampf

Mit diesem nationalsozialistischen Happyend könnte man schließen. Comicheld Tobias Groll hatte den Kampf gegen seinen Missmut, seine Indifferenz gewonnen, würde seinen Beitrag zum Leistungskampf der deutschen Betriebe leisten. 164.239 Betriebe mit ca. vier Millionen Beschäftigten hatten teilgenommen. Sie folgten aus Überzeugung und Opportunität, folgten ihren eigenen, sich vielfach im NS-Regime widerspiegelnden Interessen. Am Ende stand Belobigung, teils in Form von Urkunden und Fahnen, teils aber auch nur in Form gemeinsamen Bemühens. Die Teilnehmer bewährten sich vor Ort, im kleinen Leben. Die Comicserie Tobias Groll bot hierfür eine Deutungsvorlage, mochte sie den zeithistorischen Kontext auch großenteils ausblenden. Das dürfte nicht allen Teilnehmern gelungen sein. Doch die DAF hatte – wie auch die NSDAP – eine Kultur der schaffenden Überbietung in Gang gesetzt: „Das Herz, auch es bedarf des Überflusses, / Genug kann nie und nimmermehr genügen“ (Conrad Ferdinand Meyer, Gedichte, Leipzig 1882, 3).

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NS-Kader unter sich: Vergabe von Gaudiplomen im Gau Weser-Ems 1939 (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9)

Ende April 1939 wurden 2.165 Gaudiplome verliehen und 1.251 Leistungsabzeichen (Zeno-Zeitung 1939, Nr. 119 v. 30. April, 3). In der Reichskanzlei verlieh Herr Hitler 202 Goldene Fahnen, zu den im Jahr zuvor verliehenen 103 Auszeichnungen traten 99 neue (National-Zeitung 1939, Nr. 101 v. 1. Mai, 4). Hupfauer sprach Eröffnungsworte, las die Namen der ausgezeichneten Betriebe vor. Der Reichskanzler schüttelte anschließend jedem Betriebsführer oder -obmann die Hände, der Vierjahresplanbeauftragte Hermann Göring (1893-1946) und Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) reihten sich ein, Ley beglückwünschte und verteilte die zugehörigen Urkunden (Oberbergischer Bote 1939, Nr. 101 v. 2. Mai, 5). Danach eröffnete Hitler den 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe 1939/40. Er sollte der erste Kriegsleistungskampf werden.

Parallel hatten die Oberen Bilanz gezogen, im Detail, mit langen Listen aller Einzelmaßnahmen. Man sprach von „Durchbruchsschlachten für die Arbeitshöchstleistungen der Nation“, von einem in „seiner Bedeutung überhaupt noch nicht abschätzbaren revolutionären Beitrag zur politischen Freiheit der Nation“ (E.G. Dickmann, Der 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 8, 4-5, hier 4). Wichtiger noch war, dass der Leistungskampf auf Dauer gestellt wurde. Reichsorganisationsleiter Robert Ley verkündete: „Das ist erst ein Anfang unseres Beginnens! Ich erwarte, daß die Teilnahme an dem neuen Leistungskampf der deutschen Betriebe […] sich verdoppelt und verdreifacht! Ich will nicht ruhen und nicht rasten, bis auch der letzte deutsche Betrieb – ganz gleich, welcher Größe und welcher Sparte – sich beteiligt“ (Volksblatt 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 9). Tobias Grolls Comicstrips war an ein Ende gekommen, das NS-Regime aber sah darin nur den Beginn kontinuierlicher Kämpferei.

Bevor diese neuerlich einsetzte hatte der evangelische Pfarrer, alte Kämpfer und Reichstagsabgeordnete Ludwig Münchmeyer (1885-1947) den Leistungskampf nochmals präzise benannt: „Der Einzelne ist nichts, die Gemeinschaft ist alles! Wenn einer an seinem Arbeitsplatze nicht voll und ganz seine Pflicht tut, schädigt er dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft. Er wird zum Verräter an seinen Kameraden, die auf seine Arbeitsleistung angewiesen sind, um auf ihrem Arbeitsgebiet schaffen zu können. […] Wir stehen alle als Soldaten der Arbeit in einer großen Front. Absichtlich ist die deutsche Arbeit zu einer großen Front zusammengeschweißt worden und wird es noch immer mehr werden. Auch der Schaffende im Zivilkleid ist Soldat, nämlich Soldat der Arbeit. […] Nicht mürrisch und gedrückt sollen wir unsere Arbeit verrichten, sondern mit Freude im Herzen. Wir wollen und können heute froh sein, daß wir im schönen Reiche Adolf Hitlers schaffen können. Mißgunst und Neid müssen aus den Betriebsgemeinschaften verschwinden. Alle müssen an einem Strang ziehen, um die beste Leistung für den Betrieb und damit für das große Ganze zu erreichen“ (Jevers Betriebsgemeinschaften zum Leistungskampf aufgerufen, Jeversches Wochenblatt 1939, Nr. 118 v. 23. Mai, 3). Parallel wurde die nationalsozialistische Betriebsgemeinschaft in güldenen Farben präsentiert und ausgemalt.

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Die schöne Propagandawelt der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft (Der Führer 1938, Nr. 118 v. 1. Mai, 1)

Darin, aber auch in den Comicserien über Tobias Grolls Abenteuer, fehlt das Entscheidende: Der kritische rückfragende Blick der Historie, das Aufbrechen des licht Präsentierten durch ergänzende Einschübe, durch erweiternde Empirie. Die Serie tilgte die Vergangenheit betrieblicher Sozialpolitik, zeichnete einen selbstbezüglichen Mann, der sich am Ende stets dem Kollektiv zuwandte, der schließlich selber tätig wurde. Sie spielte mit einer Zukunft voller Verheißungen, kitzelte den Glauben, nicht den Zweifel. Diesen zu nähren und zu artikulieren mag ermüdend sein, eine Sisyphusarbeit. Aber beharrlicher Zweifel ist das wichtigste Hilfsmittel gegen die Propaganda vergangener und heutiger Tage.

Uwe Spiekermann, 26. Oktober 2024

Familie Roth gegen die Nationalsozialisten: Ein sozialdemokratischer Comicstrip vor der Reichstagswahl im Juli 1932

Der heutige „Kampf gegen rechts“ ist modisch und kostenarm, richtet sich diffus gegen recht beliebige Gegner. Das war in den frühen 1930er Jahren anders. Damals setzte sich die NSDAP als gewalttätige Schlägertruppe und parlamentarische Opposition in einem handfesten Bürgerkrieg soweit durch, dass ihre Regierungsbeteiligung erst auf Kommunal- und Landes-, 1933 dann auch auf Reichsebene für ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner opportun schien. Die historische Forschung hat den Zerfall der Weimarer Republik seit den 1950er Jahren detailliert untersucht, galt es doch einem neuerlichen Rückfall in die Barbarei zu entgehen, aus der totalitären Erfahrung zu lernen. Die Alltagsgeschichte war dann in den 1980er Jahren ein wichtiges Scharnier um nunmehr auch die nationalsozialistische Gesellschaft genauer auszuloten, parallel die Verfolgung und Diskriminierung zahlreicher „Gemeinschaftsfremder“ nachzuzeichnen. Judenverfolgung und Judenmord entwickelten sich in der Folge auch hierzulande zu einem dominanten Untersuchungsfeld – und zugleich gewann die (europäische) Herrschaftsgeschichte von NS-Regime und Wehrmacht an Bedeutung, gefolgt von einer breit gefächerten Täterforschung. Im Hintergrund sachlicher Analyse wabert allerdings eine Erinnerungskultur, die vornehmlich der wohligen Selbstverortung dient, kaum mehr der schmerzhaften historischen Rückfrage. Der Aufstieg des Nationalsozialismus geriet bei alledem zunehmend aus dem Blick, denn dieser war gesetzt, schien erforscht und erklärt. Damit wurde auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor 1933 aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet. Dieser „Kampf gegen rechts“ scheiterte – und die Gründe lagen nicht nur bei Nationalsozialisten, Nationalisten und Konservativen.

Die folgende Analyse eines an sich unbedeutenden Comicstrips der Eisernen Front kann vielleicht daran erinnern, dass die Deutschen 1932 durchaus noch eine Wahl hatten – und dass demokratische Kräfte mit modernen visuellen Methoden versuchten, der Dominanz der NS-Bewegung etwas entgegenzustellen. Die imaginäre Familie Roth zeigte im Juni und Juli 1932 Handlungsmöglichkeiten auf, wie man der NSDAP im Alltag, in kleiner Münze, entgegentreten konnte. Sie war Teil weit umfangreicherer Bestrebungen, mit denen die Sozialdemokratie für die freiheitliche Republik während des Reichstagswahlkampfes im Sommer 1932 eintrat. Sie scheiterten, gewiss. Doch als Zeugnis selbstbewussten Gegenhaltens haben sie vielleicht mehr als historiographische Bedeutung.

Lernen von der NSDAP? Sozialdemokratische Debatten über politische Propaganda

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Folge 1: Eine sozialdemokratische Musterfamilie stellt sich vor (Hamburger Echo 1932, Nr. 144 v. 16. Juni, 5)

Familie Roth war eine sozialdemokratische Vorzeigefamilie. Sie bot das Ideal engagierter Menschen, die sich für die SPD einsetzten und dazu offenbar über genügend Freizeit verfügten. Die Rollenverteilung war traditionell, Vater Karl Roth verdiente das Familieneinkommen im Baugewerbe. Frau Roth blieb vornamenlos, anders die drei Kinder Elise, Franz und Ernst, allesamt aktiv in einer vielgestaltigen Arbeiterjugendkultur, in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend oder im Arbeitersport. In der ersten Anzeige der Serie traten als sie als verschworene Einheit auf, als Familienkollektiv, bereit zum Einsatz für Partei und Republik.

Doch ehe wir ihren Spuren genauer folgen, gilt es innezuhalten. Warum machte sich Familie Roth Mitte Juni 1932 auf den Weg? Das Reihenbild, der Comicstrip markierte die Endphase der Präsidialkabinette, ein Atemholen vor der Machtzulassung der NSDAP durch die damals auf Reichsebene noch allein regierenden konservativ-nationalistischen Kräfte. Das Kabinett des früheren Zentrumsmitglieds Franz von Papen (1879-1969) war am 1. Juni 1932 ins Amt gesetzt worden, hatte die von der SPD unwillig tolerierte Regierung unter dem Zentrumskanzler Heinrich Brüning (1885-1870) abgelöst. Damit hatte die SPD ihre duldende Mitverantwortung für die Regierungspolitik verloren, stand nicht mehr für ein Notverordnungsregime, das die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise als Reinigungskrise verstand. Nach außen ging es der neuen Regierung um ein Ende des Versailler Friedensvertrages, zumal um ein Ende der immer noch beträchtlichen Reparationszahlungen und der Rüstungsbeschränkungen. Nach innen zielte das von dem im April 1932 für weitere sieben Jahre gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934) eingesetzte und gestützte „Kabinett der Barone“ auf ein Ende der parlamentarischen Republik, auf die Festigung eines autoritären Präsidialregimes, auf eine Reinigung des Deutschen Reiches von „Marxismus“, „Bolschewismus“ und „Gewerkschaftsmacht“. Auf diese doppelte „Reinigung“ zielte bereits die Regierung Brüning, auch wenn sie diese Ziele zurückhaltender kommunizierte. Gestützt vom Reichspräsidenten und ohne eigene parlamentarische Mehrheit stand sie für das Ende der Weimarer Republik als parlamentarische Demokratie. Sie war Ende März 1930 auf die Große Koalition unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller (1876-1931) gefolgt, die an dem symbolträchtigen, objektiv aber recht unwichtigen Thema der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung scheiterte. Der Reichstag verlor danach seine Entscheidungshoheit an den Reichspräsidenten. 1931 wurden 44 Notverordnungen erlassen, während der Reichstag lediglich 34 Gesetze verabschiedete. 1932 standen derer fünf sechzig Notverordnungen gegenüber. Das  war die Normalität eines autoritären Präsidialregimes jenseits parlamentarischer Mehrheiten (Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, 2. Aufl., München 2009; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2017, 280-296).

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Abgehalfterte Schreihälse: Widerhall auf Adolf Hitler 1928 (Der wahre Jacob 49, 1928, Nr. 24, 8 (l.); Jugend 33, 1928, 320)

All dies war begleitet von beträchtlichen Stimmengewinnen der NSDAP. Sie trat nach den Reichstagswahlen im September 1930 ins Zentrum der politischen Debatten. Die SPD hatte zuvor gewagt, die erste Notverordnung der Regierung Brüning im Reichstag abzulehnen. Die Auflösung des Parlaments erfolgte unmittelbar – just um die Mehrheitsverhältnisse zu Lasten der SPD umzukehren. Dennoch tolerierte diese nach den Wahlen die Minderheitsregierung, die wohl bewusst auf die staatspolitische Verantwortung der Sozialdemokraten setzte, die da waren, wenn es galt Schlimmeres zu verhindern. Das Schlimmere war eine Reichsregierung mit nationalsozialistischer Beteiligung, gar Führung. Seit 1929 hatten sich Vertreter der demokratischen Linken mit der NSDAP genauer beschäftigt, wollten sie von der Exekutive fernhalten.

Lange bevor Familie Roth im Sommer 1932 auftrat, hatten die Nationalsozialisten bereits beachtliche Wahlerfolge erzielt. Stimmengewinne gab es 1929 etwa in Mecklenburg, Sachsen, in Coburg und – natürlich – an den Universitäten. Heinz Pol (1901-1972), damals Filmredakteur der Vossischen Zeitung, sah darin Vorboten für eine „Partei der Masse“. Sie verband primitives Aufputschen mit einem idealistischen Programm. Pol sah einen im Sinne der Partei ausgezeichnet arbeitenden Presseapparat, verstand den Parteivorsitzenden Adolf Hitler (1889-1945) als genialen Organisator. Zugleich fabulierte er über die Finanzierung der NSDAP durch die Industrie und eine Interessengemeinschaft mit den Deutschnationalen. Pols Fazit war realistisch: „Mit Achselzucken und ironischen Witzchen jedenfalls ist dieses Wiedererstarken nicht aus der Welt zu schaffen“ (Heinz Pol, Die Nationalsozialisten, Die Weltbühne 25, 1929, T. II, 77-81, hier 77). Zu dieser Zeit hatte die SPD bereits eine Werbeabteilung eingerichtet, die Zeitungen und Zeitschriften analysierte, zudem Wahlkampfmaterial produzierte und vertrieb (Benno Nietzel, Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme, Berlin und Boston 2023, 43).

