Gescheitertes Volksnahrungsmittel: Das Milcheiweißbrot 1934/35

Seit 2023 werden hierzulande überteuerte Produkte mit Proteinanreicherung breit vermarktet – und viele Journalisten und „Experten“ sprangen freudig auf diesen nun abebbenden Trend auf. Es handelt sich um eine der vielen strohfeuerartigen Wachstumsgeschichten, die keinerlei Nachhaltigkeit besitzen, die aber für ein, zwei Jahre Gewinne in einem gesättigten Lebensmittelmarkt generieren können. Dabei sind solche „Hypes“ erwartbar, fast schon langweilig. Proteine, Stoffe „von erster Qualität“, standen nämlich seit ihrer 1838 durch den niederländischen Chemiker Gerhard Johann Mulder (1802-1880) erfolgten Benennung im Zentrum vieler wissenschaftlicher Kontroversen und begleitender Kaskaden marktgängiger Offerten.

Im 19. Jahrhundert hatte dies elementaren Sinn. Zum einen galt es die stofflichen Strukturen der Nahrung zu verstehen, um die Defizite der Alltagskost gezielt zu reduzieren. Das deutsche Wort Eiweiß bezeichnete zwar keinen einheitlichen Stoff, doch die Einzelstoffe dieser Gruppe waren offenkundig unmittelbar am Körperaufbau und der Bildung von Muskeln beteiligt, verkörperten Kraft und Leistungsfähigkeit. Gerade tierisches Eiweiß, einverleibt durch Fleisch und Milch, schien förderungswürdig, denn darauf gründete die Entwicklung der Neugeborenen und die Muskelkraft der Männer. Eiweiß trat an die Spitze der unverzichtbaren Nahrungsstoffe – auch, weil die Alltagskost der breiten Bevölkerung eiweißarm war. Die frühen Empfehlungen der Ernährungswissenschaft forderten daher mehr davon, das Kostmaß des Münchener Physiologen Carl von Voit (1831-1908) sprach von täglich 118 Gramm für ein auskömmliches Leben. Zum anderen aber waren eiweißhaltige Nahrungsmittel nicht nur hochwertig, sondern auch deutlich teurer als Kohlenhydrate, letztere in Form von Mehl, Brot und Kartoffeln Rückgrat der täglichen Kost. Die Eiweißfrage war im 19. Jahrhundert demnach immer auch eine sozialer Gerechtigkeit, nach der Integration aller in die bürgerliche Gesellschaft. „Mehr Eiweiß“ wurde ein Flaggenwort der Emanzipation der Arbeiterschaft sowohl auf dem Lande als auch in den rasch wachsenden Städten.

Doch dieser Artikel greift auf die Vorgeschichte des 19. Jahrhunderts nur zurück; ohne sie ist das auf- und abebbende Angebot proteinreicher und -angereicherter Lebensmittel eben nicht zu verstehen. Im Zentrum dieses Artikels wird jedoch ein historischer Flop stehen, ein scheiterndes Möchtegernvolksnahrungsmittel, das für kurze Zeit reichsweit propagierte Milcheiweißbrot. Es war der deutsche Staat, der nationalsozialistische Staat in seinen Anfangsjahren, der 1934/35 versuchte, das gängige Brot zu verbessern und ergänzend und verdrängend ein eiweißreicheres Milcheiweißbrot zu etablieren. Dazu wurde die staatliche Werbetrommel dröhnend geschlagen, darauf galt es die Konsumenten lockend zu verpflichten. Doch auch NS-Propaganda konnte ins Leere laufen, war keineswegs so erfolgreich, wie uns das die Inszenierungen des Regimes und viele spätere Pseudoerklärungen des „Wie konnte es geschehen“ weismachen wollen. Das Milcheiweißbrot fiel jedenfalls durch – auch wenn es als deutsches Zukunftsbrot, als Kraftbrot, als Resultat deutschen Forschergeistes propagiert wurde. Es fiel durch, auch wenn die Eiweißversorgung im Ausklang der Weltwirtschaftskrise kaum besser war als im späten 19. Jahrhundert. Dabei ging es gar nicht um grundstürzende Veränderungen der täglichen Kost, sondern um eine an sich kleine Veränderung: Das Milcheiweißbrot war ein Kunstprodukt, dem üblichen Brotteig wurde ein wenig getrocknete Magermilch beigemengt. Der Nährwert und der Eiweißanteil lagen dadurch ein wenig höher als zuvor. Und doch, es fiel durch.

Eiweißpräparate als (unzureichende) Alternative tradierter Kost

Um dieses Scheitern zu verstehen, gilt es sich ein wenig genauer mit der Stellung von Eiweiß in den Konsumgütermärkten vor dem NS-Regime auseinanderzusetzen, uns also den Markterfahrungen der damaligen Konsumenten zu widmen. Einerseits war die wissenschaftlich propagierte Vorrangstellung des Eiweißes nicht unkommentiert geblieben. Die vegetarische Bewegung kämpfte schon seit den 1860er Jahren gegen die „Ritter vom Fleische“, verwies auf pflanzliche Proteine, auf Hülsenfrüchte, Getreide, auch die Kartoffeln. Physiologische Forschungen ergaben zudem, dass der Mensch mit deutlich weniger als täglich 118 Gramm Eiweiß leben konnte. In der Eiweißminimum-Debatte, die seit den 1890er Jahren in immer neuen Wellen über mehrere Jahrzehnte geführt wurde, unterschied man zunehmend zwischen einem deutlich niedriger liegenden Mindestbedarf und einem anzustrebenden, die Körperfunktionen optimal ausbildenden höheren Wert. Dabei ging es nicht allein um wissenschaftliche Wahrheit. Ein niedriger Eiweißbedarf und preiswerteres pflanzliches Eiweiß waren insbesondere im Sinne der damaligen Arbeitgeber, mündeten in geringere, am Mindestbedarf ausgerichtete Löhne. Entsprechend gab es intensive Forschungen, Eiweiß billig und haltbar anzubieten. Fleisch wurde gekocht, konzentriert, getrocknet – und Fleischextrakte, Fleischpeptone sowie Fleischpulver wie Carne pura versprachen eine bessere und preisgünstige Ernährung, ohne aber Breitenwirkung zu erzielen. Auch Milch wurde nicht nur frisch verkauft, sondern seit den 1860er Jahren als Kondensmilch resp. später in Form der Heilspeisen Kumys oder Kefir angeboten. Hinzu traten Suppen- und Kindermehle, auch Eipulver oder Trockeneier. Diese Nahrungsinnovationen waren nur in Nischenmärkten erfolgreich. Doch davon ließen sich Erfinderunternehmer nicht bremsen. Seit den 1890er Jahren wurden mit den Eiweißpräparaten neuartige Produkte beworben, die auch im Massenmarkt Erfolg haben sollten.

Neue Formen für Abfall- und Trockenprodukte: Werbung für Aleuronat und Nährstoff Heyden (Vossische Zeitung 1899, Nr. 311 v. 6. Juli, 17 (l.); Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 2 v. 4. Januar, 8)

Zwei damals entwickelte Strategien waren für unsere Fragestellung nach der Einführung und dem Scheitern des Milcheiweißbrotes 1934/35 vorreiterhaft. Einerseits bemühten sich Anbieter, Eiweiß aus möglichst billigen Grundstoffen herzustellen. Reststoffe boten sich dabei an, also nicht lukrativ verwertbare Ergebnisse industrieller Nahrungsmittelproduktion. Das Eiweißpräparat Aleuronat gründete auf den Albfallprodukten der seit 1869 von der Hammer Firma R. Hundhausen produzierten Weizenstärke. Sie dienten anfangs als Tierfutter. Mit der Übernahme der Firma durch den Chemiker Carl Johannes Hundhausen (1856-1946) begann 1881 jedoch ein Umdenken. Die Stärkereste wurden genauer untersucht, die Eiweißbestandteile isoliert und zu einem Pulver verarbeitet (Wichtige Erfindung, Rhein- und Ruhrzeitung 1887, Nr. 34 v. 10. Februar, 2). Das neue, seit 1886 angebotene Aleuronat war nahrhaft, hatte aber einen kratzigen Geschmack, war auch relativ teuer, so dass es als Suppen- oder Brotzusatz Anfang der 1890er Jahre scheiterte. Hundhausen feilte daraufhin an der Trocknungs- und Filtertechnik, konnte auch den Preis massiv verringern. Der Einbruch in den Massenmarkt misslang dennoch. Stattdessen etablierte sich Aleuronat als Diabetikerpräparat, während des Eiweißhypes der Jahrhundertwende auch als kräftigendes Nährpräparat für Rekonvaleszente. Aleuronat war ein chamäleonhaftes Pionierprodukt, ähnlich wie die folgende Lawine: Die bald dreistellige Zahl der Eiweißpräparate war in sich heterogen, die Preisunterschiede beträchtlich, die Grundstoffe vielfach unbekannt. Schlachtabfälle wurden geadelt, ähnlich wie zuvor bei den Fleischfuttermehlen. Der oben angeführte Nährstoff Heyden bestand dagegen aus Eiereiweiß, war daher leicht verdaulich. Vermarktet wurde er jedoch als Ergänzungsnahrung für Wöchnerinnen und Neugeborene (Nährstoff Heyden, Pharmaceutische Post 32, 1899, 408).

Eiweißhype um die Jahrhundertwende: Fortifizierte Nahrungsmittel auf Grundlage von Plasmon und Tropon (Berliner Morgenpost 1900, Nr. 100 v. 1. Mai, 14 (l.); Westdeutsche Bäcker- & Conditor-Zeitung 2, 1900, Nr. 13, 4)

Doch es war nicht nur die hohe Zahl der neuen Eiweißpräparate, die um die Jahrhundertwende einen beträchtlich intensiveren Hype in Gang setzte als das laue Lüftchen der letzten Jahre. Die neuen Trockenpräparate – pastöse Angebote blieben Ausnahmen – konnten und sollten nämlich die gängigen Nahrungsmittel auch anreichern, ihnen ausgewogenere Nährstoffprofile verleihen. Der Mensch schuf sich eine neue Nahrungsgrundlage. Damals gängige Markenartikel wie Plasmon oder Tropon wurden nicht nur als essbare Pulver verkauft, sondern in zahlreiche zumeist kohlehydrathaltige Nahrungsmittel eingebacken, eingerührt. Gemeinsam mit den damals modischen Nährsalzen schien die gewerbliche Produktion neue Angebote schaffen zu können, teils billiger, teils besser als die tradierte Kost. Derartige Konsumträume scheiterten an mangelnder Haltbarkeit, am schlechten, ungewohnten Geschmack, an der nicht sehr elaborierten Produktionstechnik, vor allem aber an den unzureichenden Kenntnissen der Nahrungsstoffe selbst (Uwe Spiekermann, Die gescheitere Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Die große Palette der für Eiweiß konstitutiven Aminosäuren wurde erst damals gezielt erkundet. Vitamine waren noch nicht bekannt, die Wirkungen von Mineralstoffen großenteils unklar. Doch die treibende Idee der Anreicherung, der Fortifikation bestehender Nahrungsmittel wurde unbeirrt hochgehalten. Man müsse nur die Mängel abstellen, das stofflichen Wissen verbessern.

Das galt nicht zuletzt für das Brot, nach der Kartoffel das Hauptnahrungsmittel dieser Zeit. Nicht aber Bäcker waren Pioniere der Umgestaltung, sondern Naturwissenschaftler: Der Göttinger Mediziner Wilhelm Ebstein (1836-1912) zielte beispielsweise auf Nährbrote für die Krankenkost, für die wachsende Zahl der Diabetiker. Versuche mit Tiereiweiß hatten sich nicht bewährt, das seit den 1840er Jahren gängige Kleberbrot schmeckte nach längerem Konsum widerwärtig. Er experimentierte daher mit Aleuronat-Zusätzen in Suppen, Gebäck, Panaden und Brot. Doch es bedurfte der Not der Krankheit, um letzteres regelmäßig zu essen ([Wilhelm] Ebstein, Ueber Ernährung der Zuckerkranken, Internationale Klinische Rundschau 6, 1892, Sp. 952). Da half es auch nicht, das die Resorption von solchem „Milcheiweissbrot“ an sich hoch war (W[ilhelm] Prausnitz, Ueber ein neues Eiweisspräparat (Siebold’s Milcheiweiss), Münchener Medizinische Wochenschrift 46, 1899, 849-858). Für Zuckerkranke waren die fortifizierten Brote seither eine wichtige Ernährungshilfe, nicht aber im Massenmarkt (Salabrose, Medizinische Klinik 25, 1929, 29; Plaschkes, Diabetikerbrot, Wiener Medizinische Wochenschrift 81, 1931, 1505).

Das zeigte sich auch bei verschiedenen Bemühungen, mit Magermilch angereichertes Brot zu vermarkten. Versuche gab es in den frühen 1890er Jahre erst einmal in der Schweiz, wo die Butter- und Käseproduktion zu kaum mehr verwertbaren Magermilchmengen führte. Oskar Gottwald Ambühl (1850-1923), Kantonschemiker St. Gallen und zeitweilig auch Präsident der Schweizerischen Gesellschaft analytischer Chemiker, trat emsig für das neue Brot ein, doch bedauernd blieb zu konstatieren, „die liebe Gewohnheit siegte über eine vorteilhafte Neuerung in der Volksernährung“ (Jahrbuch der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft 48, 1907, 202-203). Auch die stärker elaborierten Vorschläge des Leipziger Hygienikers und Kgl. Oberapothekers Georg Marpmann (1849-1911), flüssige Magermilch resp. das kompaktere Zwischenprodukt Kasein zu einem „Eiweissbrot“ (Jahresbericht der Pharmacie 30, 1895, 640) zu verbacken, scheiterten letztlich an der fehlenden Resonanz bei Bäckern und Konsumenten (G[eorg] Marpmann, Die Verwertung der Molkereiabfälle, Apotheker-Zeitung 10, 1895, 169-170, hier 170). Die neuen Produkte mochten zwar volkswirtschaftlich und physiologisch gut begründbar sein, doch angesichts des ungewohnten Geschmacks und höherer Preise gab es für die gesunde Mehrzahl keinen Anlass, ihren Alltagskonsum zu verändern.

Entsprechend scheiterten auch während des Ersten Weltkriegs neuerliche Initiativen für sog. Magermilchbrote oder aber andere Eiweißbrote (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 7, 1916, 250). Auch das 1915 zeitweilig propagierte Bluteiweißbrot konnte die Hürde des Probierens und raschen Ausspeiens trotz Versorgungsengpässen nicht überwinden. Wir finden damals allerdings bereits das für das nationalsozialistische Milcheiweißbrot dann so charakteristische propagandistische Beschönigen. Das Neue galt als „Spartanerbrot“, es sei schmackhaft, haltbar und billig, im Ostseeraum und Skandinavien schon länger bewährt und werde bereits allüberall in Deutschland gebacken (Das Spartanerbrot, Hohenstein-Ernstthaler Anzeiger 1915, Nr. 200 v. 29. August, 6; Die neue Eiweißquelle – das Blut-Eiweiß-Brot, Sächsische Volkszeitung 1915, Nr. 166 v. 23. Juli, 1933). Das waren Wunschwelten der Propaganda. Auch das sogenannte N-Brot, ein mit Nährhefe fortifiziertes eiweißreicheres „Kraftbrot“, scheiterte am schlechten, durchdringenden Geschmack (N-Brot, ein Kraftbrot, Die Umschau 20, 1916, 14-15).

Verbesserte Zusatzstoffe: Trockenmilch

Der Fehlschlag der Eiweißanreicherung des Brotes in den 1890er Jahren und auch in den Notjahren des Weltkrieges war – so die naturwissenschaftlichen Experten – vorrangig Folge wenig ausgefeilter Zwischenprodukte, einer dringend verbesserungswürdigen Produktionstechnik und unzureichender Grundlagenforschung. Letzteres bezog sich auf die nur rudimentären Kenntnisse über den Geschmack der Nahrungsmittel und dessen Veränderungen während der Bearbeitung. Das war Gegenstand der Bromatik, die erst in der Zwischenkriegszeit größere Bedeutung gewann. Während des Kaiserreichs war Deutschland international führend in der Entwicklung und der Synthetisierung von Essenzen und Aromastoffen; und entsprechend der Außenblick, die Neigung, nicht die Produkte selbst zu optimieren, sondern ihnen verbessernd etwas zuzumengen. Die Lebensmittelherstellung blieb daher tradiert, „bewährt“. Das galt gerade für das Brot, dem seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder leistungsfähigere Backhilfsmittel beigemengt wurden, nachdem noch vor der Reichsgründung der Übergang vom Sauerteig- zum Backpulverbrot kläglich gescheitert war. Auch die seit den 1890er Jahren lautstark propagierte Brotreform zielte vorrangig auf anders vermahlene und vorbehandelte Mehle, während die chemischen Veränderungen während des Backens vielfach unbekannt waren und großenteils auch blieben.

Die Bewegung hin zu einem angereicherten Milcheiweißbrot wurde daher nicht von den Bäckern getragen. Sie war stattdessen Folge einer zunehmend marktbezogen arbeitenden Landwirtschaft. Dort entwickelte sich die Milchwirtschaft zur wichtigsten Einzelbranche, ökonomisch wichtiger als die gemeinhin mit dieser Zeit verbundene Schwerindustrie oder die chemischen Industrien. Wachsende urbane Märkte, das massenhafte Aufkommen von Separatoren, die Bildung von Molkereien und Molkereigenossenschaften, zunehmende Spezialisierung und die verstärkte Verwendung von Kraftfutter veränderten den Zuschnitt einer immer größeren Zahl bäuerlicher Existenzen. Tiermast, Butter- und Käseproduktion  spiegelten sich im wachsenden Aufkommen von Magermilch, die gemeinhin verfüttert wurde, während man Vollmilch und Milchfette verkaufte. Die um die Jahrhundertwende intensiv und mit kulturpessimistischen Tönen geführte Debatte um die „Entmilchung“ des Landes spiegelte diese Verschiebungen.

Die Magermilch enthielt meist nur einem halben Prozent, gar weniger Fett, war vorrangig Tierfutter. Marktnah wurde sie zu Magermilchkäse, den vor allem in Mitteldeutschland allgemein üblichen Weichkäsen bzw. Quark verarbeitet, diente auch als Grundlage für Buttermilch. Doch nicht zuletzt aufgrund fehlender Kühltechnik waren die Marktchancen für Kleinbetriebe begrenzt, blieb die Nutzung im eigenen Betrieb üblich. Dennoch wurde über neue, finanziell einträglichere Produkte aus Magermilch nachgedacht. Dabei gewann die Trocknung zu Trockenmilch, Milchpulver und Kasein wachsende Bedeutung. Das war Herrschaft über Zeit und auch Raum. Ein Teil davon mutierte zu Eiweißpräparaten, doch dieser Absatzmarkt war begrenzt – auch, weil die vielen kleinen Höfe und die regional noch sehr unterschiedlich verteilten Molkereien ihre Rohware schlechter bündeln konnten als etwa in Städten konzentrierte Schlachthöfe oder größere Stärkefabriken.

Die Masse der Trockenmilch wurde ohnehin importiert, lag der Schwerpunkt der ländlichen Industrie doch eher in Ostpreußen, wo 1913 neun Fabriken bestanden (W[ilhelm] Fleischmann, Lehrbuch der Milchwirtschaft, 5. neu bearb. Aufl., Berlin 1915, 469). Die inländische Produktion setzte 1890 ein, meist als Nebengewerbe größerer städtischer Milchverarbeiter wie Gebr. Pfund in Dresden oder Loeflund in Stuttgart (A[dalbert] Rabich, Ein Jahrhundert Molkereiwesen, in: Die deutsche Milchwirtschaft im Wandel der Zeit, Hildesheim 1974, 11-208, hier 92). Das Magermilchpulver wurde vorrangig in der Säuglingsernährung eingesetzt, zunehmend gefolgt von der Süßwarenindustrie. Anfangs wurde die Milch in Pfannen eingedampft, war entsprechend vitaminarm. Erst um 1900 führte man schonendere Walzenverfahren ein. Während des Ersten Weltkrieges nahm die Produktion beträchtlich zu, konnte aber die wegbrechenden Importe auch nicht ansatzweise ersetzen. Einen nennenswerten quantitativen Effekt auf die Magermilchverwertung besaßen die neuen Produktionsstätten ohnehin nicht.

Trockenmilch als Ersatzmittel für die kaum mehr verfügbare (Voll-)Milch während des Ersten Weltkrieges (Vorwärts 1915, Nr. 223 v. 28. September, Unterhaltungsbl., 2)

Trockenmilch milderte während des Ersten Weltkrieg in vielen urbanen Zentren die quantitative und qualitative „Milchnot“ – auch wenn das Pulver in Wasser teils nur schwer löslich war (Hugo Kühl, Trockenmilchpräparate als Liebesgaben, Zeitschrift für physikalische und diätetische Therapie 23, 1919, 693-696). Gewalzte Trockenmilch war keimarm, enthielt noch Vitamine, war preiswerter zu transportieren als Vollmilch (L[udwig] Eberlein, Die neueren Milchindustrien, Dresden und Leipzig 1927, 46-49). Dennoch dominierten nach dem Ende der Zwangswirtschaft wieder die Importe vorrangig aus den Niederlanden. Erst 1926 konnten die Deutschen die zuvor untersagten Schutzzölle neuerlich erhöhen, was den nun vermehrt entstehenden deutschen Unternehmen eine gewisse Plansicherheit gab. 1934 gab es reichsweit 41 Trocknungsanlagen, 26 Sterilisierungsbetriebe und vierzehn Kaseinwerke mit einer Kapazität von ca. 375 Mio. Liter, etwa drei Prozent des Anfalls. Ausgenutzt wurde davon aber nur ein Drittel (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Das neue Milcheiweißbrot sollte, so der Plan, die Auslastung massiv erhöhen und der Industrie einen dauerhaften Aufschwung verleihen. Obwohl die Qualität mittlerweile deutlich verbessert wurde – Wasserlöslichkeit war kein Problem mehr und neue Sprühtrockenverfahren verbesserten die Haltbarkeit und den Vitamingehalt – blieb die Akzeptanz der Trockenmilch begrenzt. In der Schweiz hatte man seit 1927/28 neuerlich Magermilchbrot propagiert, doch dies wurde weder von Bäckern noch Konsumenten angenommen (Mitteilungen aus dem Gebiete der Lebensmitteluntersuchung und Hygiene 19, 1928, 275). Der andersartige, teils fade Geschmack und auch die raschere Abgegessenheit ließen die Versuche immer wieder erfolglos enden (Magermilchbrot ist nicht begehrt, Der Bund 1934, Nr. 563 v. 2. Dezember, 6).

Eingesacktes Milchpulver der Trockenmilchwerke Lippstadt und Trockenmilchpresslinge (Zeno-Zeitung 1938, Nr. 282 v. 15. Oktober, 7 (l.); Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1197)

Erfolge der Agrarlobby: Beimischungszwang 1933

Das seit 1934 im Deutschen Reich propagierte Milcheiweißbrot war denn auch keine Angelegenheit marktnah arbeitender Kreise. Es stand vielmehr in der Tradition der seit 1929 von der damals gut organisierten und äußerst einflussreichen Agrarlobby durchgesetzten Beimischungszwänge. Das war Folge der schon länger schwelenden internationalen Agrarkrise, der trotz beträchtlicher Investitionen fehlenden Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft und ihrer wachsenden Überschuldung. Doch die Zeche einer Jahrzehnte zurückreichenden, teils bewusst unterlassenen Modernisierung, die ein wichtiger Aspekt auch der Versorgungskatastrophe während des Ersten Weltkrieges gewesen war, sollten nun die Verbraucher zahlen, deren Wahlmöglichkeiten man durch staatliche Interventionen marktfern verringern wollte. Das hatte Tradition, das 1914 eingeführte K-Brot wurde zwar als Kriegsbrot vermarktet, war jedoch ein mit Kartoffelwalzmehl angereichertes Produkt, das helfen sollte, die schwindenden Getreidevorräte zu strecken (Lebensmittelstreckung, Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 25, 1915/16, Sp. 559-562; Ferdinand Hueppe, Unser Kriegsbrot, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 726-731). Das Ergebnis war klitschig, wurde bald verschmäht. Zusätze von Stroh und Holz wurden erforscht, als Notbrote aber kaum eingesetzt (Heinrich Mohorcic und Wilhelm Prausnitz, Die Verwendung des Holzes zur Herstellung von Kriegsbrot, Archiv für Hygiene 86, 1917, 219-240). Der Mensch war doch kein Vieh…

Staatlich verordnete Beimischungszwänge wurden mit Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht nur im Deutschen Reich modisch, waren während der NS-Zeit endemisch und sind bis heute Teil auch sich marktwirtschaftlich nennender Wirtschaftspolitiken (Bioethanol). Es handelt sich um dirigistische Eingriffe in den Preismechanismus zu Lasten einzelner Gruppen. Sie sind ein klarer Bruch mit einer damals von der liberalen und katholischen Mitte und der SPD verteidigten Konsumentensouveränität. Den Anfang machte das qua Notverordnung veränderte Brotgesetz vom Dezember 1930, das zwar nicht die „Brotzwangswirtschaft“ (Das Roggenbrotgesetz, Vorwärts 1930, Nr. 51 v. 31. Januar, 3) einführte, wohl aber einen Beimischungszwang von Roggen zum Weizenmehl vorsah. Dies erfolgte gegen den massiven Widerstand der Bäcker, die um die Qualität des Standardbrotes fürchteten und Umstellungen ihrer Produktionsverfahren scheuten (Zwangsweise Beimischung von Roggenmehl zum Weizenmehl?, Weckruf 16, 1929, 1149-1150). Auch die Konsumgenossenschaften sahen die Roggenbegünstigung kritisch, wandten sich aber noch strikter gegen den Beimischungszwang von Butter zur Margarine 1933 (G[eor]g Büchlein, Beimischungszwang von Butter zur Margarine, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 30, 1933 4-5). Beimischungszwänge gab es jedoch zunehmend auch in anderen Wirtschaftsbranchen: Ab 1930 waren dem Treibstoff 2,5 Prozent Kartoffelsprit beizumengen, bis 1932 sollte dieser Anteil auf zehn Prozent steigen. Während der NS-Zeit sollte derartiger staatlicher Dirigismus die Umsteuerung auf deutsche Austauschstoffe begleiten und zur „Nahrungsfreiheit“ und Kriegsfähigkeit führen. Er war nicht länger vorrangig agrar-, sondern zunehmend staatspolitisch motiviert. Entsprechend erfolgten Beimischungszwänge ab 1936 zunehmend ohne Kennzeichnung, gleichsam hinter dem Rücken der Konsumenten. Die prekäre Devisenlage des Reiches und die teure Aufrüstung ließen derartige Eingriffe erforderlich erscheinen.

Kritik an den willkürlich erscheinenden Beimischungszwängen der Regierungen während der Präsidialdiktatur (Ulk 62, 1933, Nr. 1, 1)

Für unsere Frage nach dem Entstehen und der Propagierung des Milcheiweißbrotes 1934/35 müssen wir jedoch genauer hinschauen. Das im Juni 1931 neuerlich per Notverordnung geänderte Brotgesetz beendete erst einmal die Roggenmehlbeimischung zum Weizen, erlaubte nun aber dem Weizenbackwerk bis zu zehn Prozent Kartoffelstärkemehl beizumengen (Das neue Brotgesetz 1931, Nr. 174 v. 25. Juni, 3). Im Herbst 1931 endete die Freiwilligkeit, nun musste dem Brot Kartoffelstärkemehl zugefügt werden, um so zusätzlich 600-700.000 Tonnen Kartoffeln abzusetzen (Neue Erleichterung des Kartoffelabsatzes, Kölnische Zeitung 1931, Nr. 533 v. 30. September, 1). Das Bäckerhandwerk protestierte scharf, konnte den Beimischungszwang jedoch nicht verhindern. Ähnlich war es im Dezember 1932, als zudem Kartoffelwalzmehl genutzt werden sollte, also der vom K-Brot des Weltkrieges bekannte Hilfsstoff: „Wenn der Reichsinnenminister glaubt, daß der Bäckermeister sich bereitfinden würde, neben dem aufgezwungenen Kartoffelstärkemehl auch noch Kartoffelwalzmehl zu verwenden, dann ist er in einem großen Irrtum“ (Kartoffelwalzmehl zum Roggenbrot?, Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung (RBKZ) 35, 1933, 40). Beides gehöre nicht in die Backstube. All dies erfolgte während der Präsidialdiktaturen, bereitete aber dem Milchweißbrot den Weg.

