Eingehegter Wunderpilz: Die Kombucha-Mode in den späten 1920er Jahren

Zwischen 1926 und 1930 machte sich in Mitteleuropa ein Wunderpilz breit, den wir heute als Kombucha kennen. Hunderttausende, wahrscheinlich deutlich mehr, nutzten den Pilz, um sich ein heilkräftiges Getränk, einen vergorenen Tee zu bereiten. Gesundheit stand nach den Verheerungen des Weltkrieges hoch im Kurs, ein neues starkes Geschlecht sollte entstehen – und der Wunderpilz sollte dabei helfen. Er war, glaubt man zeitgenössischen Beschreibungen, ein Hausgenosse, ein Alltagsbegleiter: „Sein Reiz liegt nicht in äußerer Schönheit, denn er besteht aus einer unappetitlichen gallertartigen Masse, aber vermutlich ist es das Geheimnisvolle, das ihn umgibt, was ihn so verlockend macht. Irgendwie ist er lebendig, wird am warmen Ofen gehegt, mit Zucker und schwarzem Teeaufguß gefüttert und schwimmt wie eine Qualle in seinem Glasgefäß. Die entstehende Flüssigkeit soll wie leichter Moselwein schmecken und nach den überschwenglichen Anpreisungen die sein Auftreten begleiten ein unfehlbares Mittel sein gegen Gicht und Rheumatismus, gegen Magen- und Darmbeschwerden und Zuckerkrankheit, gegen Verkalkung und vermutlich auch gegen einige bis dato noch unbekannte Krankheiten. Da er sich teilen läßt und jedes Teil wie ein Regenwurm selbständig weiterwächst, so geht er von Hand zu Hand“ (Jedermann sein eigener Arzt, Alpen-Zeitung 1929, Nr. 106 v. 2. Mai, 7).

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre ist heute vergessen. Die Nachfolgemoden – moderat in den späten 1950er Jahren, breit präsent dann wieder in den späten 1990er Jahren – wiederholten vielfach nur, was nach dem Ersten Weltkrieg passierte. Vergessen ist schließlich ein Grundmodus moderner Konsumgesellschaften, wiederholende selbstbezügliche Begeisterung Ausdruck fehlenden historischen Wissens. Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre war originär. Die folgenden Moden spiegelten schon Werner Sombarts berühmtes Diktum: „Mode ist des Capitalismus liebstes Kind“ (Wirthschaft und Mode, Wiesbaden 1902, 23). Am Ende der ersten Mode waren denn auch die Rahmenbedingungen geklärt, unter denen eine Revitalisierung in den nächsten Generationen möglich werden konnte. Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre drehte sich daher nicht allein um einen vermeintlichen Wunderpilz und neue gesunde Getränke. Es ging um Auseinandersetzungen zwischen Alltagswissen und Alltagshoffen einerseits, dem Wissen der Wissenschaft, der Apotheker und Drogisten anderseits. Es ging um die Abwägung zwischen einer Kombuchahege zu Hause, abseits des Marktes der Präparate und Arzneien, und den bequemeren käuflichen Angeboten „reiner“ Pilze, „trinkfertiger“ Sommergetränke. Es ging ferner darum, wie man diesen Wunderpilz benennen sollte, also welche Rolle Sprache in Alltags- und Marktdebatten spielte. Denn anfangs war da nur ein „Pilz“, ein Phänomen, das unsere Vorfahren begrifflich fassen und einhegen mussten, um das Neue zu ordnen und einzuordnen.

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre war daher ein Übergangsphänomen. Sie führt uns die verstärkte Bedeutung von Moden abseits von Textilien, Möbeln und Gebrauchsgegenständen vor Augen. Das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immens anwachsende Güterangebot war erforderlich, um den Bedarf einer neuen, erst einmal bürgerlichen Zeit abzudecken. Doch durch ihre wachsende Zahl wurden die Güter zugleich ihrer Stabilität beraubt. Das Neue, der dritte, vierte Mantel, das fünfte, sechste Kostüm, war vielfach Ergänzung, machte das Leben angenehmer, vielgestaltiger. Doch es war zugleich einfacher auszutauschen, besaß als Einzelstück weniger Dauer (W[erner] Sombart, Die Bedeutung der Mode für das moderne Wirtschaftsleben, Die Woche 6, 1904, 1709-1712). Absatzbeschleunigung und wirtschaftliches Wachstum waren die Folgen. Die Gestaltungsarbeit wurde wichtiger, die Anpreisungen nahmen neue Formen an. Moden waren herrschsüchtig, doch ihnen wohnten zugleich egalisierende und individualisierende Tendenzen inne: Nachahmung und dynamisierende Übertreibungen gingen parallel, Mode folgte auf Mode, wurde erwartbar, gleichwohl neugierig erwartet, unsicher befolgt (Georg Simmel, Die Mode, in: Ders., Philosophische Kultur, Berlin-W 1986, 38-63).

Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es solche Moden auch im weiten Feld pharmazeutischer Produkte, von Anregungsmitteln oder nährender Innovationen wie Nährsalzkaffee oder Fleischersatzprodukten. Kefir und Joghurt kennzeichneten den Übergang hin zu Nahrungsmitteln, denen eine Gesundheitswirkung zugeschrieben wurde. Nach dem Krieg wurden die Moden breiter, zeitgenössische Stichworte wie „Vitaminrummel“ oder „Rohkostfimmel“ spiegelten auch modische Beschleunigungen. Sie wurden zunehmend Teil des Alltagsgeschäfts, mussten von Produzenten und Händlern beachtet und genutzt werden, galt doch, „daß die Mode sich mehr und mehr auch im Nahrungs- und Genußmittelverkehr einnistet, so daß Geschmackswandlungen jetzt und in Zukunft viel häufiger sind als früher“ (J[osef] B. Kittel, Die Mode im Nahrungs- u. Genußmittelverkehr, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1926, 177-178, hier 178). Ernährungsmoden wurden öffentlich propagiert, führten während der 1920er Jahre zu kontroversen Debatten, in denen die tradierte Wissenschaft vielfach in die Defensive geriet (R[ené] O[tto] Neumann, Der Einfluß der Mode auf die Ernährungsgewohnheiten, Blätter für Volksgesundheitspflege 32, 1932, 146-149).