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Die Nationalsozialisten als Gewalttäter (Lübecker Volksbote 1929, Nr. 182 v. 7. August, 3 (l.); Der wahre Jacob 51, 1930, Nr. 19, 6)

Systematischer und grundsätzlicher war die Analyse eines der wenigen jungen Hoffnungsträger der SPD, Carl Mierendorff (1897-1943). Er wuchs in bürgerlichen Verhältnissen in Darmstadt auf, war promovierter Nationalökonom, stand fest zur Republik, hatte für Gewerkschaften und die Parteipresse gearbeitet, dann in der SPD-Reichstagsfraktion, ehe er 1928 Pressereferent des hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner (1890-1944) wurde. Ebenso wie Pol verstand Mierendorff die NSDAP-Wahlerfolge – nun auch in Sachsen, Thüringen und bei den Kommunalwahlen in Preußen und Hessen – im November 1929 als Konsequenz organisatorischer Innovation, „in der Geschlossenheit und Schlagfertigkeit der Parteimaschine, des Apparates. Was nun bisher keine andere Partei fertig bekommen hat: der Sozialdemokratie einen auch nur entfernt ebenbürtigen Organisationsmechanismus entgegenzustellen, ist den Nationalsozialisten heute zweifellos gelungen. Entsprechend der Kürze seiner Entstehungszeit ist dieser Apparat heute zwar immer noch lückenhaft, teilweise sogar völlig embryonal, auf jeden Fall noch nicht ausbalanciert und auch noch nicht kampferprobt. Aber das sind Mängel, die zunächst durch den Elan dieser Bewegung ausgeglichen werden dürften“ (Carl Mierendorff, Gesicht und Charakter der nationalsozialistischen Bewegung, Die Gesellschaft 7, 1930, 489-504, hier 493). Verweise auf eine Wiederkehr des politischen Radau-Antisemitismus der Vorkriegszeit seien daher irreführend, denn der NS-Erfolg läge in der „Verbindung zwischen Rassenressentiment und dem Ressentiment der sozialen Lage, zwischen ökonomischen Einzelinteressen und elementaren Haßgefühlen verschiedenster Art“ (Ebd., 494). Die Nazis würden an das Gefühl appellieren – und der sozialdemokratische Appell an die Vernunft sei daher nicht ausreichend. Die NSDAP sei eine akute Gefahr, weil sie gnadenlose Agitation und professionelle Organisation verbinde und die SPD in einer neuartigen Weise attackiere, die nicht mehr mit den tradierten Mitteln bekämpft werden könne.

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Abrechnung mit dem „System“: Selbstbeschwörung im völkischen Umfeld (Kladderadatsch 83, 1930, Nr. 43, s.p.)

Solche Stimmen waren Ausnahmen, obwohl es an Stellungnahmen zur NS-Bewegung zumal ab 1930 nicht mangelte. Doch gerade die „Linke“ war in einer ideologischen Engstirnigkeit befangen, die einer angemessenen Antwort abträglich war. Die Nationalsozialisten erschienen als brutale „Landplage“, geschützt von „rechten“ Richtern (Carl von Ossietzky, Hausdorf – Professor Waentigs Symbolik – Jornsprozeß – Der Fall Slang, Die Weltbühne 26, 1930, T. II, 77-80, hier 78). Plump griff man in die Mottenkiste der damaligen Faschismusdebatten, verglich mit Italien. Und natürlich nutzte man – nicht nur bei den Gläubigen der KPD – die Versatzstücke des historischen Materialismus, sah die NSDAP als Hilfstruppe des Monopolkapitals, verwechselte also soziale Folgen einer Gemeinschaftsideologie mit der Dynamik einer Bewegungspartei (K.L. Gerstorff [d.i. Fritz Sternberg], Die Chancen des deutschen Fascismus, Die Weltbühne 26, 1930, 296-300). Statt präzise zu analysieren beschimpfte man voller Wonne das politisch kollabierende Bürgertum und beschwor phrasenhaft die opferbereite Einheitsfront der Arbeiter (Carl v. Ossietzky, Vor Sonnenaufgang, Die Weltbühne 26, 1930, 425-427, hier 426). Denkfaul und selbstbezüglich ignorierte man die Unterschiede zwischen nationalistisch-konservativem und nationalsozialistischem „Faschismus“. An die Stelle intellektueller Anstrengungen setzte man Verschwörungstheorien: „Der Nationalsozialismus steht im Solde von Industriellen, die nach dem Grundsatz ‚Teile und herrsche‘ das Proletariat kunstreich in einander feindliche Heerhaufen zerlegen“ (Kurt Hiller, Warnung vor Koalitionen, Die Weltbühne 26, 1930, 466-470, hier 468). Angesichts des nahenden Zusammenbruchs des Kapitalismus plädierten Einzelne gar für die Regierungsbeteiligung, für ein NS-geführtes Kabinett. Das werde sich an den Problemen abarbeiten, scheitern und dann den Weg zum Sozialismus freimachen (Hanns-Erich Kaminski, Die Rechte soll regieren, Die Weltbühne 26, 1930, T. II, 470-473, hier 471). So blieb es 1930, 1931, 1932, während sich die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Krise verschärfte. Man wartete auf bessere Zeiten: Die Regierung Brüning bei der Bekämpfung der rapide wachsenden Arbeitslosigkeit und der Zahl der Insolvenzen; und die Sozialdemokraten auf den Zusammenbruch des kapitalistischen Systems, dem gesetzmäßig der Sozialismus folgen würde, der demokratische.

Wissenschaftliche Anregungen für den Wahlkampf

Familie Roth war nicht Teil solcher Debatten, war vielmehr Bestandteil der „Massen“, die nach Ansicht der Schreibtischagitatoren und Parteiführer letztlich nur das umsetzten, was man ihnen vorgab, was man von ihnen verlangte. Innerhalb der SPD war dies schon länger umstritten, die Abspaltung der Sozialistischen Arbeiterpartei im Oktober 1931 verdeutlichte dies. Entsprechend war es keineswegs Zufall, dass sich Karl Roth im zweiten Comicstreifen von der eigenen Funktionärskaste distanzierte, denn Genosse „Meckerviel“ stand für viele Bedenkenträger, die zwar die Gefahr des Nationalsozialismus sahen, die aber nicht aktiv dagegen vorgingen. Vater Roth war da aus anderem Holze geschnitzt, war ein Mitglied, das über die strategischen Debatten 1931/32 informiert war. Damals entstanden nämlich wissenschaftlich rückgebundene Antworten auf die Herausforderungen durch die NS-Bewegung.

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Folge 2: Kritik der trägen, dem Neuen nicht aufgeschlossenen Funktionäre (Volksblatt – Detmold 1931, Nr. 141 v. 18. Juni, 3)

Eine Neuorientierung der Wahlkampfagitation war innerhalb der SPD allerdings schwieriger als in anderen Parteien. Die Partei war von Anbeginn eine Bewegung für eine bessere Ausbildung, für eine nicht engführende, sondern sinnesweitende Bildung. Von den bürgerlichen Arbeiterbildungsvereine hatte man gelernt, hatte Besseres, Eigenes an deren Stelle gesetzt. Bildung war Emanzipation, Wissen war Macht: „Der Befreiungskampf der Arbeiterklasse ist von jeher mit geistigen Waffen geführt worden. Diese Waffen hat sie sich selbst geschmiedet, denn die herrschenden Gewalten haben sich ihrem Streben nach Licht und Aufklärung mit allen Mitteln widersetzt“ (Richard Weimann, Unsere Arbeiterbildung. Eine Bilanz, Vorwärts 1931, Nr. 12 v. 8. Januar, 5). Innerhalb der Partei hatte sich eine Funktionärselite etabliert, die teils über die Parteischule(n) gelernt hatte zu organisieren, sich öffentlich zu artikulieren, das Parteiprogramm in kleiner Münze und einfachen Parolen zu vermitteln. Sie stellte die Masse der Abgeordneten in Parlamenten, füllte Redakteursposten aus, wusste um die Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus. Doch all dies ging einher mit obskuren Vorstellungen von einer breiten „Masse“, die es zu schulen und anzuleiten galt. Die SPD-Funktionäre zielten auf eine rationale Erziehung der Mitglieder und der Wähler, sahen sich als Gralshüter einer intern immer wieder in harten Richtungskämpfen (ab-)geschliffenen Programmatik. Sie kultivierten ihr unter vielfach widrigen Rahmenbedingungen erworbenes Wissen. Wahlkämpfe waren demnach Bildungsanstrengungen, denn aufgeklärte Wähler würden SPD wählen. Entsprechend verstört und angeekelt waren sie durch das „dumpfe Bumbum“ der NS- (oder KPD-)Propagandapauke (Hermann Wendel, „Zerbrecher des Marxismus“ oder schlechter Trommler, Der Abend 1931, Nr. 18 v. 12. Januar, 5). Insbesondere Jüngere forderten dennoch ein Durchbrechen, ein Öffnen des eigenen, an sich beeindruckenden Presse- und Verlagswesens. Sie forderten „heraus aus dem Ghetto“ (K. Hartig, Kein Bildungssalat!, Vorwärts 1931, Nr. 36 v. 22. Januar, 5). Doch das war leichter gesagt als getan, denn dies ging immer auch mit einer Erosion des sozialdemokratischen Milieus und Lebenszuschnittes einher. Kampf gegen die NSDAP bedeutete immer auch ein Aufstechen der eigenen, selbstbezüglich wabernden Blase.

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Die NS-Propagandamaschinerie in Aktion – leicht verbrämt (Ulk 61, 1932, Nr. 3, 1)

Das war seitens der NSDAP anders, denn sie wollte ihr Milieu just erweitern, andere gewinnen und zerstören. Sie zielte auf Eroberung und Lenkung der Massen durch Propaganda. Deren Aufgabe, so ihr Vorsitzender, sei „nicht das Abwägen der verschiedenen Rechte, sondern das ausschließliche Betonen des einen eben durch sie zu vertretenden“ Standpunktes (Adolf Hitler, Mein Kampf, 172.-173. Aufl., München 1936, 200). Wahrheit sei nicht entscheidend, sondern Beharrlichkeit und Konzentration auf wenige zentrale Botschaften. Wie die alliierte Propaganda im Ersten Weltkrieg müsse man die „Primitivität der Empfindung der breiten Masse“ (Ebd., 201) ernst nehmen und bedienen. Die NSDAP verfügte mit dem 1920 offiziell eingeführten Hakenkreuz, der schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahne, den uniformierten Parteigruppierungen sowie dem visuell klar erkennbaren Vorsitzenden über wichtige Elemente eines erfolgreichen Marketings, eines Corporate Designs. Die zeitgenössische Werbeliteratur und Erkenntnis der Massenpsychologie wurden rezipiert, von der Parteienkonkurrenz unbefangen abgekupfert (Alexander Schug, Hitler als Designobjekt und Marke. Die Rezeption des Werbegedankens durch die NSDAP bis 1933/34, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte, Frankfurt a.M. und New York 2007, 325-345).

Diese Herausforderung, diese Potenzierung bekannter Mittel wurden als solche verstanden. Der sozialdemokratische Theoretiker und Journalist Alexander Schifrin (1901-1951) betonte nach den Septemberwahlen: „Das nationalsozialistische Plakat, die Zeitung und die Versammlungsrede haben ihre besonderen Züge, sie überraschen, verblüffen, hämmern ein. Diese Einwirkungsmittel werden mit einer in der politischen Geschichte Deutschlands unbekannten Intensität angewendet“ (Alexander Schifrin, Parteiprobleme nach den Wahlen, Die Gesellschaft 1930, T. 2, 395-412, hier 397-398). Die NS-Bewegung sei gewalttätig, ziele aber zugleich auf die Eroberung parlamentarischer Macht. Dies erfordere eine „Ueberprüfung der Methoden des Kampfes um die Massen“, eine „Steigerung der politischen Leistung“ und „die große und ehrenvolle Kunst der Werbung um die menschlichen Seelen“ (Ebd., 401, 411). Doch auch Schifrin setzte auf eine Intensivierung der eigenen Arbeit, also auf ein Weiter so. Mitte 1931 sah er den Kulminationspunkt der NSDAP überschritten, fabulierte von der „endgültigen Liquidierung der Gegenrevolution“ (Ders., Wandlungen des Abwehrkampfes, Die Gesellschaft 1931, T. 1, 394-417, hier 416). Und noch am Jahresende 1932 sah er in einer Regierungsbeteiligung der NSDAP eine „Rehabilitierung der deutschen Demokratie“, eine unwillige Akzeptanz ihrer formalen Spielregeln (Ders., Krisenfazit und Kampfesperspektiven, Die Gesellschaft 1932, T. 2, 471-485, hier 480).