Wie verwerten? Magermilch zwischen Tierfutter und Eiweißreserve (Ernährungsdienst Nr. 13, 1936, 5)

Schon vor der Machtzulassung der NSDAP wurden weitere Beimischungszwänge für die Brotherstellung diskutiert, darunter auch die verpflichtende Verwendung von Magermilch. Während der Agrar- und Weltwirtschaftskrise war dieser Reststoff der bäuerlichen Milchwirtschaft zu einem immer größeren Problem geworden. Eine breitere gewerbliche Nutzung war jedoch kaum möglich, auch das Verbacken frischer Magermilch schien unmöglich: Die Bäcker intervenierten früh, verwiesen auf die hohen Transportkosten, fehlende Kühltechnik und Maschinen, sprachen von einem um fünf bis sechs Pfennig teureren Brot: „Das Bäckerhandwerk kann derartige Lasten erst recht nicht auf sich nehmen, abgesehen davon, daß die Bevölkerung sich noch mehr vom Brotverzehr – nicht zuletzt auch zum Schaden der Landwirtschaft – abwenden wird“ (Magermilch in Bäckereien, RBKZ 35, 1933, 74). Dennoch wurde am 12. September 1933 das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch erlassen. Milch und Brot gingen damit eine erzwungene Symbiose ein, die ein gutes Jahr später in das Milcheiweißbrot münden sollte.

Auf dem Weg zur reichsweiten Einführung

Das neue Brot wurde offiziell Ende Oktober 1934 vorgestellt und sollte ab dem 1. November allgemein verfügbar sein. Dies war nicht Ausfluss einer stringenten Agrarpolitik, sondern Resultat einer durch die massiven staatlichen Eingriffe mit verursachten Versorgungskrise. Sie hatte sich bereits 1933 ankündigt, war während der ernsten Wirtschafts- und Finanzkrise im Frühjahr 1934 jedoch kaum mehr zu überdecken. Kartoffeln wurden zunehmend knapp, die Kritik der Bäcker an der zwangsweisen Verwendung des Kartoffelmehls hallte nach, zugleich galt die Magermilch aufgrund der freien Kapazitäten als gut erschließbare Nahrungsreserve (P[aul] Schuppli, Ueber Beimischung von Magermilch bei der Broterzeugung in Deutschland im Interesse der besseren Milchverwertung, Der fortschrittliche Landwirt 17, 1935, 70). Das Gesetz über die Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch sah anfangs allerdings nur geringe Anteile von einem halben bis einem Prozent Milchpulverzusatz vor. Anfang 1934 wurde erst in Bayern, dann auch im Südwesten erlaubt, das Kartoffelmehl gänzlich durch Magermilch zu ersetzen (Verwendung von Trockenmagermilch in Württemberg, RBKZ 36, 1934, 140). Als am 15. Oktober 1934 das Gesetz auslief, trat an seine Stelle nunmehr eine formal freiwillige Anreicherung der Brote mit mindestens 2,5 Prozent Magermilchpulver. Die gleichgeschaltete Presse applaudierte: Schon Kartoffelmehl habe die Brotqualität gehoben, doch mit der neuen eiweißhaltigen Magermilch werde eine „weitere Verbesserung“ (Milch-Eiweiß-Brot, Hannoverscher Kurier 1934, Nr. 498 v. 24. Oktober, 2) erzielt.

Bevor wir uns der Einführungspropaganda widmen, müssen wir uns noch einem eigenartigen Phänomen zuwenden, das für die NS-Ernährungspropaganda recht typisch werden sollte. Das Milcheiweißbrot erschien als begrüßenswerte Neuschöpfung – doch faktisch wurde es bereits 1933 öffentlich immer wieder erwähnt, mutierte seit Frühjahr 1934 gar zu einem gängigen Vorzeigeobjekt. Es gab also eine Vorpropaganda, die zwar die Vorstellung einer grundstürzenden Neuerung unterminierte, die aber die Einführung des Milcheiweißbrotes vorbereitete.

Die Machtzulassung der NSDAP Ende Januar 1933 bedeutete anfangs massive Gewalt gegen die Opposition, doch parallel führte die neue konservativ-nationalsozialistische Regierung Maßnahmen der Zeit der Präsidialdiktatur, teils auch der parlamentarischen Demokratie weiter. Für die Milchwirtschaft war das Milchgesetz von 1930 die entscheidende Wegmarke. Und es war der 1926 gegründete Reichsmilchausschuss, der 1933 nicht nur weiter für einen höheren Milchkonsum warb, sondern auch ein Milcheiweißbrot freudig präsentierte (Flugtag in Berlin, Stuttgarter Neues Tagblatt 1933, Nr. 357 v. 3. August, 17). Das sei Ergebnis neuerlicher agrarwissenschaftlicher Forschungen zur Nutzung der Magermilch: „Bei der Brotherstellung fand Milch schon Verwendung, soweit es sich um Weißbrot handelt. Eingehende Versuche haben nun ergeben, daß auch die Verwendung entrahmter Milch in flüssiger Form oder als Milchpulver bei der Herstellung von Roggenbrot ein sehr wohlschmeckendes Brot ergibt, das durch Erhöhung des Eiweißgehalts dem mit Wasser hergestellten Roggenbrot vorzuziehen ist“ („Milcheiweißbrot“, Neckar-Bote 1933, Nr. 206 v. 5. September, 5).

„Milcheiweißbrot“ vor der Einführung: Stellenanzeige für Milchpulver-Vertreter (Neue Mannheimer Zeitung 1934, Nr. 409 v. 6. September, 14)

Backversuche schlossen sich an, umfangreiche Überlegungen zur Werbung, zunehmend auch Gespräche mit den beteiligten Wirtschaftskreisen. Gerade in der Trockenmilchindustrie bereitete man sich vor, musste die Milchpulverproduktion doch beträchtlich gesteigert werden, um den erwarteten Bedarf zu decken. Die Dauermilchindustrie wurde neu strukturiert, ihr eine staatliche „Marktordnung“ und ein neues Ziel verliehen: „Milcheiweißbrot, das deutsche Kraftbrot, wird in kurzer Zeit das tägliche Brot von Millionen Verbrauchern sein, und damit wird ein erhöhter Absatz von entrahmter Milch auf lange Zeit hinaus gesichert“ (Die Regelung der Dauermilch-Industrie, Lüdenscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 187 v. 13. August, 9). Die Milchwirtschaftsverbände luden schon im September 1934 Journalisten, Frauenverbände und NS-Repräsentanten zu Besichtigungsfahrten von Molkereien und auch – wenn vorhanden – Trockenmilchfabriken ein, präsentierten dort schon Milcheiweißbrothäppchen für die Multiplikatoren (Besichtigungsfahrt in das Milcheinziehungsgebiet Witten, Wittener Tageblatt 1934, Nr. 204 v. 1. September, 4; Eine Fahrt ins Milchland, Bottroper Volkszeitung 1934, Nr. 268 v. 29. September, 5). Milcheiweißbrot wurde vorher bereits auf der seit Ende April 1934 in Berlin gezeigten NS-Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ präsentiert, die heute vornehmlich durch die Beiträge führender Bauhäusler in Erinnerung geblieben ist (RBKZ 36, 1934, 510). Ende Mai fand man es auf der ersten Reichsnährstand-Ausstellung in Erfurt, 11.000 Brote sollen damals in Bäckereien und der Milchkosthalle verkauft worden sein (Ostpreußische Zeitung 1934, Nr. 294 v. 24. Oktober, 12). Das Mitte März neu gegründete Reichskommissariat für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft präsentierte das Milchweißbrot dann auf der Jahresmesse für das Gastwirts-, Hotelier- und Konditorengewerbe in Berlin: „Die neue Brotart wird erst ab 15. Oktober im Handel sein, um dann schlagartig in jeder Bäckerei um die Gunst des Publikums zu werben“ (Milcheiweißbrot und Drei-Fett-Topf. Revolution im Haushalt, Dresdner Nachrichten 1934, Nr. 466 v. 4. Oktober, 6). Schlagartige Präsenz mit zugestandenem Vorlauf.

Werbefotos mit Brot und Plakaten (Volksgemeinschaft 1934, Nr. 293 v. 27. Oktober, 4 (l.); Velberter Zeitung 1934, Nr. 292 v. 24. Oktober, 3)

Das Reichskommissariat verbreitete derweil vorbereitete Artikel, in denen die kommende Melange von Milch und Brot schmackhaft gemacht wurde (Milch und Brot – Milcheiweißbrot, Nethegau- und Weser-Zeitung 1934, Nr. 125 v. 15. Oktober, 4). Das neue Brot sei traditionsreich, eiweißreich und doch billig, ein „Aufbaubrot für jung und alt“, ein wahres Volksbrot, „das als kraftvolles, kerniges Brot ein kraftvolles, kerniges Volk zu schaffen vermag“ (Steinheimer Zeitung 1934, Nr. 240 v. 16. Oktober, 6). Hausfrauen wurden gezielt angesprochen, das Kommende vor Augen geführt: „In den Schaufenstern zahlreicher Bäckereien wird ein Schild, das ein appetitliches, mit Banderole versehenes Brot zeigt, den Hausfrauen in die Augen springen“ (Jetzt gibt’s Milcheiweißbrot, Zeno-Zeitung 1934, Nr. 288 v. 19. Oktober, 8). Trotz weiterhin hoher, wenngleich rasch abklingender Arbeitslosigkeit, trotz eines nur langsam und mit Stockungen in Gang kommenden Wirtschaftsaufschwungs, sollten sich die Konsumentinnen auf das neue Brot freuen. Man gab sich sicher, dass es gern gekauft werden würde („Milcheiweißbrot“, National-Zeitung 1934, Nr. 249 v. 23. Oktober, 4), schließlich sei man dem neuen Deutschland und seinem „Volkskanzler“ gegenüber verpflichtet. Experten- und Diktatorenträume…

Ein neues, vielgestaltiges Produkt

Sorgender Staat: Kunde von einem neuen Volksnahrungsmittel (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3)

Das Milcheiweißbrot wurde im Oktober 1934 als neues Volksnahrungsmittel angekündigt, also als ein wichtiger und bleibender Beitrag zur Alltagsernährung. Trotz der Vorpropaganda, trotz der auf mehreren Ausstellungen und Messen verteilten Proben handelte es sich jedoch erst einmal um eine erläuterungsbedürftige Worthülse. Entsprechend war die Propaganda geprägt von vermeintlichen Sachinformationen. Propaganda, auch die nationalsozialistische, bedarf nachprüfbarer Fakten, sogenannter rationaler Propaganda (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021 [ebook], 114-115). Was also war das neue Milcheiweißbrot?

Seitenansicht eines Milcheiweißbrotes (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 555)

Erste Nachrichten besagten, daß es „jetzt nach einem vorgeschriebenen Rezept ein Milcheiweißbrot [gibt, US], das als neuartiges Kraftbrot anzusehen ist, denn es enthält im Gegensatz zu dem üblichen Brot das außerordentlich nahrhafte Milcheiweiß“ (Rheinisches Volksblatt 1934, Nr. 249 v. 24. Oktober, 8). Genauere Information findet man nur in der Fachliteratur. Ein Grundrezept lautete bei der Einführung: „750 Gramm Vollsauer aus Roggenmehl Type 997, 10 Gramm Salz, 475 Gramm Mehl Type 997 und 25 Gramm Milchpulver (bzw. 15 Gramm Kasein und 485 Gramm Mehl) wurden zu einem normalen Teig von 27 Grad Celsius verarbeitet. Der Tag kam eine Stunde in den Gärschrank von 38 Grad Celsius, hierauf wurde durchgewirkt, gewogen und ein Laib von 1400 Gramm Teiggewicht ausgeformt. Nachdem die Ofengare der Laibe erreicht war, wurden sie innerhalb 45 Minuten bei 260 Grad ausgebacken“ (P[aul] Pelshenke und A[dolf] Zeisset, Backprüfung der Magermilchpulver, RBKZ 38, 1936, 5-6, hier 5). In der Backstube waren die Mengen natürlich größer.

Der Einführung gingen umfangreiche Backversuche in verschiedenen Gebieten Deutschlands voraus, auch wenn nicht klar ist, ob die immer wieder genannte Zahl von mehr als 100.000 Versuchsbroten wirklich belastbar war oder nicht doch der nationalsozialistischen Freude am Mächtig-Gewaltigen entsprach. Sie wurden unter den Auspizien von Hans Adalbert Schweigart (1900-1972) vorgenommen, einer schillernden Figur während der NS-Zeit, auch während der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik. Nach der Promotion zum Chemiker arbeitete er von 1928 bis 1932 in der Produktentwicklung der Saalfelder Schokoladenfabrik Mauxion, deren Schoko- und Kakaotrunk damals beträchtlichen Erfolg hatte. Schweigart wechselte dann zum Reichsmilchausschuss, agierte als Hauptabteilungsleiter des Reichsnährstandes, wurde 1935 schließlich Direktor des Berliner Instituts für Milchwirtschaft. Er war ein gutes Beispiel für zahlreiche junge nationalsozialistische Akademiker, die ihre Karrieren vor allem den massiven Investitionen in die Agrar- und Ernährungsforschung verdankten. Nach Schweigart erprobte man „bei Privatbäckern, in Konsumbäckereien, in der Militärbackanstalt“ verschiedene Backverfahren. Im Gegensatz zur Vorstellung vom Einheitsrezept gab es jedoch keine verbindlichen Backvorschriften. Milcheiweißbrot konnte „als Vollkornbrot, Schwarzbrot, Graubrot oder Feinbrot gebacken“ werden, wahlweise „mit Sauerteig- oder Hefeführung“ (Hans Adalbert Schweigart, Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 510-512, hier 511).

Varianten des Milcheiweißbrotes (National-Zeitung 1936, Nr. 195 v. 18. Juli, 3)

Positionierung und Abgrenzung einer Lebensmittelinnovation

Milcheiweißbrot war demnach ein Dachbegriff, denn es konnte sehr unterschiedlich ausfallen. Das verbindende Element dieser Brote war schlicht der Zusatz von Magermilchpulver oder – sehr selten – Nährkasein. Angesichts der zuvor schon beleuchteten Vorgeschichte war sein Platz im etablierten Gefüge der Standardbrote unklar. Die rationale Propaganda positionierte es erst einmal negativ.

Milcheiweißbrot war demnach erstens kein Einheitsbrot. In zahllosen Artikel wurde im Oktober 1934 immer wieder hervorgehoben, dass der Kauf freiwillig sei, „kein Zwang“ (Karlsruher Tagblatt 1934, Nr. 295 v. 25. Oktober, 5) auf die Konsumenten ausgeübt würde. Es handele sich um ein ergänzendes Angebot: „Um den Schein eines Abnahmezwanges zu vermeiden, wird es nur dort verkauft, wo auch normales Brot feilgehalten wird“ (Stadtanzeiger für Wuppertal und Umgebung 1934, Nr. 251 v. 26. Oktober, 4). Zweitens grenzte man das Milcheiweißbrot explizit vom Kriegsbrot ab; ein Vorwurf, der nicht zuletzt innerhalb der Arbeiterschaft, innerhalb der unterdrückten und still geprügelten Opposition artikuliert wurde. Der Dresdener Arzt und Sachbuchautor Georg Kaufmann betonte demgegenüber: „Das jetzt zur Einführung gelangende Kraftbrot (Eiweißbrot) stellt keineswegs ein Ersatznahrungsmittel dar. Es handelt sich nicht lediglich um eine Streckung des Brotgetreides, wie wir das aus der Kriegszeit her kennen“ (Kraft durch Brot. Zur Einführung des neuen Milcheiweißbrotes, Dresdner Neueste Nachrichten 1934, Nr. 256 v. 3. November, 5).

Derartige negative Positionierung sollte Ängste abzubauen, Ängste, die den Propagandisten durchaus gewahr waren. Es gab jedoch zweitens eine durchaus zutreffende positive Positionierung. Sie zielte auf den praktischen Nutzen des neuen Brotes für die Käufer. Das neue „Volksbrot“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1934, Nr. 303 v. 3. November, 5) wurde erstens als wichtige Erweiterung und Verbesserung der gängigen Nahrungspalette vorgestellt. Man klebe in dieser dynamischen Zeit des Umsturzes nach vorn nicht an den vom Bäckerhandwerk emsig verteidigten fünf Grundsorten, führe zugleich nicht auf Abwege in die Irrungen und Wirrungen der lebensreformerischen Spezialbrote. Das war noch vor der reichsweiten Propagierung erst von Knäcke-, dann vor allem von Vollkornbrot. Zweitens konzentrieren sich die Artikel immer wieder auf den höheren Nährwert des Milcheiweißbrotes. Das war die Essenz des Werbeattributs „Kraftbrot“. Diese Bezeichnung stand in einer langen Bedeutungskette, nicht nur weil man im frühen 19. Jahrhundert damit das teuer-lockende Marzipan vermarktete. Seit den 1860er Jahren findet man es auch in Anzeigen von Bäckern, doch sein Durchbruch in die Alltagssprache erfolgte erst drei Jahrzehnte später. Der bescheidene Vorzeigemönch und Marketingvirtuose Sebastian Kneipp (1821-1897) gab seinen Namen nicht nur für zahllose Reformwaren, sondern auch einem von ihm grob empfohlenen „Kraftbrot“ (Linzer Zeitung 1891, Nr. 37 v. 15. Februar, 9; Der Landbote 1893, Nr. 31 v. 14. März, 2). Der Begriff fand dadurch breiten Widerhall, zumal im schillernden Umfeld der Lebensreformbewegung. Das Steinmetz-Vollkornbrot war als Spezialbrot recht teuer, zeichnete sich durch eine ausgefeilte Werbung und auch eine Verbreiterung der eigenen Angebotspalette aus. Seit spätestens 1911 trat das „Kraftbrot“, ein dunkles Familienbrot, an die Seite des hellen Vollbrotes, des Rheinischen Roggenschrotbrotes und des nach Dr. Bircher benannten Grahambrotes (Badischer Beobachter 1911, Nr. 126 v. 3. Juni, 8; Badische Presse 1911, Nr. 207 v. 5. Mai, 6). Diesen Reformbroten gemein war eine niedrigere Ausmahlung, entsprechend warb man mit dem leicht höheren Eiweißgehalt, mochte die Resorption auch geringer sein. Das schon erwähnte N-Brot war mit seinem Zusatz von 2,5 Prozent Nährhefe, seinem höheren Eiweißgehalt und seinem einige Pfennige höheren Preis nicht nur „Kraftbrot“, sondern ein unmittelbarer Vorläufer des Milcheiweißbrotes (Das N-Brot, ein Kraftbrot, Fremden-Blatt 1916, Nr. 49 v. 18. Februar, 2).

Schlagzeilen des Neuen (Bergische Wacht 1934, Nr. 247 v. 25. Oktober, 1 (o.), Buersche Zeitung 1934, Nr. 292 v. 25. Oktober, 1)

Dessen Nährwert lag durch die zwar kleine, doch konzentrierte Beimischung von Magermilch in der Tat leicht höher als beim Standardbrot. Das neue „Kraftbrot“ sei daher nahrhafter, nährstoffreicher, sein leicht höherer Preis keine Verteuerung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 248 v. 26. Oktober, 4). Dies wurde auch durch den pointierten Slogan „Kraft durch Brot“ auf den Punkt gebracht (Kraft durch Brot, Stuttgarter Neues Tagblatt 1935, Nr. 28 v. 17. Januar, 17). Die NS-Sprache schuf ihren eigenen Welten: „Kraft durch Freude“ werde die Freizeitgestaltung revolutionieren, das Milcheiweißbrot die Alltagsernährung. In der Tat propagierten mehrere Ärzte, etwa der Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1946), das angereicherte Brot als Beitrag gegen die während der Weltwirtschaftskrise qualitative Eiweißunterernährung großer Bevölkerungsschichten, die zu Wachstumsrückständen und Nährschäden geführt hatte (Naturgemäße Ernährung und Eiweißstoffwechsel, Medizinische Klinik 31, 1935, 331).

Intrinsische Motivation: Der Konsument als ein angeleitetes, doch selbst handelndes Wesen (Victor Vogt, Taschenbuch der Geschäftstechnik, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1927, 853)

Drittens schließlich diente das Milcheiweißbrot auch der Formung des modernen Konsumenten in der Zeit des Nationalsozialismus. Die fortifizierte Innovation wurde einerseits als Teil einer umfassenden Verwissenschaftlichung der Lebensmittelproduktion präsentiert. Adolf Bickel habe seit 1929 für eine moderne Magermilchverwertung plädiert: „Die nationalsozialistische Regierung hat diesen Gedanken aufgegriffen und in dem Milcheiweiß verwirklicht“ (Auf das Eiweiß kommt es an!, Herforder Kreisblatt 1935, Nr. 27 v. 1. Februar, 7). Brot fern des Tradierten, als Anwendungsfeld des deutschen Geistes. Wilhelm Ziegelmayer (1898-1951), zentrale Figur für die Umgestaltung der Wehrmachtsverpflegung und anschließend zentrale Figur der Versorgungswirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR, betonte die Koppeleffekte des Eiweißzusatzes: Brot habe einen Eiweißgehalt von fünf bis sieben Prozent, das Milcheiweiß erhöhe ihn um an sich geringe ein bis zwei Prozent. Entscheidend aber sei die weit größere physiologische Wirkung. Das Milcheiweiß erlaube eine deutlich bessere Erschließung des Getreideeiweißes, das im Standardbrot nur zur Hälfte genutzt werde. Milcheiweißbrot sei daher ein wichtiges Element einer vollwertigen Ernährung (Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung, Dresden und Leipzig 1936, 148). Für die jungen Experten und die NS-Machthaber war das neue Brot anderseits Testlauf für den neuen nationalsozialistischen Konsumenten, der den eigenen Nutzen nicht vernachlässige, der ihn aber in einen völkischen Zusammenhang stelle. Zwang werde nicht ausgeübt, müsse auch nicht ausgeübt werden, denn nun werde „an die Stelle des Zwanges der Gemeinschaftssinn“ treten („Neues Brot“, Lippische Tageszeitung 1934, Nr. 251 v. 27. Oktober, 5). Das Neue sei sinnvoll, würde daher gekauft werden, denn es sei Materialisierung der wechselseitig verpflichteten Volksgemeinschaft auf rassischer Grundlage. Milchweißbrot werde die zuvor teils nutzlos vergossenen Ströme entrahmter Milch wieder in den Kreislauf menschlicher Ernährung lenken. Die Bauern würden davon unmittelbar profitieren, auch alle Konsumenten: „Was für den zartesten Säugling, der eben der Mutterbrust entwöhnt ist, taugt und ihn zu einem aufblühenden Menschenkinde macht, das gesund und quicklebendig ins Leben geht, das ist auch geeignet, dem Heranwachsenden und dem im Kampf ums Dasein nach dem täglichen Brot greifenden Aelteren die Kräfte zu erhalten und aufzubessern. Die für die Gesundheit der Familie verantwortliche Hausfrau, der allein für sich sorgende Berufsmensch, das lebendig hungrige Jungvolk und die hart arbeitenden Männer, sie alle finden, was sie suchen und für den täglichen Kampf brauchen, im Milcheiweißbrot“ (Was ist Milcheiweißbrot?, Der Weckruf 22, 1935, 138). Das war typischer NS-Kitsch, doch er etablierte sich, wurde wohl auch geglaubt. Wichtig ist, dass die hier aufgeführten sechs Positionierungen nicht nur in derartigen Kitsch, in die übliche Selbstbeweihräucherung mündeten. Alle besaßen ein Fünkchen Wahrheit, alle waren nicht unmittelbar von der Hand zu weisen. Blicken wir nun aber auf die Markteinführung und die sie begleitende, deutlich breiter gefasste Propaganda.

Reichsweite Einführung mit Wumms

Das Milcheiweißbrot wurde am 25. und 26. Oktober in fast allen deutschen Tageszeitungen ähnlich vorgestellt, ein zweiter oft mit Bild versehener Text folgte vielfach am nächsten Tag. Das war Ergebnis des nationalsozialistischen Presselenkung. Die Presseanweisung am 24. Oktober lautete lapidar: „Bitte übernehmen Sie von DNB eine Meldung des Reichsnährstandes über die Schaffung eines Mich-Eiweiß-Brotes [sic!]“ (Gabriele Toepser-Ziegert (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, Bd. 2: 1934, München et al 1985, 437). Das war eine Meldung ganz im Sinne des Regimes, setzte es der sich 1934 allgemein verschlechternden Brotqualität und -versorgung doch etwas Positives entgegen. Und sie war gewiss angenehmer, als die wabernden Gerüchte einer bevorstehenden Brotstreckung oder aber der chemischen Konservierung von Brot und Getreide zu dementieren (ebd., 406 (5. Oktober), 423 (18. Oktober)).

In der verpflichtend abzudruckenden Meldung wurde erstens das Ende der Kartoffelmehlbeimengung bestätigt und zweitens für den 1. November ein neues Milcheiweißbrot mit einer „Beimischung pulverisierter entrahmter Milch“ angekündigt. Drittens präsentierte man das neue Produkt als Spezialbrot, als Ergänzung des ortsüblichen Brotes, etwas teurer, doch kräftiger, nahrhafter und gesunder. Mit nationalsozialistischem Paukenschlag tönte sie von einem „Erzeugnis des Gemeinschaftsgeistes vom Erzeuger bis zum Verbraucher“. Zwang werde nicht ausgeübt, doch die Bäcker müssten klare Vorgaben erfüllen, wenn sie das neue „Kraftbrot“ anbieten wollten. Viertens schließlich präsentierte man die Neueinführung als Ausdruck eines sorgenden Staates, in dem Wissenschaft und Praxis zielgerichtet zusammenarbeiten würden, um „Qualitätsleistung“ für den Verbraucher zu gewähren, um Bauern und Bäcker zu entlasten. 18.000 Anträge für die Herstellung lägen bereits vor, bald schon könne man das mit Streifband und Marke versehene Brot kosten und kaufen (Milcheiweißbrot, das Kraftbrot, Badische Presse 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 7; Das neue Milch-Eiweißbrot, Der Sächsische Bauer 82, 1934, 889). Der Grundtext scheint im Norden etwas ausführlicher abgedruckt worden zu sein, schließlich gab es in Bayern und dem Südwesten bereits ein gering angereichertes Magermilchbrot (Das neue Kraftbrot, Aachener Anzeiger 1934, Nr. 248 v. 24. Oktober, 1).

Reichsweite Präsentation in der Presse Ende Oktober 1934: Banderole und Marke des Milcheiweißbrotes (Hakenkreuzbanner 1934, Nr. 497 v. 27. Oktober, 4)

Die Vorlage des Reichsnährstandes wurde von den seit dem Schriftleitergesetz vom Oktober 1933 zwingend „politisch unbedenklichen“ und „arischen“ Redakteuren inhaltstreu, doch mit leichten Variationen und unterschiedlichen Schlagzeilen umgesetzt. Man schrieb durchaus von dem geringen Beifall zur Kartoffelstärkemehl-Beimischung, präsentierte das neue Produkt als Resultat eines Kritik aufgreifenden Staates (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 250 v. 25. Oktober, 3). Die deutschsprachige Presse des Auslandes berichtete ebenso (Einführung des Milcheiweißbrotes in Deutschland, Pester Lloyd 1934, Nr. 241 v. 25. Oktober, 9; Lodzer Volkszeitung 1934, Nr. 293 v. 25. Oktober, 1; Milch – Eiweißbrot – das deutsche Kraftbrot, Deutsche Rundschau in Polen 1934, Nr. 248 v. 30. Oktober, 2). Nur wenige Redakteure gaben zusätzliche Informationen, erwähnten etwa, dass die Rezepte erst später backtechnisch erprobt und verbreitet werden würden (Das Milcheiweißbrot, Dortmunder Zeitung 1934, Nr. 498 v. 25. Oktober, 12).

Plakatwerbung in Bäckereien (Rheinisches Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 511)

Die Meldungen informierten über das Neue, positionieren das Brot in den oben dargelegten Formen, ermöglichten zugleich ein Vorabbild des Brotes. Gedruckt wurde einerseits das in den Bäckereien anzubringende Werbeplakat, das nur die teilnehmenden Betriebe nutzen durften. Es zeigte ein aufgeschnittenes Langbrot mit hellem Teig, kennzeichnete es als gehaltvoll, wohlschmeckend und nahrhaft. Daneben trat häufig ein kleines adlerbewehrtes Zeichen, eine Marke, die von außen sichtbar die Verkaufsstelle markierte. Man schuf also Bilder, wenngleich das Brot noch nicht zu kaufen war. Damit glaubte man eine gewisse Spannung schaffen zu können. Konsumenten wurden im Sinne eines simplen Reiz-Reaktions-Schemas angesprochen: Hier Plakat und Verkaufsstellen-Signet, dort kaufen. Weitere Bilder unterstrichen das Versprechen eines hochwertigen Spezialbrotes. Das Milcheiweißbrot war ein Markenprodukt, war mit einer Banderole versehen, mit einer Garantiemarke beklebt (Bremer Zeitung 1934, Nr. 297 v. 27. Oktober, 7; Durlacher Tagblatt 1934, Nr. 254 v. 30. Oktober, 7). Die Bäcker waren an strikte Qualitätsvorgaben gebunden, durften das Brot erst nach einem Anerkennungsverfahren backen, in dem sie sich an reichsweite Vorgaben binden mussten. Dazu gehörte auch die Verwendung einheitlicher Werbematerialien. Gleichwohl sollten die Bäcker auch eigenständige Propaganda betrieben. Einheitlicher Auftritt und variable Ergänzungen, so das Ziel.