Der Wunderpilz als Teil einer Begriffskaskade

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Erste Abbildung des merkwürdigen Organismus (Lindau, 1913, Taf. XI, Fig. 1)

Der Wunderpilz wurde in Deutschland von Botanikern und Chemikern bereits vor dem Weltkrieg untersucht. Ihnen ging es dabei um die Einordnung des neuen wundersamen Gesellen in die bestehenden Ordnungssysteme der Lebewesen bzw. der chemischen Stoffe. Die Ambivalenz des Natürlichen, eines eben nicht rein und einheitlich vorliegenden Organismus und seiner Stoffwechselprodukte warf dabei gängige Probleme der Unterscheidung auf.

Trotz einschlägiger Forschung nahm die begriffliche Unschärfe in den 1920er Jahren eher zu als ab: Der Wunderpilz wurde mit zahllosen Begriffen bezeichnet, die anfangs vor allem aus den Ursprungsländern übernommen wurden oder die sich auf sie bezogen, die zugleich aber auch der wissenschaftlichen Nomenklatur folgten. Hinzu kamen dann Produktbezeichnungen und Markennamen, also begriffliche Ausdifferenzierungen im kommerziellen Wettbewerb. Wunderpilz war eine simple Übersetzung slawischer Bezeichnungen wie Brinum-Ssene, während Wolgaqualle, Olinka, Karagasok-Schamm, russische Blume oder russischer Schwamm auf die Herkunft aus dem russischen Zarenreich verwiesen. Die Teilbarkeit des Wunderpilzes mündete schon vor dem Weltkrieg in Medusenbegriffe, etwa Medusen- oder aber Wolgapilz, während in Abgrenzung zu dem aus Brot vergorenen russischen Kwaß abgrenzende Begriffe wie Teekwaß, Teekwaßpilz sowie insbesondere Teepilz verwandt wurden. Die Form des Neulings fand ebenfalls begrifflichen Widerhall, etwa durch Worte wie Schwamm, Teeschwamm und dann Kombuchaschwamm. Erst Mitte der 1920er Jahre, zu Beginn der eigentlichen Modewelle, entstanden zahlreiche Wortgeschöpfe, die an vermeintliche asiatische Anfänge anknüpften. Diese ergänzten gängige Bezeichnungen zumeist durch simple geographische Attribute, etwa den japanischen, indischen, chinesischen oder mandschurischen Pilz resp. weit häufiger Teepilz. Schließlich wurde das Begriffsfeld durch Marken- und Produktbezeichnungen erweitert, die teils – wie Kombucha – Ausdruck simpler Verwechselungen waren, die teils aber das exotische Flair asiatischer Heilkunst und Widerstandsfähigkeit nutzten. Dafür standen Begriffe wie Mo-Gû, Combucha, Chombucha, Chamboucho, Kombekka, Japange oder Japonge. Ergänzt wurde all dies durch ironisierende Begriffe angesichts der grassierenden Kombucha-Mode, etwa Heldenpilz, Weinpilz oder aber Gichtqualle resp. Zauberpilz.

Wir werden auf mehrere Begriffe resp. Produkte zurückkommen, lenkten und prägten sie doch die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre. Die zahlreichen Begriffe spiegelten aber vornehmlich die beträchtlichen begrifflichen Schwierigkeiten, das Phänomen des Wunderpilzes angemessen zu erfassen. Es war und blieb vielfach unklar, worüber man sprach, wenn man sich über den Teepilz austauschte. Diese begriffliche Unklarheit erschwerte klare, zumal wissenschaftliche Aussagen, grenzte den Wunderpilz aber auch strikt ab von klar definierten Massengütern wie etwa Reemtsmas 1921 auf den Markt gebrachte R6-Zigarette oder aber Opels Erfolgsauto 4 PS von 1924. Es verwundert daher nicht, dass Zeitgenossen begriffliche Erörterungen rasch hinter sich ließen und vorrangig beschrieben, was denn dieser Zauberpilz war, wie er aussah und zubereitet werden sollte.

Der Teepilz: Aussehen und Zubereitung

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Der schwimmende Pilz (Lindau, 1913, Taf. XI, Fig. 2)

Den Zeitgenossen musste der Teepilz erst einmal vorgestellt wer, handelte es sich doch um einen neuen pflanzlichen Organismus, dessen rasches Wachstum Grundlage für das an sich begehrte Getränk war: „Im trockenen Zustande hat der Teepilz eine große Aehnlichkeit mit einem Stück Leber oder einer Hautschwarte. Er wird aber meistens in seiner Nährflüssigkeit ‚lebend‘ in den Handel gebracht. Dieser Pilz wächst sehr schnell, stark und kräftig und hat ein gallertartiges Aussehen, wobei die Luftseite der Masse sehr zähe ist und wie eine dicke Haut erscheint; dagegen die Unterseite, die in die Nährflüssigkeit hineintaucht, besitzt große Ähnlichkeit mit den Fangarmen einer Qualle, weshalb dieser Pilz auch den Namen ‚Wolgaqualle‘ führt“ (F.A. Ekkehard, Der indische oder japanische Teepilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 9 v. 12. Januar, 9). Es ging nicht um die simple Abfolge Kauf und Verzehr, vielmehr war Haushaltshandeln erforderlich, ein Einlassen auf ein sich nach eigenen Gesetzen entwickelndes Lebewesen: „Der käufliche kleine Teepilz sieht auf der Oberseite weißlich und schimmlig aus, die Unterseite dagegen zeigt gelbe Färbung. Von Zeit zu Zeit erhält der sogenannte Mutterpilz auf der unteren Seite einen neuen Sprößling, der sich bei eigener Lebensfähigkeit von seiner Anhaftungsstelle löst“ (Selbstbereitung herrlicher Getränke durch Teepilzgärung, Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 11, 3).