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Verfassungstag: Die Freiheit als Hauptfigur der deutschen Republik (Der wahre Jacob 48, 1927, Nr. 3, 2)

Karl Roth hätte dem wohl widersprochen. In der zweiten Folge des Comicstrips plädierte er für ein „Freiheitsopfer“, für Spenden im „Freiheitskampf“ der Sozialdemokratie. Das politische Flaggenwort „Freiheit“ war natürlich geborgt, war Teil der liberalen und republikanischen Bewegungen des Vormärzes und der Revolution 1848/49. Während des Kaiserreichs zierte es die Namen linksliberaler Parteien. Sozialdemokraten dachten jedoch nicht vorrangig an Freizügigkeit, Staatsferne und freies Marktwalten. Freiheit hieß für sie, die kapitalistische Unterdrückung und Ausbeutung zu durchbrechen, eine Abkehr vom Joch des Marktes und entfremdeter Arbeit. Als solches gewann der Begriff während und nach der Revolution 1918/19 neues Gewicht, nicht umsonst war „Die Freiheit“ der Titel der USPD-Parteizeitung. Das Wandervogellied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ mutierte seit 1920 zu einer SPD-Hymne. Doch „Freiheit“ stand auch auf dem Banner der aufstrebenden NSDAP. „Der Freiheitskampf“ war eine seit 1930 erscheinende Dresdener NS-Tageszeitung. Der Bruch mit Versailles bedeutete Freiheit nach außen, der Kampf gegen links und den Parlamentarismus Gestaltungsfreiheit nach innen (Carl Mierendorff, Was ist der Nationalsozialismus. Zur Topographie des Faschismus in Deutschland, Neue Blätter für den Sozialismus 2, 1931, 149-154, hier 149). „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ wurden 1927 von den Nazis umgedichtet und gesungen. Auch die moskauhörige KPD beschwor „Freiheitskämpfer“, etwa in „Auf, auf zum Kampf“, einem 1919 umgedichteten Soldatenlied, das 1930 ebenfalls zum NS-Lied mutierte. Freiheit war umkämpft, war Teil eines politischen Ringens um Deutungshoheit. Für die SPD war es aber zugleich ein Ringen um den „demokratischen Volksstaat“, um Schutzrechte und freiheitswahrende Institutionen (Carl Mierendorff, Vom Ideal zur Wirklichkeit. Die Zielsetzung der sozialistischen Jugend, Kölnische Zeitung 1930, Nr. 702 v. 24. Dezember, 5).

Die Debatte über Freiheit spiegelte die Schwierigkeit, eingespielte und schön klingende Begriffe mit Inhalt zu füllen. Carl Mierendorff, Reichsbannermann und seit September Reichstagsabgeordneter, kritisierte 1930 beispielhaft eine Parteitagsrede des damaligen Führers der Sozialistischen Arbeiterjugend Erich Ollenhauer (1901-1961), der beredt vom „Sozialismus“ tönte: „Das Bekenntnis wird zur Phrase, wenn wir nicht sagen können, welchen Inhalt wir mit diesem Begriff verbinden“ (zit. n. Jugend und SPD, Opladener Zeitung 1931, Nr., 229 v. 1. Oktober, 11). Ebenso fehle im Bekenntnis zur Demokratie eine Antwort darauf, wie die offenkundigen „Lähmungs- und Entartungserscheinungen“ (Carl Mierendorff, Überwindung des Nationalsozialismus, Sozialistische Monatshefte 37, 1931, 225-229, hier 228) des Parlamentarismus reformiert werden könnten. Auch fehle eine politische Vision, für Mierendorff etwa eine krisenmindernde europäische, vor allem aber deutsch-französische Kooperation. Seitens der SPD müsse man zugleich den Herausforderungen der NSDAP etwas entgegensetzen – eine andere Form der öffentlichen Präsenz, eine andere Form des Wahlkampfes. Mierendorff nahm 1931 daher Kontakt mit dem Mikrobiologen Sergej Tschachotin (1883-1973) auf, einem Gastwissenschaftler am Heidelberger Institut für medizinische Forschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (Richard Albrecht, Sergej Tschachotin oder »Dreipfeil gegen Hakenkreuz«. Eine biographisch-historische Skizze, Exilforschung 4, 1983, 208-228, hier 216; es war nicht das damals noch nicht existierende Max-Planck-Institut, so Nietzel, 2023, 44. Zur Biographie s. Annette Vogt, Sergej Tschachotin an Albert Einstein im Dezember 1933 – ein Zeitdokument, Dahlemer Archivgespräche 12, 2006, 198-220, hier 199-206). Der aus Russland geflohene Menschewik hatte sein Denken an Zellkulturen entwickelt, es im Widerstand gegen Lenin und Stalin geschärft. Er propagierte einen recht simplen Behaviorismus, der in der Wirkungs- und Meinungsforschung dieser Zeit in vor allem in den USA fortentwickelte Stimulus-Response-Modelle mündete, sich aber von der „Reflexiologie“ seines Lehrers Ivan Petrovich Pavlov (1849-1936) deutlich abhob (Benjamin Diehl, Sergei Chakhotin against the Swastiaka: Mass Psychology and Scientific Organization in the Iron Front’s Three Arrows Campaign, Central European History, First View, 1-20 fällt insbesondere hier hinter den Forschungsstand zurück).

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Frühe Präsentation des Dreipfeils als aktivierendes Kampfzeichen (Das Reichsbanner 9, 1932, 97)

Die genaue Chronologie der Arbeiten Tschachotin ist unklar, doch sie dürften 1931 in gemeinsamen Gesprächen mit Mierendorff Form angenommen haben (zum zeitgenössischen Kontext s. Thymian Bussemer, Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version 1, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2013), http://docupedia.de/zg/Propaganda). Auszuschließen sind spätere Legenden, dass das neue Symbol der drei Pfeile entstand, als der Wissenschaftler Arbeiter in Heidelberg beim Durchstreichen von Hakenkreuzen beobachtet habe (Georg Maranz, Wie die Drei Pfeile entstanden, Arbeiter-Zeitung 1949, Nr. 89 v. 15. April, 5). Tschachotin legte seine Überlegungen jedenfalls in einem Aufsatz Anfang Mai 1932 näher dar, eine gemeinsam mit Mierendorff verfasste reich illustrierte Broschüre folgte Mitte Juli (Grundlagen und Formen politischer Propaganda, Magdeburg 1932). In seinem Artikel ging er von einer allgemeinen Krise der „Wahrhaftigkeit“, einer Verdrängung des Logischen durch das „Gefühlsmäßige“ aus (Sergey Tschachotin, Die Technik der politischen Propaganda, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 425-431, hier 425). Die NSDAP habe das erkannt, entsprechend werbe sie, betreibe Einschüchterung. Dem dienten nicht nur die Aufmärsche der SA, sondern vornehmlich die Allgegenwart des Hakenkreuzes im öffentlichen Raum. Die implizite Botschaft sei, dass das Dritte Reich kommen würde. Moderne Wählerwerbung könne daher nicht mehr länger auf Flugblätter mit langen Texten oder veraltete Plakate setzen. Der Kampf um den öffentlichen Raum sei entbrannt. Dazu diene die neue Symbolik der drei Pfeile. Sie zeige die Dynamik des Kampfes, erinnere an die Kampfgemeinschaft der Arbeiterschaft. Die drei Pfeile ständen für Aktivität, Disziplin und Einigkeit, forderten diese aber auch ein. Aufmärsche und Massenveranstaltungen sollten von ihnen geprägt sein, rote bepfeilte Fahnen sie stolz zeigen. Doch der Dreipfeil erlaube auch direkte Aktionen gegen die Hakenkreuzpräsenz. Das NS-Zeichen sei möglichst durchweg mit den Pfeilen durchzustreichen. Das sei positiver Abwehrwille, der zugleich Zuversicht schüre: „Das Dritte Reich kommt nicht, weil wir es nicht zulassen“ (Ebd., 427). Aufmärsche und Versammlungen würden dieses bestärken, gäbe es dort direkte Kommunikation zwischen Rednern und Masse. Eigener Kampfeswillen und Siegesgewissheit würden die Gegenseite schwächen, müssten allerdings systematisch eingesetzt und auch organisiert werden. Dazu forderte Tschachotin professionelle Personalapparate, Dokumentationspflicht, Kontrollen und regelmäßige Erfolgskontrollen. Zugleich warnte er, dass ohne eine „fortreißende neue politische Idee“ (Ebd., 430) die neuen Formen allein nicht ausreichen würden.

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Aufladung eines Symbols: Bedeutungen der drei Pfeile (Das Reichsbanner 9, 1932, 97)

Dieses Spiel mit der Massenseele, mit dem Gefühlhaushalt der eigenen Anhänger war rational, gelte es doch, so Tschachotin in einem Brief an Albert Einstein (1879-1955) vom 28. Dezember 1933, „die Arbeitermassen aus der Sackgasse zu holen und sie in Reih‘ und Glied gegen die wachsende Gefahr aufzustellen“ (Vogt, 2006, 208; vgl. Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005, 323-325 und kritisch hierzu Nietzel, 2023, 45). Die Familie Roth handelte aus seiner Sicht nicht selbstbestimmt, sondern war ein quasi fremdgesteuerter Teil einer Mission überlegenen Geistes. Selbst nach der Machtzulassung der NSDAP ließ der Exilant davon nicht ab: „wir können heraus aus der Sackgasse, aus der Gefahr, aber nur mit Hilfe der Wissenschaft: wir Wissenschaftler können heute die Welt retten, das ist ja auch einer Ihrer Gedanken, das Unglück der Welt ist, dass die Wissenschaftler sich in ihre Studierstuben verkrochen haben und die Welt von Ignoranten, von Journalisten, Rechtsanwälten und Abenteurern regiert und malträtiert wird“ (Ebd., 212). Wissenschaft als Reduktion von Komplexität…

Es ist offenkundig, dass Tschachotins Überlegungen nur in Kooperation mit einem pragmatischen und vermittlungsfähigen Mitstreiter wie Mierendorff Umsetzungschancen hatten. Erst seine Weitungen und Ergänzungen machten das Konzept handhabbar, erst er bettete dies in den sozialdemokratischen Wertehimmel ein: Drei Pfeile standen für drei Gruppen der Arbeiterbewegung, nämlich Gewerkschaften, SPD sowie das Reichsbanner und die assoziierten Arbeitersportler. Drei Pfeile bekämpften drei Gegner, die NSDAP, die Reaktion und die KPD. Drei Pfeile versinnbildlichten nicht nur Aktivität, Disziplin und Einigkeit, sondern auch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, zudem Kampfesbereitschaft, Treue und Siegesgewissheit. Auch Familie Roth – Vater, Mutter, Kinder – war nämlich mehr als ein Aktionsverbund mit bedingten Reflexen.

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Kritik seitens selbständiger Werbefachleuten (Seidels Reklame 16, 1932, 304)

Selbstverständlich stieß Tschachotins mechanistisches Konzept auf teils scharfe Kritik. Werbefachleute monierten vor allem die „abwärtszeigende Richtung der Pfeile“ (Heinz L. Bachmann, Psychologische Fundamentalfehler, Seidels Reklame 16, 1932, 304), die eben keine Zuversicht vermittelten, sondern negativ wirkten, entmutigten. Dabei unterschätzten sie allerdings die praktische Seite der drei Pfeile, die risikobereite Lust am Kampf mit den Symbolen der Nationalsozialisten. Wiederholt wurde von Jugendlichen berichtet, die Hakenkreuze malten, um sie dann mit dem Dreipfeil beharken zu können (Kristian Mennen, Selbstinszenierung im öffentlichen Raum. Katholische und sozialdemokratische Repertoirediskussionen um 1930, Münster et al. 2013, 124). Linkssozialisten mokierten sich derweil an der Verwendung von „Reklametechnik“ als Wegbereiter des Sozialismus (Die Rettung Deutschlands durch Reklame, Der Funke 1932, Nr. 175 v. 28. Juli, 3). Nicht das Nachäffen kapitalistischer Manipulationstechniken sei erforderlich, sondern die zielbewusste Aktion klassenbewusster Kader.

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Eine Publikation schon im Exil (S. Tschachotin, DREIPFEIL gegen HAKENKREUZ, Kopenhagen 1933, I, IV)

Innerhalb der SPD setzte sich die neue Symbolik nur langsam, unvollständig und gegen starke Widerstände insbesondere des Partei-Vorstandes durch. Er verlangte noch Mitte 1932 die Zurücknahme der vom Reichsbanner verlegten Broschüre „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“ (Vogt, 2006, 202). Das Symbolkampf-Konzept wurde dennoch parallel in der niederländischen Sozialdemokratie diskutiert und genutzt (Mennen, 2013, 122-124). Die Internationale Kommission zur Abwehr des Faschismus führte den Dreipfeil und den damit verbundenen Freiheitsgruß schließlich am 2. Oktober 1932 als internationales Kampfabzeichen gegen den Faschismus ein (Drei Pfeile als internationales Kampfzeichen, Lodzer Volkszeitung 1932, Nr. 276 v. 6. Oktober, 5).

Die Eiserne Front und Symbolpolitik: Proletarische Massen und neue Methoden

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Folge 3: Direkte Ansprache der Nachbarschaft (Leipziger Volksblatt 1932, Nr. 141 v. 18. Juni, 2)

Die neue Symbolpolitik erforderte vermehrten Einsatz – und Karl Roth war dazu bereit. Er überzeugte andere direkt, doch er agierte und agitierte nicht allein. Die wichtigste organisatorische Innovation der sozialdemokratischen Bewegung war die Gründung der Eisernen Front als Abwehr- und Angriffsinstitution am 16. Dezember 1931 (Sebastian Elsbach, Eiserne Front. Abwehrbündnis gegen Rechts [sic!] 1931 bis 1933, Wiesbaden 2022): „Wir werden unsere Kampfmethoden denen unserer Feinde anpassen: Auf dem Boden des gesetzlichen Rechtes, solange sie sich selbst legal betätigen, anderenfalls mit anderen Mitteln, werden wir die republikanische Verfassung, die sozialen Rechte und kulturellen Ziele der Arbeiterklasse und den europäischen Frieden verteidigen“ (Bereit zu jedem Kampfe!, Vorwärts 1931, Nr. 589 v. 17. Dezember, 1). Das war Ausdruck eines neuen Realismus, denn das 1924 gegründete Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war nicht mehr länger ein Koalitionsverband der Weimarer Parteien zum Schutz der Republik, war zudem vielerorts kein Gegengewicht mehr zu den paramilitärischen Verbänden der SA, des Stahlhelms und des Rotfrontkämpferbundes (Sebastian Elsbach, Schwarz-Rot-Gold – Das Reichsbanner im Kampf um die Weimarer Republik, Berlin 2023; Marcel Böhles, „Golden flackert die Flamme!“ Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in Baden und Württemberg 1924 bis 1933, Berlin 2024): „Eisern ist diese Zeit. Eisern sind die Weihnachten im Zeichen der Arbeitslosigkeit. Aber eisern schließt sich auch die Front der Werktätigen gegen Faschismus und Reaktion zusammen“ (Eiserne Weihnachten, Vorwärts 1931, Nr. 603 v. 25. Dezember, 1). Das schien notwendig – und war doch ein Beitrag zu einem Bürgerkrieg, der hierzulande größtenteils vergessen ist (Dirk Blasius, Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1933-1933, Frankfurt a.M. 2008, 9-21). Hunderte Tote, Pistolen-, Gewehr- und Messermorde, Attentate, Hinterhalte, zertretene Körper, Milzrisse, Knochenbrüche, Blutzeugen auf allen Seiten, stolz und zugleich aufpeitschend präsentiert. Kraftstrotzend prangende Körper, Fäuste und Hämmer, ein allseits beklagter, allseits geförderter Kult toxischer Männlichkeit. Bei den vielen arbeitslosen Kämpfern waren Wunden Substitute zum langsam aus der Mode kommenden akademischen Schmiss. Karl Roth agierte und agitierte jedoch anders, zivil, redete mit Menschen in seinem Umfeld. Comics als Abbild einer Welt des solidarischen Miteinanders.