Freiwillige Ergänzungen gab es schon in den Zeitungen und (seltener) Zeitschriften. Das galt vor allem für ein kurzes „Interview“ mit Hans Adalbert Schweigart, der Kernbotschaften bündelte und freudig betonte, dass das neue Brot schon bald an der Spitze der Spezialbrote des Reiches stehen werde (Westfälische Zeitung 1934, Nr. 252 v. 26. Oktober, 5; Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 296 v. 26. Oktober, 5). Darin kündigte er zudem einen „großen umfassenden Werbefeldzug“ an (Milchweißbrot [sic!] an der Spitze der Spezialbrote, Badischer Beobachter 1934, Nr. 293 v. 26. Oktober, 8).

Nachziehender Aufbau des Vertriebs

Die Werbung für das Milcheiweißbrot war visuell durchaus ansprechend, erfolgte in der Tradition der landwirtschaftlichen Werbeausschüsse, die im Anschluss an das landwirtschaftliche Notprogramm seit 1928 mit immensen Kosten für heimische Lebensmittel warben (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 334-339). Auch wenn das neue Brot „gesund“ war, so stand dieses für spätere NS-Kampagnen typische Attribut noch nicht im Mittelpunkt der Propaganda, ging es beim Kraftbrot doch weit stärker um den Nährwert.

Dennoch war die Einführung des Milcheiweißbrotes durchaus charakteristisch für die Propaganda in der Frühphase des NS-Regimes. Es ging nicht mehr um martialisch ins Bild gesetzte Massenveranstaltungen und SA-Aufmärsche, um einen fordernden Redner, wie während der Durchbruchsphase 1930 bis 1932. Diese Bildwelten waren verfälschend geglättet, zeigten nur selten – wie etwa in Leni Riefenstahls (1902-2003) Film „Sieg des Glaubens“ über den 5. NSDAP-Reichsparteitag – irritiert in die falsche Richtung marschierende Männerhorden. Sie widmeten sich auch nicht den massiven hygienischen Problemen urinierender und defäktierender Menschen, geschweige denn den unzähligen Übergriffen auf fesche Mädel. All dies wurde propagandistisch glattgezogen, wird in heutigen Dokumentationen entsprechend übergangen. Bei der Einführung eines neuen Lebensmittels aber bildete die Verkaufstheke ein regulatives Moment. Die Einführung blieb größtenteils virtuell, denn es gelang anfangs nicht, Milcheiweißbrot in nennenswerter Menge herzustellen und zu verkaufen. Milcheiweißbrot steht entsprechend für das Maulheldentum der frühen NS-Expertokatrie, das an den Willen zur Veränderung und zum Mitziehen appellierte, zugleich aber die Mühen der Ebene vernachlässigte. Es bedurfte mehrerer Jahre organisatorischen Feinschliffs, ehe die Interaktion zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, NSDAP und Staat soweit eingespielt war, das angekündigte Produkte auch wirklich käuflich waren. Vollkornbrot, der Eiersatz Milei oder das Molkenährmittel Migetti waren dafür gute Beispiele.

Die Einführung des Milchweißbrotes 1934 verzögerte sich nicht nur aufgrund der für die deutsche Wirtschaft und insbesondere Naturwissenschaftler recht typischen Vernachlässigung der Vertriebsprobleme, sondern es hakte auf verschiedenen Ebenen: Beim bürokratischen Antragswesen, der unzureichenden Integration der Bäcker und Magermilchproduzenten sowie der Neigung, die Lebensmittelinnovation schlagartig einzuführen, statt sie langsam und stetig in den Markt einsickern zu lassen.

Werbung für Spezialbedarf: Gummierapparat und Backhilfsmittel für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 640 (l.); ebd. 37, 1935, 23)

Beginnen wir mit der rasch zunehmenden Bürokratie: Seit 1930 wurde die Gewerbefreiheit im Deutschen Reich vielfältig eingeschränkt. Die Beimischungszwänge entfernten tradierte Lebensmittel aus den Läden, setzten an ihre Stelle Kunstprodukte staatlichen Willens. Die Devisenzwangswirtschaft verringerte die Möglichkeiten, Rohwaren frei einzukaufen. Notverordnungen und der im Aufbau befindliche Reichsnährstand legten Preise (und Löhne) fest, ebenso Mengenbeschränkungen. Staatliche, vor allem aber vom Staat (und der NSDAP) beauftragte Institutionen etablierten eine umfangreiche Bürokratie. Milcheiweißbrot war nur mit einer offiziellen Erlaubnis möglich. Dazu musste ein Bäckermeister ein Antragformular von seinem Obermeister anfordern, der dieses wiederum vom regionalen Milchwirtschaftsverband erhielt. Der Antrag musste ausgefüllt an den Obermeister zurückgesandt werden, dieser kommentierte ihn, um ihn dann dem Milchwirtschaftsverband zur Entscheidung weiterzuleiten, der schließlich eine im Regelfall zeitlich begrenzte Genehmigung erteilte (Anträge auf Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 555). Anschließend musste sich der Bäckermeister um die Trockenmilch kümmern, die er nicht einfach so kaufen konnte. Milchpulver wurde den regionalen Innungen und Verkaufsgenossenschaften entweder von der Reichszentrale Deutscher Bäckergenossenschaften eGmbH in Berlin oder aber der dort ebenfalls residierenden Gemeinschaft Deutscher Lebensmittel-Großhändler zugewiesen, deren Kontingente zuvor bei der Reichsstelle für Milcherzeugnisse, Öle und Fette angemeldet und bewilligt werden mussten (Werner Johann, Der Vertrieb des Milchpulvers, RBKZ 36, 1934, 555). Es ist nachvollziehbar, dass die Anfang Oktober 1934 vielen Bäckern noch nicht bekannte Einführung zum 1. November nicht umgesetzt werden konnte. Ende November waren in Rheinland und Westfalen 4.500 Anträge bewilligt worden, ein knappes Drittel der 14.000 brotherstellenden Betriebe (Zeno-Zeitung 1934, Nr. 331 v. 1. Dezember, 7). Das bedeutete aber nicht, dass diese schon das entsprechende Milchpulver hatten. Und auch die je nach Brotart erforderlichen Umstellungen in den Bäckereien und den (recht wenigen) Brotfabriken waren vielfach noch nicht erfolgt.

Genehmigungszahlen als trügerischer Erfolgsausweis (Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 330 v. 2. Dezember, 11)

Parallel aber gab es strikte Ansprüche auch an die Innungen. Die Milchwirtschaftsverbände hatten vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft die Vorgabe erhalten, mindestens 80 Prozent der Betriebe zu erfassen und einzubinden (Das Milch-Eiweißbrot, Solinger Tageblatt 1934, Nr. 279 v. 30. November, 11). Dieser Druck wurde durchgereicht: „Die Bäckerobermeister sind nunmehr durch ihre übergeordneten Bäcker-Innungsverbände verpflichtet worden, dafür Sorge zu tragen, daß auch dort, wo die Beteiligung augenblicklich noch zu wünschen übrig läßt, in kürzester Frist alle Bäckermeister, deren Betrieb als geeignet zu betrachten ist, sich in den Dienst der nationalen Sache zu stellen haben“ (Das Milcheiweiß-Brot, RBKZ 36, 1934, 616).

Rezeptdienst für das Milcheiweißbrot (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 76)

Derweil hatten die Bäcker zwar die einer Genehmigung folgenden Werbematerialien erhalten, nicht aber die für die Produktion erforderlichen Grundrezepte. Anfang Dezember hatte das Reichsbildungsamt des Bäckerhandwerkes drei Rezepte für unterschiedliche Milcheiweißbrote getestet und reichsweit 20.000 einschlägige Hochglanzbögen gegen Gebühr versandt. So sollten die nicht wenigen Brotfehler minimiert werden, die vor allem aufgrund falscher Mengen und schlechter Roggenmehle bei vorpreschenden Bäckermeistern entstanden waren. Diese Rezepte durften sie ihren Kollegen allerdings nicht weitergeben. Ohne Entgelt kein Rezept. Und bei Produktion abseits der Grundrezepte wurde die Genehmigung zurückgezogen. Dadurch veränderte sich auch das Milcheiweißbrot selbst. Während Werbeplakat und Verkaufssignet-Signet runde Brote zeigten, sollte die Form nun vierkantig sein, um es besser vom Standardbrot abheben zu können (Hans Lubig, Rezeptdienst und Gesellenaustausch, RBKZ 36, 1934, 614). All dies unterstreicht, dass die auf den 1. November 1934 gesetzte Einführung des Milcheiweißbrotes illusorisch war, von der bürokratischen Struktur des selbstgeschaffenen Systems abstrahierte.

In solchen Fällen setzt Propaganda auf Aktivisten und Vorzeigebäcker. Das galt etwa für Bielefeld, wo vermeintlich alle Bäcker das neue Kraftbrot backen und verkaufen wollten. Die Ostfalen hatten sich daher schon größtenteils mit Milchpulver eingedeckt. Bald werde man durchstarten: „Die Bäcker werden sofort mit dem Backen beginnen, sobald die Kennzeichnung (Streifband und Aushängeschilder) von Berlin bei der Innung eingegangen und den einzelnen Bäckern zugestellt worden ist“ (Alle Bielefelder Bäcker backen, Westfälische Zeitung 1934, Nr. 253 v. 27. Oktober, 5). Eine Woche danach sprach man von Mitte November, musste der Bäcker doch „erst einen Fragebogen auszufüllen, […] in dem er sich verpflichtet, eine vorgeschriebene Menge an Milchpulver zu verbacken“ (NS-Volksblatt für Westfalen 1934, Nr. 258 v. 2. November, 10). Zeitgleich meldete man aus Bonn, dass es Verzögerungen gäbe, denn ohne Genehmigung kein Milchpulver: „Alle die kleinen und großen Feinschmecker, die sich schon auf die neuen Leckerbissen freuen, müssen sich also noch einige Zeit gedulden“ (Das Mittelrheinische Landes-Zeitung 1934, Nr. 254 v. 3. November, 6). Andernorts stammelte man bescheidener, so Anfang Dezember in Remscheid, wo nun knapp 50 der 102 Bäckereibetriebe „ihre Anmeldungen dazu einreichen“ wollten (Remscheider General-Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 1. Dezember, 5). Und in Solingen wurde Rezepte und erste Genehmigungen erst kurz vor Weihnachten verteilt (Gemeinschaftsveranstaltung der Bäcker, Ohligser Anzeiger 1934, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5). In all diesen Städten wurde Milcheiweißbrot (noch) nicht gebacken, von Ausnahmen abgesehen.

Uneingestandenes Scheitern als Schlagzeile (Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 595 v. 20. Dezember, 5)

Etwas ehrlicher tönte es aus dem Südwesten: „Zur Zeit wird in den Bäckereien eifrig nach dem neuen Milcheiweißbrot gefragt. […] Aber es ist noch nicht soweit, und es wird auch am 1. November […] noch nicht soweit sein. Die Vorbereitungen nehmen offenbar einige Zeit in Anspruch“ (Wann kommt das deutsche Kraftbrot?, Stuttgarter Neues Tagblatt 1934, Nr. 508 v. 30. Oktober, 5). Kurz vor Weihnachten setzte die Landesbauernschaft Württemberg den Produktionsbeginn auf Neujahr 1935 fest (Milcheiweißbrot ab 1. Januar, Schwäbischer Merkur 1934, Nr. 297 v. 21. Dezember, 5). Auch aus Sachsen wurde damals die lichte Zukunft schönfärberisch beschworen: „Bald wird es jeder Bäcker als eine Ehre betrachten, auch in seinem Laden das Schild zu haben: ‚Verkaufsstelle für Milcheiweißbrot‘“ (Der Bote von Gesing und Müglitztal-Zeitung 1934, Nr. 147 v. 15. Dezember, 3). Festzuhalten ist also, dass der so machtvolle NS-Staat es nicht nur nicht schaffte, den selbstgesetzten Einführungstermin auch nur ansatzweise einzuhalten, sondern dass Milcheiweißbrot offenbar erst Anfang 1935 in größerer Menge angeboten wurde.

Auch dann waren genauere Informationen rar: Im rheinischen Rheydt war Milcheiweißbrot Anfang Februar 1935 „in sämtlichen Bäckereien zu haben, aber bisher wird es noch nicht viel gekauft“ (Gladbach-Rheydter Tageblatt 1935, Nr. 28 v. 2. Februar, 5). Einzig die Aktivistenstadt Bielefeld machte eine Ausnahme: Dort „bezifferte sich die Nachfrage in den ersten Tagen des Verkaufs auf rund 1000 Stück je Tag, dann aber ließ das Interesse der Käufer nach, heute werden täglich rund 600 bis 700 Stück in sämtlichen Bäckereibetrieben der Stadt verkauft. Im ganzen wird von maßgeblicher Stelle der Verkauf bisher auf rund 100.000 Milcheiweißbrote geschätzt“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1935, Nr. 35 v. 10. August, 6). Das war innerhalb von acht Monaten knapp ein Brot für jeden der ca. 110.000 Einwohner. Recht wenig für ein Volksnahrungsmittel. Und das war eine sehr seltene Erfolgsmeldung.

Werbefeldzug für das Milchweißbrot

Propaganda ist weit mehr als die Einführung und Positionierung von etwas Neuem. Die Milcheiweißbrotpropaganda zielte weit über die Kastenformen hinaus. Sie zielte auf eine für Machtpolitik funktionale Lebensmittelpalette, für die Nutzung heimischer Ressourcen, für die Revision der verhassten Ordnung der Pariser Friedensverträge. Sie zielte auch auf einen neuen nationalsozialistischen Konsumenten, gläubig und folgsam, begeisterungsfähig und Teil eines völkisch-reflektiert agierenden Kollektivs. Um diese Weitung der NS-Propaganda, auch bei einem einzelnen Volksnahrungsmittel, wirklich in den Blick zu bekommen, müssen wir uns den Narrativen und Praktiken widmen, die immanenter Teil der neuen Brotpropaganda waren. Als solche waren sie harmlos, fast wie zuvor. Doch im Kontext der Zeit, eines sich trotz massiver Krisen konsolidierenden und unbeirrt, wenn auch im Detail flexibel, auf die Umsetzung einer mörderischen Ideologie zielenden Regimes, dienten sie immer auch dieser breiteren Zielsetzung.

Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus war hierarchisch, die vielfach wissenschaftlich begründeten Produkte und Praktiken standen in einem Verpflichtungsdiskurs, in dem der Verbraucher nicht manipuliert, sondern regimekonform angeleitet wurde. Oder, in den Worten von Wilhelm Ziegelmayer: „Der Verbraucher will durch eine eindringliche Werbung aufgeklärt sein. Diese Werbung muß sich beziehen auf alle Vorteile des Milcheiweißverbrauches, nämlich den Nährwert, den Genußwert (Geschmack und Sättigung) und die Billigkeit (Ersparnismöglichkeit). Durch eine solche Werbung kann wirklich Nachfrage nach Milcheiweißerzeugnissen geschaffen werden, ähnlich wie mit dem Schlagwort ‚Vitaminen‘ berechtigter- oder unberechtigterweise der Verbrauch vieler Nahrungsmittel gehoben wurde“ (Ziegelmayer, 1936, 145). Die Propaganda- und Konsumwelt des Nationalsozialismus knüpfte damit an gut begründbare und bis heute gängige Werbeformen an. Zugleich aber schuf sie – und auch das soll heute noch vorkommen – an eine selbst geschaffene und geglaubte Welt an, in der es darum ging, Zukünftiges so auszuleuchten, dass es die „Volksgenossen“ mitzog, das Anvisierte dann doch erreichte. Entsprechend konnten objektiv wahrheitswidrige Wunschwelten eröffnet werden: „Wo man geht und steht, spricht man vom Milcheiweiß-Brot, hervorgerufen durch die vorzügliche Reklame, die durch Radio, durch die Zeitung und durch die Vorträge […] durchgeführt ist. Ob beim Friseur, ob in der Wirtschaft, ob im Zigarrenladen, überall wird gefragt“ (Richard Lubig, Das neue Milcheiweiß-Brot. Beginn des Rezeptdienstes, RBKZ 36, 1934, 555). Das waren verlogene Aussagen der Macher, Aussichten auf ihren möglichen Sieg. Die Werbung für das Milcheiweißbrot wurde vom Reichskommissariats für die Vieh-, Milch- und Fettwirtschaft und den regionalen Milchwirtschaftsverbänden getragen, die Innungen unterstützten. Hausfrauen standen als Verwalterinnen des Wirtschaftsgeldes im Mittelpunkt der Werbe- und Propagandaanstrengungen.

Der angekündigte Werbefeldzug setzte reichsweit Mitte Januar 1935 ein (Stand der Milcheiweißbrotaktion, Der Weckruf 22, 1935, 218). Er vertiefte und verbreiterte die oben näher vorgestellten sechs Positionierungen des neuen Produktes, hatte ansonsten den Charme des Unbedingten, des Einhämmerns: „Durch den immerwährenden Hinweis auf das neue Milcheiweißbrot wird jeder Verbraucher unbedingt aufmerksam werden müssen. ‚Milcheiweißbrot‘ muß unbedingt zu einem volkstümlichen Begriff werden“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Dies sollten auch die Bäcker vorantreiben. Sie ergänzte und erweiterte vor allem die Presseberichterstattung.

Den Übergang zu einer intensiveren öffentlichen Werbung markierten im Februar und März 1935 zahllose Werbeumzüge. In Hannover trugen beispielsweise vier berufsgekleidete Bäckergesellen zwei Riesenbrote durch die Innenstadt, Lautsprecherwagen tönten vom neuen Milcheiweißbrot (Zwei Brote wandern durch die Stadt, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 69 v. 10. Februar, 10). Zwei Wochen später rollten die Lautsprecherwagen neuerlich, spielten nun jedoch flotte Märsche. Im Mittelpunkt aber stand eine Wagenkolonne, darunter ein feierlich geschmückter Vierspänner. Transparente forderten: „Eßt Milcheiweißbrot!“ (Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 91 v. 23. Februar, 10). Die Wirtschaftswerbung Niedersachsen bewegte sich damit in der Tradition des Reichsmilchausschusses. Ähnliches gab es in vielen Städten. Teils blieb es bei Propagandawagen, teils wurden aber auch Proben an die Passanten verteilt. In Düsseldorf sollen es Anfang März 20.000 sauber verpackte Schnitten gewesen sein (3000 besuchen die Ausstellung „Täglich Brot“, Heimat-Zeitung 1935, Nr. 18 v. 2. März, 1).

Deutlich breitenwirksamer waren mehrere Flugblätter, die einerseits durch die Bäcker als Beigabe beim Einkauf verteilt wurden. Sie versuchten, den recht altbackenen Slogan „Milch und Brot machten Wangen rot“ zu popularisieren. Der knüpfte an bekannte Redewendungen an, etwa an „Salz und Brot macht Wangen rot“. Er war jedoch auch eine Umdeutung einer gänzlich anders verstandenen Sentenz: „Milch und Brot macht Wangen rot“ stand traditionell eben für genügend Milch, genügend Brot, getrennt gegessen (Fürs Haus 9, 1890, Probenummer, 6). Und zugleich war er wenig originell, gab es doch bereits kommerzielle Slogans wie „Union-Brot macht Wangen rot!“ (Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1934, Nr. 80 v. 6. April, 4).

Sloganwerbung ohne Kraft (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Die Flugblätter priesen das Milcheiweißbrot als Volksnahrungsmittel, als neuen Standard: Es war kräftigend, stärkend, nahrhaft, wohlschmeckend, leichtverdaulich und frischbleibend, gab Kraft, förderte die Gesundheit, verband Stadt und Land. Ein Brot für alle – und auch die Werbung zielte auf alle möglichen Käufergruppen, unterschied kaum Zielgruppen. Der positiv-preisende Tenor wurde durch Ängste vor Unterversorgungen gesteigert. Das Milcheiweißbrot helfe gegen den Eiweißmangel, ergänze andere Grundnahrungsmittel, erschließe das pflanzliche Eiweiß besser.

Die Gefahr des Eiweißmangels (Deutschland-Berichte 2, 1935, Nr. 9, A-40)

Flugblätter wurden aber auch an die Frauenorganisationen gesandt. In Schulen wurden Klassensätze verteilt, um sie im Unterricht zu besprechen, um über die Kinder die Eltern zu erreichen. „Die Milch auf der Walze“ spielte mit der Faszination der Technik, der Transformation der Kinder bestens vertrauten flüssigen Vollmilch in trockene Formen (Stolzenauer Wochenblatt 1935, Nr. 37 v. 13. Februar, 1). „Geburtsanzeige“ spielte mit der Kraft des umgestaltenden Geistes, mit der Vorstellung guter sorgender Mächte, sei es der Wissenschaft, sei es des Staates (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Spätere Flugblätter spannen solche Geschichten weiter, erzählten das „Märchen“ vom Milcheiweißbrot. Darin präsentierte man das neue Volksnahrungsmittel als Teil der „Erzeugungsschlacht“, wies den Kritikaster „Freund Alleswisser“ in die Schranken, der an Brote aus den „hungrigen Kriegs- und Nachkriegsjahren“ erinnerte. Die Eltern sollten nachdenken, dann handeln: „Schicke also Deinen kleinen Hansi oder Deine kleine Gretl zum Bäcker und mache einen Versuch! Du wirst sicherlich zufrieden sein und Deine Kinder werden mit Stolz ein Stück Milcheiweißbrot zur Schule tragen und dann wird der Lehrer oder die Lehrerin lächelnd und freudig sagen: So, das ist ein wackeres Kind, es ißt sein Stück Brot und kämpft mit im Kampf um eigenes – um deutsches Brot“ (Verbo – Der Rottum-Bote 1935, Nr. 70 v. 22. März, 8). Propaganda appellierte an das Gute, an das heilige deutsche Brot, bis heute eines „unserer“ Vorzeigeprodukte.

Das Milcheiweißbrot wurde zugleich aber von Frauenverbänden reichsweit propagiert. Kleine Ausstellungen und Hausfrauenabende besaßen einen Januskopf von Geselligkeit und verpflichtender „Aufklärung“. Die Amtsleiterinnen der NS-Frauenschaft erhielten gesonderte Schulungsblätter, Vollzug war zu melden. Schon Ende 1934 waren an vielen Orten Proben verteilt worden – selbst wenn das Brot nicht wirklich zu kaufen war (Gießener Anzeiger 1934, Nr. 279 v. 17. November, 10; Erzgebirgischer Volksfreund 1934, Nr. 277 v. 28. November, 3). Im Januar tourten Wissenschaftler wie Schweigart, Moog und Hennewig, beschworen die Magermilchverwertung, die „Selbstdisziplin vom Erzeuger wie vom Verbraucher“, priesen die gut haushaltende „planmäßige Volkswirtschaft“, beantworteten im Hausfrauendialog auch Fragen (Vom Detmolder Hausfrauenbund, Lippische Landes-Zeitung 1935, Nr. 8 v. 10. Januar, 8; Hausfrauen und Marktregelung, Münsterischer Anzeiger 1935, Nr. 27 v. 16. Januar, 3; Speisenausstellung der Frauenwirtschaftskammer, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 36 v. 5. Februar, 6).

Präsentation von Milch-, Käse- und Brotvarianten während einer Veranstaltung der NS-Frauenschaft in Mannheim (Neue Mannheimer Zeitung 1935, Nr. 85 v. 20. Februar, 7)

Charakteristischer noch war gemeinsames Verkosten in trauter lokaler Runde. Das war auch typisch für parallel stattfindende Ausstellungen, etwa der Berliner „Grünen Woche“, der Düsseldorfer Fachausstellung „Täglich Brot“ oder aber den noch üblichen „Braunen Messen“. Die Auswirkungen sind nicht wirklich einzufangen, in der Presse aber klang es appetitanregend: „Da ist zunächst das neue Milcheiweißbrot, hübsch knusprig, in länglichen Formen gebacken, sieht es appetitanregend aus und schmeckt, wie eine Kostprobe bewies, einfach wunderbar“ (Streiflichter von der Schau „Täglich Brot“, Der Mittag 1935, Nr. 52 v. 3. März, 8). Mit etwas mehr Abstand besehen, handelte es sich jedoch um eine Art Fremdbeglückung. Standen bei Hausfrauenveranstaltungen ansonsten oft selbst zubereitete Speisen im Mittelpunkt, so war es nun ein von Bäckern hergestelltes, nur als Fertigware zu erprobendes Milcheiweißbrot. Die Hausfrauen wurden als Konsumentinnen angesprochen, ihre haushälterischen Fertigkeiten noch nicht herausgefordert. Das sollte in den folgenden Jahren anderes werden, insbesondere beim „Kampf dem Verderb“.

Werbung für Rundfunkwerbung (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 38)

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot nutzte zudem gezielt audiovisuelle Medien. Audiovisuelle Medien faszinierten schon vor der Machtzulassung nationalsozialistische Kader, die rasche Übernahme der Kontrolle des Films und des Rundfunks durch das neu gegründete Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda diente der Machtsicherung, der Machtausweitung. Die NS-Illustrierte „Illustrierter Beobachter“ besaß seit 1931 eine gesonderte Rubrik „Der Funk-Beobachter“, und schon im Februar 1933 gründete der parteieigene Franz-Eher-Verlag die bald erfolgreichste Programmzeitschrift der NS-Zeit, den „NS-Funk“.

Entsprechend diente auch der Rundfunk der Propagierung des Milcheiweißbrotes. Dies war nicht Werbung, sondern eine staatspolitische Aufgabe. Einerseits wandte man sich im Januar 1935 zwei Wochen lang direkt an die Hausfrau, machte sie während der kurz vor Mittag ausgestrahlten „Stunde der Hausfrau“ mit sogenannten Werbesprüchen, also in der Regel gereimten Jingels, auf das neue Produkt aufmerksam. So könne sie am „Aufbau der deutschen Wirtschaft und an der Gesundung unseres Volkes gewissenhaft mitarbeiten“ (Milcheiweißbrot, Lippspringer Anzeiger 1935, Nr. 13 v. 16. Januar, 8).

Doch es gab auch eine Art Bildungsprogramm, also moderierte Gespräche über aktuelle Themen. Am 8. Februar 1935 diskutierten der Ingenieur Emil Moog, Abteilungsleiter des Rheinisch-westfälischen Milchwirtschaftsverbandes sowie der 33-Jährige „alte Kämpfer“ Richard Lubig, Reichsbildungsobmann des Bäckerhandwerkes, in der Nachkriegszeit bekannt für sein Laktasebrot und das sog. Schaumsauerverfahren, über die Frage „Kennen Sie schon das Milcheiweißbrot?“ Stichwortgeber war Karl Holzamer (1906-2007), späteres NSDAP-Mitglied, langjähriger SWF-Rundfunksratvorsitzender und von 1962 bis 1977 Intendant des ZDF. Lubig lobte die Schmackhaftigkeit des neuen Brotes, Moog eher den Gesundheitswert (Das Milcheiweiß-Brot im Rundfunk, RBKZ 37, 1935, 75-76).

Inszenierung der Betriebsgemeinschaft: Gemeinschaftliches Hören einer Rundfunksendung über das Milcheiweißbrot in einer Backstube (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 75)

Breitenwirksamer waren wohl die von April bis Juni 1935 in den Kinos laufenden Werbekurzfilme. Hinzu kamen reichsweit präsentierte „Ton-Diapositive“, also vertonte, mit einem kurzen Merkspruch erläuterte Werbebilder. Auch es blieb nicht beim Sehen, denn viele Kinos boten parallel Milcheiweißbrot als gesunden Snack an (Die Werbung für das Milcheiweißbrot nimmt ihren Fortgang, Der Weckruf 22, 1935, 487). Eine größere Präsenz in den Gaststätten scheiterte jedoch (Milcheiweißbrot in den Gaststätten, Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 142 v. 23. Mai, 4).

Nicht näher eingehen muss man auf die nicht kleine Zahl populär gehaltener Propagandaartikel. Trotz der Affinität zu audiovisuellen Massenmedien gründete der Aufstieg der NSDAP immer auch auf der Presse, wenngleich der Ausbau der eigenen Verlagsmacht relativ spät einsetzte, die SPD- und Zentrumspresse Anfang 1933 weit höhere Auflagen aufwies. Der Parteivorsitzende Adolf Hitler (1889-1945) betonte immer wieder: Die Presse „besorgt in erster Linie diese ‚Aufklärungsarbeit‘ und stellt damit eine Art von Schule für die Erwachsenen dar“ (Die ‚öffentliche Meinung‘ und ihre Fabrikation!, Illustrierter Beobachter 6, 1931, 453).

Insgesamt variierten die vielgestaltigen Propagandaartikel, die meist von lokalen Akteuren platziert wurden, die bereits hinlänglich bekannten Weisen. Es galt mit Magermilch zum Vorteil aller zu haushalten (Eiweiß von 20 Millionen Schweinen, Weißeritz-Zeitung 1934, Nr. 275 v. 26. November, 7), den Sinn des neuen Volksnahrungsmittels zu unterstreichen, das Bild des sorgenden Staates zu unterfüttern (Flörsheimer Zeitung 1934, Nr. 146 v. 6. Dezember, 2; Etwas vom Brotbacken. Ein Wort an die Hausfrau, Lippspringer Anzeiger 1934, Nr. 288 v. 12. Dezember, 8). Wie schon in den Flugblättern präsentierte man die Milchtrocknung als wissenschaftliches Husarenstück, als Milch in der Tüte (Der Neuling auf dem Frühstückstisch, Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15076 v. 2. November, 3). Und man nahm immer wieder die Hausfrau in die Pflicht: Bringt „das vorzügliche Milcheiweißbrot auf den Tisch! Ihr seid es der besseren Ernährung unseres Volkes schuldig“ (Hausfrauen, paßt mal auf!, Niederrheinische Landeszeitung 1934, Nr. 288 v. 13. Dezember, 5).