Die Nutzer des Teepilzes mussten sich Regeln unterwerfen, um diesen Pilz zur Getränkeproduktion, genauer zur Verstoffwechselung einer Nährflüssigkeit zu nutzen. Diese lenkten, ließen aber vielfältige Variationen offen. Immer wieder galt: „Für die Zubereitung des japanischen Schwammes gibt es verschiedene Rezepte“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1928, Nr. 10301 v. 25. September, 4). Das folgende Standardrezept gab die Richtung vor: „Es sind zunächst 5 Liter Wasser abzukochen. In einem anderen kleinen Kochgefäß wird ein Eßlöffel voll schwarzer Tee gebrüht, durchgeseiht und die klare, dunkelgelbe Teeflüssigkeit zu den abgekochten 5 Liter Wasser zugegossen. Das Ganze kommt nun in einem Steintopf. Metallgefäße sind auf keinen Fall zu benutzen. Dazu gibt man etwas Zitronensaft (eine halbe bzw. ganze Zitrone) und etwa 250 bis 375 g Zucker, je nach Geschmack. Zucker darf auf keinen Fall fehlen“ (Selbstbereitung, 1929). Wichtig war, den Pilz auf der Nährflüssigkeit schwimmen zu lassen, für stete Sauerstoffzufuhr und seine gewisse Wärme zu sorgen, um so die Gärung zu fördern. Dann wuchs der Tee in die Breite. Es blieb dem Nutzer überlassen, wann er die veränderte Flüssigkeit kostete und abgoss. Manche taten dies bereits nach drei Tagen, manche warteten mehr als doppelt so lange. Je länger die Wartezeit, desto saurer das Getränk. Griff man nicht ein, so stand am Ende Essig. Die fertige Teeflüssigkeit wurde teils direkt getrunken, häufiger noch auf Flaschen gezogen. Von diesem Vorrat konnte man ein, zwei Wochen zehren. Auf diese Weise stand der trinkfertige Teekwaß bequem und gleichsam ununterbrochen zur Verfügung: „Auf Flaschen abgefüllten Teekwas stellt man kalt, denn kühl aus Weingläsern getrunken ist dies Getränk am wohlschmeckendsten und wirkt besonders im Sommer angenehm erfrischend“ (Andreas Knauth, Nochmals Teepilz, Berliner Volks-Zeitung, Nr. 31 v. 18. Januar, 9).

Das Ergebnis der Gärung und der Mühen schien der Anstrengung wert zu sein: „Das so hergestellte Getränk ist von mildsäuerlichem Geschmack, besitzt ein angenehmes Aroma und läßt in den ersten Tagen der Gärung gleichzeitig den Teegeruch und -geschmack noch deutlich wahrnehmen“ (E[duard] Dinslage und W[alter] Ludorff, Der ‚indische Teepilz“, Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 53, 1927, 458-467, hier 464). Zumeist war Tee Grundlage der Getränke, doch Variationen waren möglich, ja nach Geschmack, je nach Absicht. Den vielfältigen Vorgaben zum Trotz waren für das am Ende stehende Getränk der jeweilige Umgang mit dem Wunderpilz, die Zusammensetzung der Nährmaterialien, die äußeren Umstände und die häusliche Bearbeitung entscheidend. Kombucha war damit vielgestaltig und selbstbestimmt: Seine Attraktion lag nicht allein in den vielfältigen Heilszuschreibungen, sondern in dem mit einer Selbstbereitung verbundenen Lockreiz eigenbestimmter Getränke- und (vermeintlicher) Heilmittelproduktion. Austesten war möglich, die Neugierde wurde wieder und wieder gereizt, das Wachstum des Pilzes Erlebnis und Resultat eigenen Tuns. Hinzu kam die gesellige Komponente, der Austausch mit Freunden, das Teilen des Pilzes. Der Wunderpilz war Zeitvertreib, die Selbstbereitung ging noch nicht in der kommerziellen Umrahmung von Do-it-Yourself-Angeboten auf, wie etwa bei den seit den 1890er Jahren üblichen Spirituosenessenzen. Der Wunderpilz war Alltagsbegleiter, er belohnte steten Aufwand, war für Finessen und Varianten offen. Freizeit konnte so sinnvoll und preiswert gefüllt werden. Und manche Beschreibungen erinnerten an ein Haustier: „Er schwimmt in durchsichtigem Glasgefäß, dessen Umfang er sich rasch anpaßt, in teeduftendem Bad. Er sieht wie eine graubraune Gallertscheibe aus, begehrt täglich nur eine Tasse Tee und ein wenig Zucker. Mithin ein bedürfnisloses Wesen. Aber er hat eine Seele, die fordert viel: nämlich den liebevollen beobachtenden Blick seines Besitzers, dem es klar werden muß, ob er sich behaglich fühlt in seiner jeweiligen Umgebung. Staub haßt er, deshalb muß ein dünnes sauberes Läppchen sein Schwimmbassin bedecken, doch so, daß ein wenig frische Luft eindringen kann. Der schattige oder zugige Fensterplatz erschreckt ihn geradezu, und er sinkt verdrießlich in seine Tiefe. Die heiße Ofennähe ängstigt ihn, und durch große Luftblasen, die über seine Oberfläche zittern, gibt er seinen Unmut kund“ (R. Kaulitz-Niedeck, Der Teepilz, Hamburger Nachrichten 1927, Nr. 273 v. 15. Juni, 5).

Zu heimelig sollten wir diese Beziehung allerdings nicht deuten. Denn der Umgang mit dem Wunderpilz bedeutete immer auch eine aktive Auseinandersetzung mit Fragen moderner Hygiene und Sauberkeit, mit Aspekten wissenschaftlicher Kausalität, den Auswirkungen moderner Werkstoffe und der präzisen Taktung des eigenen Tuns hin auf ein abstraktes Ziel. Der Alltagsbegleiter erzog zu modernem Handeln und Verhalten, Indolenz führte zu Wucherungen, Fehlwuchs oder gar den vielbeschworenen Pilzleichen.

Von Russland nach Mitteleuropa: Die Vorgeschichte der Kombucha-Mode

Die Zeitgenossen waren vom Wunderpilz in Beschlag genommen, doch es fehlte an einer präzisen Analyse seiner Herkunft. Asien wurde zum mythischen Bezugsrahmen, greifbar war jedoch allein das westliche Russland. Der Pilz war vorrangig Hausmittel – und als solches wahrscheinlich schon seit den frühen 1890er Jahren auch in Deutschland bekannt (Die Teepilz-Kombucha-Frage, Schwerter Zeitung 1929, Nr. 81 v. 8. April, 7). Vor dem Weltkrieg galt das etwa für Gebiete um Halle/S., Merseburg und Quedlinburg (Dinslage und Ludorff, 1927, 460). Es fehlte allerdings der klare identifizierende Begriff. Das Phänomen war bekannt, behandelt wurde es jedoch unter heterogenen Dachbegriffen, etwa dem in den 1890er Jahren intensiver beachteten Kwaß ([Rudolf] Kobert, Teekwaß, Mikrokosmos 11, 1917/18, 159; Ders., Ueber den Kwass und dessen Bereitung, Halle a.d.S. 1896).