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Die Wehrhaftigkeit der deutschen Republik (Das Reichsbanner 9, 1932, 360 (l.); ebd., 49)

Gegen die Eiserne Front wetterten nicht nur Nationale, Nationalsozialisten und Kommunisten, sondern auch viele „linke“ Propagandisten einer Arbeitereinheitsfront. Das war absurd angesichts des Kurses der KPD, die eine „sozialfaschistische“ Sozialdemokratie teils strikter bekämpfte als die Nationalsozialisten, mit denen sie beim Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft kurz vor der Reichstagswahl im November 1932 gemeinsame Sache machte. Gleichwohl waberte die „geschichtsbildende Kraft des Proletariats“ noch in den Köpfen umher, etwa dem des Thälmann-Propagandisten, NS-Opfers und Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky (1889-1938). Hellsichtig fragte er aber auch: „Was will eine eiserne Front gegen dies System der Abmachungen hinter gepolsterten Türen ausrichten? Was bedeuten Massenaufmärsche gegen diese trockene Fascisierung?“ (Carl von Ossietzky, Eiserne Front, Die Weltbühne 28, 1932, T. I, 41-43, hier 43) Er vermisste, ebenso wie viele Sozialdemokraten, ein politisches Konzept. Der Gewerkschafter Walther Pahl (1903-1969) begrüßte die Neugründung der Eisernen Front zwar als Schritt ins Freie, als Weitung der Partei zur Bewegung, begrüßte insbesondere die anvisierte Gründung sog. Hammerschaften in den Betrieben. Die „innere Entfremdung zwischen Partei und großen Volkskreisen“ könne jedoch nur mit klaren Zielen aufgebrochen werden, die eben nicht allein in der „Intensivierung der Agitation“ liegen könnten. Moralische Erneuerung wurde gefordert: „Der neue Geist erfordert eine neue Führung, die von neuen Menschen ausgeübt werden soll“ (Walther Pahl, Was bedeutet die Eiserne Front?, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 228-232, hier 232 resp. zuvor 231). Pahl unterstützte zugleich Bemühungen, den ADGB aus „Parteifesseln“ zu lösen, doch trotz Kooperationsbereitschaft 1933 musste er ins Exil gehen, um zurückgekehrt ab 1935 die nationalsozialistische Politik in zahlreichen Publikationen zu verteidigen und zu propagieren.

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Massenveranstaltungen der Eisernen Front Anfang 1932: Selbstvergewisserungen eigener Stärke in den Hochburgen Hamburg und Leipzig (Das Reichsbanner 9, 2932, 28 (l.); ebd., 52)

Die Eiserne Front begann mit öffentlichkeitswirksamen Massenveranstaltungen in ihren Hochburgen. Es ging um unübersteigbare Dämme, an denen sich die nationalsozialistische Welle brechen sollte, um das Abschütteln eines weit verbreiteten lähmenden Gefühls (Die Eiserne Front, Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 41). Propagandisten sprachen gleich davon, dass sich nun „feurige Kampfentschlossenheit, ein Draufgängertum und vor allen ein Schwinden des Mißbehagen zeigte, was auch sofort eine Steigerung der Intensität der politischen Technik zur Folge hatte“ (Wilhelm Ellenbogen, Wurzeln und Geisteshaltung des internationalen Faschismus, Der Kampf 25, 1932, 193-204, hier 204). In der Tat hatte die SPD spätestens 1930 zunehmend Mikrophone und Lautsprecher eingesetzt, um Massenveranstaltungen für die Besucher nachvollziehbar zu machen. Auch die Plakate waren moderner, konzentrierter, bildhaltiger geworden (Daniela Janusch, Die plakative Propaganda der Sozialdemokratischen Partei zu den Reichstagswahlen 1928-1932, Bochum 1989). Auf den Massenveranstaltungen nahm die Zahl der Transparente und Banner zu, neben die Fahnen der Einzelorganisation und dem schwarz-rot-goldenen Banner der Republik traten erstmals auch rote Fahnen mit den drei Pfeilen (Große Linkskundgebung in Bochum. General-Anzeiger für Dortmund und das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet 1932, Nr. 44 v. 13. Februar, 2). Musikkapellen spielten auf, die Disziplin der Kolonnen nahm zu, obwohl man in den Jahren zuvor doch eher auf fröhliche Stimmung gesetzt hatte, auf augenzwinkernden Volksfestcharakter. Der Parademarschtakt des wilhelminischen Heeres war schließlich verhasst.

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Anfängliche Dominanz des Hammersymbols, nicht des Dreipfeils (Der Abend 1931, Nr. 590 v. 17. Dezember, 1 (l.); Volksstimme – Magdeburg 1932, Nr. 83 v. 8. April, 3)

Dennoch blieb die Eiserne Front (wie auch vielfach die NSDAP) anfangs eine „Versammlungsbewegung“, verkörperte weiterhin die „sprachzentrierte Tradition der deutschen Kommunikation“ (Thomas Mergel, Wahlen, Wahlkämpfe und Demokratie, in: Nadine Rossol und Benjamin Ziemann (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Bonn 2022, 198-225, hier 212). Nicht der direkte Kampf stand im Mittelpunkt, sondern Saalschutz und die Organisation von Großereignissen. Die drei Pfeile wurden kaum genutzt, stattdessen dominierte anfangs der im Reichsbanner und im gewerkschaftlichen Umfeld weit verbreitete Hammer: „Hammerschlag ist Krieg und Frieden, ist Erlösung und Gewalt. Schlagt den Hammer auf den Jammer, schlagt den Hammer auf den Jammer, daß sich ändre diese Zeit“ (Max Barthel, Lied der Hammerschaften, Das Reichsbanner 9, 1932, 63).

Das galt auch noch für die erste Runde der Reichspräsidentenwahl 1932, in der die Eiserne Front die schwierige Aufgabe bewältigte, die sozialdemokratische Wählerschaft für den autoritären Hindenburg zu mobilisieren, um Hitler zu verhindern. Hinter den Kulissen tobten derweil jedoch die üblichen Ränkespiele, denn die Mitglieder der Eisernen Front wollten ihre jeweilige organisatorische Unabhängigkeit nicht aufgeben. Auch um die Finanzen wurde gerungen, denn die Gewerkschaften lieferten die größten finanziellen Beiträge, während die Mehrzahl der Gelder als Honorare und Spesen für sozialdemokratische Redner ausgegeben wurde (Wolfram Pyta, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989, 473-475). Die von Familie Roth betriebenen Geldsammlungen blieben davon unberührt.

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Einschüchterung des Gegners und aufmunternde Verse (Das Reichsbanner 9, 1932, 51 (l.); Volksstimme – Magdeburg 1932, Nr. 79 v. 4. April, 4)

Der relative Sieg Hindenburgs am 13. März beruhigte jedenfalls viele Bürger. Gleichwohl modifizierte die Eiserne Front ihre Wahlkampftaktik im Vorfeld des zweiten Wahlgangs. Die Demagogie der NSDAP hatte Eindruck gemacht: „Es war alles auf Schockwirkung berechnet wie bei dem ersten Masseneinsatz der Tanks im Weltkrieg“ (Der Friedensmarschall, Vossische Zeitung 1932, Nr. 125 v. 14. März, 1-2, hier 1). Die Eiserne Front setzte nun die drei Pfeile vermehrt aktiv ein, durchstrich in Hochburgen das Hakenkreuz an Häusern, Zäunen und Mauern, setzte Handzettel und Klischees gegen den NSDAP-Kandidaten ein (Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933, Berlin-West und Bonn 1987, 594-595). Bei einem Kandidaten wie Hindenburg fiel es leichter, sich auf die Ablehnung von Hitler (und Thälmann) zu konzentrieren.

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„Die Eisernen drei Pfeile jagen das Hakenkreuz in die Flucht“. Motiv einer Massendemonstration der Eisernen Front für Hindenburg in Magdeburg am 4. April 1932 (Das Reichsbanner 9, 1932, 116)

Dem begrenzten, von deutlichen Stimmengewinnen Hitlers begleiteten Sieg Hindenburgs am 10. April folgte Erleichterung – und kurz danach eine schwere Niederlage in Preußen am 24. April 1932. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von Otto Braun (1872-1955) blieb zwar geschäftsführend im Amt, doch im Parlament gab es nun eine negative Mehrheit aus NSDAP und KPD. Die wichtigste noch bestehende Machtbastion der Republik wankte, die Kontrolle über die Polizei stand in Frage. Während des Wahlkampfes hatte die SPD wahltechnisch kaum neue Akzente gesetzt: Ein späterer Bericht, wohl von Mierendorff, verwies auf Widerstand des früheren Reichsbannervorsitzenden Otto Hörsig (1874-1937): Die Symbolpolitik seit zu modern, zu gefährlich, verstoße gegen Polizeivorschriften. Sie könnte dazu führen, in der Öffentlichkeit falsch verstanden zu werden (Chakotin, 1940, 197). Hörsig besaß damals jedoch nur noch wenig Rückhalt in der Partei und wurde nach der Gründung der „Sozial-Republikanischen Partei Deutschlands“ im Juli aus der SPD und im September auch aus dem Reichsbanner ausgeschlossen. Doch auch ein Gespräch Mierendorffs mit dem zögerlich abwägenden SPD-Vorsitzenden Otto Wels (1873-1939) brachte keine Unterstützung für einen moderneren Symbolwahlkampf.

Carl Mierendorff forderte nach der Preußenwahl dennoch intensivere außerparlamentarische Aktivität. Gute Ansätze seien vorhanden, auch guter Wille – aber: „Der Kampf gegen den Nationalsozialismus ist nur zu gewinnen, wenn der sozialdemokratische Parteiapparat bis zum letzten Mann sich in seinen Methoden nicht nur scheinbar sondern tatsächlich modernisiert. Ohne Phantasie, ohne Geschlossenheit des Einsatzes ist im Ringen mit diesem Gegner keine durchschlagende Wirkung zu erzielen“ (Carl Mierendorff, Die volle Wahrheit, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 396-404, hier 401). Der systematische Einsatz neuer Wahlkampfmethoden wurde damit zur Machtfrage innerhalb der Sozialdemokratie. Die preußischen, aber auch die ebenfalls mit massiven Gewinnen der NSDAP endenden Landtagswahlen in Bayern, Württemberg, Hamburg und Anhalt hatten gezeigt, dass die Verluste gering waren, teils gar Gewinne erzielt werden konnten, wenn vor Ort ein intensiver Direktwahlkampf betrieben wurde (Walther Pahl, Die deutsche Situation nach den Länderwahlen, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 404-408, hier 406). Mierendorff setzte nun auf die Landtagswahl in seiner Heimat, dem Volksstaat Hessen. Er wurde zum ersten Test für einen modernen Wahlkampf auf Grundlage der neuen Symbole der Eisernen Front (Richard Albrecht, „Freunde – Greift ein!“ Carlo Mierendorff (1897-1943), Zeitgeschichte 51, 1992, 51-59, hier 55).

Hessen als Durchbruch?! Eine neue Kommunikationsstrategie für die Reichstagswahl im Juli 1932

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Folge 4: Solidarität der Facharbeiter (Volkswille 1932, Nr. 146 v. 24. Juni, 9)

Karl Roth wusste von diesem allen nichts, doch ihm war klar, dass die Nationalsozialisten nur durch die Solidarität seiner Mitbürger, seiner Kollegen zu bezwingen waren. Dafür sollte er bald Geld sammeln, treppauf – treppab, um die neue Maschinerie der Gegenwehr, des Angriffs in Gang zu setzen. Die Ereignisse im Volksstaat Hessen sollten ihn hoffnungsfroh stimmen.