Im Rahmen des Werbefeldzuges 1935 konzentrierten sich die Propagandaartikel zunehmend auf die Eiweißfrage, auf die damit verbundene Sorge der Frau für Kinder und Mann (Das neue gute Brot, Wittener Volks-Zeitung 1935, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; „Bitte, geben Sie ein gut ausgebackenes Milcheiweiß-Brot“, Hildener Rundschau 1935, Nr. 45 v. 22. Februar, 3). Zudem finden sich nun reichsweit platzierte Artikel für die bunten Seiten und Wochenendbeilagen. Sie simulierten teils Alltagssituationen, etwa Gespräche zwischen bürgerlichen Hausfrauen (Erlauschtes vom Kaffeeklatsch, Bremer Zeitung 1935, Nr. 76 v. 17. März, 22). Da erschien die freundliche Ratgeberin, die von Frau zu Frau das Milcheiweißbrot vorstellte und pries (Liesel Wulff, Milcheiweißbrot, Die Glocke am Sonntag 1935, Nr. 6 v. 10. Februar, 20; Sächsische Volkszeitung 1935, Nr. 35 v. 10. Februar, Beil. Die praktische Hausfrau, s.p.; Oldenburger Landwirt 29, 1934, Nr. 49, 1). Und da war Milcheiweißbrot als Waffe gegenüber dem feindlichen Ausland, als Teil der Ersatzmittelwirtschaft, als Pendant zum synthetischen Treibstoff, den neuen Kunstfasern: „Wir tanken Holz. Wir essen Milcheiweißbrot. Wir haben eine fabelhafte funktionierende Marktordnung geschaffen. Wir haben Wunder gewirkt“ (Fleischlose Tage, Altenaer Kreisblatt 1935, Nr. 256 v. 1. November, 1). Derartiges Selbstlob mündete fast zwingend in Sendungsbewusstsein. Wahrheitswidrig wurde behauptet, dass auch die Niederlande und die Schweiz ähnliche Spezialbrote entwickeln würden, dann auch Schweden (Ernährungsdienst 1934, Nr. 2, 2; Deutsches Brot wird in Schweden als Vorbild hingestellt, Die Glocke, Ausg. B 1937, Nr. 117 v. 1. Mai, 3). Wir sind wieder wer…

All das war Propaganda, zielte auf einen seine völkischen (Einkaufs-)Pflichten stolz erfüllenden nationalsozialistischen Konsumenten. Realistischere Einschätzungen findet man in den Berichten der Auslands-SPD. Lapidar meldete man die Maßnahmen: „Brot wird mit Trockenmilchpulver versetzt gebacken und als besonders wertvoll und nahrhaft zu teuren Preisen angeboten“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Sopade 2, 1935, Nr. 5, A-12). Nach Auskunft der unter hohen persönlichen Risiken berichtenden Gewährsleute war dies Teil und Ausdruck einer vor allem im Fettsektor krisenhaften Lebensmittelversorgung. Für sie weckte die Propaganda „die Erinnerung an Kriegswirtschaft und Kriegsnot […], so dass jede ‚Versorgungsspannung‘ automatisch neue Hamsterwellen hervorruft. Seit man z.B. aus agrarpolitischen Gründen das Brot verschlechtert hat, macht man für dieses neue „Milcheiweissbrot‘ eine Propaganda, die der Propaganda für das Kriegsbrot aufs Haar gleicht“ (Ebd., Nr. 9 v. 16. Oktober, A-39). Das mochte so nicht zutreffen, doch es gab Einblicke abseits der Propaganda: „Auch das Brot ist schlechter geworden – wie das Kriegsbrot. Die Bäcker schimpfen, sie behaupten, das Mehl habe sich verschlechtert. Zudem hat sich ihre Preisspanne verringert, da sie die Festpreise nicht überschreiten dürfen. Das Milcheiweissbrot setzt sich nicht durch, es schmeckt aber auch trocken wie Stroh. Ausserdem habe sich nur wenige Firmen zur Herstellung entschlossen“ (Ebd. 3, 1936, Nr. 12 v. 15. Januar, A-12). Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot verfehlte offenbar sein Ziel. Öffentlich wurde das beschwiegen, propagandistisch übertüncht. So findet sich das vermeintliche Volksnahrungsmittel immer mal wieder in den damals zunehmend üblichen Wochenspeisezetteln (etwa Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 97 v. 27. Februar, 14; Nr. 146 v. 27. März, 15; Nr. 401 v. 28. August, 12; Nr. 473 v. 9. Oktober, 18; ebd. 1936, Nr. 46 v. 29. Januar, 17; Nr. 180 v. 18. April, 21; Nr. 307 v. 4. Juli, 23). Selbst den Heiligabend 1935 sollte man mit (Ersatz-)Kaffee und Milcheiweißbrot mit Honig beginnen.

Den Heiligabend mit Milcheiweißbrot beginnen (Stuttgarter NS-Kurier 1935, Nr. 583 v. 13. Dezember, 31)

Paradoxien der Werbung: Milcheiweißbrot als Fabrikware

Der Werbefeldzug für das Milcheiweißbrot blieb also keine Ankündigung. Milchwirtschaft und Reichsnährstand unternahmen vielgestaltige Anstrengungen um trotz des katastrophalen Startes das neue Brot stärker zu popularisieren. Die eingesetzten Werbemittel hätten auch von den landwirtschaftlichen Werbeausschüssen Ende der 1920er Jahre eingesetzt werden können. Und doch fehlte eine entscheidende Zwischenstufe. Während gängige Lebensmittel und nicht zuletzt Innovationen sehr rasch ihren Weg in die Anzeigen des mittelständischen Einzelhandels, der Filialbetriebe oder aber der Einkaufsgenossenschaften fanden, waren entsprechende Anzeigen für das Milcheiweißbrot selten.

Einzelanzeigen (Der Sächsische Erzähler 1934, Nr. 275 v. 26. November, 4 (l.); Merseburger Korrespondent 1934, Nr. 288 v. 10. Dezember, 10)

Das lag gewiss an den recht kleinen Einzugsgebieten, an einem meist recht überschaubaren Sortiment, an einem habitualisieren Einkaufsverhalten. Doch gerade zu den christlichen Hochfesten und den neuen staatlichen Feiertagen schalteten größere Bäckereien häufig Anzeigen, schmückten auch ihre Schaufenster, vielfach nach staatlichen Vorgaben. Für das Milcheiweißbrot wurde in den Zeitungen jedoch kaum geworben.

Einzelanzeigen (Sauerländisches Volksblatt 1934, Nr. 278 v. 3. Dezember, 4 (l.); Langenberger Zeitung 1935, Nr. 191 v. 17. August, 6)

Man bediente sich in diesen Fällen der einschlägigen Werbephrasen, lobte das Kraftbrot, verwies auf die staatliche und institutionelle Propaganda. Ansonsten wurde höchstens bei der Einführung kurz annotiert. Gemeinschaftswerbung der Innungen fehlte. Darin zeigt sich deutlich die kritische, ja häufig ablehnende Grundhaltung vieler Bäcker gegenüber dem Milcheiweißbrot. Die eingeforderten Plakate und Verkaufs-Signets mussten reichen. Die Sache würde schon enden…

Milcheiweißbrot bei der verfemten Konkurrenz der Konsumgenossenschaften (Bote für Stadt und Land 1935, Nr. 53 v. 22. Februar, 5 (o.); Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 11 v. 14. Januar, 6)

Konkurrenten nutzten dagegen die mit dem neuen Brot verbundenen Chancen. Die durch Handwerksbäcker strikt bekämpften und durch das Gesetz über Verbrauchergenossenschaften vom Mai 1935 eng begrenzten und zunehmend bedrohten Konsumgenossenschaften ließen in ihren zumeist größeren und leistungsfähigen Bäckereibetrieben vielfach Milcheiweißbrot herstellen, stellten dadurch ihre Loyalität zum NS-System öffentlich unter Beweis. Die Anzeigen setzten Anfang 1935 ein, finden sich aber auch noch im Folgejahr (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1936, Nr. 152 v. 30. März, 12; Hamburger Tageblatt 1936, Nr. 98 v. 8. April, 10; ebd. 1937, Nr. 82 v. 24. März, 6; Verbo – Der Rottum-Bote 1936, Nr. 79 v. 3. April, 12; Verbo – Buchauer Tagblatt 1936, Nr. 84 v. 9. April, 8).

Milcheiweißbrot als Teil eines breiteren Sortiments von Spezialbroten (Frankenberger Tageblatt 1936, Nr. 80 v. 9. April, 3 (l.); Viernheimer Volkszeitung 1938, Nr. 100 v. 30. April, 8)

Filialbetriebe folgten ebenfalls, integrierten das Milcheiweißbrot in ihre breiten Sortimente. Im Bäckereihandwerk wurde es dagegen ab 1936 einzig noch bei Spezialbäckereien beworben. Das angereicherte Produkt diente dann aber nicht als Volksnahrungsmittel, sondern als Alltagshilfe für Kranke und Rekonvaleszente. In gewisser Weise folgte das Milcheiweißbrot also der Marktpositionierung der einst massiv beworbenen Eiweißpräparate der Jahrhundertwende vom Massenmarkt in die Nische.

Mythenproduktion: Nationalsozialistische Konsumlegenden

Dier NS-Propaganda zielte (wie jede Propaganda) auf totale Propaganda. Sie versuchte, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben“ (Ellul, 2021, 28). Die NS-Propaganda agitierte in ihrer Zeit, wollte diese prägen und beherrschen. Doch sie zielte zugleich darauf, „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31).

Die Milcheiweißbrot-Propaganda zielte daher auch auf die Mythisierung und Umdeutung der deutschen (Konsum-)Geschichte. Auf der einen Seite erklärte man das neue Brot einfach als eine modernisierte Rückkehr zur bewährten Praxis der Vorkriegszeit: „Bis zum Kriege war es üblich, daß jeder Brotteig mit Milch, und zwar hauptsächlich mit entrahmter Milch, angesetzt wurde. Dieser Jahrhunderte alte Brauch ist erst in den schweren Kriegsjahren – der Not gehorchend – verloren gegangen: man ersetzte seitdem die Milch durch Wasser“ (Lippische Tageszeitung 1935, Nr. 4 v. 5. Januar, 6). Teils wurde auch die Industrialisierung für diese Abkehr von der eigenen Tradition bemüht, teils an weit verbreitete Agrarromantik angedockt: „Nur auf dem Lande hat sich der alte Brauch meist noch erhalten. Darum schmeckt uns Städtern auch das Landbrot, das Bauernbrot so besonders gut!“ (Ellen Schweigart, Milcheiweiß-Brot – das neue Kraftbrot, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1934, Nr. 281 v. 3. Dezember, 10).

Man fühlt sich angesichts solch systematischer Irreführungen an die heutige Bereicherungsökonomie erinnert, an die gängige Naturmystik bei der Vermarktung von Bio-Lebensmitteln. Doch schon ein flüchtiger Blick ergibt keinen Beleg für das Verbacken von Milch bei der Brotbereitung im Kaiserreich (Fritz Elsner, Die Praxis des Lebensmittelchemikers, Leipzig 1880, 64-69; R. Palm, Die wichtigsten und gebräuchlichsten menschlichen Nahrungs-, Genussmittel und Getränke […], St. Petersburg 1882, 70-73; A. Bender, Brot, in: O[tto] Dammer, Handbuch der chemischen Technologie, Bd. III, Stuttgart 1896, 373-389). Die Eiweißfrage wurde stattdessen vorrangig am Problem des Feinmehls diskutiert. Kleiebrot galt Physiologen teils als gehaltreicher, während andere auf die geringe Ausnutzung des Brotes verwiesen (Palm, 1882, 73). Auch in Kochbüchern findet man keine Belege für das Verbacken von Magermilch im Brot (vgl. etwa Henriette Davidis und Luise Rosendorf, Praktisches Kochbuch für die gewöhnliche und feinere Küche, 25. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1882, 523-524). Eine Ausnahme bildet lediglich leichtes, mit kalter Milch gebackenes Weißbrot (Luise Holle, Henriette Davidis, Praktisches Kochbuch […], 37. Aufl., Bielefeld und Leipzig 1898, 555). Brotrezepte fehlen in der Mehrzahl der bürgerlichen Kochbücher. Magermilch wurde verfüttert, getrunken, zu Weichkäse verarbeitet, nicht aber dem Brot zugemengt.

Ebenso typisch war ein zweiter historischen Mythos, der die Entwicklung der Ernährungswissenschaft schlicht ad absurdum führte. Demnach habe die moderne Wissenschaft, insbesondere die Vitaminlehre, zu einer Neubewertung des Natürlichen geführt, zu einer neuen Wertschätzung „der natürlichen Lebensweise unserer Vorfahren“, zu einem fundierten Weckruf, „die Irrwege einer Zivilisation verlassen, die uns schon in so manche Sackgasse geführt haben“ (Etwas über Milcheiweißbrot, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 264 v. 15. November, 4). Die Nähe zwischen NS-Regime und Ernährungsreformern war bis 1935/36 in der Tat eng (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft. Max Bircher-Benner und sein Sanatorium im historischen Kontext, Baden 2010, 134-150). Doch Lehrbücher nationalsozialistischer Hygieniker wie Werner Kollath (1892-1970), die derartige Narrative adelten, erwähnten just das Milcheiweißbrot nicht (Grundlagen, Methoden und Ziele der Hygiene, Leipzig 1937, 314-321). Bei aller berechtigten Kritik an den Fehlern der neuzeitlichen Lebensmittelproduktion, nicht zuletzt der Eiweißanreicherung: Die natürliche Lebensweise der Vergangenheit ist ein irreführender Romantizismus, ebenso die wohlfeile Klage über die Irrwege der Zivilisation. Dass gerade ein wissenschaftliches Kunstprodukt wie Milcheiweißbrot ein „Vorwärts zur Natur“ bedeuten sollte, war überraschend.

Drittens schließlich findet sich in der Propagandaliteratur auch die weitverbreitete Idee eines guten alten Brotes, das durch die neuere Hochmüllerei (und auch der Abkehr von der flüssig verbackenen Magermilch) seine Kernigkeit und seinen Nährwert verloren habe. Dies vorausgesetzt erschien das Milcheiweißbrot als ein neuerliches „Höherwertiger-Machen“ (Hans Schlachcikowski, Wer hat den richtigen Schlüssel?, Altenaer Kreisblatt 1934, Nr. 282 v. 3. Dezember, 6). Technik und Wissenschaft erlaubten demnach eine virtuelle Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Dieser Mythos wurde bereits von den Brotreformern der Jahrhundertwende vertreten, sollte die kurze Zeit später begonnene Vollkornbrotpolitik kennzeichnen (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im »Dritten Reich«, 1999 16, 2001, 91-128). Modernes Vollkornbrot war und ist jedoch ein modernes, technisch elaboriertes Produkt, keine Wiederkehr von etwas Verlorenem. Das Umschreiben der Vergangenheit dürfte dennoch auf Zustimmung getroffen sein, so wie die zahllosen Konsummythen unserer Zeit.

Unwillige Bäcker

Das Milcheiweißbrot war ein Flop. Es scheiterte fast schon jämmerlich, auch wenn es noch nach Mitte 1935 angeboten und verzehrt wurde, als der Werbefeldzug endete. Das lautstark und vielgestaltig angepriesene Volksnahrungsmittel mutierte zu einem Nischenprodukt, über dessen reale Bedeutung wir leider nichts sagen können, da es nicht mehr Gegenstand der vom NS-Regime gewährten Öffentlichkeit war, da archivalische Quellen fehlen.

Das Milcheiweißbrot als Eckenbrüller auf der Kölner Gastwirte-Ausstellung im September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Die Ursachen für diesen Flop waren vielgestaltig. Das neue Brot war teurer, der fachlich begründete Verweis auf mehr Eiweiß und einen etwas höheren Nährwert blieb demgegenüber abstrakt. Brot war ein Grundnahrungsmittel, meist unhinterfragtes Korsett der täglichen Kost. Änderungen bedurften daher besonderer Anreize, die diese Morgengabe an die Landwirtschaft kaum hatte. Das neue Kraftbrot folgte auf mehrere staatliche erzwungene Neugestaltungen des Brotes, so dass die Propaganda für ein dauerhaft etabliertes Volksnahrungsmittel recht unglaubwürdig war. Die neue „nationale“ Regierung war 1934 in einer tiefen Krise, konnte viele Versprechungen nur unzureichend erfüllen, eröffnete im Mai einen Feldzug gegen „Miesmacher und Kritikaster, Gerüchtemacher und Nichtskönner, Saboteure und Hetzer“, tötete zwecks Herrschaftsstabilisierung Ende Juni 1934 ca. einhundert SA-Granden und meist konservative Kritiker. Es war nicht ausgemacht, dass diese Regierung nicht zusammenbrechen würde. Hinzu kam der äußerst schwer zu rekonstruierende neuartige Geschmack des Milcheiweißbrotes und schließlich die desaströs verzögerte Einführung, die unartikulierte Zweifel an der Seriosität des ganzen Unterfangens schürte.

Die verzögerte Einführung des neuen Brotes war jedoch nicht nur Folge organisatorischer Versäumnisse, einer nicht reibungslos funktionierenden gelenkten Agrarwirtschaft und ineffizienter Bürokratie. Sie spiegelte vor allem den nur selten öffentlich artikulierten Unwillen der Bäcker, das gegen ihren Willen und gegen ihre Expertise eingeführte Milcheiweißbrot wirklich zu backen. Um das zu begründeten, müssen wir noch einmal genauer auf die Debatten um die Beimischungszwänge eingehen. Das Bäckerhandwerk hatte die neue „nationale“ Regierung freudig begrüßt, Ernährungsminister Alfred Hugenberg (1865-1951) schien einer der Ihren zu sein. Man hoffte Anfang 1933 auf ein rasches Ende der erzwungenen Kartoffelstärkemehlbeimischung, die man mit dem Slogan „Schweinefutter im Brot, gesundes und gutes Getreide im Schweinetrog“ strikt ablehnte (Das Bäckerhandwerk gegen den Kartoffelstärkemehl-Verwendungszwang, RBKZ 35, 1933, 74). Doch dieser „Qualitätsverschlechterung“ der Brotherstellung wurde nicht Einhalt geboten, stattdessen sah man sich zusätzlich mit dem vom Deutschen Landwirtschaftsrat und dem Milchwirtschaftlichen Verband propagierten „Verwendungszwang“ für Magermilch konfrontiert. Die wichtigste Dachorganisation der Bäcker, der Germania-Verband, protestierte gegen die kostenträchtige und nicht praktikable „Aenderung in der bisherigen Arbeitsweise“ (Der Germania-Verband wendet sich an den Reichsernährungsminister, RBKZ 35, 1933, 123). Diese grundsätzliche Kritik behielt der Verband auch im Sommer 1933 bei. Der Magermilchzusatz führe zu „einer erheblichen Verschlechterung der Qualität des Brotes“, verringerte die Backfähigkeit des Mehles, erfordere eine andere Teigführung, die wiederum den natürlichen Getreidegeschmack unterminiere: „Wirtschaftlich gesehen ergibt sich also, daß bei Einführung des Verwendungszwanges von Magermilch ein weniger schmackhaftes Brot für einen erhöhten Preis verkauft werden müßte.“ Der Brotkonsum würde sinken, dadurch auch die Landwirtschaft geschädigt werden. „In der Verschlechterung und Verteuerung sieht es [das Bäckerhandwerk, US] nicht nur für seine Existenz und die Verbraucher, sondern gleichzeitig auch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine unübersehbare Gefahr“ (Ausdehnung des Verwendungszwanges bei der Brotherstellung?, RBKZ 35, 1933, 325 [auch vorherige Zitate]). Das waren deutliche und auch mutige Worte in einer von massiver Gewalt durchzogenen Gleichschaltungsphase der Gesellschaft. Die Bäcker kränkte besonders, dass ihre Expertise nicht genutzt und geschätzt wurde (Kommt die Ausdehnung des Verwendungszwanges?, RBKZ 35, 1933, 349).

Die NS-Regierung erließ dennoch das Gesetz über Verwendung von Kartoffelstärkemehl und Magermilch vom 12. September 1933. Den kargen archivalischen Unterlagen gemäß teilte man die Sorgen der Bäcker nicht. Der Zusatz von Trockenmilch würde das Brot verbessern, auch wenn die gesundheitlichen Folgen unklar seien. Da aber keine negativen Erfahrungen vorlägen, sei die Beimischung von Kartoffelstärkemehl und Trockenmilch unproblematisch, andernfalls könne man beide ja auch getrennt verwenden (Bundesarchiv Lichterfelde R 43 II, Nr. 863, Bd. 14, 27-42). Im quasi-amtlichen Völkischen Beobachter hieß es autorativ, dass ein mit Magermilch angereichertes Brot, ein „Milchweißbrot“, entscheidend „zur Versorgung der eiweißhungrigen Volksmassen mit billigstem deutschem Nahrungseiweiß beiträgt“ (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Völkischer Beobachter 1933, Nr. 225 v. 2. Oktober, 13). Der Bakteriologe Traugott Baumgärtel (1891-1969) sekundierte in der auflagenstärksten Ernährungszeitschrift, dass Magermilch „das beste und billigste Naturprodukt“ zur Anreicherung des Brotes sei, und das „neue ‚Milcheiweißbrot‘ eine wertvolle Bereicherung der deutschen Volksnahrungsmittel darstellen“ dürfte (Milchweißbrot als Volksnahrungsmittel, Zeitschrift für Volksernährung 8, 1933, 316-317, hier 317). In der Fachpresse des Bäckereihandwerkes wurde dies zur Kenntnis genommen, blieb nunmehr unkommentiert (Was ist Trockenmagermilch?, RBKZ 35, 1933, 395).

Es ist nicht davon auszugehen, dass die fachlichen, geschmacklichen und wirtschaftlichen Bedenken gegen das Milcheiweißbrot damit ausgeräumt waren. Im Gegenteil dürfte die deutliche Erhöhung der beizumischenden Magermilchmenge diese nochmals erhöht haben. Doch mit dem am 15. Oktober 1934 auslaufenden Beimischungszwang war nunmehr Freiwilligkeit Trumpf. Das Milcheiweißbrot wurde von der Milchwirtschaft vorangetrieben, sie wachte über die Genehmigungen, sie entwickelte und koordinierte die Propaganda. Die Bäcker aber zogen nicht mit, trotz strikter bürokratischer Überwachung, trotz eindeutiger Vorgaben einer erwarteten achtzigprozentigen Teilnahme.

Flankenschutz für das Milcheiweißbrot: Milchpulverangebote von den Großeinkaufsgesellschaften der Bäcker (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 36, 1934, 537)

Anfang 1935, parallel zu einem mangels umfassender Marktpräsenz des Milcheiweißbrotes teils ins Leere laufenden Werbefeldzuges hieß es in einem Rundschreiben des Abteilungsleiter des Rheinisch-Westfälischen Milchwirtschaftsverbands Emil Moog: „Alle Bäckereibetriebe, die die Genehmigung zur Herstellung des Milcheiweißes erhielten, haben nicht nur das Recht, nunmehr das Brot zu backen, sondern auch die Verpflichtung, sich mit Energie und Eifer für die neue Sache einzusetzen.“ Zugleich ließen sich aber die technischen Probleme kaum mehr überdecken: „Wenn beim ersten Back- und Verkaufsversuch auch der volle Erfolg auf einen Anhieb hin noch nicht erreicht ist, so darf dieses den Bäckermeister nicht entmutigen. Der Anfang ist bei einer Neueinführung immer etwas schwieriger. Beim zweiten und dritten Mal wird es schon besser klappen, bis schließlich bei richtiger Ausdauer auch der Erfolg nicht ausbleibt“ (Werbung für das Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 66-67). Das backtechnisch nicht angemessen erprobte Milcheiweißbrot sollte in der Backstube pröbelnd Gestalt gewinnen. Das war kaum akzeptabel, selbst während der NS-Zeit.

Es folgten Drohungen, ersichtlich etwa in einem Schreiben der Dauermilcherzeuger an den Germania-Verband Anfang 1935: „Ich habe mich während meines Urlaubes überzeugen können, daß die Bäcker, die Milcheiweißbrot führen, tatenlos dem Verkauf gegenüberstehen. Teilweise wird kein Brot den Kunden angeboten, teilweise vergißt man so nebenbei die Banderole um das Brot zu legen usw. Es ist selbstverständlich, daß bei dieser Art von Verkauf man nicht vorwärts kommt. Wenn die Bäcker auch schon ein Interesse daran haben, ein Brot zu propagieren, bei dem sie mehr verdienen, als beim anderen Brot, so ist es doch tiefbedauerlich, daß nicht aus sich selbst heraus das Bäckergewerbe hier das nötige Verständnis aufbringt. Sie werden selbst einsehen, daß ich unter solchen Umständen einen anderen Weg beschreiten muß und werde. Muß denn bei den einzelnen beteiligten Kreisen immer ein Zwang einsetzen?“ (Milcheiweißbrot, Der Weckruf 22, 1935, 101).

Appelle zur Verwendung von Trockenmilch Anfang 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 19)

Doch dazu kam es nicht, denn das Bäckerhandwerk umfasste 1933 mehr als 100.000 Betriebe mit fast 400.000 Beschäftigten (Das Bäckerhandwerk in der Gewerbestatistik, RBKZ 37, 1935, 241). Parallellaufende Verhandlungen mit dem Reichskommissar für Milcherzeugnisse, Öl und Fett und dem Reichsernährungsministerium führten jedoch dazu, dass der Germania-Verband „den Kampf gegen Materialvergeudung durch Verringerung der Magermilchschwemme“ formal unterstützte. Das aber bedeutete lediglich den Einsatz von Trockenmilchprodukten bei (Weizen-)Kleingebäck und Kuchen. Von der Verbandsleitung wetterte man zwar pflichtgemäß gegen die „Sabotage unverantwortlicher Kreise“, doch erstreckten sich die ebenfalls angedrohten Sanktionen nur auf eine Nicht-Verwendung von Trockenmilchprodukten, nicht aber auf die Nicht-Produktion von Milcheiweißbrot (Trockenmagermilch, Der Weckruf 22, 1935, 74). Die Blockademacht der Bäcker hatte sich im Wesentlichen durchgesetzt.

Milchweißbrot wurde zwar weiter gebacken, keineswegs aber im anvisierten Umfang. Entgegen Gerüchten über ein Ende der Produktion bekräftigte die Brotmarktordnung vom 15. Juni 1935 nochmals seinen Status als Spezialbrot (Milcheiweißbrot und Brotmarktordnung, Verbo 1935, Nr. 52 v. 1. März, 11). Dieser war jedoch zunehmend eine leere Hülle. Von den NS-Aktivisten verlautete verbrämend: „Schon im vergangenen Jahre versuchte man in dem Milcheiweißbrot eine Absatzmöglichkeit für die Magermilch zu finden, aber durch eine Reihe von Ursachen wurde das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte. Jetzt gibt man der Werbearbeit eine neue Richtung, indem man zunächst einmal das deutsche Bäckerhandwerk mit der Verwendung von Magermilch vertraut machen und ihm zeigen will, welche Werte auch für das Bäckerhandwerk die Magermilchverwendung hat“ (Richard Lubig, Milch im Brot, RBKZ 37, 1935, 386). Im Spätsommer 1935 wurden Ausstellungen zwar weiterhin mit Milcheiweißbroten bestückt, doch in das Zentrum traten trotz des Slogans „Milch in Brot“ das im Jahr zuvor stärker geförderte Knäckebrot, vor allem aber Roggen- und Roggenschrotbrote: „Es ist das deutsche Kraftbrot der Zukunft, das Vollkornbrot, das gesundeste von allen, weil es infolge seiner Zusammensetzung die Eigenschaften besitzt, die Zähne, den Rachen, den Magen und Darminhalt zu reinigen“. Das Milcheiweißbrot solle dagegen als Kastenbrot neu erscheinen, „hergestellt nach einem besonderen Rezept“, […] demnächst in ganz Deutschland einheitlich zu haben“ (Das Bäckerhandwerk auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung, RBKZ 37, 1935, 433-434, hier 434). Diese Ankündigung wurde nicht umgesetzt. Wenig später hieß es dann: „Milcheiweißbrot, dem man einen Teil der Magermilch zugesetzt hatte, konnte sich nicht einführen“ (Zentralblatt für innere Medizin 59, 1938, 56).

„Milch in Brot“: Roggen- und Roggenschrotbrot mit verbackenem saurem Milchpulver auf der Westdeutschen Gastwirte-Ausstellung in Köln, September 1935 (Rheinische Bäcker- und Konditor-Zeitung 37, 1935, 433)

Neue Formen der Magermilchverwertung

Das Scheitern des Milcheiweißbrote war auch deshalb möglich, weil die wissenschaftlichen Begleit- und auch die intensive Produktforschung zunehmend andere Formen der Magermilchverwertung bevorzugten. Erstens wurde der anfangs hervorgehobene Beitrag des Milcheiweißbrotes zur Eiweißversorgung stark relativiert, der „Gehalt an Milcheiweiß ist nicht sehr hoch“ (Frank Lamprecht, Die Verwendung von Magermilch, insbesondere Milcheiweiss, in der menschlichen Ernährung, in: Wissenschaftliche Berichte des XI. Milchwirtschaftlichen Weltkongresses, Bd. II, Hildesheim 1937, 270-273, hier 271). Effizientere Präparate seien vorzuziehen.