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Der geimpfte Teeaufguß des lettischen Pilzes (Lindner, 1913, Taf. XV, Fig. 7)

Die wissenschaftliche Erkundung des „merkwürdigen Organismus“ (G[ustav] Lindau, Über Medusomyces Gisevii, eine neue Gattung und Art der Hefepilze, Berichte der deutschen botanischen Gesellschaft 31, 1913, 243-248, Taf. XI, hier 243) begann 1912. Sie erfolgte doppelgleisig, zum einen in der russischen Herkunftsregion, zum anderen aber in der deutschen Reichshauptstadt. Dort gab es renommierte Fachleute, den botanischen Garten mit seinen Sammlungen, Institute in Dahlem, zudem das 1874 grundgelegte Institut für Gärungsgewerbe, damals eine der größten Forschungsstätten im Deutschen Reich. In Berlin ging es erst einmal um die Beschreibung und Benennung des Pilzes, den der Botaniker Gustav Lindau (1866-1923) als „Typus einer neuen Gattung“ verstand. Der aus Ostpreußen stammende und längere Zeit in Königsberg lehrende Agrarwissenschaftler Paul Gisevius (1858-1935) hatte von Kollegen im kurländischen Mitau (heute das lettische Jelgava) ein Exemplar erhalten, das in der dortigen Gegend als Hausmittel verwandt wurde. Lindau beschrieb es, propagierte eine ehrende Benennung der Pflanze nach Gisevius, doch dem folgte niemand. Zugleich spekulierte er über deren Herkunft, hatten doch Schiffer es nach Mitau gebracht. Lindau ging von einem südlicheren Land aus: „Meine Nachfragen für Java, Neu-Guinea, Samoainseln, Marianen, tropisch Deutsch-Afrika, Südafrika, Argentinien sind aber erfolglos gewesen; ob überhaupt ein tropisches Land in Frage kommt, scheint mir fraglich, möglich, daß vielleicht die südlicheren Teile von Nordamerika in Betracht gezogen werden müssen“ (Lindau, 1913, 244).

Auch der Berliner Mikrobiologie Paul Lindau (1861-1945) ging von einem tropischen Hintergrund aus. Als Gärungsspezialist hatte er jedoch einen anderen Fokus – und verwies auf Beobachtungen aus Ost- und Westpreußen, wo ähnliche Pflanzen zur Essigbereitung genutzt wurden (P[aul] Lindner, Die vermeintliche neue Hefe Medusomyces Gisevii, Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 31, 1913, 364-368, Taf. XV, hier 366). Als neuen Dachbegriff schlug er „Medusentee“ von, der sich aber ebenfalls nicht durchsetzen konnte.

Erweitern wir unseren Blick in die damals russischen baltischen Staaten, in denen die Wissenschaftler noch vorrangig in deutscher Sprache publizierten. Der 1906 in Göttingen promovierte Agrarwissenschaftler Stephan von Bazarewski berichtete 1915 über einschlägige Untersuchungen im Polytechnikum in Riga (Über den sogenannten „Wunderpilz“ in den baltischen Provinzen, Korrespondenzblatt des Naturforscher-Vereins zu Riga 57, 1915, 61-69). Dort standen die gesundheitlichen Wirkungen des in Lettland „Brinum-Ssene“ – Wunderpilz – genannten Pilzes im Mittelpunkt: „Der Glaube an die Heilkraft dieses Pilzes ist unter dem Volk so stark verbreitet, dass man ihn sogar künstlich zu Hause züchtet, Freunden und Bekannten verschenkt und, wie man mir sagt, auch auf dem Markt von Riga verkauft“ (Ebd., 61). Bazarewski beschrieb die Gärung und das daraus resultierende Getränk, doch Heilkraft wollte er dem Ganzen nicht zubilligen. Ein billiger Essig konnte mit Hilfe des Pilzes aber häuslich einfach hergestellt werden. Regional grenzte er dessen Vorkommen auf Livland und Lettland ein. Deutlich breiter angelegt war die vergleichende Studie der am Botanischen Laboratorium der Frauenhochschule für Medizin in St. Petersburg tätigen Anna Batschinski (A[nna] A. Batschinski, Russischer Tee-Essig. Über den sogenannten mandschurisch-japanischen Pilz und Teekwaß, Die deutsche Essigindustrie 18, 1914, 330-331; Ref. von Zamkow). Sie schrieb über „das zurzeit in vielen Gegenden Rußlands stark verbreitete eigenartige Getränk, das man aus einer mit Zucker versüßten Teeabkochung bereitet. Es ist sowohl in der Stadt, als auch auf dem Lande anzutreffen und wird als Genuß- und Erfrischungsmittel, aber auch als ein Volksheilmittel gegen Kopfschmerzen, bei Magen- und Darmerkrankungen, sowie bei allen möglichen anderen Störungen benutzt. Zur Bereitung dieses Getränks wird als Gärungserreger ein Stoff benutzt, der in verschiedenen Gegenden verschiedene Bezeichnungen trägt, z.B.: japanischer oder mandschurischer Pilz, japanisches Mütterchen, oder einfach Pilz“ (Ebd., 330). Russland erschien ihr als das Mutterland des Getränks, doch dieses sei auch in West- und Osteuropa sowie in Ostasien weit verbreitet (Ebd.).

Der Weltkrieg und die folgenden Bürgerkriege unterbrachen derartige Forschungen, doch tröpfelten nach dessen Ende weitere Informationen über die Vorgeschichte der Kombucha-Mode bzw. die Herkunft des Wunderpilzes in die öffentliche Debatte ein. Der dänische Botaniker Jens Lind (1874-1939) hatte ebenfalls vor dem Weltkrieg über einen in Russland und auch Skandinavien verbreiteten „indischen Weinpilz“ bzw. die „Wolgaqualle“ berichtet, die „in den russischen Flußläufen lebt und von den Bauern als Hausmittel gegen verschiedene Krankheiten gebraucht wird“ (Apotheker-Zeitung 41, 1928, 771). Auch der Prager Mikrobiologie Siegwart Hermann (1886-1956) erhielt 1914 aus Russisch-Polen einen einschlägigen „Pilz“, ließ diesen jedoch eingehen (Siegwart Hermann, Die sogenannte ‚Kombucha‘, Die Umschau 33, 1929, 841-844, hier 841). Er raunte zudem von Züchtungen in tschechoslowakischen Klöstern, die den dort „Olinka“ genannten Pilz vor dem Krieg an einige Adelsfamilien abgegeben hätten (Ebd.).