Die schon erwähnten Wahlen erfolgten unter gänzlich anderen Vorzeichen als in anderen deutschen Ländern. Schon im November 1931 hatte es eine reguläre Wahl gegeben, die mit einem Erdrutschsieg der NSDAP und beträchtlichen Stimmengewinnen der KPD endete. Die sozialdemokratisch geführte Regierung von Bernhard Adelung (1876-1943) blieb trotz der negativen Mehrheit der Oppositionsparteien im Amt. Der Volksstaat war Rechtsnachfolger des 1918 aufgelösten Großherzogtums Hessens. Das Staatsgebiet deckte sich nicht mit dem des heutigen Bundeslandes Hessen, sondern bündelte Teile Süd-, Mittel- und Rheinhessens, bis 1930 teils französisch besetzt. Große Teile des heutigen Bundeslandes, inklusive der Metropole Frankfurt a.M., waren damals Teil der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Der Volksstaat war der einzige ununterbrochen von einer Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP regierte Freistaat. Die Landtagswahl 1931 musste aufgrund eines Formfehlers jedoch wiederholt werden. Der NSDAP und den Deutschnationalen fehlte nur ein Sitz, um die Regierungsgewalt zu übernehmen (Zur Hessenwahl, Bergsträßer Anzeigeblatt 1932, Nr. 140 v. 18. Juni, 1). Angesichts der Wahlerfolge in den Monaten zuvor schien dies ein Selbstläufer zu sein. Die Wahl am 19. Juni 1932 wurde dann von der Demission des Kabinetts Brüning am 30. Mai überschattet – und natürlich auch von der Ernennung des neuen Kabinetts von Papen am folgenden Tage. Landesthemen spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle (Die Hessen-Wahlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 141 v. 18. Juni, 1). Da die Beschäftigungs- und Konfessionsstruktur des Volksstaates in etwa dem Reichsdurchschnitt entsprach, wies die Landtagswahl weit über Hessen hinaus.

Die Berliner Parteizentrale ließ den hessischen Genossen freie Hand. Und diese griffen bei der nach dem Schiedsspruch des Staatsgerichtshofes am 9. Mai verordneten Neuwahl auf die Methoden zurück, die während des zweiten Reichspräsidentenwahl zaghaft, aber durchaus erfolgreich angewandt worden waren. Heidelberg, Tschachotins Wohnort, war damals ein Experimentierfeld gewesen (Chakotin, 1940). Der folgende Bericht hebt – gewiss nicht ohne Übertreibung – die wichtigsten Neuerungen hervor: „Die Eiserne Front hat mit äußerster Entschlossenheit den Kampf gegen die Hitlerei aufgenommen. In der richtigen Erkenntnis, daß erst einmal die Bevölkerung von dem Gefühl der Ueberlegenheit der Nazis befreit werden muß, hat sie eine planmäßige Symbolpropaganda organisiert. Dem Hakenkreuz setzt sie das Symbol der drei Pfeile entgegen. Wo nur ein Hakenkreuz zu sehen war, wurde es mit drei Pfeilen durchstrichen. Innerhalb kurzer Zeit gab es im ganzen Lande kein freies Hakenkreuz mehr, dafür aber zeugten allenthalben an Chausseebäumen, Hauswänden, Zäunen die drei Pfeile von der Aktivität, Disziplin und Einigkeit der Eisernen Front. Eine Welle des Selbstvertrauens durchflutet die Republikaner des Landes. Männer, Frauen und Kinder tragen mit Stolz die Nadel mit den drei Pfeilen. Innerhalb einer Woche sind nicht weniger als 30.000 dieser symbolischen Zeichen umgesetzt worden, und noch immer herrscht stürmische Nachfrage nach ihnen. Dieses Vertrauen in die eigne Kraft äußert sich auch in der Form des Grußes. Wo immer sich Menschen treffen, die das Symbol der eisernen Pfeile führen, wechseln sie mit emporgestreckten Fäusten den Gruß ‚Freiheit‘ und bekennen sich so offen zur Armee der Kämpfer für die Freiheit des Landes“ (K. Wiegner, Mit Höltermann im Hessenwahlkampf, Das Reichsbanner 9, 1932, 194). In den nicht allzu zahlreichen größeren Städten fanden Umzüge und Massenveranstaltungen statt, so etwa in Darmstadt: Die Passanten „waren nicht nur passive Zuschauer, sondern sie streckten den Marschierenden die emporgereckten Fäuste mit dem Gruß ‚Freiheit‘ entgegen, der in dem Zuge tausendfachen Widerhall fand. Die am Monument des ‚Langen Ludwig‘ versammelten Störungsgruppen der Nazis fühlten: Die Hitlerpsychose ist zu Ende. Ihr Versuch, die Spitzengruppe mit dem Bundesführer anzugreifen nahm ein klägliches Ende“ (Ebd.). Familie Roth stand just für diese Art des Wahlkampfes, schon vor dem hessischen Wahltag sollten ihre Bildgeschichten reichsweit erscheinen.

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Präsenz im hessischen Wahlkampf: „Eiserne Tafeln“ werben für die SPD (Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1)

Abseits derartiger Binnensicht schilderten Journalisten nuancenreicher: „Der Wahlkampf ist in den letzten Tagen immer mehr zu einem Kampf der Symbole geworden. Die beachtliche Initiative, die die Eiserne Front entfaltete, gibt dem Gesicht der Städte und Dörfer in starkem Maße das Gepräge. Ueberall wehen die roten Fahnen mit den drei weißen Pfeilen, das neue Symbol der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Ueberhaupt dominiert Rot, sei es das Rot des Hakenkreuzbanners, sei es das Rot der Sowjetfahne. Während in den großen hessischen Arbeiterwohnsitzgemeinden in der Umgebung der Großstädte Frankfurt, Offenbach, Darmstadt, Mainz die Fahne der Sozialdemokratie bei weitem stärker in Erscheinung treten als die Hakenkreuzbanner, werden die kleinen ländlichen vorwiegend aus Bauernbevölkerung bestehenden Gemeinden mehr von der nationalsozialistischen Parteiflagge beherrscht. Hier und da weht auch von einem kleinen Bauernhaus die schwarze Landvolkfahne mit dem Hakenkreuz auf weißen Grund. In diesem Flaggenkrieg treten die schwarz-rot-goldenen Farben des Reiches und die schwarz-weiß-roten Farben bürgerlich-konservativer Haltung stark in den Hintergrund“ (Fahrt durch das hessische Land, Frankfurter Zeitung 1932, Nr. 454 v. 20. Juni, 1-2). Resümierend glaubte man zu beobachten, „daß die Massenpsychose der Hitlerei mancherorts hier schon an Wirkung wieder eingebüßt hat“ (Die hessischen Landtagswähler, Frankfurter Zeitung 1932, Nr. 455/456 v. 21. Juni, 2).

Das engagierte und neuartige Auftreten der Anhänger der Eisernen Front machte Eindruck selbst beim politischen Gegner. Joseph Goebbels (1897-1945) berichtete: „In Lauterbach ist der ganze Marktplatz überfüllt. Ein paar rote Schreier haben sich im Hintergrunde der Demonstration aufgestellte und brüllen den ganzen Eindruck weg. Unsere dortige Ortsgruppe ist von einer bemerkenswerten Schlappheit. […] In Langen endet die Versammlung mit einer Prügelei. […] Bei der Durchfahrt durch Meerfelden wird unser Wagen von einem Steinbomdardement zugedeckt. In Groß-Gerau gab es eine wunderbare Versammlung. Auf der Rückfahrt durchqueren wir 20 Minuten lang rote Demonstrationszüge. Zwar schreien alle ‚Nieder!‘ aber keiner erkennt uns. Vielleicht ist das unser Glück“ (Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, München 1934, 113).

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Parallel zum Erscheinen von Familie Roth: Anleitung zum Wahlkampf (Das Reichsbanner 9, 1932, 232)

Wahlkämpfe zu führen ist etwas anderes als Wahlergebnisse zu nutzen. Entsprechend war Carl Mierendorff nicht nur rastlos vor Ort tätig, sondern beschrieb in mehreren Artikeln einerseits den Wahlkampf selbst, versuchte aber anderseits diese, seine Prinzipien nun auch innerhalb der gesamten SPD zu verankern: Man müsse heran an die Mehrzahl der Wähler, die politisch Inaktiven, die mit den gängigen Hilfsmitteln nicht erreicht würden. Man müsse daher Symbol, Ruf und Gruß der Nationalsozialisten, also das Hakenkreuz, „Heil Hitler“ resp. „Deutschland erwache“ und den römischen Gruß in ihrer Wirkung begrenzen. „Mit Freiheits-Ruf, Freiheits-Gruß und dem Freiheits-Zeichen der Eisernen Front sind wir zum Angriff übergegangen.“ Diese neuen Symbole müssten allerdings überall angebracht, von allen Mitkämpfern ständig getragen und auch Ruf und Gruß bei jeder Gelegenheit genutzt werden: „Das Geheimnis des Erfolges in der modernen Propaganda besteht in der ständigen Wiederholung. Unsere Kampfeslosung ‚Freiheit!‘ muß den Massen deshalb ständig eingehämmert werden! Unser Symbol ihnen ständig vor Augen geführt werden!“ Das sei möglich, wenn die SPD ihre überlegene Massenorganisation geschlossen einsetze. Daneben sollten wuchtige „Kundgebungen unter freiem Himmel“ durchgeführt werden, just um Indifferente zu gewinnen. All dies sei keine Kopie der NS-Propaganda, denn diese stehe in den Fußstapfen der Sozialdemokratie, habe deren rote Fahne, deren rote Nelke, deren rote Krawatten, deren Bebel-Bärte und deren einheitliche Kleidung abgekupfert. Die neuen Methoden knüpften daran an, seien jedoch Resultate moderner Wissenschaft (Carl Mierendorff, Die neuen Waffen. Die Bedeutung der neuen Propaganda im Wahlkampf, Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 165 v. 16. Juli, 9; analog Volkswacht – Bielefeld 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 4 und viele andere Druckorte).

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Hoffen auf neue Propagandaformen: Berichte über den Hessen-Wahlkampf (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 139 v. 16. Juni, 3)

Unmittelbar nach der Wahl meldete Mierendorff auf der Titelseite der Parteizeitung „Vorwärts“ „Symbolpropaganda und Außenpropaganda“ hätten den Unterschied gemacht. „Planmäßige Massenorganisation hat ihre Ueberlegenheit über wilden, faschistischen Massenwahnsinn erwiesen. Wir sind stolz, daß wir der Partei im Reich diesen guten Auftakt zur Reichstagswahl liefern konnten!“ (Carl Mierendorff, Die gute Hessenwahl. Der Bann ist gebrochen, Vorwärts 1932, Nr. 287 v. 21. Juni, 1-2, hier 1, 2). Es folgte ein berichtender und reflektierenden Aufsatz im Theorieorgan „Sozialistische Monatshefte“: „Erkenntnisse der psychologischen Wissenschaft liegen dieser neuen Propagandamethode zugrunde, exakte Berechnungen, die mit erstaunlicher Promptheit bei der praktischen Erprobung bestätigt wurden“ (Carl Mierendorff, Die Rettung Deutschlands, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 575-581, hier 577). Man könne wieder stolz sein, links und frei zu sein. Ein ähnlicher Erfolg sei auch bei der nach der Auflösung des Reichstages am 4. Juni auf den 31. Juli festgesetzten Reichstagswahlen möglich: „Jedoch wird dies nur gelingen, wenn man mit der selben Exaktheit und organisatorischen Präzision wie in Hessen zu Werk geht, wo das Geheimnis des Erfolgs darin bestand, daß die Durchführung der neuen Propagandamethode unter ständiger scharfer Kontrolle und im Rahmen einer bis zum letzten Propagandaleiter und Propagandastoßtrupp sorgfältig durchgeführten Organisation erfolgt ist, damit der einmal angekurbelte Motor während der Zeit des Wahlkampfes ständig auf der höchsten Tourenzahl blieb“ (Ebd., 577-578).

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Abwehrerfolg der geschäftsführenden SPD-Regierung (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 144 v. 22. Juni, 10 (l.); Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1)

Das Wahlergebnis war nicht ganz so glorios, doch es stimmte Sozialdemokraten hoffnungsfroh, nötigte auch Vertretern anderer Parteien Respekt ab (Die SPD. gewinnt bei den Landtagswahlen in Hessen, Volkswille – Münster 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1; Die Hessen-Wahlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1). Die NSDAP gewann deutlich hinzu, gewann Mandate ihrer Bündnispartner, blieb jedoch unter dem Ergebnis der zweiten Runde der Reichspräsidentenwahlen. Die Sozialdemokraten gewannen Stimmen und Mandate – just dort, wo sie am intensivsten Wahlkampf betrieben hatten. Am Ende stand neuerlich eine negative Mehrheit der Demokratiefeinde, doch die sozialdemokratisch geführte Regierung konnte im Amt bleiben. Sozialdemokratien sahen die „Hochwelle der nationalsozialistischen Flut“ im Abklingen, Nationalsozialisten ihre Partei „weiter im Vormarsch“ (Herner Anzeiger 1932, Nr. 141 v. 20. Juni, 1; Ohligser Anzeiger 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, 1). Unklar blieb, ob das Ergebnis wirklich auf „die neuen Waffen“ der Eisernen Front zurückzuführen war, denn auch die neue Oppositionsrolle im Reich und die Schwäche der hessischen Kommunisten schlugen durch (Keine Klärung, Gießener Anzeiger 1932, Nr. 142 v. 20. Juni, Frühausg., 1). Parteiintern blieb die „irrationalistische Propaganda“ zudem umstritten, denn dadurch würde die Eiserne Front „zur Vergiftung der politischen Kultur“ beitragen (Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918-1945, Bonn 2006, 326-328). Doch schon am 14. Juni hatte der Parteivorstand die SPD zur Führung des Symbolkampfes verpflichtet (Pyta, 1989, 479). Und Familie Roth begann nun offiziell ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Familie Roth: Mobilisierung für den Freiheitskampf

Der sozialdemokratische Comicstrip über die Familie Roth, von dem wir bereits vier Motive gesehen haben, bestand aus insgesamt fünfzehn Folgen. Er wurde allein in sozialdemokratischen Tageszeitungen veröffentlicht, nicht aber in der beträchtlichen Zahl von Gewerkschaftszeitungen. Neunzehn Titel wurden von mir durchgesehen, in sechzehn erschien die Geschichte der Familie Roth. Drei nicht ganz unwichtige Zeitungen setzten sie nicht ein, die Dresdner Volkszeitung, die Magdeburger Volksstimme und der Vorwärts. Angesichts der 1931 insgesamt 196 sozialdemokratischen Tageszeitungen (davon 71 Kopfblätter) sind die Ergebnisse tendenziell verlässlich (Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie für das Jahr 1931, Berlin s.a. [1932], 185). Das gilt zumal angesichts der nur in wenigen Ländern zufriedenstellenden Digitalisierung und der – mit Ausnahme des Vorwärts – desaströsen Digitalisierungsarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Veröffentlichung begann am 16. Juni 1932, setzte bei einigen Zeitungen aber auch erst in den folgenden Tagen ein, bei der Volkswacht für Schlesien erst am 29. Juni. Am 16. Juni wurde das SA- und SS-Verbot aufgehoben, doch das eigentliche Startzeichen der Serie war wohl die Entscheidung des SPD-Vorstandes für einen neuartigen Symbolkampf zwei Tage zuvor. Die Serie endete zumeist am 2. Juli, teils einige Tage später, im Falle der Volkswacht für Schlesien erst am 19. Juli. Derartig stetige Taktung erreichte spätere NS-Propaganda zumeist nicht, denn Serien wie Familie Pfundig, Herr und Frau Spießer oder Herr Bramsig und Frau Knöterich erschienen in von Zeitung zu Zeitung recht unterschiedlichen Zeitspannen. Ähnliche, man kann fast sagen, NS-typische Friktionen gab es bei späteren Comic-Kampagnen für Anzeigenwerbungen oder aber Zeitungsabonnements (Herr Hase-Kampagnen). Der Comicstrip der Familie erschien Tag für Tag, entsprach damit den gängigen Fortsetzungsromanen, auch den damals in sozialdemokratischen Zeitungen schon üblichen humoristischen Bildgeschichten. Als politischer Comicstrip aber bildete Familie Roth eine Innovation, war ein neuer Pfeil im Agitationsarsenal.