Zweitens ergaben Untersuchungen möglicher Backverfahren und -mischungen, dass die Qualität der zumeist aus Roggen hergestellten Milcheiweißbrote geschmacklich nicht überzeugen konnte. Paul Friedrich Pelshenke (1905-1985), führender NS-Experte, seit 1934 Leiter des Berliner Instituts für Bäckerei der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung, betonte nach der NS-Herrschaft, „daß insbesondere beim Roggenbrot der Zusatz von normalem Milchpulver völlig indiskutabel ist, weil der Brotgeschmack unangenehm wird. Es verträgt sich nun einmal die Säure im Roggen- wie auch im Roggenmischbrot nicht mit dem typischen Milchgeschmack, den man ja von der Magermilch her kennt“ (P[aul] F[riedrich] Pelshenke, Über Milcheiweißbrot, Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 15, 5-6, hier 5). Das klang in seinen früheren Analysen weniger eindeutig, 1935 sprach er von einer teilweisen „Verflachung des typisch kernigen Sauerteigbrotgeschmacks“, bei einigen Milchpulvern auch von einer „dem Brot fremde Säuerung, die als nachteilig angesprochen werden muß und zu völliger Ablehnung führen kann“. Weizengebäck sei besser geeignet, könne auch mehr Magermilchpulver aufnehmen (Pelshenke und Zeisset, 1936, 5-6).

Drittens entstand seit 1937 für Wehrmacht und Zivilbevölkerung eine rasant wachsende Palette von mit Eiweiß angereicherten Produkten. Wilhelm Ziegelmayer hob Bratlingspulver mit Soja-, Milch- und Molkeneiweiß, Suppenkonserven mit Hülsenfrüchten und aus Roggenschrot, Frischwurst bzw. Dauerwurst mit Keimmasse, Nudel und Käsepulver mit Hefe, Kekse und kochfertige Saucen mit Sojaeiweiß, Migetti und Puddingpulver mit Milcheiweiß, Pemmikan mit Soja- und Milcheiweiß bzw. Weinsäuredrops mit Molken- und Milcheiweiß nach dem Krieg besonders hervor (Wilhelm Ziegelmayer, Die Ernährung des deutschen Volkes, Dresden und Leipzig 1947, 145). Milcheiweiß machte den Anfang, gefolgt von Soja-, Hefe- und Molkeneiweiß. Es handelte sich zumeist um Zwischenprodukte bei Suppen, zur Fleischstreckung und von Süßwaren (Angewandte Chemie 51, 1937, 829). Sie waren auch in der Nachkriegszeit wichtige Bestandteile der Alltagskost, finden sich täglich in unserer Ernährung.

Verhäuslichung der Rohware: Milcheiweißpulver im Haushalt (Ernährungsdienst Nr. 21, 1938, 25; Völkischer Beobachter 1939, Nr. 64 v. 5. März, 17)

Viertens begann man spätestens mit dem Übergang zum Vierjahresplan, Milcheiweißpulver und Trockenmilch auch als häusliches Convenienceprodukte anzubieten. Sie galten als stark machende, lang haltbare und universell einsetzbare Hilfsmittel im Haushalt, waren Vorschein einer neuen modernen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. In der Nachkriegszeit wurden sie in Ost und West weiter verfeinert und geschmacklich verbessert. Der heute abebbende Eiweiß-Hype macht diese weit verbreiteten Produkte immerhin sichtbar; vorausgesetzt, man kennt ihre, also unsere Geschichte.

Lob der kräftigenden Trockenmilch (Westfälische Zeitung 1939, Nr. 54 v. 4. März, 14)

Fünftens hatten die raschen Veränderungen auch Rückwirkungen auf das noch vorhandene Nischenprodukt Milcheiweißbrot: 1938 wurde die für eine Anerkennung erforderliche Beimischung von Magermilchpulver resp. Nährkasein auf fünf bzw. 2,5 Prozent verdoppelt. Das behielt man auch während des Krieges bei, obwohl Trockenmilch zunehmend knapp wurde (Milcheiweißbrot als Spezialbrot, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 42, 1940, 45). Die Verordnung vom 26. März 1942 beendete dann die Geschichte des Milcheiweißbrotes während der NS-Zeit (Die neuen Brotzusammensetzungen, Renchtäler Zeitung 1942, Nr. 220 v. 19. September, 5).

Alles neu? Revitalisierung des Milcheiweißbrotes 1953/54

Das Jahr 1945, der militärische Sieg über das Großdeutsche Reich und seine Verbündeten, brachte ein Ende des Schlachtens und Mordens. Das betraf den Krieg, auch die derweil laufenden sieben nationalsozialistischen Massenmordkampagnen (Alex J. Kay, Das Reich der Vergeltung, Darmstadt 2023). Eine Stunde Null hat es dennoch nur ansatzweise gegeben, die gut gemeinten Bemühungen der Besatzungsmächte für einen Neuanfang blieben aus vielerlei Gründen Stückwerk. Nach 1945 dominierte gerade im Agrar- und Ernährungssektor eine Kontinuität der Eliten und der Praktiken. Man vergaß das Geschehene, vergaß die Namen der Macher und Täter, doch diese knüpften in ihren neuen alten Positionen vielfach wieder an das Geschehene an. Das Milcheiweißbrot ist dafür ein beredtes Beispiel.

Im Herbst 1953 lancierte das mit ehedem nationalsozialistischen Funktionseliten gespickte Bundesernährungsministerium – damals waren 70 Prozent der führenden Mitarbeiter frühere NSDAP-Mitglieder, wenige Jahre später dann 80 (Friedrich Kießling, Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik, in: Horst Möller et al. (Hg.), Agrarpolitik im 20. Jahrhundert, Berlin und Boston 2020, 365-512, hier 425-426) – in sechs nordrhein-westfälischen Großstädten eine Gemeinschaftswerbung für „ein mit Milcheiweiß angereichertes Brot“ (Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1). Neuerlich handelte es sich um ein Spezialbrot mit Banderole, neuerlich wurde es als Kraftbrot beworben. Neuerlich war es die Agrarlobby, die hoffte, „ein neues Absatzgebiet für Magermilchpulver zu erschließen“ (Calwer Tagblatt 1953, Nr. 174 v. 30. Juli, 2). Paradoxerweise wurde das altbekannte Milcheiweißbrot jedoch als neu beworben; so als hätte es seinen Vorläufer nie gegeben.

Das „neue“ Milcheiweißbrot in Westdeutschland 1953/54 (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8 (l.); Bäcker-Zeitung für Nord-, West- und Mitteldeutschland 8, 1954, Nr. 4, 1)

Das „neue Milcheiweißbrot“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8) wurde am 1. November 1953 eingeführt – doch bescheidener als ehedem im Oktober 1934. Man hatte offenbar aus der reichsweiten Einführung des Vollkornbrotes 1939 gelernt, das zuvor in zwei Testregionen, in Sachsen und dem Südwesten, eingeführt und evaluiert worden war (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. Regionalisierende und nationalisierende Deutungen und Praktiken während der NS-Zeit, Comparativ 11, 2001, 27-50). Nunmehr testete man in sechs Großstädten Nordrhein-Westfalens. Vorangegangen waren die üblichen Absprachen der interessierten Kreise, „dem Bundes- und Landesernährungsministerium, dem Bäckerhandwerk, den Brotfabriken und der Milchwirtschaft“ (Brot mit Eiweis [sic!], Sauerländisches Volksblatt 1953, Nr. 4. November, 4). Die Konsumenten blieben außen vor, auch ihre damaligen Repräsentanten, die Konsumgenossenschaften und die Hausfrauenverbände. Mit an Bord waren abermals Vorzeigewissenschaftler. Der Physiologe Heinrich Kraut (1893-1992), trotz NSDAP-Mitgliedschaft und umfangreicher Minimalbedarfsuntersuchungen an Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges wieder Leiter der Abteilung für Ernährungsphysiologie des Max-Planck-Instituts in Dortmund und einer der führenden, auch international gefragten Ernährungswissenschaftler der Bundesrepublik, betonte wie schon seine Vorgänger 1934/35, dass Milcheiweiß in eine moderne und gesunde Kost gehöre, dass es zugleich um billiges Eiweiß für ärmeren Segmente der Bevölkerung gehe. Das unterstrich auch der mittlerweile als Leiter der späteren Bundesanstalt für Getreideforschung in Detmold reetablierte Paul Pelshenke, der ab 1940 die Reichsanstalt für Getreideverarbeitung geleitet hatte (Bundesarchiv Lichterfelde R 4901/13273). Neuerlich führte er Backversuche mit Magermilchbroten durch, allerdings ohne direkt auf seine früheren Forschungen zu verweisen, in denen er verschiedene Roggenmehlvarianten ausdrücklich gutgeheißen hatte. Nun, in einem Umfeld neuer Mehle, neuer Technik, neuer Backhilfsmittel und neuer Milchpulver, sei es jedoch ratsam vom nicht geeigneten Roggen auf Weizen umzustellen (Pelshenke, 1954).

Rein technisch hatte man also aus dem ersten Scheitern gelernt, denn das neue Brot bestand nicht mehr vorrangig aus Roggenmehl, sondern nunmehr zu mindestens 70 Prozent aus Weizenmehl, welches damals massenhaft aus den USA und Kanada importiert wurde. Der Magermilchanteil betrug nun drei Prozent, der Preis lag drei Pfennige höher als der weiterhin staatlich administrierte Preis des Standardbrotes (Eine neue Brotsorte, Honnefer Volkszeitung 1953, Nr. 176 v. 31. Juli, 4). Und wieder klang es erfolgstrunken wie in alten Zeiten: „In Dortmund und Düsseldorf hatten die Bäcker ihre Vorräte von dem Brot, da auch besser schmeckt und sich besser hält, sehr schnell verkauft“ (Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 257 v. 4. November, 8). Schon einen Monat sprach das NRW-Landwirtschaftsministerium von einer dank einschlägiger Werbung erfolgreichen Einführung (Milcheiweißbrot setzt sich durch, Steinfurter Kreisblatt 1953, Nr. 279 v. 1. Dezember, 10). Die Landwirtschaft sekundierte, auch wenn der Preisabstand teils auf fünf Pfennige hochgeschnellt war (Milcheiweißbrot gefällt, Bünder Zeitung 1953, Nr. 300 v. 28. Dezember, 5). Da machte auch der Bäcker mit.

Integration des „Eiweissbrotes“ in die staatliche Agrarwerbung der Bundesrepublik (Honnefer Volkszeitung 1954, Nr. 132 v. 9. Juni, 4 (l.); Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 109 v. 12. Mai, 8)

Anfang 1954 war man dann fast wieder dort, wo man 1934 begonnen hatte: „Das je Kilo um drei Pfennig teurere Brot soll demnächst in allen Städten mit über 50.000 Einwohnern verkauft werden. Bundesernährungsminister Lübke wolle allen Ländern empfehlen, ähnliche Versuche durchzuführen. Falls dieser Plan in die Wirklichkeit umgesetzt wird, ist nach Meinung des Landwirtschaftsverbandes damit zu rechnen, daß der Ueberschuß an Magermilch bis auf einen kleinen Rest aufgefangen werden kann“ (Eiweißbrot soll sich durchsetzen, Bünder Zeitung 1954, Nr. 15 v. 19. Januar, 5). Das Milcheiweißbrot wurde seit Februar 1954 in 26 nordrhein-westfälischen Städten angeboten, die Werbung entsprechend ausgeweitet (Eiweißbrot bewährt sich, Sauerländisches Volksblatt 1954, Nr. 39 v. 16. Februar, 3). Stolz hieß es, es „werden jetzt Vorbereitungen getroffen, dieses Milcheiweißbrot im ganzen Bundesgebiet anzubieten“ (Münstersche Zeitung 1954, Nr. 62 v. 13. März, 9). Weitere Pilotprojekte folgten in Kassel, dann in ganz Hessen. Die Bäckereien waren nach wie vor zögerlich, doch das sollte sich langsam legen: 60 Prozent der Kasseler Bäcker beteiligen sich, „nachdem sich zuerst nur zehn Bäckereien zögernd dazu entschlossen hätten“ (Milcheiweißbrot jetzt für ganz Hessen, Mannheimer Morgen 1954, Nr. 170 v. 24. Juli, 10). Zuvor hatte sich das Brot nochmals gewandelt, wurde nunmehr als „Eiweißbrot mit Milch-Eiweiß“ Teil der staatlichen Gemeinschaftswerbung. Trotz weiterer Erfolge blieb der Erfolg jedoch begrenzt. Die 1957 folgende EWG-Gründung führte die nun gemeinsame Agrarpolitik ohnehin in neue Dimensionen, Milchseen und Milchpulverberge wurden gängige Bilder der weitergeführten subventionieren Unvernunft.

Überproduktion und Vorratswirtschaft als Folge der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, karikiert vom früheren NS-Propagandazeichner Hanns Erich „Erik“ Köhler (1905-1983) (Das Beste aus Reader’s Digest 28, 1975, Nr. 12, 55)

Uwe Spiekermann, 31. August 2025

Deutsches Kauen: Nationalsozialistisches „Rösen“ und seine Vorgeschichte

Kauen, dieses Hin und Her, Auf und Ab im Munde, ist allen Menschen gemein. Der Mund ist das Haupteintrittstor der Nahrung, hier wird sie zerkleinert und aufgeschlossen, hat auch der Geschmack einen Ort. Die Bedeutung guten Kauens für Genuss, für Verdauung und Gesundheit ist kulturübergreifendes Gemeingut. In deutschen Landen lässt sich dieses Wissen bis ins hohe Mittelalter zurückverfolgen: „De gôd kaut, de gôd daut“ hieß es im Holsteinischen (Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörter-Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1870, Sp. 1215). Das hochdeutsche Sprichwort „Gut gekaut / Ist halb verdaut“ ziert seit Mitte des 19. Jahrhunderts die einschlägigen Lexika (Karl Simrock, Die deutschen Volkbücher, Bd. 5, Frankfurt/M. 1846, 148; Wilhelm Körte, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen, Neue Ausgabe, Leipzig 1847, 181). Adel und das aufkommende Bürgertum bauten darauf seit dem späten 18. Jahrhundert Anstandsregeln und Umgangsformen auf: „Wer gut verdauen will, muß vor allem Andern langsam essen und gut kauen“ betonte der Gastrosoph Eugen von Vaerst (1792-1855) (Gastrosophie oder die Lehre von den Freuden der Tafel, Leipzig 1851, 38). Sein französischer Vorgänger Alexandre Grimond de la Reynière (1758-1838) verlangte gar, dass man jeden Bissen vor dem Herunterschlucken mindestens 32mal kauen sollte – jeder Zahn sollte seine Chance erhalten. Die Medizin des 19. Jahrhundert nahm dies auf, auch um die Ordnung am Tische und im Leben sicherzustellen: „‚Esse langsam,‘ damit du hinreichend Zeit habest, Alles klein zu zerbeißen, alles Nahrhafte gut auszuquetschen, Alles Genossene gut gekaut auch richtig einzuspeicheln!“ (J[ohann] A[ugust] Schilling, Schlechte Zähne, – schlechter Magen, Augsburger Sonntags-Blatt 1877, 364-367, hier 366).

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Kauen als Arbeit des Gourmands (Fliegende Blätter 113, 1900, 176)

Sinnsprüche wie „Gut gekaut ist halb verdaut“ waren Teile einer uns heute kaum mehr geläufigen Sentenzenwelt. Zwischen „Richtiges Kochen bringt Mark in die Knochen“ und „Höre auf, wenn Dir’s am besten schmeckt“ wurde Kochen und Essen verortet, das eigene Tun mit den großen Empfehlungen verbunden. Das war nicht nur bevormundend und erzieherisch, denn auch Bekömmlichkeit, Umgangsformen und die Achtung des anderen am Tisch ließen sich damit vereinen. Die Alltäglichkeit und Unverzichtbarkeit des Essens und des Kauens erlaubten aber zugleich, unter deren breitem Denkmantel ganz andere Ziele zu verfolgen. Denken Sie nur an die Werbung: Kalodont, eine der ersten Zahnpastamarken, rundete eben nur ab, was gutes Kauen vorbereitet hatte (Wiener Salonblatt 1907, Nr. 29 v. 20. Juli, 14). Das Kauen, dem „Schlingen“ zunehmend entgegengesetzt, wurde um die Jahrhundertwende auch zum Ausdruck einer guten, alten, gemütlichen Zeit, die Distanz zur vermeintlich modernen Hast und einer ungebührlichen Eile auch beim Essen erlaubte.

Gutes Kauen war nun nicht mehr nur Zeichen eines gesunden Lebens, praktizierter Lebenskunst. Es wurde Teil einer bürgerlichen, auch kleinbürgerlichen Welt des Innehaltens: Auf dem Teller, am heimischen Tisch konnte ein wenig Widerstand geleistet, Abstand gewonnen werden: „1. Schneide dir nicht den nächsten Bissen, solange du am vorigen noch kaust oder schluckst. 2. Kaue so, daß beim Gefühl im Munde oder dein Geschmack unterscheiden, was fest und weich, was trocken und was feucht, was flüssig, salzig, süß oder sauer ist. […] 3. Kaue möglichst so lange, bis keine ungleichen Teile mehr im Bissen sind! 4. Vergiß das Atmen beim Kauen (Essen) nicht! 5. Ist dir die Zeit bei Tische wirklich knapp, so verwende sie lieber aufs wirkliche Essen als auf die Nachtischzigarre oder aufs Zeitungslesen. 6. Wenn du kannst, iß in Gesellschaft. Die hastigsten Esser sind gewöhnlich Alleinesser. 7. Wenn die Zeit oder Ruhe in ganz besonderem Maße fehlt, so gibt es nur einen Rat: Iß weniger, als du essen willst“ (Alfred Pohl, Vom richtigen Kauen, Das Rote Kreuz 16, 1908, 220-221, hier 221). Entschleunigung ist keineswegs neu.

Kauen wurde um die Jahrhundertwende vermehrt Projektionsfläche für vielfältige Veränderungen, die mit der steten Bewegung des Auf und Ab, des Hin und Her an sich wenig zu tun hatten. Kauen wurde aus der Alltagspraxis herausgelöst, in neue Zusammenhänge gestellt. Bis heute bekannt ist der „Fletcherismus“, eine auf dem rechten Kauen aufbauende, in den USA zuerst propagierte, dann aber auch weltweit praktizierte lebensreformerische, „alternative“ Gesundheitslehre. Während des Ersten Weltkriegs wurde das intensive, feine Kauen nationalisiert, galt als patriotische Pflicht, um aus der Nahrung mehr herauszuholen, um an der Heimatfront länger durchhalten zu können. Beide Bewegungen mündeten während des Nationalsozialismus in eine propagandistische Bewegung für harte Nahrung und gutes Kauen. Sie wurde schließlich „Rösen“ genannt, nach dem völkisch-nationalistischen Zahnarzt und Ernährungsreformer Carl Röse (1864-1947). Kauen wurde deutsch, war Ausdruck einer scheinbar volkswirtschaftlich sinnvollen, gesundheitlich notwendigen und rassistisch fundierten Selbstdisziplin der Deutschen. Wie das? Wie konnte es dazu kommen, dass ein alle Menschen einigendes Tun der Abgrenzung, der Selbsterhöhung galt? Wohlan, blicken wird genauer hin.

Horace Fletcher – oder die Ideologisierung des Kauens

Ein erster Schritt hierbei war die Ideologisierung des Kauens durch den „Fletcherismus“, eine amerikanische Gesundheitslehre. Richtiges Kauen ermögliche eine bessere, eine vollständige Nutzung der Nahrung, bringe den Menschen zurück zu seinen natürlichen Ursprüngen, so Horace Fletcher (1849-1919), ein Unternehmer mit ehedem massiven Gewichts- und Darmproblemen. Wie so viele Ernährungsreformer präsentierte auch er seit den späten 1890er Jahren eine Geschichte von Krankheit, Einsicht und Umkehr, die dann in Bekenntnis und Mission mündete. Worum ging es? Fletcher beschloss, zur Rekonvaleszenz nicht mehr zu essen als nötig. Dazu bediente er sich einer neuen Kautechnik, nahm damit tradierten Ratschläge des „Well chewed is half digested“ wörtlich. Das wenige Essen – Ideal war eine Reduktion auf die Hälfte – sollte besser genutzt, die Verdauung schon in den Mund vorverlegt werden. Zähne und Speichel sollten werken, die Nahrung sich zu einem Saft verflüssigen. War auf der Zunge nichts Festen mehr zu spüren, so wurde geschluckt – doch das erfolgte gleichsam natürlich. Der Gaumen bestimmte, wurde zur „Schildwache der Gesundheit“ (Matthaei, Das Fletchern, eine Ergänzung des Vegetarismus, Vegetarische Warte 40, 1907, 77-78, 89-91, hier 77), zum diätetischen Gewissen, zum Garanten einer natürlichen, instinktgemäßen Ernährung.

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Horace Fletcher, Kaupropagandist und Bestsellerautor (Horace Fletcher, Fletcherism […], 3. Aufl., New York 1913, II (l.), Good Health 42, 1907, Nr. 9, 13)

Fletcher schrieb seine Erfahrungen nieder, baute auf seiner Art des richtigen Kauens eine, seine Lebensphilosophie auf. Sie entsprach dem bürgerlichen Individualismus, dem Wollen und Zwingen selbstbestimmter Menschen. Kauen stand für die bewusste Wahl eines gesunden Lebens, stand für eine Rückfrage an den an sich geteilten Mainstream des modernen Daseins. Fletchers Bücher „Menticulture“, „Happiness“, „What Sense? or Economic Nutrition“ waren Bestseller der Jahrhundertwende, entfachten eine populäre Bewegung, wie sie ähnlich schon Mitte der 1860er Jahre William Banting mit seiner Korpulenz-Diät losgetreten hatte (Hillel Schwartz, Never Satisfied. A Cultural History of Diets, Fantasies and Fat, New York und London 1986, 125-131; J[ames] C. Whorton, “Physiologic optimism”: Horace Fletcher and hygienic ideology in Progressive America, Bulletin of the History of Medicine 55, 1981, 59-87). Fletcher hielt der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, zeigte am eigenen Beispiel jedoch Auswege aus einer von Hast und Kommerz, vom Verlust der Natur und der Dominanz gesellschaftlicher Konventionen geprägten Gegenwart: “Mastication”, richtiges Kauen war Ruhepol, war Konzentration auf eigenes Tun. Fletchers Programm war breit angelegt, der Einzelne Teil einer umfassenden Sozialreform, die Effizienz und Natur harmonisch miteinander verbinden sollte. Der Reformer suchte folgerichtig nicht nur Kontakt zu anderen Reformern, etwa zu John Harvey Kellogg (1852-1943), sondern auch zu etablierten Wissenschaftlern. Er ließ sich auf physiologische Versuche ein, die er großenteils selbst bezahlte.

Die 1902 bis 1904 vom Physiologen Russell Henry Chittenden (1856-1943) in Yale durchgeführten Untersuchungen bestätigten, auch am Beispiel Fletchers, dass die starren Regeln des seit Jahrzehnten geltenden Voitschen Kostmaßes nicht immer galten. Die darin empfohlenen täglichen 118 Gramm Eiweiß waren eine schon zuvor wiederholt hinterfragte Setzung, gesundes und sparsames Leben auch mit weniger möglich (Russell H. Chittenden, Physiological Economy in Nutrition […], New York 1907; Vernon R. Young and Yong-Ming Yu, Dietary Protein Standard Can Be Halved (Chittenden, 1904), Journal of Nutrition 127, 1997, 1025S-1027S). Fletcher transformierte diese Ergebnisse in neue Bestseller („The New Glutton or Epicure“; „The new Menticulture“), unternahm nun aber auch umfangreiche Vortragsreisen durch Europa (Margaret Barnett, Fletcherism. The chew-chew fad of the Edwardian era, in: David F. Smith, Nutrition in Britain […], 6-28). Auch dort suchte er Kontakt mit geneigten Wissenschaftlern, etwa dem dänischen Mediziner Mikkel Hindhede (1862-1945). Weitere Forschungen folgten, vielfach von Fletcher finanziert. „Fletchern“ blieb auch dadurch öffentliches Thema (Jason Pickavance, Gastronomic Realism: Upton Sinclair’s The Jungle, the Fight for Pure Food, and the Magic of Mastication, Food & Foodways 11, 2003, 87-112). Was kümmerte es da, dass rückfragende Untersuchungen schon 1903 klar ergaben, dass die physiologischen Effekte intensivierten Kauens marginal, dass also Fletchers Kernbotschaft unzutreffend war (L. Margaret Barnett, ‚Every Man His Own Physician‘: Dietetic Fads, 1890-1914, in: Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Hg.), The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam und Atlanta 1995, 155-178, hier 171).

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„Zahnverderbnis“ humoristisch gewendet (Lustige Blätter 19, 1904, Nr. 7, 6)

Auch im Deutschen Reich wurde der Fletcherismus kontrovers diskutiert. Er passte in die Fin de Siècle-Stimmung, wie sie insbesondere von den Brotreformern gepflegt wurde. Sie verstanden die Abkehr vom (vielfach fiktiven) harten Roggenbrot der Vorfahren als Verweichlichung, als „Entartung“ (Uwe Spiekermann, Vollkornbrot in Deutschland. […], Comparativ 11, 2001, 27-50, hier 28-29). Alfred Kuhnert (1870-194?), Gustav Simons (1861-1914), Stefan Steinmetz (1858-1930) und andere mehr standen für eine völkisch-nationalistische Deutung des Übergangs zum Industriestaat und zur Konsumgesellschaft, der sich auch viele Zahnärzte anschlossen: „Wer die Nachteile vermindern will, die die verfeinerten Lebensweise mit sich bringt, muss sich schon im Kindesalter an eine möglichst kräftige Kauthätigkeit gewöhnen. […] Man wende mir nicht ein, die Kinder seien zum Genusse des harten Brotes nicht zu bewegen. Wo nur ein Wille, da ist auch ein Weg“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 28).

Hartes Brot und gutes Kauen bedingten einander, schienen den bürgerlichen Aktivisten deshalb unabdingbar für ein gesundes und zukunftsfähiges Deutsches Reich. Aber musste dies in Form eines kruden amerikanischen Kausystems erfolgen? Wo blieb da edler deutscher Sinn, die schweigende Andacht am Familientisch? Solche Rückfragen wurden zumindest innerhalb der vegetarischen Bewegung laut. Weniger Eiweiß, zumal weniger Fleisch – das war in ihrem Sinne. Gutes, geduldiges Kauen – das hatte schon der vegetarische Schriftsteller und Restaurantbesitzer Carlotto Schulz (1842-1901) angemahnt. „Gut gekaut, ist halb verdaut!“ stand auf seinen Speisekarten. Doch Fletchern? „Die übergroße Mehrzahl unserer Mitmenschen hat gar nicht die Zeit, um einer so genau zu beobachtenden Kautätigkeit obzuliegen, wie sie Fletcher verlangt. Die kärglichen Minuten, die dem im Erwerbsleben stehenden Manne außerhalb der Berufstätigkeit verbleiben, kann er doch nicht ausschließlich dem Kauen widmen. Das ist wohl Leuten möglich, die lediglich ihrer Gesundheit zu leben vermögen, wie dies bei Fletcher der Fall war, nicht aber der auf Erwerb angewiesenen Bevölkerung“ – so der Theosoph Julius Sponheimer (1868-1939), der vom Menschen mehr verlangte, als „im rein mechanisch-vegetativem Tun“ aufzugehen (Das Fletcherisieren, Vegetarische Warte 39, 1906, 41-42, für beide Zitate).