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Der Pilz an der Arbeit oder der Gärprozess materialisiert (Lindner, 1917/18, 98, Abb. 10)

All diese Mutmaßungen, all diese Untersuchungen und Definitionsversuche erfolgten im weiten Kranz der damaligen Wissenschaft. Ihre Auswirkungen waren begrenzt, drangen kaum über die engen Welten der Sammlungen und Laboratorien hinaus. Anders jedoch das Geschehen im Weltkrieg selbst. Erstens lernten deutsche (und auch österreichisch-ungarische) Soldaten bei ihren verlustreichen Vormärschen und während der Besatzungsherrschaft den Wunderpilz praktisch kennen. Einem deutschen Apotheker wurde er 1915 als abführendes „Wundertränkchen“ geschenkt (H. Waldeck, Der Teepilz, Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 68, 1927, 789-790). Ähnliches galt für die Verwaltung in Ober-Ost, wo im kurländischen Goldingen das Teegetränk anfangs weit verbreitet war, seine Nutzung durch den Mangel an chinesischem Tee und Zucker dann aber zum Erliegen kam (L. Winteler, Anfrage, Unsere Welt 14, 1922, 46). Auch der Heidelberger Mikrobiologie Rudolf Lieske (1886-1950) erhielt während des Krieges Teepilze, die er Anfang der 1920er Jahre auf Heilwirkungen untersuchte ([Rudolf] Lieske, Antwort, Unsere Welt 14, 1922, 46).

Eine zweite Scharnierfunktion besaßen russische Kriegsgefangene, deren Zahl allein auf deutscher Seite bei knapp 1,5 Millionen lag. Aussagen wie: „Erst mit den russischen Kriegsgefangenen kam der ‚Teepilz‘ nach Mitteleuropa“ ([Gerhard Venzmer], Ein erfrischendes Hausgetränk, Stolzenauer Wochenblatt 1929, Nr. 205 v. 31. August, 6-7, hier 6) waren übertrieben, enthielten aber einen wahren Kern. Ein österreichischer Apotheker bekam einen Teepilz von einem gefangenen Russen, der erzählte, dass er diesen während des russischen-japanischen Krieges 1904/05 von den Japanern übernommen haben (Ladislaus R. v. Popiel, Zur Selbstherstellung von Essig, Pharmazeutische Post 50, 1917, 757-758). Es mag überraschend klingen, dass russische Soldaten derartige Pilze mit sich führten. Doch es handelte sich um „Normalität im Ausnahmezustand“, vergleichbar mit der Mitnahme einer Schmetterlingssammlung ins Minsker Ghetto 1941 durch eine russische Jüdin (Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Bonn 2016, 23). Während der Kombucha-Mode wurde jedenfalls wiederholt hervorgehoben, dass der Wunderpilz eine „der wenigen Bereicherungen [sei, US], die der große Krieg den Völkern Europas eingetragen hat“ (Der Kombucha- oder Teepilz, Wittgensteiner Kreisblatt 1932, Nr. 167 v. 19. Juli, 6).

Drittens verkaufte das Berliner Institut für Gärungsgewerbe seit spätestens 1917 „Teekwaß“ zur Essigbereitung an die Bevölkerung ([Max] Glaubitz, Teepilz, Zeitschrift für Volksernährung 17, 1942, 304). Die Haut des Pilzes diente damals als Ersatzmittel, als Material für Ballonhüllen und Ledersubstitute (Lakowitz, Teepilz und Teekwaß, Apotheker-Zeitung 43, 1928, 298-300, hier 298).

Viertens schließlich gab es einen begrenzten öffentlichen Widerhall, denn auch in der (zensierten) Presse wurde der Wunderpilz ab und an vorgestellt (Japanischer Schwamm, Illustrierte Kronen-Zeitung 1917, Nr. 6243 v. 18. Mai, 6). Der Pilz galt als lettisches Hausmittel, der „Wunder […] gegen alle möglichen Krankheiten wirken“ sollte (Der Wunderpilz der Letten, Bonner Zeitung 1917, Nr. 159 v. 12. Juni, 4; auch Der lettische Wunderpilz, Bofzner Nachrichten 1922, Nr. 114 v. 19. Mai, 7).

Nach dem Krieg verebbten diese Erwähnungen, verschwand der Wunderpilz zeitweilig aus der öffentlichen Sphäre (die als Resonanzsphäre des Historikers entscheidend für jede allgemeinere Rekonstruktion ist). Einige wenige Hinweise ließen sich auflisten (Der lettische Wunderpilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 1922, Nr. 121 v. 28. Mai, 3), doch Aussagen über eine häufige Benutzung in den Haushalten während der Inflationszeit sind nicht zu überprüfen (Hans Valentin, Ueber die Verwendbarkeit des indischen Teepilzes und seine Gewinnung in trockener Form, Apotheker-Zeitung 43, 1928, 1533-1536, hier 1534). Das gilt auch für andere Transferwege, etwa Zusendungen des Pilzes an ukrainische Flüchtlinge in Mitteleuropa durch ihre zuvor in die USA ausgewanderten Verwandten (Ullsteins Blatt der Hausfrau 42, 1926/27, H. 25, 29).

Bei all diesem Hin und Her, bei all diesen heterogenen Begriffen mag der Kopf rauchen. Festzuhalten ist, dass der Wunderpilz aus den russischen Gebieten Osteuropas nach Mitteleuropa eingeführt wurde. Festzuhalten ist auch, dass es damals nur vereinzelte Hinweise auf Ostasien, insbesondere auf Japan gab. Festzuhalten ist schließlich, dass der Begriff Kombucha anfangs nicht verwandt wurde. „Kombucha“ ist eine westliche, genauer eine böhmische Begriffsschöpfung. Der Begriff entstand 1925/26 in Prag, wurde dort zur Vermarktung eines Teepilzpräparates etabliert und mit erfundenen Zuschreibungen popularisiert.