Familie Roth unterstützte den Wahlkampf der Eisernen Front. Die Serie diente der Mobilisierung der eigenen Mitglieder, zeigte auf, wie man gegen den Nationalsozialismus im kleinen Alltag tätig sein konnte. Familie Roth gab ein Beispiel, ihr Schwung und ihre Begeisterung sollten mitreißen. Der Comicstrip war Teil des neuen Symbolkampfes, für den die Familie Opfer, Freiheitsopfer brachte. Der Erscheinungszeitraum mehr als einen Monat vor der Reichstagswahl am 31. Juli war gut begründet, denn es galt erst einmal die eigene Wahlkampfkasse zu füllen, um die eigenen Möglichkeiten dann genauer abschätzen zu können. Doch es ging nicht nur und nicht vorrangig um Geldsammlung. Die Serie zielte auf eine Aktivierung der Mitglieder in einem neuartigen Wahlkampf, der nicht mehr allein aus Parteiversammlungen und dem Kleben von Plakaten bestand. Der in Hessen offenbar erfolgreiche Symbolkampf erforderte aktions-, ja kampfbereite Sozialdemokraten. Nicht proletarischer Heroismus war gefordert, sondern ein stetes, zielbewusstes Handeln. Mehr war immer möglich, doch es ging eben nicht um spektakulärere Abenteuer der Familie Roth, um einen gewitzten, streichartigen, gar mutigen Kampf mit Nazis und Reaktion. Jeder konnte nachahmen, jeder konnte etwas beitragen. Das war Teil einer erwartbaren Solidarität angesichts der Herausforderungen durch die NS-Bewegung und ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner.

Eine präzisere Einordnung des Comicstrips scheitert an einer praktisch nicht vorhandenen Resonanz. Die Serie wurde nicht gesondert eingeleitet, im Sozialdemokratischem Pressedienst (Pressedienste (fes.de)) findet sich auf sie kein Hinweis. Verweise oder Kommentare konnte ich ebenfalls nicht finden; entsprechend breit musste die Kontextualisierung sein, denn nur dadurch wurde die Bedeutung der Serie im Rahmen der sozialdemokratischen Wahlkampfplanung deutlich. Doch nun zu den weiteren Folgen:

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Folge 5: Sonderopfer der Arbeitslosen (Wittener Volkswacht 1932, Nr. 147 v. 25. Juni, 15)

Die fünfte Folge zeigt uns weiterhin Karl Roth beim Sammeln im eigenen Umfeld. Wichtig ist hieran dreierlei. Erstens wurde die Arbeitslosigkeit am Beispiel des Bauproleten „Heinz Mauerfest“ thematisiert. 1932 waren im Deutschen Reich durchschnittlich ca. 5,6 Millionen Menschen arbeitslos, fast ein Drittel der Beschäftigten. Die Dunkelziffer lag gewiss noch höher, denn eine wachsende Zahl von Arbeitslosen erhielt keine Leistungen resp. wurde nicht mehr erfasst. Im Baugewerbe lag die Arbeitslosenquote im Winter 1931/32 gar bei ca. 90 Prozent. Zweitens verzweifelte Heinz nicht, sondern blieb auch in der Not solidarisch mit seiner Klasse, gab etwas für seine Partei. Das war sicher auch ein Wink auf mögliche Abirrungen hin zur eigentlichen Arbeitslosenpartei, der KPD. Drittens spiegelte sich im Bild der Symbolkampf: Der Freiheitsgruß wurde gesprochen, die Geste der erhobenen und geballten Faust doppelte ihn. Es handelte sich dabei nicht um eine flüchtige Geste, sondern um ein Versprechen: Die Eiserne Front werde für bessere Verhältnisse kämpfen, werde Lohn und Brot politisch und wirtschaftlich sicherstellen. Heinz Mauerfest mochte arm sein, doch er war selbstbewusst, bewahrte seine Würde auch in der Not.

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Folge 6: Erweiterung der sozialen Basis: Der alte Mittelstand (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 148 v. 27. Juni, 6)

Karl Roth ließ sich bei seiner Sammeltour nicht von vielfach imaginären Klassengrenzen einhegen. Der noch solvente „Kaufmann Hürtig“ um die Ecke wurde ebenfalls angesprochen – und er gab sein Freiheitsopfer, war er doch vom Gedeihen und Einkommen seiner Kunden abhängig. Dies war außergewöhnlich, denn die Mehrzahl der selbstständigen Einzelhändler dürfte zu dieser Zeit „national“ oder NSDAP gewählt haben. Doch die neue Symbolpolitik stand eben nicht nur für die Behauptung des sozialdemokratischen Milieus, sondern zielte auf die Erweiterung der eigenen Wählerbasis.

Diese Folge lädt aber auch ein, den Begriff des von Karl Roth immer wieder erbetenen „Freiheitsopfers“ zu klären. Der Begriff hatte eine lang zurückreichende bürgerliche Tradition, handelte es sich doch um eine Ehrengabe, „eine Aufopferung, für die Freiheit gemacht“ (Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, T. 2, Braunschweig 1808, 160). Das war im 19. Jahrhundert weniger Geld, denn Leib und Leben. Die Märzgefallenen der Revolution von 1848 in Wien und Berlin waren „Freiheitsopfer“, für die gesammelt wurde. Ähnliches galt um die Jahrhundertwende aber auch für Auslandsdeutsche angesichts der Verteidigung ihres Deutschtums. Freiheitsopfer war ein selten verwandtes Wort, emotional besetzt, an weniger Betroffene, an Beisteuernde gerichtet. Während des „Ruhrkampfes“ 1923 zahlten etwa Mitglieder des Gewerkschaftsbundes der Angestellten ein „Freiheitsopfer“ für die von den „Franzosen“ geschädigten Kollegen (Grazer Volksblatt 1923, Nr. 22 v. 24. Januar, 2). Dieses Beispiel machte zeitweilig Schule, initiierte Sammlungen im gesamten deutschen Sprachraum (Murtaler Zeitung 1923, Nr. 5 v. 3. Februar, 5; Vorarlberger Tagblatt 1923, Nr. 74 v. 31. März, 4). Die Weite und Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffes erlaubte, ja forderte zunehmend unbestimmte „Freiheitsopfer“ im Dienst von Vaterland, Volkstum und Allgemeinheit. Ein „Freiheitsopfer“ passte semantisch in die Tschachotinsche Symbolwelt, doch die Wahl des Begriffes unterstrich auch, dass man sich elementare Worte nicht einfach nehmen lassen wollte. Wenn Nationalsozialisten und Kommunisten von ihren Freiheitskämpfe(r)n, ihren Freiheitsopfern redeten, so sah ein Sozialdemokrat darin eine ideologische Pervertierung.

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Ein Freiheitsopfer im Zeichen der drei Pfeile (Neueste Nachrichten 1932, Nr. 137 v. 14. Juni, 2)

Zugleich aber spiegelte das „Freiheitsopfer“ eine Organisationsleistung, die erforderlich war, um einen aufwändigen Wahlkampf durchzufechten. Schon am 14. Juni, also vor dem Start des Comicstrips, wurden die Prinzipien präsentiert und begründet: Jedes SPD-Mitglied, auch jeder Sympathisant sollte geben, von ersten wurde dies erwartet.

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Freiheitsopfer auch für Gewerkschafter (Der Proletarier 41, 1932, 154 (l.); Metallarbeiter-Zeitung 50, 1932, 154; Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 192 (r.)).

Das „Opfer“ war sozial gestaffelt, konnte auch über den üblichen 15 oder 50 Pfennigen (dem monatlichen SPD-Mitgliedsbeitrag) liegen. Das „Freiheitsopfer“ war Teil des Dreipfeil-Designs, der Geber erhielt nicht nur eine Marke, sondern auch eine „Eiserne Quittung“ (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 163 v. 14. Juli, 6). Sammler hatten die Erträge an die lokalen Schatzmeister der SPD abzugeben. Das Freiheitsopfer war „Munition“ für den Wahlkampf, war Ausdruck der Tugend des Kämpfers. Die SPD folgte damit anderen Parteien, warnte entsprechend etwa vor dem Kauf der „Antifaschisten-Marke“, deren Erlös der KPD zukam (Vorsicht! Kauft nur Freiheitsopfer-Marken, Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 3).

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Folge 7: Erweiterung der sozialen Basis: Der neue Mittelstand (Volksblatt – Oldenburg 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 9)

Karl Roth setzte seine Sammlung stetig fort, traf mit dem Vertreter „Paul Niezuhause“ einen Repräsentanten des neuen Mittelstandes, der innerhalb der SPD zunehmend an Gewicht gewann. Dieser opferte, bestätigte dabei auch allen Lesern, dass es bei dieser Wahl um Wohl und Wehe gehe. Die Serie sprach eben auch alle Geber an.

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Folge 8: Aktivierung der von der Notverordnungspolitik betroffenen Rentner (Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 157 v. 7. Juli, 9)

Doch Karl Roth war noch nicht am Ende seiner Sammeltour. Sie galt auch den Alten, den zahlenmäßig noch nicht prägenden Rentnern. Damals lag das Renteneintrittsalter bereits bei 65 Jahren, doch die durchschnittliche Lebenserwartung lediglich bei 59 Jahren für Männer und 61 Jahren für Frauen. Das Ehepaar „Riemeneng“ opferte trotz einer kleinen Rente und zeigte mit dem Freiheitsgruß, dass Betagtheit Lernen in und von der Gemeinschaft keineswegs ausschloss.

Erlaubt sei hier noch ein Hinweis auf „Comicstrips“ und ihre Geschichte. Der Comictheoretiker Scott McCloud definierte in einem wunderbaren Standardwerk einst Comics breit als „Juxtaposted pictoral and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response in the viewer“ [zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen] (Understanding Comics. The invisible Art, New York 1994, 9). Der Doyen der deutschen Comicforschung Eckart Sackmann fasste dies enger als „eine Erzählung in wenigstens zwei stehenden Bildern“ (Eckart Sackmann, Comic. Kommentierte Definition, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 6-9, hier 6). Ein Comic ist demnach Literatur und mehr als eine Bildsequenz, denn die Bilder tragen die Handlung. „Comicstrip“ ist noch enger gefasst, denn dieser Begriff erfordert eine aus Comics bestehende Fortsetzungsgeschichte.

„Comics“ sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Teil der Alltagskultur, die Münchener Bilderbögen adressierten bereits für ein Massenpublikum – keineswegs allein von Kindern. Die heute gängigen Sprechblasen gehören nicht zwingend zum Comic. Gesonderte Reime dominierten bis in die 1920er Jahre als Sprechblasen üblicher wurden (vgl. Eckart Sackmann, Comics sind nicht nur komisch. Zur Benennung und Definition, Deutsche Comicforschung 4, 2008, 7-16; Eckart Sackmann und Harald Kiehn, Der Sprechblasencomic im Widerstreit der Kulturen, Deutsche Comicforschung 6, 2010, 22-25 und Eckart Sackmann, dass., ebd. 7, 2011, 43-48). Familie Roth war ein politischer Comicstrip – und hob sich damit von den zahlreichen Einzelcomics in sozialdemokratischen Karikaturzeitschriften oder aber den zahlreichen Unterhaltungsbeilagen der Parteipresse ab. Näheres zum Zeichner resp. Texter des Familie Roth Comicstrips ist leider nicht bekannt (vgl. allgemeiner Michael F. Scholz, »Comics« in der deutschen Zeitungsforschung vor 1945, Deutsche Comicforschung 11, 2015, 59-84; Eckart Sackmann, »>Comics< sind als >undeutsch< verpönt.« Die Nazi-Jahre, ebd. 15, 2019, 56-93).

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Folge 9: Verliebt ins Gelingen oder Lob des eigenen Einsatzes (Lübecker Volksbote 1932, Nr. 148 v. 26. Juni, 9)

Mit der neunten Folge endete Karl Roths Sammlung stilgerecht in der Stehbierhalle. Man musste sich auch selbst was gönnen; nach der Arbeit, nach der Pflicht. Die wandernden Münzen gaben nochmals Erwartungshaltungen an die Leser kund.