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Kauen in der lebensreformerischen Praxis (Borosini, Eßsucht, 4. Aufl., 1912, n. 192)

Während die erste Woge der Rezeption des Fletcherismus 1905/1906 abebbte, war die zweite Welle ab 1911 heftiger. Der Grund war einfach, hatte Fletcher doch mit dem Münchener Arzt August Joseph von Borosini (1874-1965) einen bekennerfreudigen Jünger gefunden. Er veröffentlichte 1911 „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung durch Horace Fletcher A.M.“, vermarktete den Fletcherismus als Diät und Verjüngungskur. Sein Fletchers Lehre kondensiertes, auch mit eigenen Ideen angereichertes Erfolgsbuch wurde zum Ankerpunkt aller Kauwilligen. Im Gedächtnis haften blieb vor allem Borosinis strikt-militärisches Kauregime, Gesundheitsarbeit, die viele spätere Wellness-Wellen vorwegnahm. Obwohl bis 1912 10.000 Exemplare gedruckt worden waren, galt der Fletcherismus damals aber eher als Absonderlichkeit, als Ausfluss eines obskuren Amerikaners und seines deutschen Künders: „Merk, du große Menschenherde: / Nur das Kauen bringt Genuss! / Dieser Kasus macht die Erde / Zu ‚nem einzigen Kau-kasus. / Der Prophet will, dass man flott / Rings im weiten Weltenbau, / Kau‘ in Moskau, Zwickau, Grottkau, / Afri- und Amerikau! / Heil dem Yankee Horace Fletcher! / Bringt ein Hoch ihm kräftigen Lauts / Schließt euch an, Kartoffelquetscher! / Wer nicht kaut, der ist ein Kauz“ (Der Kau-Boy, Die Lebenskunst 7, 1912, 532). In der Populärkultur wurde die Ideologisierung des Kauens im Rahmen eines lebensreformerischen Gesundheitsregimes gnadenlos aufgespießt. Gewiss, „gut gekaut, ist halb verdaut“ – doch man kann alles übertreiben: „Herr Fletcher predigt gutes Kau’n, / Nur so gelingt es, zu verdau’n. / Der ganze Mensch sei konzentriert / Auf jeden Gang, den man serviert. / Man lese keinen Mordbericht, / Wenn man verspeist sein Leibgericht. / Und lauf‘ nicht gleich, lärmt s‘ Telephon, / Vom Mittagstisch auf und davon! / Vor allem kaue man exakt, / Gemächlich im Larghettotakt. / Wer solchen Fletcherismus treibt, / Nochmal so lang am Leben bleibt!“ (Die Kunst des Kauens oder: Die neueste Art, das Leben zu verlängern, Nebelspalter 37, 1911, H. 2, s.p.).

Deutschland fletschere! – Die Nationalisierung des Kauens während des Ersten Weltkriegs

Der Erste Weltkrieg führte dennoch zu einer Nationalisierung des Kauens. Vor dem Hintergrund massiver Versorgungsprobleme wandelte sich zugleich dessen Begründung: Gutes Kauen diente nicht mehr vorrangig einer besseren Gesundheit oder dem Abnehmen. Gutes Kauen schien vielmehr angeraten, um die vorhandenen Nahrungsreserven besser auszunutzen. Horace Fletcher stand dafür weiterhin Pate, Borosini und viele Vegetarier sekundierten. Doch hinzu kamen nun zahlreiche national gesinnte Ärzte, die damit Sparsamkeit an der Heimatfront stärken, zugleich aber auch Hilfestellungen angesichts drohender Mangelernährung geben wollten.

Sparsamkeit war erforderlich, war das Deutsche Reich doch abhängig von Nahrungsmittel-, vor allem aber von Futtermittelimporten. Nur etwa 80 % des Vorkriegskonsums stammten aus eigener Produktion, Fett und Eiweiß waren besonders knapp. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Royal Navy nutzte dieses aus. Da man auf deutscher Seite von einem kurzen siegreichen Krieg ausging, knüpften Sparsamkeitsappelle anfangs meist an tradiertes Wissen an. In der wichtigsten Handreichung für Ernährungsmultiplikatoren hieß es schon im Herbst 1914: „Man soll weniger essen, dafür aber besser kauen“ (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, 17.-22. Tausend, Braunschweig 1915, 177). Doch nach dem Verlust der Marneschlacht war dies zu schwach, zu unklar, denn der Krieg würde länger dauern. Die Analysen wurden deutlicher, die Ratschläge fordernder: „Nachdem nun unserem Volke der entscheidende rücksichtslose Daseinskampf aufgezwungen wurde, ist uns dringend vonnöten die völlige Klarheit über unsere Daseinsquellen und der unbeugsame Entschluß zu ihrer möglichst restlosen Nutzbarmachung in allen Teilen der Volkswirtschaft, vor allem aber für die Lebensnotdurft“ ([Georg] Stieger, Unsere Daseinsquellen in der Kriegszeit, Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft 30, 1915, 105-108, hier 105).

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Propagandabilder fern der Realität (Lustige Blätter 30, 1915, Nr. 11, 6)

Der Berliner Bakteriologe Max Piorkowski (1859-1937) war einer von vielen, die nun Fletchers Lehre empfahlen. Essen sei schon lange nicht mehr vom Appetit geprägt, sondern verlaufe wie nach einem „mechanischen Uhrwerk“. Hier gelte es umzusteuern, die Kunst zu pflegen, „mit wenigen, aber gut gekauten Bissen auszukommen.“ Im nationalen Überschwang vergaß er die begründete Kritik am Fletcherismus, versprach vielmehr erstaunlichen „Wohlgeschmack und nie geahnte Tafelfreuden“ nach 30- bis 40maligem Kauen (Das Fletchern, Berliner Tageblatt 1915, Nr. 90 v. 18. Februar 1915, 5). Neben solche Empfehlungen trat zunehmend indirekter Zwang. Brot war als wichtigstes Lebensmittel von Beginn an Gegenstand kriegswirtschaftlicher Maßnahmen. Im Herbst 1914 wurde das K-Brot, das Kartoffelbrot, als Kriegsbrot eingeführt. Die ursprünglich 65 %ige Getreideausmahlung stieg 1915 auf 75 %, 1916 auf 82 % und 1917 schließlich auf 94 %. Die Folge waren Unverträglichkeiten und Magenprobleme, eine Bürokratie der Ausnahmegenehmigungen. Doch die Ärzte berichteten auch von Anpassungen: Die Beschwerden über hartes Brot „nahmen nicht zu, vielen tat es gut, es zwang sie, besser zu kauen. […] Ein gesunder Zug kam in viele Menschen“ (G[eorg] Klemperer, Die Krankenernährung in jetziger Zeit, Berliner klinische Wochenschrift 54, 1917, 642-643, hier 642).

Getragen von Hunderten von Zeitungsartikeln, Ratgebern und Kriegskochbüchern etablierte sich ab 1915 eine Art Wünsch-Dir-Was-Physiologie. Fletchers Vorstellungen einer umfassenden Mundverdauung wurden für bare Münze genommen: „Kauen, bis die Nahrung im Munde flüssig, schleimig und geschmacklos ist, sonst findet keine Vorverdauung derselben durch den Speichel und keine Aufschließung der in der winzigen Zelle ruhenden Nährstoffe statt“ (Georg Hiller, Wir verhungern nicht! […], Hannover 1917, 5). Begleitet wurde all dies durch Sprachpflege. Fletcher wurde eingedeutscht, mutierte zu „Fletscher“ und zum „Fletscherismus“ (E[rnst] W[alter] Trojan, Die Zukunft der deutschen Volksernährung, Vegetarische Warte 48, 1915, 63-64, hier 63). Das war Teil allgemeiner Sprachreinigung, so wie das Abschlagen von „Cinema“-Reklamen, der Ersatz von „Restaurant“ durch Gasthaus oder dem zeitweiligen Aufkommen von „Biefstücks‘ und ‚Schatobriangs“ (Hans Sachs, Der deutsche Kaufmann und die deutsche Sprache, Das Plakat 7, 1916, 210-219, hier 212). Fletschern wurde mit religiösem Fasten verglichen (E[rnst] W[alter] Trojan, Fasten und leiblich sich bereiten!, Vegetarische Warte 48, 1915, 195-196), mutierte aber auch zum „Feinkauen“. Dieses sei „eine hohe vaterländische Pflicht für Volk und Heer, sonst kommt der Körper rasch herunter; wir können nicht durchhalten und all die großen Opfer sind vergeblich gebracht“ (Adolf Mang, Streckung unserer Lebensmittel, Die Lebenskunst 12, 1917, 151-152, hier 152). Auch August von Borosini stieß ins nationale Horn, verzichtete gar auf seinen Leitbegriff „Vermunden“. Alle sollten seine Vorkriegsratschläge aufgreifen: „Ihr nützt dadurch euch selbst, euren Kindern und dem Vaterlande, denn wer fletschert, hilft durchzuhalten!“ (Fletschert!, Die Lebenskunst 12, 1917, 179-180, hier 180).

Zum meistzitierten Kaupropagandisten mutierte während des Ersten Weltkrieges allerdings der Aachener Zahnarzt und Geheimrat Georg Kersting, der sein Gewicht während des Krieges auch durch das Rösen von 216 auf 140 Pfund reduzierte. Seit Frühjahr 1915 veröffentlichten die Gazetten seine nationalistischen Artikel, in denen er von Sachkenntnissen unbelastet über die Lehre des „englischen Arztes Fletcher“ fabulierte. Umsetzungsprobleme gab es nicht: „Die Vorschrift ist einfach, kostet kein Geld, keine Mühe, keine Entbehrungen, jedermann begreift sie sofort, kann jeden Tag ohne Berufsstörung nach derselben leben und hat noch Gewinn dabei für seinen Geldbeutel, seine Gesundheit und als edelsten Gewinn das stolze Bewußtsein: auch ich helfe meinem Vaterlande siegen“ (Eßt weniger – aber richtig!, Badischer Beobachter 1915, Nr. 160 v. 8. April, 1). Kauen war für Kersting ein Kampfmittel, es konnte Schlachten gewinnen, den Schlachtgewinn sichern. Richtig Kauende benötigten nur noch die Hälfte der Nahrung, auch die österreichischen Truppen hätten ihre belagerte galizische Festung in Przemysl halten können, hätten sie nur gefletschert (Deutschland fletschere!, 19.-23. Tausend, Köln 1916, 25). Der Hamburger Hygieniker Rudolf Otto Neumann (1868-1952) sprach nach dem Kriege treffend von „Übertreibungen und Entgleisungen, die an das Pathologische streifen“ (Die im Kriege 1914-1918 verwendeten und zur Verwendung empfohlenen Brote, Brotersatz- und Brotstreckmittel […], Berlin 1920, 34). Obwohl Fletschern bis 1917 immer wieder eingefordert wurde, ebbte die publizistisch-nationalistische Welle dann massiv ab. Der Grund war einfach, denn das intensivierte Kauen war faktisch wirkungslos, wurde deshalb auch nur von kleinen Kreisen praktiziert. „Der Schlinger braucht das Doppelte“ (F[ritz] Herse, Sparsame Ernährung durch gründliches Kauen, Vegetarische Warte 49, 1916, 182-184, hier 183) – solche Wandsprüche erwiesen sich angesichts massiven Hungers als hohle Phrasen, als irreführende Wolkenkuckucksheime nationalistischer Möchtegernexperten.

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Kauen gegen den Mangel – Ratgeberliteratur (Kersting, 1916, I (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1917, Nr. 247 v. 16. Mai, 3)

Die physiologischen Effekte des Kauens wurden im Deutschen Reich während des Krieges nochmals mehrfach unabhängig voneinander untersucht – und die Ergebnisse waren eindeutig. Der damals führende Ernährungswissenschaftler Max Rubner (1854-1932) urteilte: „Ein gesunder und vernünftiger Mensch mit leidlich gesunden Zähnen verliert mit der Fletscherschen Regel nur unnötig Zeit. Die Versuche bei Brot zeigen, daß auch durch das Kauen in verstärktem Maße hier nichts mehr zu gewinnen ist. Was die beste Mühle nicht zermahlen kann, zermahlt auch nicht unser Gebiß. […] Viel wichtiger als die feinste Verteilung ist der bakterielle Eingriff, und diesen können wir nicht beeinflussen, auch erfolgt er in größerem Umfange erst dort, wo im Darm die Stellen ausgiebiger Resorption schon überschritten sind“ (Max Rubner, Untersuchungen über Vollkornbrote, Archiv für Physiologie 1917, 245-372, hier 361-362). Auch der Diätetiker Carl von Noorden (1858-1944) bewertete Fletchern als „Verschwendung. Man würde ansehnliche Massen wertvollen Materials durch den Darm treiben, das für die menschlichen Gewebe nicht greifbar ist, und man würde es Nutztieren, die es gut verarbeiten, vorenthalten“ (Carl v. Noorden und Ilse Fischer, Neuere Untersuchungen über die Verwendung der Roggenkleie für die Ernährung des Menschen, Deutsche Medizinische Wochenschrift 43, 1917, 673-676, hier 673). Dieses Wissen setzte sich langsam auch in der unter Zensur stehenden Presse durch: Fletchers Kaulehre sei nur „Sport und Eigengebiet eines beschränkten Kreises […], wie Okkultismus, Christian Science, Mazdazananlehre [sic!] usw.“ (Sp. Irving, Diätheilslehren für den Krieg, Frankfurter Zeitung 1916, Nr. 206 v. 26. Juli, 1-2, hier 2). Doch ebenso wie die breite Mehrzahl der Deutschen die Niederlage nicht akzeptieren konnte, blieb die Vorstellung von der wundersamen physiologischen Kraft des Kauens auch während der Weimarer Republik virulent.

Kauen ohne Übertreibung – Der physiologische Konsens während der Weimarer Republik

Zu Beginn der Weimarer Republik etablierte sich auf Grundlage der physiologischen Forschungsergebnisse allerdings ein Grundkonsens, den Max Rubner wiederholt unterstrich: Das Fletchern sei eine Empfehlung, „die auf dem alten Satz fußt: Gut gekaut ist halb verdaut. Die Leute, die nach ihm die Methode ausführen, sagen, und verbreiten es durch Broschüren, daß man unbedingt mit der Hälfte oder höchstens zweidrittel der Nahrung auskommen kann. Es ist Zeit, solchem Unfug ein Ende zu machen. Wie soll man denn nur die Hälfte oder nur ein Drittel mehr aus der besseren Verdauung herausschaffen können, wenn man weiß, daß im Durchschnitt von unserer Nahrung überhaupt nur 7-8% verloren gehen und von dieser Masse sind meist wieder nur 1/3 d.h. 2-3% des Genossenen unverdaut gebliebene Anteile, die selbst ein Wiederkäuer nicht viel weiter verarbeiten könnte“ (Die Kriegserfahrungen über die Volksernährung, Halbmonatsschrift für Soziale Hygiene und praktische Medizin 26, 1918, 187-189, 195-197, hier 188). Für „den hastenden Amerikaner, der sein Essen möglichst schnell hinabwürgt, [sei Fletchern, US] ganz gut. Alle Eltern wissen, daß man auch bei Kindern oft Mühe hat, ein langsames Essen zu erzielen. Also wirklich altbekannt. Aber was Fletscher [sic!] weiter behauptet – die wesentliche Verringerung des Nahrungsbedarfes war unrichtig. Während der Blockade hatte man bald erfahren, daß die Portionen mit dem Kauen nicht größer werden“ (Über neuere Strömungen in der Krankenernährung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 28, 1931, 413-416, 451-454, 479-484, 519-526, 548-551, hier 482). Weitere Forschungen bestätigten Rubners Einschätzung (Otto Jipp, Selbstversuche über die Ausnutzung der Nahrung beim Fletschern, Zahnmed. Diss. Hamburg 1923). Fletchern blieb ein Heilverfahren insbesondere bei Magenerkrankungen und Darmentzündungen (an denen auch Horace Fletcher gelitten hatte) (Theodor Brugsch, Lehrbuch der Diätetik des Gesunden und Kranken, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1919, 278). Darüber hinaus weisende Empfehlungen schienen jedoch unbegründet (Oscar Spitta, Grundriss der Hygiene, Berlin 1920, 298).

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Schaubildimaginationen: Volkswirtschaftliche Kosten ungenügenden Kauens (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 42 v. 14. Oktober, 10)

Das Fletchern geriet dadurch ins Hintertreffen, vergessen aber wurde es nicht. Zum einen legte die volkswirtschaftlich attraktive Idee eines effizienten Gesundheitswesens die Idee besseren Kauens immer wieder nahe. Das sich etablierende System allgemeiner Ortskrankenkassen führte zu neuer Kostentransparenz, die verbesserte Schulzahnpflege machte ebenso wie neue Visualisierungstechniken die volkswirtschaftlichen Lasten kranker Zähne und verfehlten Kauens deutlich. Selbst ein so abwägender Soziologe wie Adolf Günther (1881-1958) sprach damals noch vom „Nutzeffekt“ des Fletcherns, der durch Erziehung grundsätzlich gesteigert werden könnte (Sozialpolitik, T. 1: Theorie der Sozialpolitik, Berlin und Leipzig 1922, 207).

Wichtiger als solche in Zeiten allgemeiner Rationalisierungsdebatten attraktiven Aspekte war jedoch der kontinuierliche Lobpreis des guten Kauens und des Fletcherns in der allerdings kleinen Schar der Vegetarier. Fletchern mochte aufwendig sein, doch angesichts des allgemeinen Zwangs zur Sparsamkeit könne man darauf nicht verzichten (Carl Blietz, Leben oder Tod?, Vegetarische Warte 53, 1920, 5-7, hier 6). Auch die durch Hindhede, Ragnar Berg (1873-1956) und Carl Röse weiter in Gang gehaltene Eiweißminimumdebatte sorgte für kontinuierliches öffentliche Interesse (G[ustav] Riedlin, Unser Eiweißbedarf, Ebd. 57, 1924, 61-62; Böhme, Wozu essen wir?, Ebd. 59, 1926, 71-73). An Ermahnungen zum langsamen Essen und zum guten Kauen fehlte es zudem nicht.

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Kauen als Freizeitbeschäftigung: Wrigleys Kau-Bonbons und Kaugummiautomat in Berlin (Der Volksfreund 1926, Nr. 46 v. 24. Februar, 11 (l.); Illustrierte Technik für Jedermann 5, 1927, 66)

Zugleich wurde mehr oder weniger bewusstes Kauen durch neue Konsumgüter unterstützt. Das galt für Pfefferminzbonbons, wie die Ende der 1920er Jahre immer stärker beworbenen Marken Vivil und Dr. Hillers. Das galt insbesondere aber für das Kaugummi. Der US-Konzern Wrigley produzierte von 1925 bis 1932 im Deutschen Reich, machte Jugendliche und Angestellte „kaugummireif“ (Ernst Lorsky, Die Stunde des Kaugummis, Das Tagebuch 7, 1926, 913-915, hier 913). Unter Medizinern und Drogisten wurde medizinisches Kaugummi diskutiert und empfohlen (Wolfgang Weichardt, Kaugummi zur Desinfektion der Mundhöhle, Die Medizinische Welt 3, 1929, T. 2, 1837-1838). Im Konsumsektor wurden nach den Übertreibungen des Weltkrieges transatlantische Gemeinsamkeiten erkennbar. Doch sie währten nicht lange, denn spätestens mit der Machtzulassung der Nationalsozialisten und ihrer konservativen Bündnispartner trat „Deutsches Kauen“ wieder auf die öffentliche Agenda.

Die Reideologisierung des Kauens während des Nationalsozialismus

1933 gilt gemeinhin als Wasserscheide zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Rechtsstaat und Maßnahmenstaat. Zerschlagung und Verbot von Gewerkschaften und Parteien, die schon vor dem „Judenboykott“ vom 1. April 1933 einsetzende Drangsalierung und schleichende Entrechtung der deutschen Juden, Massenmobilisierung und Remilitarisierung, Gewalt und Folter – Stichworte eines raschen Wandels hin zum NS-Staat. Und doch ist dies zu eng gedacht, nicht nur weil das Deutsche Reich ab 1930 in ein autoritäres Präsidialsystem transformiert wurde, sondern weil es massive Kontinuitäten in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft gab. Doch konzentrieren wir uns auf das Kauen: Charakteristisch für die NS-Zeit war das Anknüpfen an tradierte Denkmuster des Kaiserreichs, an ideologisierte und nationalistische Deutungen der Kriegszeit. Regimenahe Ernährungsreformer und Zahnärzte setzten ungeachtet anderslautender wissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf überholte, aber griffige Parolen. Das war kein Rückfall in vormoderne Zeiten, schließlich ist Wissenschaft ein Modus der begründeten Hierarchisierung von Wissen. Am Beispiel des deutschen Kauens zeigt sich, dass sich gesellschaftlich nicht hinterfragte und politisch einseitig gestützte Wissensformationen nicht nur halten, sondern dass sie revitalisiert werden können.

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Negativbild Tempo (Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 8 v. 19. Februar, 13)

Ein guter Andockpunkt war die von Ernährungswissenschaftlern und Zahnärzten immer wieder beklagte Hast und Eile der Moderne. War diese während der Weimarer Republik noch Signum einer dynamischen, fortschrittsaffinen Zeit, so traten nun Denkmuster der Vorkriegszeit wieder in den Vordergrund: „Der heutige Mensch hat leider das richtige Kauen verlernt, weil die Auswahl der Nahrungsmittel und eine große Bequemlichkeit bei der Bearbeitung des Bissens, oft auch eine nervöse Hast es gar nicht zur Ausübung der Funktion des Mahlens und Zerreibens kommen läßt, sondern die Kiefer nur auf- und abwärts bewegt“ (Schönwald, Der Einfluß des systematischen Kauens auf Kiefer und Zähne, Forrog-Blätter 1, 1934, Sp. 65-78, hier 65-66). Dass sich zur gleichen Zeit Metaphern wie „jüdische Eile“ oder „jüdische Hetze“ wachsender Beliebtheit erfreuten, war eben kein Zufall, ging vielmehr einher mit der Ausgrenzung und dem Berufsverbot „marxistischer“ und „jüdischer“ Ärzte und Zahnärzte (Norbert Guggenbichler, Zahnmedizin unter dem Hakenkreuz […], Frankfurt/M. 1988, 127-162). Denen half auch nicht, dass sie während des Weltkrieges gleichermaßen zum „Fletschern“ aufgerufen hatten.

Dies ging einher mit einer durch die Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise nochmals verstärkten Kritik an der Kommerzialisierung des Alltagslebens und dem damit einhergehenden Verdrängen guter, einfacher Nahrung: Das 20. Jahrhundert erschien als „das Jahrhundert des Technikers und Krämers oder […] das Jahrhundert der Ueberwucherung der werteschaffenden Arbeit durch den Handel. Handel und Industrie haben sich auch eines großen Teiles der Nahrungsmittel bemächtigt und verändern sie weitgehend, ehe sie sie dem Menschen zuführen“ (Walther Klussmann, Gebissverfall und Ernährung, Hippokrates 6, 1935, 500-505, 522-529, 721-730, 752-769, hier 528-529). Charakteristisch war jedoch keine Rückkehr zu vorindustriellen Denkmustern, sondern die paradoxe Parole „Vorwärts zur Natur!“, wie sie etwa vom führenden nationalsozialistischen Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) ausgegeben wurde (Uwe Spiekermann, Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler: das Beispiel Werner Kollaths, in: Gerhard Neumann, Alois Wierlacher und Rainer Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 247-274, hier 253-254). An die Stelle eines technisch-zivilisatorischen Zeitalters werde ein biologisch-kulturelles treten. Das Kauen, das gute, war ein Hebel, um grundsätzlichere Fragen zunehmender „Konstitutionsverschlechterung“ (M[aximilian] Bircher-Benner, Diätetische Erfahrungen und ihre Perspektiven, Hippokrates 5, 1934, 185-191, 245-253, 280-286, 326-333, hier 185) angehen zu können.

Wichtig war dabei zweierlei: Zum einen wurde dieses Denken nun eingebunden in rassistische Deutungsmuster, wie sie insbesondere in der Neuen Deutschen Heilkunde und im Reichsverband der Zahnärzte Deutschlands offensiv vertreten wurden (Robert Jütte et al., Medizin und Nationalsozialismus […], Göttingen 2012; Dominik Groß et al. (Hg.), Zahnärzte und Zahnheilkunde im „Dritten Reich“ […], Berlin 2018). Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888-1939) betonte: „Diese Weltanschauung sieht den Menschen nicht als einzelnes Individuum, sondern als Glied einer großen, deutschen, blutsverbundenen Volksfamilie, als Erben rassischer, körperlicher und geistig-seelischer Eigenschaften, die er als Träger der Zukunft seines Volkes an künftige Generationen weiterzugeben hat“ (Ausbau der deutschen Heilkunde, Hippokrates 5, 1934, 223-224, hier 223). Der als bedrohlich wahrgenommene schlechte Zahnstatus der Deutschen war ein Symbol für die Verschlechterung der völkischen Substanz. Zahnkrankheiten wie Karies bedrohten die gesamte Volksgemeinschaft, schlechte Zähne schienen „Ausdruck einer Allgemeinerkrankung“ (Walter Wegner, Mund-Fokalinfektion und Volksernährung, Deutsches Ärzteblatt 68, 1938, 178-179, hier 178). Herdinfektionen konnten Gesundheit und Leben bedrohen, spiegelten zugleich aber Gefahren für den deutschen Volkskörper. Gutes Kauen war ein einfaches und preiswertes Vorbeugungsmittel, dessen Umsetzung auch die völkische Gesinnung der Deutschen widerspiegeln sollte. Die Volksgemeinschaft war immer auch Kaugemeinschaft.

Zweitens wurde die Propaganda für gutes Kauen von Beginn an mit der Brotfrage gekoppelt (Uwe Spiekermann, Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich, 1999 16, 2001, 91-128, insb. 101-107). Die Interessen der Getreidewirtschaft hatten schon während der Weimarer Republik zu breiten Kampagnen für Roggenbrot geführt, „Der Patriot ißt Roggenbrot“. Nun traten zudem Knäcke- und Vollkornbrot in das Blickfeld von Gesundheitspolitik und Ärzteschaft. 1933 wurde die Forschungsgemeinschaft für Roggenbrotforschung gegründet, die zahlreiche Studien zu Karies und Kauen finanzierte. Hartes Brot und gutes Kauen harmonierten scheinbar. Für Wilhelm Kraft (1887-1981), Gründer der Burger Knäckebrotwerke und völkisch-nationaler Ernährungsreformer, lag hier der Hebel für die Renaturierung der deutschen Menschen: „Wer gut kaut, verdaut nicht nur viel besser, sondern hat einen viel besser entwickelten, feineren, natürlichen Geschmacksinn als der ‚Schlinger‘. Er wählt sich spontan eine physiologisch richtig zusammengesetzte Nahrung und eine mäßige Nahrungsmenge“ (Kampf dem Gebißverfall!, Volksgesundheitswacht 1936, Nr. 3, 10-14, hier 13).

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Fletchern führt zu guten Gebissen: Suggestive Zahnabdrücke (Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 72 und 73)

Vor diesem Hintergrund war es folgerichtig, dass dem Kauen eine prominente Rolle auch in der Ernährungsbildung zugebilligt wurde. Die zehnte der „Zwölf wichtige[n] Regeln für Deine Ernährung“ der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung – Vorläufer der heutigen 10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – lautete: „Gut gekaut ist halb verdaut. Iß ruhig und sorgfältig, denn das Essen ist keine Nebensache“ (Reichs-Gesundheitsblatt 12, 1937, 50). Auch das Fletchern trat nun wieder hervor, wurde in ärztlichen Fachorganen neuerlich propagiert: „Wenn wir unser Volk wieder zu einer naturnahen Nahrung zurückführen wollen, dann müssen wir zuerst wieder die Wertschätzung richtig durchgeführten Kauens durchsetzen: Je ausgiebiger gekaut wird, desto besser vermag unser Körper die Nahrung auszunützen. […] Desto weniger brauchen wir ihm also Speisen zuzuführen. […] Was liegt mehr im Interesse des Vierjahresplanes, als auf dem Wege über diese Kaugewohnheit, der Wiedereinführung einer wahrhaft vorbildlichen Tischkultur, Verschwendungen zu vermeiden?“ (Heinrich Böhme, Das Fletschern. Das gründliche Kauen in seiner überragenden Gesundheitsbedeutung, Zahnärztliche Mitteilungen 28, 1937, 973-977, hier 976-977). Gutes Kauen diente der Effizienzsteigerung während des 1936 einsetzenden Vierjahresplans, war Teil der Rüstungen für den Krieg.

Vor der Wiederentdeckung: Zur Biographie Carl Röses

All dies erfolgte ohne Verweis auf Carl Röse, den späteren Namensgeber des „Rösens“, des bewussten deutschen Kauens. „Röse, das klingt in unserer kurzleidigen Zeit wie ein Ruf aus einer anderen Welt“ ([Alfred] Kuhnert, Röse und seine jüngste Forschertätigkeit, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 59-68, hier Sp. 59). Und doch; spätestens 1934 begann innerhalb der deutschen Zahnärzteschaft eine bemerkenswerte Wiederentdeckung – obwohl der Veteran in den 1920er Jahren nur eine nennenswerte Broschüre veröffentlicht hatte. Blicken wir mittels seiner Biographie zurück in die scheinbar andere Welt des Kaiserreichs (Detailreich, aber wissenschaftlich unzureichend Thomas Nickol, Das wissenschaftliche Werk des Arztes und Zahnarztes Carl Röse (1864-1947), Frankfurt a.M. et al. 1992, 1-10; Ute Hopfer-Lescher, Carl Röse (1864-1947). Sein Leben und Wirken unter besonderer Berücksichtigung der zahnmedizinischen Aspekte, Med. Diss. 1994, 10-41. Ebenfalls voller Fehler Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult, Stuttgart 2003, 145-148).