Kombu-cha war ein japanischer Algentee. Kombu war „eine Art Seegras, ein langblättriger Tang, 5 bis 6 Zentimeter breit und ¾ bis 1 Meter lang. […] Was man als Kombucha bezeichnet, ist das einnudlig geschnittene Seegras, das mit kochendem Wasser übergossen wird und dann etwa 10 Minuten lang ziehen muß. Das Ergebnis ist eine grünliche, etwas salzig schmeckende Flüssigkeit, eben eine Kombu-cha (sprich: tscha). Ein von den Japanern überaus geschätztes Getränk, stark jodhaltig und außerordentlich gesund!“ (Kombucha, Die Umschau 33, 1929, 118). Der neue Begriff Kombucha verwechselte und vermengte zwei unterschiedliche Präparate. Auf der einen Seite der Teepilz und das daraus gewonnene Gärungsgetränk. Von einem entsprechenden „Volksheilmittel“ war den damals in Zentraleuropa weilenden japanischen Ärzten „gar nichts bekannt“ (W[ilhelm] Wiechowski, Welche Stellung soll der Arzt zur Kombuchafrage einnehmen?, Beiträge zur ärztlichen Fortbildung 6, 1928, 2-10, hier 3). Auf der anderen Seite ein Algenpräparat, dem man aufgrund völlig anderer Wirkstoffe Gesundheitswirkungen nachsagte. Der Begriff Kombucha war Ausdruck mangelnder wissenschaftlicher Differenzierungsfähigkeit, wie sie schon 1925 anlässlich der Karzinommittels Carcinolysin feststellbar war (F. Rintel, Japanischer Teeschwamm gegen Karzinom, Ars Medici 15, 1925, 256). Zeitgenossen führten diese irreführende Vermengung zweier Präparate auf tschechoslowakische Legionäre zurück, die auf russischer Seite im Krieg von 1904/05 gekämpft hatten und später über einen „Kombucha-Schwamm“ berichteten, der dann von Wissenschaftlern mit dem Teepilzschwamm verwechselte wurde (Kombucha, 1929).

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Ausdruck und Grundlage des Begriffs „Kombucha“: Patentschrift von 1927 (Happy Herbalist.com)

Entscheidend war aus meiner Sicht jedoch die bewusste Nutzung des exotischen Kombucha-Begriffes durch Siegwart Hermann und die Norgine AG. Kombucha wurde seit spätestens 1925 in Prag verwandt. Das am 20. Februar 1927 angemeldete „Verfahren zur Herstellung von therapeutisch wirksamen Präparaten mit Hilfe von Kombucha“ nutzte den Begriff für kommerzielle Zwecke, zur Abgrenzung von den vielen anderen Bezeichnungen des Wunderpilzes. Hermann selbst kannte Batschinskis Arbeit aus Referaten, knüpfte an ihre Begriffe mit Ostasienbezug direkt an (Hermann, 1929, 841). Die Sprachschöpfung Kombucha wurde – wie wir unten sehen werden – zum zentralen Begriff der erste Modewelle in Böhmen. Hermann sprach ab 1929 vom „sogenannten“ Kombucha, korrigierte dadurch seinen fachlichen Irrtum (S[iegwart] Hermann, Bacterium gluconicum, ein in der sogenannten Kombucha (japanischer oder indischer Teepilz) vorkommender Spaltpilz, Biochemische Zeitung 205, 1929, 297-305; Ders., Pharmakologische Untersuchungen über die sogenannte Kombucha und deren Einfluss auf die toxische Vigantolwirkung, Klinische Wochenschrift 8, 1929, 1752-1757). Doch der Begriff war in der Welt – und landete auch in Ihrem Sprachschatz.

Böhmen und die erste Welle der Kombucha-Mode 1926 bis 1928

Die Kombucha-Mode der späten 1920er Jahre begann 1925/26 in Böhmen, schwappte 1927 nach Österreich und erreichte 1928 das Deutsche Reich. Die jeweiligen Moden währten jeweils etwa zwei Jahre, ebbten dann langsam ab. Dieses Muster unterschied sich deutlichen von gängigen Moden, etwa bei Kleidung, Schuhen oder auch Parfüm. Sie begannen zu gleichsam festgesetzten Zeiten, im Herbst und im Frühling, mit regelmäßigem und vorhersehbarem Ablauf. Es unterschied sich auch von dem wirklicher Novitäten, etwa bei dem sich 1932 binnen weniger Monate über ganz Europa verbreitende Jo-Jo. Jo-Jo verdrängte kurzzeitig andere Spiele, bot beschwingten Halt in einer tiefgreifenden Krisenzeit. Auch Kombucha verdrängte andere Getränke, doch hier handelte es sich um einen längerfristig einsetzbaren Organismus, dessen Ableger eine noch längere Nutzung ermöglichten. Das spielerische Moment, das Ausprobieren unterschiedlicher Nährlösungen und Zubereitungsweisen, erlaubte immer wieder Neuerungen, die zudem in einem sozialen Feld des Austausches und des Miteinanders stattfanden.

06_Der Welt-Spiegel_1926_03_14_Nr11_p12_Volksstimme_1929_Nr59_p24_Der Weltspiegel_1928_04_01_Nr14_p13_Mode_Frühling_Schuhe_Textilien_Haarpflege

Geplante Frühlingsmoden: Schuhe, Textilien, Haarpflege (Der Welt-Spiegel 1926, Nr. 11 v. 14. März, 12 (l.); Volksstimme 1929, Nr. 59, 24; Der Welt-Spiegel 1928, Nr. 14 v. 1. April, 13 (r.))

Diese soziale Komponente übersahen Beobachter, die Kombucha als ein vorrangig wirtschaftliches Phänomen deuteten: „Im Jahre 1925 begann man in Prag einen sogenannten ‚Pilz‘ zu züchten, den man Kombucha […] nannte, der aus Japan stammen solle. […] Diesem Kombuchatee schrieb man fabelhafte Wirkungen zu. Auf gewöhnliche Weise konnte zwar die Richtigkeit der Behauptungen nicht festgestellt werden, aber das Geschäft der erfolgreichsten Glückspilze, das der Schwindler, blühte“ (Die Kleinsten als Wohltäter der Größten, Sozialdemokrat 1935, Nr. 87 v. 25. April, 5). Die soziale Dynamik gründete auf Heilserwartungen: „Kombucha, vor einiger Zeit in irgendeine Familie aus Asien eingeschleppt, ist die neue Seuche, mit der eine andere: die des Alters! geheilt werden soll. Mancher Segen kam schon aus dem Orient. Und wenn Kombuach [sic!] auch kein Heiland, kein indischer Apostel ist, so ist es doch ein Erlöser von Krankheit und Alter: ein Heilmittel gegen Arterienverkalkung, ein Lebensverlängerer. So behaupten wenigstens seine Anhänger. […] Ob wir Europäer einander jemals langes Leben wünschen? Jedenfalls uns selbst. Sonst könnte die Gemeinde der Kombucha-Fanatiker nicht so wachsen. Plötzlich tauchten Gerüchte auf von verschiedenen Seiten, es zirkulierte eine Kostprobe, Kulturen werden angelegt, getrunken, ein schwungvoller Handel entsteht… Die Aerzte schütteln die Köpfe, zucken die Achseln, hie und da versucht einer heimlich sich die Sache zu verschaffen, bekommt sie vielleicht von einem Patienten geschenkt. Nun beginnt der Meinungsaustausch, die Aufschneiderei, die Kränkung über Mißerfolge. Skeptiker geraten hart an Gläubige“ (Ilse Wiener, Sie trinken noch nicht Kombucha?, Prager Tagblatt 1926, Nr. 97 v. 23. April, 3).