Der Plausch von Karl mit Arthur erlaubt einen tieferen Blick in das sozialdemokratische Milieu. Im politischen Umfeld hatten es Comics, zumal politische, schwer. In der bereits 1879 gegründeten Karikaturzeitschrift „Der wahre Jacob“ gab es sie, doch es handelte sich um lustige Bildfolgen ohne Sprechblasen, häufig ohne Worte. Anders als bei Einzelkarikaturen und Kontrastbildern fehlte eine dezidiert politische Zuspitzung. Auch in den sozialdemokratischen Tageszeitungen dominierten Einzelkarikaturen. Das war auf Seiten der NSDAP deutlich anders: Im „Illustrierten Beobachter“ finden sich schon 1931 zahllose Viererbilder, die aggressiv die nationalsozialistischen Anliegen versinnbildlichen.

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Nationalsozialistische Comic-Adaption sozialdemokratischer Sammeltätigkeit (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1131)

Dennoch war auch Familie Roth visuell eingerahmt. Zeitgleich erschienen in vielen sozialdemokratischen Zeitungen die humoristischen Bildgeschichten des niederländischen Zeichners Gerrit Theodoor Rotman (1893-1944). Bild und Text waren darin strikt voneinander getrennt und die jeweiligen Zeichnungen einzeln durchnummeriert. Seit 1924 zeichnete er für die sozialdemokratische Tageszeitung Voorwaarts, 1928 erschien eine deutschsprachige „Prinzessin Sternmire“ in erster Auflage, erlebte 1934 eine zweite. 1932 erschien parallel zu Familie Roth „Der Esel des Herrn Pimpelmann“, ein Kinderroman in Fortsetzungen, ebenso „Die Geschichte der Spitzmaus und der Zitternase“ resp. „Neue Abenteuer der Spitzmaus und der Zitternase“; Kindergeschichten, die auch Erwachsenen ein Lächeln in ernster Zeit ermöglichten, die aber als unpolitisch galten, so dass „Neue Abenteuer des Herrn Pimpelmann“ 1937 in NS-Zeitungen erscheinen konnte.

Es gab gewiss auch politisch aufgeladene Bildgeschichten abseits der Tageszeitungen, etwa den 1929 in „Der Bücherkreis“ erschienenen Bilderroman von Adolf Uzarski über Rassendiskriminierung und die Kolonialpolitik der Großmächte (Haltmut Kronthaler, Adolf Uzarski: »Eine nachdenkliche Geschichte in 48 Bilder«, Deutsche Comicforschung 17, 2021, 44-53). Die Sozialdemokraten, die in ihrer Bildung formal durchaus konservativ waren, nutzten Comics auch im Vergleich zur KPD und den Gewerkschaften aber erst relativ spät (Gerd Lettkemann, Kindercomics und Klassenkampf – die AIZ, Deutsche Comicforschung 2, 2006, 68-71; Eckart Sackmann, »Der kleine Genossenschafter«, Deutsche Comicforschung 4, 2008, 62-74). Das unterstreicht die Bedeutung von Familie Roth – und die Bedrohungslage 1932.

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Folge 10: Frauenengagement im Konsum (Volksfreund 1932, Nr. 152 v. 2. Juli, 6)

Endlich, in der zehnten Folge, trat auch Frau Roth ins Rampenlicht der Serie. Sie wurde im Konsumverein gezeigt, einer bis heute weit unterschätzen Säule der Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen und der katholischen. 1932 versorgte sie 2,9 bzw. 760.000 Mitglieder, genauer Familien, also ca. weit über zehn Millionen Menschen. Bis heute zu wenig für die Friedrich-Ebert-Stiftung, um sich ihr irgendwie zu widmen. Die Konsumgenossenschaften wurden von Männern geleitet, doch im gängigen Patriarchalismus gab es eine recht quirlige Binnenkultur der Frauen. Frau Roth nutzte sie, sprach mit anderen Hausfrauen, machte ihnen die Bedeutung der Wahlen klar, verkaufte Freiheitsmarken. Die Konsumgenossenschaften boten Gestaltungsräume, auch wenn ihre Leitungsgremien in der sie spät treffenden Weltwirtschaftskrise nicht mehr zu einer adäquaten Kommunikation mit ihren Mitgliedern fanden, zumal solchen wie Frau Roth (Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags, Stuttgart 1995, 150-189, hier 184-188).

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Folge 11: Frauensolidarität in der Nachbarschaft (Volkswacht – Essen 1932, Nr. 160 v. 11. Juli, 3)

Doch wozu auf die Männer warten? Frau Roth wies den Weg, zielte voller Optimismus auf den „Aufbau dieser Erde“, auf den demokratischen Sozialismus als Ziel. Klar, dass zuvor Opfer gebracht werden mussten, Freiheitsopfer. Nun trat auch der Dreipfeil ins Gesichtsfeld.

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Folge 12: Wahlkampf als Thema der Jugend (Volkswacht – Bielefeld 1932, Nr. 157 v. 7. Juli, 12)

Die Kinder der Familie Roth waren noch eingehegt in Freundeskreis, Nachbarschaft, Milieu. Doch Franz, das älteste, wusste schon, dass abseits des Konsums auch Investitionen nötig waren, wollte man seinen Lebenszuschnitt nicht verlieren. Mit kleinem Opfer ging er voran, zog seine Freunde mit.

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Folge 13: Weitung der sozialen Basis: Eisenbahnbeamte als Beispiel (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 164 v. 15. Juli, 8)

Beamte fehlten bisher im Zielpublikum der Agitation; obwohl sie in den frühen Spendenaufrufen ausdrücklich genannt worden waren. Dabei dachte man natürlich nicht an die Ministerialbürokratie, an die hohen Herren. Doch die unteren und mittleren Beamten bei Reichsbahn, Reichspost, in Kommunalverwaltungen engagierten sich auch in der SPD, gaben der Eisernen Front „Pulver“. Sie wussten um ihren Beitrag, trotz Sonderopfern und Lohnabbau: „Im Wahlkampf wird mit ‚Pulver geschossen! / Und die Gegner frohlocken heimlich schon: ‚Den ausgepowerten Roten Genossen / Fehlt’s ja an ‚Munition‘!‘ […] Das Freiheitsopfer – unsere Parole! / Das Freiheitsopfer – unsere Tat! / Wir kämpfen fürs Volk, nicht dem Geldsack zum Wohle! / Wir üben um keinen Geldsack Verrat! / Hier steht das Recht – dort der Kassenschrank… / Ihr Gold ist schmutzig – unser Groschen ist blank! / Wir müssen hart und heiß um ihn fronen / Und setzen ihn trotzig gegen Millionen! / Der Freiheit ein Opfer, Kameraden, Genossen! / Im Wahlkampf wird mit ‚Pulver‘ geschossen…“ („Pulver!“, Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 144 v. 22. Juni, 9).

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Folge 14: Anbindung des Bürgertums (Volksstimme – Hagen 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 3)

Das klang trotzig, doch auch ein wenig nach Delegation der Tat an andere, an die Aktivisten der Eisernen Front, an Genossen wie Karl Roth. Der bemühte sich weiter um ein breites, über die sozialen Klassen hinausgehendes Abwehrbündnis. „Adolf Kindermann“, der unpolitische Skatdrescher, wurde direkt angesprochen, Parole und Flugblatt verdeutlichten ihm, dass all dies kein Spiel war, dass es auch um seine Zukunft, gar seine Ruhe ging.

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Folge 15: Den Hitlerherren öffentlich entgegentreten (Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 158 v. 8. Juli, 4)

Am Ende, in der fünfzehnten Folge, wurde schließlich zur Tat geschritten. Geld war gesammelt, nun zählte die mannhafte Präsenz in der Öffentlichkeit. Das erforderte Mut, denn die Gegner traten meist nicht isoliert auf, verkörperten nicht den hier gezeigten Typus des völkischen Sprücheklopfers. Dessen Beleidigung, erstmals als Wort im Bild gebannt, begegneten Karl und sein Mitstreiter mit dem Freiheitsgruß, mit ihrer Alternative zum Ressentiment. Geld war gesammelt, nun, im Juli 1932, musste der eigentliche Kampf um die Republik beginnen.

Die fünfzehn Folgen sind beschrieben – und ich hoffe, dass Sie meinen Aufwand nachempfinden können. Bilder, Comicstrips, Comics sind Quellen mit Wert, die für ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit zwingend in die gängige historische Analyse mit einzubeziehen sind (Gerhard Paul, Visual History. Version 3.0, http://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de_2014; Zur Forschungsgeschichte s. Ders., Von der Historischen Bildkunde zur Visual History, in: Ders. (Hg.), Visual History, Göttingen 2006, 7-36). Bei Familie Roth gaben sie – gewiss strategisch ausgerichtet und unter dem Zwang der Geldnot – einem Ideal der damaligen Arbeiterbewegung genauere Konturen, genauere vielleicht als die Schriften der Funktionäre, als die Fleischmasse der fahnenbewehrten Kolonnen.

Vor etwa zwei Jahrzehnten war der „Visual Turn“ Mode, füllte die Publikationen der Zunft. Statt einer wirklich anderen, offeneren, weniger textlastigen Geschichtswissenschaft, gibt es heute zusätzliches Spezialistentum kleiner Kreise. Nicht Bilder, gar Comics, sondern weiterhin Texte dominieren die Zunft. Die heutige Diskursgeschichte mündet vielfach in den bequemen Quellenzugriff auf nur wenige passende Texte und Narrative. Weiterhin werden Aktenberge durchgeackert, vielfach nur wiedergekäut, nicht aber kontextualisiert. Vielfach sind es Außenseiter, die der sprachlich verquaßten Zunft den Spiegel ihrer Möglichkeiten vorhalten – die Zeitschrift „Deutsche Comicforschung“ ist dafür ein gutes Beispiel. Fast erinnert die Zunft an die Funktionäre der SPD, die sich erst spät, zu spät, Neuem zuwandten und von den bald geschliffenen Trutzburgen hinunterschauten.

Drei Pfeile und mehr: Wahlkampf unter Dampf

Damit könnten wir enden. Doch vielleicht wollen Sie noch wissen, wie es weiterging, damals im Juli 1932, damals, als der „Kampf gegen rechts“ mehr war als Gerede und Vorwand für die Einschränkung von Grundrechten aller. Lassen wir also die Freiheitspfeile sausen.

Versetzen Sie sich dazu in eine Kolonne des Reichsbanners, die von Braunschweig nach Dortmund fuhr: „Die Sonne meint es gut und ließ die schwarzrotgoldenen Fahnen und die drei Pfeile unsers über den Kühler des Autos gespannten Fahnentuches weithin leuchten. In Städten und Dörfern, bei Männern, Frauen und Kindern, bei Arbeitern, Bürgern, Bauern, Wandrern, Rastenden am Wege Stutzen, Staunen und dann immer wieder, immer wieder der mit blitzenden Augen und hochgestoßener Faust begleitete packende Ruf der Eisernen Front: ‚Freiheit! – Freiheit!‘ Eine kaum abreißende Kette solcher Kampfrufe grüßte unsern dahinbrausenden Wagen. Wie hat sich doch Deutschland verändert in kurzer Zeit? Vor drei Vierteljahren wäre diese spontane Art, sich zu bekennen, andre mitzureißen, nicht denkbar gewesen“ (Freiheitstag der Eisernen Front, Das Reichsbanner 9, 1932, 228). All das mündete in einen Riesenumzug zum „Freiheitstag der Eisernen Front“, der in einer Großveranstaltung in der Westfalenhalle endete. Der Bericht ist übertrieben, gewiss, doch er spiegelt eine gewollte Hoffnung im Angesicht des Abyssos. Erste Freiheitsopfer waren gebracht, nun setzte sich die Wahlkampfmaschinerie in Bewegung.

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Drei Pfeile gegen den Feind, für das eigene Lager (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 154 v. 3. Juli, 7 (l.); Holzarbeiter Zeitung 30, 1932, 204)

Die eigene Presse quoll über vom Dreipfeil, der nun popularisiert wurde. Er wurde erläutert, Zeigestolz geschürt.

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Der Dreipfeil als Siegeszeichen (Rheinisches Signal 1932, Nr. 25 v. 2. Juli, 1 (l.); Volkswacht – Essen 1932, Nr. 152 v. 1. Juli, 2)

Der Dreipfeil schien ein Siegeszeichen zu sein, mit dem der Siegeszug von Nationalsozialismus und Deutschnationalen gebrochen werden konnte. Nicht alle mochten das glauben, doch warum nicht versuchen? Die Werbeabteilungen legten sich jedenfalls in die Riemen, präsentierten immer neue Varianten – und auch vor Ort ergänzte man mit Sinn für lokale Besonderheiten.

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Der Dreipfeil erläutert und präsentiert (Vorwärts 1932, Nr. 303 v. 30. Juni, 6 (l.); Volkswille 1932, Nr. 145 v. 23. Juni, 1)

Doch zugleich konnten die Funktionäre nicht aus ihrer Haut: Die Massen wurden textreich aufgeklärt, an die Morde an eigenen Leuten erinnert. Das aber war nicht mehr angstschürend, sondern Verpflichtung: „Das darf nicht schrecken. Nun erst recht!“ Und trotz aller Propaganda, die Bildung, die schwer erworbene, die konnten die Redakteure nicht weglassen. „Der Freiheit eine Gasse!“ – das war Schillers Wilhelm Tell: „Der Freiheit eine Gasse! – Wasch‘ die Erde, / Dein deutsches Land, mit deinem Blute rein!“ (Schiller’s Werke, Bd. 4, hg. v. Robert Boxberger, 2. Aufl., Berlin 1890, XLIII). Das war aber auch Georg Herwegh (1817-1875), der Freiheitsdichter und Revolutionär, der 1841 ein gleichnamiges Gedicht veröffentlicht hatte: „Wenn alle Welt den Mut verlor, / Die Fehde zu beginnen, / Tritt Du, mein Volk, den Völkern vor, / Laß Du Dein Herzblut rinnen! / Gib uns den Mann, der das Panier / Der neuen Zeit erfasse, / Und durch Europa brechen wir / der Freiheit eine Gasse“ (Georg Herwegh, Gedichte eines Lebendigen, 9. Aufl., Stuttgart 1871, 46).