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Annonce des Münchner Zahnarztes Carl Röse (Münchner Neueste Nachrichten 1896, Nr. 223 v. 13. Mai, 3)

Carl Röse wurde 1864 im thüringischen Clingen als Sohn eines Mühlenbesitzers und Landwirts geboren. Er studierte 1884 bis 1888 Medizin in Jena, München und Heidelberg, wo er 1888 schließlich auch promovierte. Röse begann seine ärztliche Tätigkeit erst in München, dann in Rheinhessen. Seine Schwerhörigkeit erschwerte jedoch den Umgang mit Patienten. Er sattelte um, studierte zwei Semester Zahnheilkunde in Berlin und Erlangen und ließ sich 1891 in Freiburg a.Br. nieder, wo er im Dezember habilitiert wurde. Er arbeitete dort als Privatdozent bis 1894 resp. 1896, siedelte dann nach München über, wo er eine wenig erfolgreiche Privatpraxis führte. Zwischen 1900 und 1909 leitete er die Lingnersche Zentralstelle für Zahnhygiene, parallel eine vom Odol-Produzenten ebenfalls finanzierte Schulzahnklinik ([Carl] Röse, Die Zentralstelle für Zahnhygiene und die Schul-Zahnklinik, in: Fr[iedrich] Schäfer (Hg.), Wissenschaftlicher Führer durch Dresden, Dresden 1907, 307-308). Nach der Auflösung dieser Institutionen chargierte Röse zwischen Forschungsprojekten und einer zahnärztlichen Privatpraxis, erst allein in Dresden, dann in Gemeinschaft mit seiner seit 1892 angetrauten Frau Else in Erfurt. Abermals scheiterte er an Krankheiten und den Patienten. Nach einem Selbstmordversuch zog er sich 1913 aus der Zahnarzttätigkeit zurück, kaufte mit Familienunterstützung Land im thüringischen Schirma. Röse baute Obst, Blumen- und Gemüsesamen an, verkaufte die 35 Morgen jedoch 1919. Zuvor, 1917, wurde er nach einer Affäre mit einer minderjährigen Bediensteten, schuldig geschieden, heiratete diese später, zeugte mit ihr sechs Kinder. Nach der Revolution wollte er auswandern, kehrte 1920 aber nach Deutschland zurück und erwarb im thüringischen Gebesee ein Grundstück von 38, später 43 Morgen. In den 1920er Jahren publizierte er kaum, lebte vom Ertrag des Gartenbaus, ohne aber den Kontakt insbesondere zum Dresdner Hygiene-Museum und Ragnar Berg gänzlich abbrechen zu lassen.

Liest sich die Biographie erst einmal wie eine Abfolge begrenzter Erfolge und wiederholten Scheiterns, so bilden seine Forschungsarbeiten teils originelle Beiträge zu zentralen Fragen im Grenzgebiet zwischen Zahnheilkunde und Ernährungswissenschaft. Der im universitären Betrieb gescheiterte Röse dachte eben nicht im engen Blickfeld disziplinärer Binnenlogiken, sondern verband auf Grundlage einer völkisch-nationalistischen Deutungswelt Mundhöhle, Stoffwechsel, wirtschaftlichen Wandel und „Entartung“ zu gesellschaftshygienischen Kausalgeflechten, die während des Nationalsozialismus wieder anschlussfähig wurden. Grob gesprochen lassen sich drei Forschungsperioden voneinander abgrenzen.

In den 1890er Jahren, insbesondere während seiner Privatdozentur, konzentrierte sich Röse auf zahnmedizinische Themen. Anfangs dominierten phylogenetische Fragen der Zahnentwicklung bei Tier und Mensch. In Anlehnung an die Kariestheorie des in Berlin wirkenden Zahnheilkundlers Willoughby D. Miller (1853-1907) – Ursache der „Zahnfäule“ waren von Bakterien ausgelöste Stoffwechselprozesse in der Mundhöhle – wandte sich Röse dann jedoch Fragen des Kalkstoffwechsels und des Speichelflusses zu (Katherine MacCord, Development, Evolution, and Teeth […], Phil. Diss. Arizona State University 2017, 57-78). Als gelernter Mediziner und in stetem Drang, seine Wichtigkeit in Freiburg unter Beweis zu stellen, weitete er seinen Blickwinkel auch auf erste Reihenuntersuchungen, zuerst von Schulkindern, dann auch von Rekruten (Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Oestereichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde 10, 1894, 313-340; Ueber die Zahnverderbnis der Musterungspflichtigen in Bayern, ebd. 12, 1896, 381-449). Diese Arbeiten waren unter Professionalisierungsgesichtspunkten interessant, bot die sich langsam etablierende Schulzahnpflege doch Dauerstellen. Röse lieferte damit aber auch Beiträge zur damaligen Industrie-Agrarstaatsdebatte. Er griff die Angst vor einer allgemeinen „Entartung“ nicht nur der Großstädte sondern auch des Landes auf, warnte vor einer körperlichen „Degeneration“ der Menschen, die nicht zuletzt die Wehrfähigkeit des Deutschen Reiches zu unterminieren schien.

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Carl Röse als Teil seiner Reihenuntersuchungen (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 3, 1906, 120)

Während seiner Dresdener Zeit hatte Röse dann die Chance, diesen Fragen mit Hilfe von Massenuntersuchungen nachzugehen (Ulf-Norbert Funke, Leben und Wirken von Karl August Lingner […], Hamburg 2014, 57-63). Fast eine Viertelmillion Kinder und auch Erwachsene wurden auf Basis einheitlicher Frageraster untersucht – im In- und europäischen Ausland. Im Mittelpunkt dieser sozialstatistischen Erfassungen standen die Verbreitung und die Ursachen der Karies. Röse konzentrierte sich dabei auf die Bedeutung von Mineralstoffen, vornehmlich Kalk und Magnesium. Trotz eines kleinen Laboratoriums in Dresden ging es dabei vornehmlich um Trinkwasser, Nahrungsmittel und deren Auswirkungen auf Zahngesundheit und Allgemeinbefinden. Auf Grundlage seiner Hochschätzung des menschlichen Speichels als alkalisches Schutzfluidum in der Mundhöhle wandte er sich zunehmend strikter gegen eine kalkarme Ernährung, gegen zu weiches Wasser. Obwohl heute der stupende Empirismus und die apodiktische Sprache Röses irritieren, konnte er die Bedeutung des Mineralstoffwechsels für die Zahngesundheit doch genauer justieren und auch prophylaktische Maßregeln begründen. Just deshalb wurde er 1906 vom Eugeniker Gustav von Bunge (1844-1920) für den Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen, kam aber nicht einmal auf die Kurzliste möglicher Anwärter (Dominik Gross und Nils Hansson, Carl Röse (1864-1947) […], British Dental Journal 229, 2020, 54-59, hier 55-57). Röse hatte zuvor Bunges Behauptung eines kausalen Zusammenhangs von Kariesinzidenz und Stillunfähigkeit unterstützt (G[ustav] v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen ihre Kinder zu stellen, 6. verm. Aufl., München 1908, 29).

Nach der Entlassung in Dresden war an Massenuntersuchungen kaum mehr zu denken. Röses Interesse lenkte sich notgedrungen auf engere Fragen, bei denen die Untersuchung des Mineralstoffwechsels mit dem des Eiweißbedarfs gekoppelt wurde. Schon zuvor hatte er eine vornehmlich basische Kost empfohlen, auch wenn er säurehaltiges Fleisch oder Brot nicht von der Tafel verbannen wollte. Von 1912 bis 1915 wurden unter der Leitung seines früheren Mitarbeiters Ragnar Berg an Röse und seinem Sohn Walter zahlreiche Versuche im Lahmannschen Sanatorium „Weißer Hirsch“ durchgeführt (C[arl] Röse und Ragnar Berg, Ueber die Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1011-1016). Auf diesen Grundlagen entwickelt Berg seine breit rezipierte Säure-Basen-Diät (Christian Rummel, Ragnar Berg. Leben und Werk des schwedischen Ernährungsforschers und Begründers der basischen Kost, Frankfurt a.M. et al. 2003, insb. 87-92, 118-119, 180). Röse zog aus den Untersuchungen eigene Schlüsse, lebte fortan von einer Kartoffel-, Gemüse- und Milchdiät mit täglich knapp 40 Gramm Eiweiß. Für ihn war dies eine Idealkost, für das darbende Vaterland eine Sparkost, mit der volkswirtschaftliche Versorgungsprobleme gemildert und die Volksgesundheit gehoben werden konnte (Carl Röse, Eiweiß-Überfütterung und Basen-Unterernährung, 2. völlig umgearb. u. erw. Aufl., Dresden 1925). Die Beziehung von Mineral- und Eiweißstoffwechsel blieb Röses Kernanliegen, auch in den 1930er Jahren, als er mit nun wieder wachsender Unterstützung offene Forschungsfragen weiter verfolgen konnte. Aus dem Kariesforscher war ein Ernährungsreformer geworden; und just dies machte ihn für nationalsozialistische Bundesgenossen interessant (dies verkennen Groß und Hannson, 2020, 57).

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Zahnkunde als Rassenkunde: Beispiel für Röses Schädelstudien (Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 131)

Während sich die Forschungsschwerpunkte Röses mehrfach veränderten, blieb das Grundmotiv seines Schaffens jedoch konstant. Der Mediziner, Zahnarzt, Sozialhygieniker und Ernährungsreformer war Sozialdarwinist, völkischer Aktivist, Rassenvorkämpfer. Schon seine im Mund verorteten Zahnstudien standen im Gesamtgefüge des Darwinismus, im „Kampfe ums Dasein“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 66). Antiurbanismus dominierte, Auslöser der „Entartung“ sei vornehmlich die städtischen Bevölkerung, seien künstliche Säuglingsernährung, Alkoholgenuss und „Stubenluftelend“ ([Carl] Röse, Über Beruf und Militärtauglichkeit [Referat], Die Umschau 9, 1905, 611-615, hier 613). Doch auch ländliche Bevölkerung und Jugend degenerierten: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (C[arl] Röse, Anleitung zur Zahn- und Mundpflege, 5. Aufl., Jena 1900, 61). Zähne waren für ihn nur „der Spiegel des menschlichen Körpers oder das Wasserstandsrohr am Dampfkessel des Organismus“ (C[arl] Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Berlin 1908, 60). Röse ging es um die Bewahrung einer Deutschland noch beherrschenden „germanischen Oberschicht“, als dessen Teil er sich verstand. Doch auch in der Breite des Volkes gäbe es „noch viel nordisches Blut“, das zu fördern sei. Eugenik, Rassenhygiene und eine „kluge Rassenpolitik“ seien erforderlich, seine Arbeit Inventuren des dringend zu stoppenden und zu wendenden völkischen Niedergangs (C[arl] Röse: Beiträge zur europäischen Rassenkunde und die Beziehungen zwischen Rasse und Zahnverderbnis. V., Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie 3, 1906, 42-134, Zitate 104, 106, 108). An all dem machte der an sich wendige Röse auch später keine Abstriche. Und all dies war auch selbstgesetztes Programm der NSDAP und ihrer die Universitäten, Forschungsinstitute und Fachverbände in den 1930er Jahren zunehmend dominierenden Repräsentanten.

Wiederentdeckung eines Vorkämpfers: Die Rezeption Carl Röses in den 1930er Jahren

Die Wiederentdeckung Carl Röses begann schon vor 1933. Mit Unterstützung schweizerischer Kollegen – hier hatte er zuvor Zugang zu lebensreformerischen Kreisen gefunden – begann er 1930 neuerliche Selbstversuche zur Klärung der Eiweißminiumfrage, demonstrierte seine körperliche Leistungsfähigkeit 1930 und 1931 mit dem Besteigen unter anderem des Matterhorns (C[arl] Röse, Vierjährige Ernährung an der Grenze des Eiweißmindestbedarfes, Zeitschrift für die gesamte experimentelle Medizin 94, 1934, 579-595). Wichtiger als eigene Untersuchungen war jedoch die neuerliche Rezeption einerseits durch die nun vielfach nationalsozialistisch geadelte Naturheilkundebewegung (Uwe Spiekermann, Aussenseiter und Wegbereiter: Die Rezeption Bircher-Benners im Deutschen Reich in den 1930er Jahren, in: Eberhard Wolff (Hg.), Lebendige Kraft […], Baden 2010, 134-150, insb. 139-143), anderseits durch eine Koalition von Brotreformern und Zahnärzten.

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Werbung für Röse (und Fletcher und Borosini) im Umfeld der Ernährungsreform (Das neue Leben 2, 1930/31, 240 (l.); Ragnar Berg und Martin Vogel, Die Grundlagen einer richtigen Ernährung, 5.-7. T., Dresden s.a. [1925], 222)

Röse passte bestens in die Agrar- und Ernährungspolitik des Nationalsozialismus. Er empfahl keine Importgüter, sondern die basischen, „die natürlichen und billigen Nahrungsmittel: Milch, Quark, Eier, grüne Gemüse, Hülsenfrüchte“ (Carl Röse, Erdsalzarmut und Entartung, Naturärztliche Rundschau. Physiatrie 6, 1934, 74-77, hier 76). Anders als Vegetarier lieferte Röse aber auch physiologische Begründungen für diese Wahl. Der breit publizierende Ragnar Berg, von 1902 bis 1909 Röses Mitarbeiter in Dresden, verwies immer wieder auf Röses Forderung nach genügend Kalk und Magnesium, nach harter und nährender Kost: „Daß hierbei das Brot tatsächlich von außerordentlicher Bedeutung ist, hat schon vor dreißig Jahren Röse zeigen können“ (Der Einfluß der Ernährung auf die Zähne, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 38, 1935, 654-658, hier 654). Hartes Brot konnte demnach weiches Trinkwasser überkompensieren, erfordere es doch überdurchschnittlichen Speichelfluss. Kauen sei wichtig, stärke die Kiefermuskulatur: „Fehlt diese naturgemäße Beanspruchung der Kauorgane, geht ihre Gesamtentwicklung zurück und der Speichel verliert einen guten Teil seiner nützlichen Eigenschaften“ (Ragnar Berg, Unser Brot und unsere Zähne, Die Umschau 42, 1938, 51-53, hier 52). Seitens der Naturheilkunde wurde Carl Röse als „Arzt, Rassenforscher, Bauer“, ferner als „Ernährungslehrer“ gefeiert. Hätte man 1914 auf ihn gehört, wäre man zu einer von ihm empfohlenen Kartoffel-Grüngemüse-Milch-Kost übergegangen, so wäre eine Aushungerung Deutschlands unmöglich gewesen. Sein steter Verweis auf möglichst hartes Trinkwasser, harte Möhren und hartes Brot erschien wegweisend (Der Zahnarzt Hofrat Dr. med. Carl Röse. Die Bedeutung des Trinkwassers, in: Alfred Brauchle (Hg.), Naturheilkunde in Lebensbildern, Leipzig 1937, 326-334, Zitate 332). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sah das ähnlich, gewährte dem akademischen Außenseiter 1936 und 1938 insgesamt drei Sachbeihilfen für Forschungen zum Eiweißstoffwechsel (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde R 73/14038).

Auch Zahnärzte und Brotreformer würdigten Röse als einen der Ihren ([Eduard] Schrickel, Was wir wollen, Forrog-Blätter 1, 1934/35, Sp. 1-4, hier 2). Dabei bezog man sich vornehmlich auf dessen Massenuntersuchungen, zog daraus weitergehende Schlüsse: „Wie ihnen bereits aus den Arbeiten von Röse, Kunert, Kleinsorge und anderen Verfassern bekannt ist, stimmen sie alle darin überein, daß tägliche Kauübungen mit festen Speisen, konsequent bei Kindern durchgeführt, normalere Kiefer und Zähne erzeugen, als bei Kindern, die nicht zum richtigen Kauen erzogen wurden“ (Schönwald, 1934/35, Sp. 76-77). Reichszahnärzteführer Ernst Stuck (1893-1974) hielt große Stücke auf Röse, förderte ihn mit eigenen Mitteln. Auch der wichtigste Zahnarztfunktionär des Dritten Reiches, Hermann Euler (1878-1961), würdigte Röse als Wegbereiter der „Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde“ (Die Ernährungswissenschaft in der Zahnheilkunde, eine geschichtliche Betrachtung, Zahnärztliche Mitteilungen 26, 1935, Sdr-Nr. v. 29. September, 20-23, hier 23). Ehrungen waren da nicht fern. Röse erhielt 1935 den Miller-Preis der Deutschen Zahnärzteschaft und im Folgejahr die Bronze-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde.

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Lobeshymne durch den Reichszahnärzteführer (Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 365)

Mitte der 1930er Jahre hatte Carl Röse also Ehrungen wie zuletzt in Dresdner Zeiten erhalten. Doch dies war erst der Anfang. Denn seither begann vornehmlich durch nationalsozialistische Zahnärzte und Brotreformer eine Stilisierung Röses zum Vorzeigekämpfer. Dazu gehörte sein nie verhehlter Antisemitismus. Er wurde als „Feind der Juden“ (W[alther] Klußmann, Röse, ein Forscherschicksal, Zahnärztliche Mitteilungen 27, 1936, 601-605, hier 603) belobigt, habe „frühzeitig die Gefahr erkannt, die das Judentum für unser Volk bildet, und bekannte sich mannhaft zu seiner Ueberzeugung“ (Klussmann, 1935, 526). Lächerliche Gerüchte wurden gestreut, seine Forschungen seien von Juden bekämpft wurden. Das galt einem deutschen Visionär, der schon vor mehr als einem Menschenalter „mit seherischer Kraft“ (Ebd.) auf Ernährungsschäden hingewiesen habe. Die Stilisierung zum nationalsozialistischen Wissenschaftskrieger fand ihren Höhepunkt 1938 anlässlich Röses goldenen Doktorjubiläums: „Röse verbindet in seltener Harmonie eine geniale Intuition mit der Unbestechlichkeit des wahren Forschers, einen bewundernswerten Idealismus mit der unerbittlichen Fragestellung im Experiment. Nur so ist seine bedingungslose Hingabe an die Sache und seine Selbstaufopferung im Kampf um die als richtig erkannte Idee zu verstehen. […] Ueber die deutsche Zahnärzteschaft hinaus aber muß jeder deutsche Volksgenosse der mit dem wieder erstandenen fruchtbaren Leben seines Volkes im Dritten Reich verbunden ist, in Röse einen aufrechten und unerschrockenen Vorkämpfer nationalsozialistischer Prägung sehen, den uns die Vorsehung noch lange in voller Rüstigkeit erhalten möge“ ([Eduard] Schrickel, Intuition, Wissen und Selbstaufopferung: die Kennzeichen C. Röse’s […], Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 41, 479-480, Zitate 479, 480). Da lag es nahe, ihm Dank zu erweisen. Sein früherer Weggefährte Otto Escher (1863-1947) regte die Gründung einer „Zentralstelle für Ernährungswissenschaft“ an, zugleich Forschungs- und Ausbildungsstätte: „Die Lösung der Ernährungsfrage hält Röse für eine wichtige politische Angelegenheit, um unser Volk vor der nächsten großen Krisis ernährungshygienisch geschult zu haben“ (Hofrat Dr. med. Carl Röse zum 50jährigen Promotions-Jubiläum am 15. Mai 1938, Zahnärztliche Mitteilungen 29, 1938, 372-376, hier 376). Krieg stand bevor, Röse hatte wieder vorgedacht.

Das „Rösen“ – Ein Nebenstrang gutes Kauens für Deutschland

Kommen wir damit zum „Rösen“, dieser Ehrbezeichnung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs an einen seiner Gesundheitsführer. Sie knüpfte an diese Stilisierung des Ernährungsreformers und Erforschers der Kariesursachen unmittelbar an. Doch sie erfolgte nicht ohne Röses Zutun. Er nahm den Lobpreis ernst, präsentierte sich als „Nationalsozialist der Tat“ (Escher, 1938, 376). Analog zu den Narrativen der nationalsozialistischen Führer deutete er seine Lebensgeschichte. Seine langjährigen Selbstversuche zielten nicht auf Stelle, Geld und Anerkennung: „Ich tue es für mein Volk, vor allem für die nordische Führerschicht unseres Volkes. Unser von allen Seiten bedrohtes und leider auch gehaßtes Volk darf nicht weiterhin tiefer im Schlammkessel von Eiweißüberfütterung und Harnsäureüberladung versinken. Es muß gesunder werden als seine Nachbarn, wenn es nicht vom Erdboden vertilgt werden soll“ (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127, hier 125). Er habe mit seinem Forschen ein Beispiel gegeben, habe dem Geldmangel getrotzt, um seine Mission für das deutsche Volk zu erfüllen: „Nicht an Ratten, sondern an meinem eigenen Leibe mußten die Versuche durchgeführt werden“ (Ebd.). Doch ihm ging es nicht mehr um sein zahnärztliches, ihm ging es um sein ernährungswissenschaftliches Wirken: „Seit 26 Jahren lebe ich nun ununterbrochen dem deutschen Volke vor, wie man bei Innehaltung vorwiegend pflanzlicher basenreicher Kost mit geradezu lächerlich geringen Mengen des teuersten Lebensmittels Eiweiß auskommen kann“ (Carl Röse, Im 75. Lebensjahr bei schmaler, eiweißarmer Kost auf Mönch und Jungfrau, Hippokrates 10, 1939, 296-297, hier 296). Dazu gehörte auch, seine eigenen Arbeiten immer wieder umzudeuten. Die Millersche Kariestheorie hatte er in den 1900er Jahren kaum mehr beachtet – kompatibel mit dem sozial- und rassehygienischen Ansätzen seines Arbeitgebers Karl August Lingner (1861-1916). Seine in den 1910er Jahren stets freundliche Bewertung des einflussreichen Doyens der Ernährungswissenschaft Max Rubner wandelte sich mit der Nähe zur Ernährungsreform in strikte Distanz zum „Eiweißfanatiker Rubner“ (C[arl] Röse, Das Märchen vom Eiweißmangel der Zittauer Weber, Forrog-Blätter 2, 1935, Sp. 57-60, hier Sp. 57). Röses Kritik war Teil einer umfassenden Denunziation des liberal-konservativen Forschers, bis hin zu seiner Diskreditierung als „Jude“ (Prof. Dr. Max Rubner war deutschblütiger Herkunft, Hippokrates 7, 468). Es verwundert daher nicht, dass Röse auch seine Verbindungen zur Brotreform öffentlich hervorhob. Wahrheitswidrig tönte er: „44 Jahre sind bereits darüber verflossen, seitdem ich zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe. Heute endlich beginnt man die Notwendigkeit ausreichender Basenzufuhr in der menschlichen Nahrung allgemein einzusehen. […] Ich hoffe aber, es noch zu erleben, daß diese Basenlehre auch unter den Ärzten ebenso allgemein durchdringen wird, wie die Vollkornbrotlehre bereits durchgedrungen ist“ (C[arl] Röse, Tomatensaft als Kurmittel, Hippokrates 9, 1938, 985-987, hier 985).

Festzuhalten ist, dass Röse zwar für sein „nordisch-germanisches Kulturideal“ und die „Aufklärung ernährungsphysiologischer Problemstellungen“ gewürdigt wurde, nur in Ausnahmefällen aber als Propagandist des guten Kauens ([Hanns] D[erstro]ff, Hofrat Dr. med. Karl Röse feierte seinen 75. Geburtstag, Zahnärztliche Mitteilungen 30, 1939, 331-332, hier 331). Festzuhalten ist auch, dass Röses (und Bergs) basische Ernährung von der Mehrzahl der damaligen Ernährungswissenschaftler abgelehnt wurde. Der Münchner Mediziner Wilhelm Hermann Jansen (1886-1959) hatte schon 1918 die Aussagen Röses und Bergs über den Eiweißumsatz als „nicht haltbar“ kritisiert (Zur Frage der Abhängigkeit des Eiweissbedarfs vom Mineralstoffwechsel, Münchener Medizinische Wochenschrift 65, 1918, 1112). Anfang der 1930er Jahre erneuerte und verschärfte er seine Kritik (Ueber Eiweißbedarf und Mineralstoffwechsel […], Zeitschrift für Volksernährung und Diätkost 7, 1932, 373-375; Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, Münchener Medizinische Wochenschrift 79, 1798-1799; Ragnar Berg und W[ilhelm] H[ermann] Jansen, Was ist an der Ernährungslehre vom Basenüberschuß?, ebd., 2089-2090). Der Charlottenburger Arzt Benno Süßkind folgerte aus seinen Selbstversuchen mit basischer Rohkost Ende der 1920er Jahre, dass diese tendenziell gesundheitsgefährdend sei – und erwähnte Röse dabei nicht einmal (B[enno] Süßkind, Zur Frage des Eiweißbedarfs bei Rohkost, Die Volksernährung 3, 1928, 215-217; Ders., Kritische Betrachtungen zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 113-119). Auch der bestens vernetzte Berliner Physiologe Adolf Bickel (1875-1947) kritisierte Röses „teleologische Deutung“ (Eiweißminimum und Basengehalt der Nahrung, Referat, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 71) seiner Selbstversuche scharf. Röses Antwort bot keine Gegenargumente, nur sein eigenes Lebensbeispiel (Carl Röse, Zur Eiweißfrage, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 125-127). Bickel antwortete kühl, „die praktische Volksernährung […] verlangt bessere Garantien für die Sicherung des Gesundheitszustandes des Volkes“ (Antwort, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 128). Er empfahl 80 Gramm Eiweiß pro Tag, ein Wert, der später auch Grundlage des Rationierungssystems werden sollte. Allen Ehrungen zum Trotz blieb Carl Röse für eine Mehrzahl auch der NS-Ärzte trotz seiner Karies- und Rasseforschungen ein eigenbrödlerischer Ernährungsreformer. Diese mochten ihre Verdienste haben, so der Physiologe Karl Eduard Rothschuh (1908-1984): „Aber die Bewährung des praktischen Handels vor der Wirklichkeit macht aus wahnhaften Theorien nicht ohne weiteres eine wissenschaftliche begründete Vorstellung“ (Wahn, Wissenschaft und Wirklichkeit in der Ernährungslehre vom ärztlichen Standpunkt, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 58-60, hier 60).

Gutes Kauen war derweil auch ohne Röse zum propagandistischen Thema geworden. Zahnmediziner und Brotreformer hatten schon seit der Weimarer Republik vermehrt auf die Bedeutung eines nahrhaften Roggenbrotes hingewiesen. 1930 gab es erbitterte Kontroversen über die Mehlbleichung, die vielfach als Krebs- und Kariesauslöser galt, die aber dennoch beibehalten wurde (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 563). Die Kariesinzidenz konnte in den 1930er Jahren nicht verringert, der Abbau der Schulzahnpflege durch die propagandistisch durchaus wirksamen neuen fahrbaren Zahnambulanzen nicht kompensiert werden. 1937 begann mit ersten regionalen Kampagnen für verstärkten Vollkornbrotverzehr ein weiterer propagandistischer Feldzug für bessere Ernährung und gutes Kauen. Relative Erfolge in Schwaben und Sachsen führten schließlich im Sommer 1939 zur Gründung des Reichsvollkornbrotausschusses, der kurz nach Kriegsbeginn fast 100 Beschäftigte aufwies und eine reichsweite, zunehmend dezentralisierte, zugleich auf viele eroberte Staaten ausgeweitete Tätigkeit aufnahm (Uwe Spiekermann, Brown Bread for Victory: German and British Wholemeal Politics in the Inter­war Period, in: Frank Trentmann und Flemming Just (Hg.), Food and Conflict in Eu­rope in the Age of the Two World Wars, Basingstoke und New York 2006, 143-171, insb. 150-155). Vollkornbrotpropaganda war immer auch Kaupropaganda:“Für die Zähne, für das Blut / ist Vollkornbrot besonders gut. / Der Zahn wird stark, wenn man gut kaut, / und gut gekaut ist halb verdaut“ (Vollkornbrotfibel, Planegg 1941, 7).

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Braune Pädagogik: Vollkornbrot erspart den Zahnarzt (Vollkornfibel, Planegg 1941, 15)

Brotpropaganda war allerdings nicht Röses Ziel. Er aß vornehmlich Kartoffeln und Gemüse, dazu ein wenig Milch. Säurehaltiges Brot verzehrte er selten. Auch sein Zahnstatus war dafür unzureichend, besaß er 1936 doch nur noch „3 völlig nutzlose Mahlzähne“ (C[arl] Röse, Warum ich persönlich das dünne Delikateß-Knäckebrot bevorzuge?, Forrog-Blätter 3, 1936, 7-8, hier 8). Just im Hauptorgan der Brotreformer betonte er: „In den Augen der neuzeitigen Ernährungslehre ist auch das beste Brot nur ein notwendiges Übel“ ([Carl] Röse, Brot oder Kartoffel?, Ebd., 76-77, hier 77).

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Carl Röse und öffentliche Werbung für das Rösen ([Georg] Kersting, Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen, Jungborn/Harz 1941, II (l.), Nationalsozialistischer Volksdienst 8, 1941, 40)

Dennoch kam es 1941 zum „Rösen“, also einer unmittelbar an Horace Fletchers Kaulehre anschließenden Empfehlung zum guten deutschen Feinkauen. Der Aachener Arzt und Zahnarzt Georg Kersting hatte ab 1915 überzeugungsstark zum allgemeinen Fletschern aufgerufen. Nun, vor dem Angriff auf die Sowjetunion, trat er wiederum in Aktion, praktizierte abermals Sprachpflege, um all das wieder einzufordern, was schon 1916/17 nicht recht Widerhall fand. Sein Büchlein „Gesundheit und Deutschlands Nahrungsfreiheit durch Rösen“ bestand abermals aus einer Sammlung von zuvor veröffentlichen Einzelartikeln, die nun allerdings ein konzises Ganzes ergaben. Kersting hatte vor dem Krieg noch für das Fletschern getrommelt, vor dem Hintergrund des Vierjahresplans abermals immense Einsparungen durch „besseres Kauen“ versprochen (Was ist „Fletschern“?, Freie Stimmen 1938, Nr. 165 v. 20. Juli, 9).