Deutlich erkennbar ist die Selbstermächtigung im Felde der Gesundheit, die Selbstbehauptung gegenüber dem Arzt, die behauptete Eigenverantwortung für Leib und Leben. In Prag standen wohl nicht nur Naturheilkundevereine, sondern auch eine „Dame der Prager Gesellschaft“ am Anfang der Mode, wahrscheinlich die Arztwitwe Frau Weber, die in Prag auch Vorträge über Kombucha hielt (Prager Tagblatt 1926, Nr. 106 v. 5. Mai, 5). Gemeinsam mit Freunden und Bekannten stellte sie zu Hause und dann auch im Freundeskreis „systematisch angeordnete Versuche bezüglich Aufzucht und Wirkung der Pflanze“ an und wusste „Prager Aerzte für die Sache zu interessieren“ (Trinken Sie schon Kombucha?, Prager Tagblatt 1926, Nr. 102 v. 29. April, 2). Wahrheitswidrig sah man sich in der Nachfolge japanischer Züchter, gründete gar einen eng mit einer führenden Apotheke verbundenen „Wohltätigkeitsverband der Züchter japanischer Kombucha“.

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Anschein einer zivilgesellschaftlichen Bürgerbewegung (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 113, 18 (l.); Prager Tagblatt 1928, Nr. 48 v. 25. Februar, 15)

Diese Gruppe hob sich mit ihrem Anspruch an reine und leistungsfähige Pilze deutlich von einfachen Nutzern ab, die zu Hause mit ihren Ablegern billig wirtschafteten, die damit verbundene Qualitätsverschlechterung aber in Kauf nahmen (Prager Tagblatt 1927, Nr. 192 v. 13. August, 11). In Prag, aber zunehmend auch in anderen tschechischen Städten begann daraufhin einerseits eine Diskussion über die richtige Hege und Zubereitung, anderseits über gesundheitliche Vorteile und auch Risiken des Pilzes. Ausprobieren war das eine, doch nun „kamen mir über ‚Kombucha‘ schon viele Reden zu Ohren, die verschieden lauteten, so daß ich wirklich nicht weiß, was ich davon halten soll“ (Frauenfreude – Mädchenglück 1927, Nr. 89, 13). Die Befürworter waren in klarer Mehrzahl, während sich Skeptiker schlicht außen vor hielten („Kombucha“, Frauenfreude – Mädchenglück 1927, Nr. 92, 19; Prager Tageblatt 1928, Nr. 49 v. 25. Februar, 15). Die nun zunehmend einsetzenden Anzeigen für die Reinzuchtpilze und dann auch Getränke nährten die Mode: „Alles spricht heute von Kombucha“ (Sozialdemokrat 1928, Nr. 25 v. 19. Januar, 11). Beobachter sprachen von einem seit Monaten blühenden „Kombucharummel“, von einem Interesse „wie selten eine Sache zuvor“ (Sozialdemokrat 1928, Nr. 18 v. 21. Januar, 5; ebd., Nr. 24 v. 28. Januar, 9).

Die Mode wurde jedoch nicht nur kommentiert, sondern auch Wissenschaftler sahen sich in der Pflicht, Stellung zu beziehen. Charakteristisch waren dabei enge Personengeflechte zwischen Naturwissenschaftlern und den pharmazeutischen Anbietern. Siegwart Hermann propagierte eigene Präparate, der Pharmakologe Wilhelm Wiechowski (1873-1928) war geschäftlich mit dem Produzenten, der Norgine AG, verbunden (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 209 v. 18. September, 6). Letzter räumte mit einigen Mythen auf, etwa dem japanischen Ursprung des „Schwamms“. Milchsäure konnte er im Getränk nicht finden, Anpreisungen a la Kefir und Joghurt waren also unsinnig. Jod – wichtig angesichts der damals intensiven Debatten über verpflichtendes Jodsalz – war kaum enthalten. Doch Wiechowskis grundsätzliche Bewertung war positiv: „Die von allen Seiten gerühmten subjektiven Besserungen, von welchem im Verlaufe einer regelmäßigen Aufnahme von durch die Kombuchakultur gesäuerten Teeinfus berichtet wird, dürften daher nicht auf einer Suggestion, sondern auf einer tatsächlichen therapeutischen Einwirkung auf den erkrankten Organismus beruhen“ (Wiechowski, 1928, 7). Die öffentlichen Anpreisungen mochten irreführend, doch der gute Kern der Sache schien ihm klar zu sein. Insbesondere bei der damals zunehmend beachteten Arteriosklerose sei Kombucha hilfreich. Zugleich verteidigte Wiechowski aber die Hegemonie der Expertenkultur gegenüber dem freudigen Treiben der Laien: In den Apotheken erhältliche Reinzuchtpilze seien schon aus hygienischen Gründen erforderlich, ansonsten bestände die Gefahr, dass Kombucha wie ein „Modeartikel“ „in Kürze wieder verschwinden würde“ (Ebd., 9).