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Mit Gedichten gegen die Hitler-Barbarei (Der Volksfreund 1932, Nr. 147 v. 27. Juni, 1 (l.); Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 156 v. 6. Juli, 10)

Solche Männer suchte man noch, der Parteivorstand blieb unverändert. Deren Bildungshintergrund, deren nicht einfach wegzudrückende Parolenscheu, waren wohl auch die zahllosen Gedichte zu verdanken, die dem Wahlkampf weitere Würze gaben. Doch auch KPD und NSDAP hatten ihre Barden. Das war eine Rückkehr des Pathos, stand gegen die analytische Distanz, ein Rückfall gegenüber der neuen Sachlichkeit.

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Handreichung für die Anwendung des Dreipfeils und Verweis auf die gefährdeten Errungenschaften der Republik (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 16; Der Kuckuck 4, 1932, Nr. 22, 4)

Die Pfeile sollten aber nicht nur das Revers, die Fahne, das Haus zieren, sie sollten auch die Symbole der Gegner verändern. Durchstreichen war das einfachste. Doch es gab noch eine Vielzahl alternativer Einsatzmöglichkeiten. Der Wahlkampf war seitens der Eisernen Front zudem, mehr in Text- als in Bildform, vom Stolz auf das Erreichte geprägt, kündete von den Errungenschaften der Republik, für die man stand und stritt. Dazu gehörten auch Frauenrechte, Genossinnen sprach man immer wieder gesondert an (vgl. etwa Der Proletarier 41, 1932, 166, 177).

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Das Ende von „Heil Hitler“ (Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 213 (l.); Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 148 v. 27. Juni, 2; Volkswacht 1932, Nr. 162 v. 13. Juli, 6 (r.))

Der Freiheitsgruß war neu, als zwischenmenschliche Geste schwierig durchzusetzen, passte eher in Aufmärsche und Massenveranstaltungen. Anfangs wurde er jedenfalls breitflächig vorgestellt und anempfohlen.

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Aufmärsche in großer Zahl (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 161 v. 12. Juli, 5 (l.); Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 6)

Daneben gab es zahllose Demonstrationen, die Reden wichtiger Funktionäre, das Erlebnis der Masse Mensch – trotz des sich verschärfenden Polizeirechts, trotz nicht weniger noch bevorstehender Verbote durch Polizeibehörden und Reichsregierung. Sie boten die einfachste Form der Solidarität, denn bei den nicht unüblichen Angriffen und Sprengversuchen stand man nicht allein.

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Benennung des Feindes (Holzarbeiter Zeitung 40, 1932, 205 (l.); Leipziger Volkszeitung 1932, Nr. 153 v. 2. Juli, 1)

Festzuhalten an diesem aus der historischen Distanz gewiss anders wirkenden, einst konkreten Zwecken dienenden Kampfmitteln, sind noch zwei Aspekte. Die NSDAP, personalisiert vorwiegend in Hitler, war gewiss Hauptgegner. Doch man stritt erstens zugleich gegen die „Reaktion“, gegen Stahlhelm und das Kabinett von Papen. Die KPD wurde demgegenüber fast ignoriert, ebenso das Zentrum. Die Analyse der NS-Bewegung war jedoch immer noch ambivalent, sie galt den meisten Sozialdemokraten als Hilfstruppe nationaler und schwerindustrieller Kreise. Das sollte noch die Exil-SPD prägten.

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Neues Wahlkampfmaterial und die Kontinuität der tradierten Symbole (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 163 v. 14. Juli, 11 (l.); Das Reichsbanner 9, 1932, 226)

Zweitens sollte man nicht unterschätzen, dass trotz Freiheitsopfern und wachsendem Engagement vieler Mitglieder der Eisernen Front die neuen Symbole nicht überall präsent waren. Alte tradierte Symbole wurden weiter hochgehalten, die vorhandenen Banner nicht eingemottet, die Schwarz-Rot-Goldene Nationalfahne weiter geschwungen. Der Beschluss des Parteivorstandes zugunsten des Neuen traf vielerorts auf Kritik an vermeintlich abgehobenen Reklametechnikern (Der Schuß ins Hakenkreuz, Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung 1932, Nr. 152 v. 1. Juli, 5). Einheitsfrontillusionen konnten auch durch den Slogan „Eiserne Front ist Einheitsfront“ nicht beiseite gedrückt werden (Dringender Appell für die Einheit, Der Funke 1932, Nr. 147 v. 25. Juni, 2). Die eigene Organisation war zudem nicht leistungsfähig genug, um binnen weniger Wochen die anvisierten Werbeabteilungen auf Bezirksebene einzurichten. Vielen Unterbezirken und Ortsvereinen fehlten solche Gremien, sie blieben auf die Initiative von Wenigen angewiesen (vgl. Winkler, 1987, 515-516). Hinzu kam die reale Gefahr durch SA, Stahlhelm, Rotfrontkämpferbund: Vom 14. Juni bis 25. Juli hatte allein das Reichsbanner zehn Tote, 72 schwer und hunderte leicht Verletzte zu beklagen (Die Toten des Reichsbanners, Der Abend 1932, Nr. 348 v. 26. Juli, 2). Wachsender Bekennermut in den Hochburgen ging einher mit Passivität und auch Resignation in ländlichen, vielen südlichen und östlichen Regionen (Pyta, 1989, 481).

Preußenschlag und Selbstbegrenzung: Das Auslaufen der neuen Methoden

Gleichwohl war die Eiserne Front vielerorts im Angriff, hatte an Elan, Mut und Präsenz gewonnen. Doch dann kam der 20. Juli 1932, der vergessene „Preußenschlag“, der Staatsstreich von rechts. Ministerpräsident Otto Braun und Innenminister Carl Severing (1875-1952) wurden für abgesetzt erklärt, in der Folge 150 republiktreue Spitzenbeamte entlassen. Der Preußenschlag war eine konservativ-nationalistische Blaupause für die spätere „Machtergreifung“ der NSDAP, wenngleich mit deutlich weniger physischer Gewalt, wenngleich ohne die epidemische Verfolgung politischer Gegner. Er unterminierte den deutschen Föderalismus. Ummantelt wurde er als Reaktion auf den Altonaer Blutsonntag, einem SA-Zug durch die kommunistische Hochburg mit achtzehn Toten, als Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Der Preußenschlag zielte auch auf die Reichstagswahl, bis zum 26. Juli wurde der Belagerungszustand erklärt (Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik […], Düsseldorf 1978, 530).

Innenminister Severing verlautbarte, dass er nur der Gewalt weiche und verließ von Polizisten begleitet sein Ministerium. Die Regierung strengte ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof an. In den Hochburgen forderten Vertreter der Eisernen Front stattdessen aktiven Kampf, den Generalstreik und mehr. Doch die Gewerkschaften waren durch die Massenarbeitslosigkeit geschwächt. Und die SPD-Spitze bezweifelte einen Sieg der Eisernen Front gegen ein mögliches Bündnis von SA und Reichswehr, zumal die Loyalität der preußischen Polizei nicht mehr garantiert war. Man beschloss, die Reichstagswahl auch zur Abstimmung über den Preußenschlag zu machen. Das war vernünftig und desaströs zugleich: Zurück blieb „Ratlosigkeit hinter der radikalen Phraseologie“ (Detlev Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983, Frankfurt a.M. 1983, 153). In dem bereits zitierten, wahrscheinlich Mierendorff zuzuschreibenden Bericht hieß es im Nachklang: Nach dem kampflosen Rückzug war alle Hoffnung verloren. „Depression was universal in the workers’ organizations; everyone seemed paralysed.“ Freiheits-Rufe verstummten, die Zahl der öffentlich sichtbaren Dreipfeile nahm ab. „Chaos and panic reigned in all the central organizations; everyone was doing his best to dissociate himself from all activities. There was no longer any discussion of plans of action, or anything but exchanges of news and views and suppositions” (Chakotin, 1940, 227, 228; vgl. auch Carl Mierendorff, Sommer der Entscheidungen, Sozialistische Monatshefte 38, 1932, 655-660, insb. 656). Die Folgen waren tiefgreifend. In Wuppertal, in München, an vielen anderen Orten gaben zahlreiche Mitglieder, zumal solche bei Post, Bahn und in der Verwaltung, ihre Parteibücher zurück (Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924-1933, Bonn 2011, 63). Es dürften Menschen wie Karl Roth gewesen sein.

Parallel jauchzten die Nationalsozialisten: Der Goebbelsche Tagebucheintrag lautete: „Man muß den Roten nur die Zähne zeigen, dann kuschen sie. SPD. und Gewerkschaften rühren nicht einen Finger.“ Und am Folgetag hieß es: „Alles rollt wie am Schnürchen ab. Die Roten sind beseitigt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. […] Es laufen zwar Gerüchte von einem bevorstehenden Reichsbanneraufstand um, aber das ist alles Kinderei. Die Roten haben ihre große Stunde verpaßt. Die kommt nie wieder“ (Goebbels, 1934, 131, 132, 133). Am 22. Juli folgte: „Unsere Propaganda klappt wunderbar. Die roten Schriftplakate erregen an den Litfaßsäulen großes Aufsehen. Die Linken haben den Fehler gemacht, daß sie ihr Pulver zu früh verschossen. Wir dagegen haben mit der Munition hausgehalten, drehen nun die Propagandamaschine an und sind ganz auf der Höhe.“ (Ebd., 133). In den Großstädten setzte parallel ein Flaggenkrieg ein, denn der Straßenwahlkampf war ausgesetzt (Das erwachte Berlin, Vorwärts 1932, Nr. 344 v. 24. Juli, 5).

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Aktiv bis zur Gewaltanwendung (Der Volksfreund 1932, Nr. 166 v. 19. Juli, 2 (l.); Volksblatt – Solingen 1932, Nr. 177 v. 30. Juni, 2)

Der Reichstagswahlkampf war in der letzten Woche nochmals erbitterter. Plakate und Werbematerialien der Eisernen Front wurden aggressiver, der Stiefel trat visuell hervor. Auf Papier war Aktivität einfach.

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Nazis töten – im Cartoon (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 164 v. 15. Juli, 7)

Auch der Dreipfeil wurde gewalttätiger eingesetzt, das Schlagen wörtlich, das Totschlagen billigend in Kauf genommen. Doch das war Verbalradikalismus, waren Rückzugsgefechte nach verlorener Schlacht.

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Kämpfer auf dem Vormarsch (Volkswacht für Schlesien 1932, Nr. 177 v. 30. Juli, 1 (l.); Volksblatt – Detmold 1932, Nr. 176 v. 29. Juli, 6)

Zugleich veränderten sich – auf dem Papier – die Akteure der Eisernen Front. Individuell waren sie schon vorher nicht gewesen, sondern Typen, Platzhalter von Kraft und Masse. Nun aber regierten die Schemen, marschierten kaum mehr vorhandene Arbeitermassen. Sie sollten beruhigen, die Abstimmung beschirmen, Trost spenden. So wie die Hoffnung auf die Armee Wenck beim Vorsitzenden der NSDAP im Bunker unter der alten Reichskanzlei im April 1945. Bis zum Ende kopierte er die Arbeiterbewegung…

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Sonnenschein und Nazipein: Zerrbild der Eisernen Front (Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg u. Umgegend 1932, Nr. 172 v. 25. Juli, 13)

Aus den Mannen der Eisernen Front war derweil eine ununterscheidbare Masse geworden. Man mühte sich auch die letzten Tage vor dem Wahltermin, doch die „Aktivität“ des Junis und des frühen Julis war dahin. Phrasen wurden gedroschen, doch nicht mehr geglaubt. Die außerparlamentarische Aktivität wurde zurückgefahren, es blieb nur der zunehmend unwichtigere parlamentarische Hebel.

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Wahlaufruf per Comic (Vorwärts 1932, Nr. 357 v. 31. Juli, 3)

Dennoch hieß es am 31. Juli: „Die sichtbare Arbeit der Partei in diesem Wahlkampf war glänzend“ (Holt das Treibholz!, Vorwärts 1932, Nr. 355 v. 30. Juli, 1). Pfeifen im Gegenwind. Doch man hatte offenkundig den Humor behalten. Wie anders war zu verstehen, dass der Vorwärts am Wahltag just ein Comic veröffentlichte, das die letzten Großtaten zur allerletzten Mobilisierung visuell vor Augen führte. Familie Roth hatte keinen Platz in der Parteizeitung gefunden, doch vielleicht trauerte die Redaktion dem Elan nach, den dieser kleine und an sich unbedeutende Comicstrip vermittelte.

Die SPD verlor am 31. Juli 2,9 Prozentpunkte, erreichte 21,6 Prozent, konnte aber keinen Wahlkreis mehr gewinnen. Die NSDAP verdoppelte ihr Ergebnis auf 37,3 Prozent, doch auch gemeinsam mit der DNVP erreichte sie keine parlamentarische Mehrheit. Damit erreichte die SPD ihr Minimalziel. Der neue Reichstag wurde rasch wieder aufgelöst, im November neu gewählt. Im Wahlkampf zeigte die Eiserne Front wieder Flagge, doch der Dreipfeil stand nicht mehr für den Aufbruch, sondern für die Niederlage, an der man selbst gerüttelt Anteil hatte. Die Weimarer Republik scheiterte jedoch nicht an den offenkundigen strukturellen Problemen der SPD und der Eisernen Front. Sie scheiterte am Rechtsruck des protestantischen oder säkularen Bürgertums, an der Destruktionspolitik der sowjethörigen KPD, an der strukturellen Verfassungsfeindschaft der traditionellen Eliten in Adel, Militär, Landwirtschaft und Wirtschaft, die einen autoritären Staat anstrebten. Sie allesamt ermöglichten eine Gemengelage, in der die Kräfte der linken Volkspartei SPD (und bedingt des katholischen Zentrums) nicht mehr ausreichten, um die Herausforderung der NSDAP und ihre Bündnispartner abwehren zu können. Der Reichstagswahlkampf im Juni/Juli 1932 hatte dabei Schrittmacherfunktion. Familie Roth und ihre Genossen hatten sich zumindest um ein anderes Auskommen bemüht.

Uwe Spiekermann, 31. August 2024