Veröffentlicht wurde die knapp hundert Seiten starke Broschüre im lebensreformerischen Jungborn-Verlag, breit bekannt für vegetarische Kochbücher. Im nahe von Bad Harzburg gelegenen Jungborn-Sanatorium wurde ein „Nationalsozialismus der Tat“ (Rudolf Just, 40 Jahre Jungborn, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 282-285, hier 284) praktiziert. Hier war eine Zinne der Ernährungsreform, wurde pflanzlicher Kost von eigener Scholle das Wort geredet: „Ernährt sich ein Volk richtig, dann leistet es viel; lernt ein Volk einteilen und entbehren, so wird es hart und verzagt nicht in Zeiten der Not“ (Rudolf Just, Vom Brotbelag, Zeitschrift für Volksernährung 12, 1937, 51-53, hier 53). Der Sanatoriumseigner und Verleger Rudolf Just (1877-1948) stand bereits 1917 mit Kersting in Kontakt, fletcherte die von Just befehligte Kompagnie angesichts unzureichender Truppenverpflegung doch auf Grundlage von dessen Empfehlungen (Kersting, Gesundheit, 1941, 76). Bad Harzburg stand symbolisch für die 1931 erfolgte Gründung der Harzburger Front von Nationalsozialisten, Stahlhelm, Deutschnationalen, Reichslandbund und Alldeutschen. Es war aber auch die Wirkungsstätte des Zahnarztfunktionärs und Bestsellerautors Walther Klussmann. Dieser hatte Carl Röse immer wieder als NS-Vorkämpfer gewürdigt, war zugleich Autor des reich illustrierten „ABC der Zahnpflege“, das 1942 eine Auflage von 400.000 erreichte und in der Bundesrepublik eine Neuauflage erfuhr. Er hatte schon 1934 empfohlen, einen hohen Ausmahlungsgrad des Getreides vorzuschreiben ([Walther] Klussmann, Die Zukunftsaufgabe der Zahnheilkunde, Zahnärztliche Mitteilungen 25, 1934, Sp. 1327-1334, 1373-1378, hier 1329), war damit ein Wegbereiter der Vollkornbrotpolitik.

Der Begriff „Rösen“ hatte unterschiedliche Aufgaben. Erstens war er eine Ehrbezeugung gegenüber Carl Röse. Zweitens erlaubte dieser Begriff die Vermeidung des „Fletscherns“. Das war nicht nur eine Abgrenzung von den USA, sondern sollte vor allem keine Erinnerung an die unselige Zeit der Mangelversorgung im Ersten Weltkrieg hervorrufen. Fletchern, so die unausgesprochene Botschaft, sei nicht nötig, denn das Großdeutsche Reich präsentierte sich als „blockadefest“, als Zentrum einer europäischen „Großraumwirtschaft“, als gelungenes Beispiel für „Nahrungsfreiheit“. „Rösen“ diente der Unterstützung einer vermeintlich erfolgreichen Rationierungspolitik, war eine Option für diejenigen, die mehr tun wollten. Drittens war der Begriff Teil einer breiteren Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte: „Wir alle kennen den Ausdruck und den Vorgang des Fletschern und haben uns angewöhnt, gutes Kauen mit jenem Amerikaner als dessen ‚Entdecker‘ in Zusammenhang zu bringen. Dabei ist es, wenn man von dem auch in Deutschland üblichen Rat aller gewissenhafter Ärzte, gut zu kauen, absieht, nicht der Amerikaner Fletscher, sondern der deutsche Arzt und Zahnarzt Röse gewesen, die die Kunst des Kauens zuerst wissenschaftlich untersucht und seine Ergebnisse in verschiedenen Schriften niedergelegt hat.“ „Rösen“ war „eine späte, aber doch noch rechtzeitige Wiedergutmachung eines begangenen Unrechts an dem Forscher Röse“ (Gesundheit durch ‚Rösen‘, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, 220-221, hier 220 für beide Zitate). Das war Geschichtsklitterung, doch zugleich Teil einer Germanisierung (und Entjudung) der Forschungsgeschichte. Zugleich diente es dem gern gepflegten Mythos des genialen Forschers, obwohl selbst die seit dem Ersten Weltkrieg stetig zurückfallende deutsche Wissenschaft zunehmend in Forschungsverbünden organisiert war.

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Denunzierte Wissenschaftler: Max Rubner und der Stolperstein von Otto Kestner (Zeitbilder 1932, Nr. 19. v 8. Mai, 2 (l.); Wikipedia)

„Rösen“ war jedoch nicht nur ein Begriffswechsel. Es war die Transformation einer aus dem amerikanischen Individualismus stammenden Gesundheitslehre in eine nationalsozialistische Tugend. Es ging eben nicht darum, dass Kersting in seinem Buch weiterhin verkündete, dass man mit dem deutschen Kauen mal ein Drittel, mal die Hälfte der Nahrung sparen könne (Kersting, 1941, 47 bzw. 68). „Rösen“ diente der Implementierung der nationalsozialistischen Gesundheitsauffassung in die Praxis möglichst vieler. Es galt an die Stelle vermeintlicher Trägheit und Faulheit die adelnde Selbstarbeit zu setzen: „Dazu gehört bessere Arbeitsgelegenheit, in diesem Falle: weniger weiche Speisen, besseres Arbeitsgerät: bessere Zähne, und eine gute Arbeitsweise: das Rösen“ (Ebd., 45). „Rösen“ stand nicht allein für gutes Kauen. Es materialisierte „die nationalsozialistische Weltanschauung durch Erfüllung der deutschen Grundsätze und Bestrebungen, Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Volksgemeinschaft, Blut und Boden, Rassereinheit, Vierjahresplan und durch andere wünschenswerte Folgen. Wer den Grundsatz Gemeinnutz geht vor Eigennutz befolgen will durch Verbesserung der Volksgesundheit und Ersparen von Nahrungsmittel, dem ist es durch das Rösen leicht gemacht; denn der Nutzen für die eigene Gesundheit und Geldbeutel fällt hier mit dem Gewinn für die Allgemeinheit zusammen“ (Kersting, 1941, Gesundheit, 68-69).

Die haltlose Umdeutung der Wissenschaftsgeschichte machte dabei aber nicht vor Fletcher Halt. „Rösen“ war eben nicht nur lustiges „Zähneturnen“, sondern diente der Tilgung zentraler Forschungsergebnisse des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Das betraf zum einen das Voitsche Kostmaß und dessen flexiblere Fassung durch Max Rubner. Das galt auch für das in Gemeinschaft mit dem Reichsgesundheitsamt herausgegebene Buch „Die Ernährung des Menschen“ (Otto Kestner und H[ugo] W[ilhelm] Knipping, Berlin 1924), in dem eine ausgewogene Mischkost mit ausreichend tierischem Eiweiß empfohlen wurde (ebd., 27-30). Kersting – wie auch Carl Röse – verstanden darunter Asphaltkultur, Angestelltenmassen, jüdische Wissenschaft. „Rösen“ stand demnach auch für eine wissenschaftliche Verschwörungstheorie, spiegelte eine Weltverschwörung gegen das Deutschtum: „Ist diese ‚exakte‘ materialistische, plutokratische Ernährungslehre auch wissenschaftlich überwunden, so hat sie doch unter obrigkeitlichem Schutz und Förderung ein halbes Jahrhundert geherrscht, ist in die großen und kleinen Koch- und Eßgemeinschaften so tief eingedrungen, daß unsere ganze Ernährung und Eßweise darunter heute leidet. Die Schule Rubner-Cohnheim [Kestner wurde als Cohnheim geboren, US] und der durch sie Schätze häufende Handel sind die eigentlichen Verführer des Volkes in der Auswahl der Nahrung, die durch ihren Gehalt und die Vorbehandlung zum Vielessen reizt und teils mittelbar, teils unmittelbar gegen das Rösen arbeitet“ (Kersting, Gesundheit, 1941, 72).

All das fand freudigen Widerhall bei den führenden Zahnärzten. Kersting konnte seine – wir erinnern uns – „an das Pathologische“ (Neumann, 1920, 34) streifende Mär von der Halbierung der notwendigen Nahrung in führenden Fachzeitschriften unwidersprochen propagieren ([Georg] Kersting, Schlucken, Schlingen, Würgen und die entsprechenden Vorgänge beim „Rösen“, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 398-399; Ders., Das Rösen, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 668-669; Ders., Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362). Auf der 1. Reichstagung der Zahnärztlichen Arbeitsgemeinschaft für medizinisch-biologische Heilweisen in der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-Rhese erntete Kersting „Großen Beifall“– dies mit explizitem Verweis auf den „Altmeister der Ernährungslehre, Hofrat Dr. Röse in Gebesee“ (W[ilhelm] Holzhauer, Alt-Rehse – Schule zwischen See und Wald, Zahnärztliche Mitteilungen 32, 1941, Sp. 378-381, 402-406, hier 404). Spitzenfunktionär Hermann Euler stimmte dem zu, resümierte einen Forschungsüberblick mit Verweis auf die Vollwerternährung Kollaths und die Kaulehre des „Rösens“: „Ernährung im Sinne Kollaths, Funktion im Sinne Roeses (Der neueste Stand der Kariesforschung unter besonderer Berücksichtigung der Ernährung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 635-642, hier 642). Vor diesem Hintergrund mutet es schon tapfer an, dass der Jungborn-Verlag Kerstings Broschüre eine Bemerkung voranstellte, in dem er vor „utopischen Ausschmückungen“ des Aachener Sanitätsrates warnte.

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Carl Röse als Propagandist des guten Kauens?

Bevor wir uns abschließend fragen, welche Bedeutung das „Rösen“ abseits der Binnenwelten nationalsozialistischer Funktionseliten besaß, gilt es noch einen Blick auf Carl Röses Forschungsarbeiten zu werfen. Schließlich wird dieser Protagonist einer basischen Kartoffel-Gemüse-Milch-Diät bis heute als Protagonist des guten Kauens präsentiert: „In general, he recommended thoroughly chewing food, which even became a verb in German (‘rösen’)” (Groß und Hansson, 2020, 56). „Rösen“ war jedoch etwas völlig anderes als gutes Kauen. Und Carl Röse ist in seinen Forschungsarbeiten eben kaum über den bis ins Mittelalter zurückzuverfolgenden Gemeinplatz „Gut gekaut ist halb verdaut“ hinausgekommen und -gegangen. Kersting gab für seine Aussagen keine Belege, sondern lediglich die Jahre 1894 resp. auch mal 1897 an ([Georg] Kersting, Rösen und Speichelsaugen, Hippokrates 14, 1943, 360-362, hier 360), Gross und Hannsson verwiesen neben unreflektierten Paraphrasen in Hopfer-Lescher, 1994 (wohl 120-123) auf einen Beitrag von 1896 –Seitenangaben fehlen allerdings. Sie verkennen dabei, dass guten Kauen für Röse keinen Selbstwert besaß, sondern rein funktional verstanden wurde.

Carl Röse tönte 1938, dass er 1894 „zum erstenmal die Notwendigkeit eines derben Vollkornbrotes aufgedeckt und betont habe“ (Röse, 1938, 985). Das ist nur richtig, wenn man diesen Satz so versteht, dass er für sich damals erstmals die Bedeutung des harten Brotes realisiert habe (vom Kauen schrieb er hier übrigens nicht). Die Bedeutung eines solchen Brotes wurde aber von vielen Gelehrten und Praktikern seit langem hervorgehoben; Röse selbst verwies damals auf Justus von Liebigs Empfehlungen (Röse, 1895, hier 76). Das Jahr 1894, von Kersting mehrfach betont, bezieht sich auf Röses erste Reihenuntersuchungen in Freiburg sowie die daraus resultierenden prophylaktischen Folgerungen. Der Privatdozent bezog sich in seiner ersten einschlägigen Arbeit explizit auf Millers Säuretheorie, daraus resultierte die Ablehnung eines „weichen klebrigen Weizenbrotes“ (Röse, 1894, 314). Er referierte anschließend Liebigs Empfehlung eines „derben Schwarzbrotes“ und zog daraus die Schlussfolgerung: „Ueberall dort, wo ein derbes Schwarzbrot gegessen wird, findet man eine straffe gesunde Mundschleimhaut trotz der mangelhaftesten Mundpflege. Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähne blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Röse, 1894, 315). Röse wiederholte damals völlig gängige Thesen führender Wissenschaftler – um dann auf sein Hauptthema zu kommen, nämlich den Zusammenhang von Kalkverzehr und Karies. Röse empfahl weder den Konsum von Vollkornbrot, noch von Brot überhaupt. Brot erschien ihm vielmehr als „die widernatürlichste und künstlichste Nahrung des Menschen“ (Karl Röse, Die Zahnpflege in den Schulen, Zeitschrift für Zahngesundheitspflege 8, 1895, 65-87, hier 67). Wenn schon Brot, dann allerdings „ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot“ (Röse, 1894, 329). Brot war damals – wie auch später – für Röse ein Notbehelf, mit dem man pragmatisch umzugehen hatte, da es das Rückgrat der Alltagsernährung bildete. Weder gutes Kauen, noch gar Fletchern wurde hier empfohlen, sondern Röse zielte auf eine allgemein verbesserte Zahnpflege, die am besten durch eine kalkreiche Ernährung, durch den Einsatz von Zahnbürsten und eine stetige Schulgesundheitspflege zu gewährleisten sei. Röse ging es 1894/95 zudem nicht um die Allgemeinbevölkerung, sondern um Schulkinder. Entsprechend beendete er 1895 einen Aufsatz mit dem wissenschaftlich nicht gerade innovativen Hinweis: „Ein altes Sprichwort sagt mit Recht: ‚Gut gekaut ist halb verdaut‘. Und eine gute Verdauung ist bei Kindern eine unumgängliche Vorbedingung für die kräftige Entwicklung von Leib und Seele!“ (Röse, 1895, 87).

Schwarzbrot sei besser als weiches Brot, Kuchen oder Kartoffeln, doch entscheidend für die Zahngesundheit sei eine sorgsame Mundpflege (C[arl] Röse, Ueber die Zahnverderbnis in den Volksschulen, Wien 1895, 17 resp. 19). In seinen Empfehlungen findet sich 1894 der danach mehrfach wiederholte Merkspruch „Der Genuss des derben Schwarzbrotes ersetzt die Zahnbürste, putzt die Zähnen blank und erhält das Zahnfleisch gesund“ (Ebd., 3), doch dieser stand eben nicht allein, muss vielmehr im Kontext gelesen werden. Das gilt analog auch für den von Groß und Hansen herangezogenen Artikel von 1896, in dem Röse Hauptergebnisse seiner Rekrutenuntersuchungen vorstellte. Auch dort betonte er: „Unter allen stärkehaltigen Nahrungsmitteln ist ein derbes, dickrindiges, abgelagertes Roggenbrot den Zähnen am wenigsten schädlich” (Röse, 1896, 394). Analog zu zeitgenössischen Dekadenztheorien der frühen Brotrefomer beklagte der Freiburger Zahnarzt die durch die weiche, künstlich zubereitete Nahrung erst mögliche Existenz der Träger schlechter Gebisse. „Würden beim Menschen gute Zähne zum Zerkauen harter Nahrung unbedingt erforderlich sein, dann könnte sich die Zahncaries unmöglich so weit verbreitet haben! Die schlecht bezahnten Individuen würden ihre Zähne nicht auf die Nachkommen vererben können, sondern würden infolge schwächlicher Allgemeinentwicklung aussterben“ (Röse, 1896, 428). Weiche Kost würde das Gebiss verkümmern lassen. Bei Älteren sei eine Intervention schon vergeblich, Prävention sei daher erforderlich: „Auch aus diesen Erwägungen ist daher der Schluss zu ziehen, dass es sehr wichtig ist, die Kinder an ein energisches Kauen zu gewöhnen. Man verbiete ihnen das Trinken während des Essens, da die Kinder sehr geneigt sind, sich die Mühe des Kauens dadurch zu ersparen, dass sie den Bissen mit Wasser herunterspülen; gebe ihnen kein weiches klebriges Weizenbrot, sondern ein härteres, trockenes, aus gröberen Mehlsorten bereitetes Brot u. s. w.“ (Röse, 1896, 448). Neuerlich handelte es sich um eine Empfehlung an Kinder im Zusammenhang einer breiter gefassten Mundpflege.

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Zahnpflege nach Röse: Zahnbürsteneinsatz an den Innenflächen der Zähne (Röse, 1900, 42)

In seiner späteren Handreichung für Schul- und Zahnärzte präsentierte Röse „Zehn Leitsätze der Zahn- und Mundpflege“. Kauen wurde dort als solches nicht empfohlen, einzig das „kräftige Kauen eines derben, dickrindigen Schwarzbrotes“ (Röse, 1900, 60). Röse ging es eben nicht um das Kauen als solches. Dies war sinnvoll, nicht aber sein zentrales Anliegen: „Wenn schon die Mehrzahl der Kinder nicht kräftig kauen kann, dann muss eine körperliche Entartung des gesamten Volkes eintreten“ (Röse, 1900, 61). Angesichts solcher im kulturkritischen Diskurs dieser Zeit tropenhaft auftretenden Allgemeinplätze ist es nicht verwunderlich, dass Röse auch hier auf den Volksmund verwies: „Hartes Brot macht die Wangen rot“ und „Gut gekaut ist halb verdaut“ (Röse, 1900, 9) hieß es dann. Das aber hat mit dem Fletcherismus nichts zu tun, auch nichts mit dem späteren nationalsozialistischen „Rösen“.

Eine Ausnahme gab es, sie stammt aus dem Jahre 1912. In seinem erstmals in der Deutschen zahnärztlichen Wochenschrift (15, 1912, 593-598, 658-659) veröffentlichten Beitrag „Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit“ griff Röse die Thesen Horace Fletchers auf und stellte sich mit ihm in eine Reihe: Er habe „immer wieder auf die Notwendigkeit ausgiebiger Kautätigkeit hingewiesen und den Genuss harten Brotes empfohlen, das ohne ausgiebige Behandlung in der Mundhöhle überhaupt nicht gut verschluckt werden kann. Es ist mir gelungen, durch mühsame Stoffwechselversuche nachzuweisen, dass schon kalkreiche Ernährung die Menge und Wirksamkeit des Speichels steigern kann. Um wieviel günstiger wird ausgiebige Kautätigkeit von Jugend an auf die Entwicklung der Speichdrüsen einwirken! In der letzten Ausgabe meiner Zahnpflegebroschüre empfehle ich daher ausdrücklich, jeden Nahrungsbissen 80-100 mal zu kauen, ehe man ihn hinabschluckt“ (C[arl] Röse, Schlingsucht und naturgemäße Kautätigkeit, Berlin und Heidelberg 1912, 5). Dies war ein Jahr nach der Publikation von Borosinis Buch über „Die Eßsucht und ihre Bekämpfung“. Röse war ohne Festanstellung. Im sozialdemokratischen Vorwärts hieß es zum Hintergrund: „Dr. Rose [sic!], einer dieser Forscher, will jetzt die schwedischen Brotsorten, besonders das Hartbrot (Knäckebrot), untersuchen und ihre Einführung in Deutschland anbahnen“ (Vorwärts 1912, Nr. 170 v. 24. Juli, 5).

Fassen wir diesen rückfragenden Exkurs zusammen, so war Carl Röse weder Brotreformer, noch Kaupropagandist. Sein Interesse galt andern Fragen, erst im Nachhinein stilisierte er sich als Vorreiter, wurde von anderen auch als solcher präsentiert. Diese aber haben seine Arbeiten kaum gelesen, im Falle eines Falles aber missverstanden. Der Namensgeber des „Rösen“ wurde während des Kaiserreichs von Brotreformern durchaus rezipiert. Doch sie interessierten sich für seine Kariesforschungen, denn sie bestätigten scheinbar den körperlichen Niedergang der Deutschen und begründeten damit ihr Drängen nach hartem, „deutschen“ Brot (A[lfred] Kunert, Unsere heutige falsche Ernährung als letzte Ursache für die zunehmende Zahnverderbnis und die im ganzen schlechtere Entwicklung unserer Jugend, 3. Aufl., Breslau 1913, insb. 48-49).

Nationalsozialistische Kaupropaganda – Ein breites Unterfangen abseits des „Rösens“

George Orwell schrieb ab 1946 an seinem Roman „1984“, in dem er Erfahrungen des Stalinismus, Nationalsozialismus und auch der britischen Kriegspropaganda zu einer bis heute gültigen Dystopie verdichtete. Das „Rösen“ war ein gutes Beispiel für die Kontrolle und Umdefinition der Vergangenheit als Herrschaftsinstrument. Carl Röse, ein akademisch gescheiterter und stets umstrittener Forscher wurde während der NS-Zeit als Vorkämpfer aufgebaut und hofiert, seine Arbeiten mythologisiert und zu einem möglichen Alltagskonzept verdichtet. „Rösen“ stand für die Selbstpraxis einer rassistischen Gesundheitslehre. Sie war wissenschaftlich substanzlos, doch sie erlaubte das Wegdrängen unbequemer Wissenschaftler, unbequemer Sachverhalte. Sie erlaubte zugleich, die massiven Defizite der NS-Gesundheitspolitik und der NS-Zahngesundheitspflege zu überdecken, hatte es doch jeder Volksgenosse in Hand und Mund, sein und seines Volkes Schicksal zu wenden.

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Hartes Brot, gutes Kauen – und Zahnpflege mit Chlorodont (Illustrirte Zeitung 1940, 211)

Blicken wir abschließend zurück in die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Damals gab es im Deutschen Reich eine intensive Kaupropaganda, zumindest bis Mitte 1942, als nicht nur die Rationen deutlich gesenkt wurden (die dennoch weit über denen der beherrschten Gebiete lagen), sondern auch die Zeitungen und Anzeigen massiv schrumpften. Trotz des steten regimetreuen Zeugnisses von Ärzten und Zahnärzten war die Kaupropaganda erstens integraler Bestandteil der Vollkornbrotpolitik, erfolgte zweitens aber eher indirekt, wurde nämlich von staatsnah agierenden Unternehmen getragen. Hinzu traten drittens die vielfältigen gesundheitspolitischen Maßnahmen in der Hitler-Jugend, der NS-Frauenschaft oder des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst. Sie alle griffen jedoch nur selten das „Rösen“ auf, sondern knüpften an tradiertes Alltagswissen an, mochte dieses im Rahmen der nationalsozialistischen Denkens auch eine andere Aufladung besitzen: „Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist das Kauen an sich. ‚Gut gekaut ist halb verdaut!‘ sagt ein altes, nur zu wahres Sprichwort; denn im Munde beginnt bereits die Verdauung. Langsam essen, damit die Speicheldrüsen des Mundes ausreichende Gelegenheit zur Arbeit haben und die Nahrung gründlich durchgespeichelt wird, ist ebenso wichtig wie ein gutes Kauen, das heißt hinreichende Zerkleinerung der Nahrung“ (Mund und Magen, Völkischer Beobachter 1939, Nr. 50 v 19. Februar, 24). Kauen war trotz vertrauter Sentenzen nicht mehr in das Belieben des Einzelnen gestellt, Schlingen untergrub die „Arbeitskraft des Volkes“ (Die Medizinische Welt 16, 1942, 228) und der Wirtschaft, gefährdete Wehrfähigkeit und rassistische Qualität (Franz G.M. Wirz, Lebensreform und Nationalsozialismus, Volksgesundheitswacht 1938, 313-319, insb. 316). Deutsches Kauen war im Nationalsozialismus Grundmotorik, Körperlichkeit im Umgang mit der Materie, war Behauptung in einer an sich feindlichen Umwelt.

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Kaupropaganda durch Unternehmen: Chlorodont-Werbung (Völkischer Beobachter 1941, Nr. 268 v. 25. September, 3)

Die visuelle Präsenz der Kaupropaganda garantierten vornehmlich Unternehmen, die ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse am Kauen und an Zahnpflege hatten. Herausragend dabei waren mehrere Werbekampagnen der Dresdner Firma Chlorodont. Kauen war darin notwendiger und integraler Bestandteil einer breiter gefassten Mundpflege, eine Ergänzung zu Zahnpasta, Mundwasser und Zahnbürste. Das galt ähnlich für die Burger Knäckebrotwerke. Während Chlorodont mit Parolen, erläuternden Texten und eingängigen Schaubildern warb, erinnern die illustrierten Knäckebrot-Anzeigen teils an gern gelesene Comics. Sie standen teils aber auch für eine Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in der das harte Vollkornbrot – eine Erfindung der Brotreformer, die erst um die Jahrhundertwende an Bedeutung gewann – Teil der guten alten deutschen Zeit war.

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Knäckebrot als Kau-Schule für die Jüngsten (Die Gesundheitsführung. Ziel und Weg 1943, H. 1, V)

Die Vollkornbrotpropaganda stieß in die gleiche Richtung, doch es ging hier vor allem um die Verbrauchslenkung auf ein vielfach ungeliebtes hartes Brot (Spiekermann, 2001, 117-122). Trotz vielfältiger pädagogischer Anstrengungen – „Der Vollkornbrotverzehr macht jede Brotmahlzeit zur Turn- und Gymnastikstunde für Kiefer, Zähne und Kaumuskeln“ (H. Gebhardt, Die zahnärztliche Vollkornbrot-Werbung, Deutsche Zahnärztliche Wochenschrift 44, 1941, 354-355, hier 354) – fehlten nachhaltige und evaluierte Maßregeln über das sorgfältige Kauen. Viel wichtiger war Vitaminversorgung, waren Absatz und Qualität des Vollkornbrotes. Kauwilligkeit war Grundbedingung seiner Akzeptanz, nicht aber Wert an sich. Es ging um eine bessere Nährstoffversorgung. Gebissförderung und Kariesbekämpfung waren wichtige Nebeneffekte.

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Zahnkräftigung durch hartes, kauintensives Vollkornbrot – Kinowerbung 1940 (Mehl und Brot 40, 1940, 427 (l.), 438)

Diese moderateren und indirekten Formen der Kaupropaganda wurden wissenschaftlich breit flankiert, doch stand die „Kaugymnastik“ (Eugen Wannenmacher, Zivilisationsschäden und Gebiß, in: Heinz Zeiss und Karl Pintschovius (Hg.), Zivilisationsschäden am Menschen, München und Wien 1940, 184-199, hier 198) nie allein, war Teil breiterer prophylaktischer Maßnahmen. „Rösen“ blieb öffentlich unbedeutend, noch unbedeutender als das wesentlich breiter propagierte Fletchern während des Ersten Weltkrieges. Das änderte nichts an der offiziellen Wertschätzung, die der Namensgeber weiter erfuhr: 1941 wurde Carl Röse Ehrenmitglied der Deutschen Zahnärzteschaft, 1944 erhielt er gar die Goethe-Medaille (Kölnische Zeitung 1944, Nr. 108 v. 19. April, 2). In beiden Fällen wurde das „Rösen“ nicht erwähnt. Carl Röse war auch nicht beteiligt, als in Berlin im Februar 1942 das Institut für Kariesforschung eröffnet wurde (Das Institut für Kariesforschung wurde in Berlin errichtet, Zahnärztliche Mitteilungen 33, 1942, 93-98). Er verbrachte die letzten fünf Jahre seines Lebens im Rollstuhl. Einen Nachruf habe ich nicht finden können.

Gutes deutsches Kauen blieb bis zum Kriegsende wichtig, wurde immer wieder eingefordert. Während der Endsieg beschworen und die Vergeltungswaffen bejubelt wurden, schien es weiterhin opportun auf die Verdopplung des Nahrungswertes durch verflüssigendes Kauen hinzuweisen (Gut kauen – sättigt besser! Die Vorteile des richtigen Kauens für die Gesundheit, Gemeinschaftsverpflegung 1944, 328). „Rösen“ wurde im Deutschen Reich sporadisch propagiert, während in der Schweiz eine analoge Kaupropaganda abgelehnt wurde. Selbst im ernährungsreformerischen Lager hieß es dort: „Wie ist es möglich, dass immer wieder kluge Menschen von listigen ‚wissenschaftlichen Experimenten‘ überlistet werden?!“ (W[illy] B[ircher], Bringt sorgfältiges Kauen einen Gewinn an Nährkraft bei knapper Nahrungsversorgung?, Der Wendepunkt im Leben und im Leiden 20, 1943, 69-72, hier 72). Deutsches Kauen wurde zwar bis Kriegsende empfohlen, inmitten des Bombenkrieges noch die „Hetze“ beim Essen beklagt, kämpferisches Einspeicheln gefordert (F[ritz] Blumenstein, Kauen – kriegswichtig, Deutsche Dentistische Wochenschrift und Dentistische Reform 1944, 165-167). Seit den späten 1940er Jahren hieß es dann weiter gefällig „Gut gekaut ist halb verdaut“. Es war nun wieder Verweis auf eine mythische Welt des Innehaltens und des Abstands zum Alltagsgeschehen.

Uwe Spiekermann, 14. April 2022