Dieser Tenor fand sich dann auch in der pharmazeutischen Fachpresse wieder. Die vermeintlichen Heilswirkungen der Kombucha wurden geschäftsfreudig aufgelistet, dann aber auf ein kleineres Einsatzfeld begrenzt: „Diese vergorene Abkochung soll sich nach einer alten Tradition sehr gut als Heilmittel bei Tuberkulose, Bleichsucht, Arteriosklerose, bei verschiedenen Magen- und Darmkrankheiten usw. bewähren, besonders bei Kindern. Nach den Gerüchten soll sie sogar auch verjüngende Eigenschaften besitzen“ (Kombucha. Der japanische Teepilz (Japanschwamm), Drogisten-Zeitung 43, 1928, 294-296, hier 294). Parallel begann nun eine vermehrte Rezeption der böhmischen Mode in Österreich und dem Deutschen Reich (S. Rywosch, Kombucha, ein neues Getränk, Die Umschau 32, 1928, 612, 614). Damit wurde weiteres Interesse geschürt, waren die Wirkungen des Wunderpilzes doch gleichsam wissenschaftlich bestätigt: „Die medizinische Wissenschaft steht diesem nun mit viel Kraft sich einführenden, schwach alkoholischen Getränk freundlich gegenüber, von vielen Aerzten werden gute Erfolge bei Hämorrhoiden, Verdauungsstörungen, Arterienverkalkung, Gicht und Rheumatismus berichtet“ (Der japanische Teepilz, Tagblatt 1929, Nr. 198 v. 28. August, 5). Paradoxerweise hielten die Berichterstatter faktenwidrig an der Vorstellung eines uralten asiatischen Volksheilmittels fest. Zugleich begannen auch erste ironisierende Kommentare zur Kombucha-Mode um sich zu greifen: „Man hört viel davon. Man kennt es bei uns schon etliche Monate. Vielleicht scheint es sogar ‚die große Mode‘ zu werden: Dieses Lebenselixier, das man hier eingeführt hat, anscheinend um den kranken Mann Europa ein wenig auf die Beine zu helfen“ (Was ist Kombucha?, Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 131 v. 12. Mai, 2).

Kombucha-Jobra: Vermarktung und Aufheizung einer Mode

Zu all den öffentlichen und wissenschaftlichen Beiträgen kam dann ein wachsendes Angebot von Kombuchapräparaten. Am bekanntesten und für die Durchsetzung des Begriffs auch am wichtigsten war Kumbucha-Jobra, ein seit Anfang 1928 von der Prager Apotheke Zum weißen Löwen angebotenes Markenprodukt (Pharmazeutische Post 61, 1928, 22).

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Frauenphantasien von Liebreiz und innerer Schönheitspflege (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 121, 17 (l.); Prager Tagblatt 1928, Nr. 54 v. 3. März, 13)

Dort wurden im Gefolge des Wohltätigkeitsverbandes der Züchter japanischer Kombucha einerseits „Schwämme“, also frische Teepilze verkauft. Anderseits lieferte man Apotheken und Drogerien nun einen „Jobra-Extrakt“, also ein gebrauchsfertiges Fertiggetränk. Damit bediente man den tradierten Markt der Selbstbereiter, erschloss aber auch neue Zielgruppen vornehmlich urbaner Konsumenten, die sich der Mühe der häuslichen Produktion nicht aussetzen, sondern das heilsame Präparat unmittelbar konsumieren wollten. Das Marktangebot stützte häusliche Aktivitäten, enthäuslichte sie zugleich aber auch.

Kombucha-Jobra war als Heilmittel nicht zugelassen, durfte daher auch nicht als Mittel gegen einzelne Krankheiten angepriesen werden. Entsprechend beschritten die Anbieter indirekte Wege, priesen ihre Ware als gesundheitsfördernd, gaben ein Spektrum möglicher Einsatzgebiete an. Das war gängig für zahllose Geheimmittel vor dem Ersten Weltkrieg, bei Kräftigungsmitteln, Nährsalzkaffee oder Schlankheitspräparaten. Kombucha-Jobra unterstützte demnach die natürliche Schönheit der Frauen, dienten die Präparate doch der inneren Schönheitspflege in Magen und Darm, verjüngte ihr Konsum doch Körper und Erscheinungsformen. Die Werbung ging ein auf den vermeintlichen Stress der Zeit, die Hetze des Alltags, die Ängste vor dem Wettbewerb der Körper im Berufsalltag. Sie sprach gezielt unterschiedliche Zielgruppen an, Frauen zumal, aber auch Männer; Ältere und Gebrechliche, jüngere und gesetztere Damen. Die Klammer bildete die Wortmarke Jorba, übersetzt als „die Heilsame“. Kombucha ließ am Modetrend teilhaben, befeuerte ihn zugleich auch.

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Vermarktung eines imaginierten Japans (Prager Tagblatt 1928, Nr. 7 v. 8. Januar, 9 (l.); Frauenfreude – Mädchenglück, 1928, Nr. 104, 15)

Die positiven Gesundheitswirkungen der eigenen Präparate wurden allgemein umschrieben, doch am Beispiel eines völlig irrealen Japans präzisiert. Das japanische Volk besaß demnach das „Wunder ewiger Jugendfrische, strotzender Gesundheit“ (Prager Tagblatt 1928, Nr. 60 v. 10. März, 13). Dort würde Kombucha „seit Jahrhunderten“ (Ebd., Nr. 72 v. 24. März, 13) angewendet, die Jugendlichkeit und Widerstandskraft der Japaner seien dessen Resultat. Behauptet wurde auch, „Kombucha-Jobra […] macht die Japanerin zur reizendsten, die stets blühend aussieht, hat das japanische Volk von Sklerose, Nieren- und inneren Erkrankungen fast gänzlich befreit“ (Ebd., Nr. 78 v. 31. März, VII; ähnlich ebd., Nr. 67 v. 18. März, VIII). All das diente natürlich nicht primär dem eigenen Absatz, sondern der Gesundheit aller. Galt es doch „hierzulande zu beweisen, was ein Schwamm alles imstande ist“ (Ebd. 1928, Nr. 90 v. 14. April, 16).

Mittels historischer Phantastereien wurden die Konsumenten nicht nur systematisch belogen, sondern mit diesem Kunstgriff auch Maßregeln gegen unlauteren Wettbewerb umgangen. Wettbewerber übernahmen dies vielfach nicht, doch sie erweiterten ihr Angebot ebenfalls auf Pilze und Getränke. Damit besaßen die Konsumenten eine neuartige Wahl.

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Anzeige eines breiter gelagerten Angebots von Teepilz und Teeextrakt (Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 57 v. 26. Februar, 2)

Die Mischung aus inhaltlichen haltlosen Heilsversprechen und irreführenden Verbindungen von Teepilz, Japan und dem dortigen Leben traf auf Gegenwind. In Königgrätz war bereits im November 1927 „Kombucha-Saltrattes“ verboten worden „weil sie auf marktschreierische Art angeboten wird und deren Preis außerdem übertrieben hoch ist“ (Medizinische und Pharmazeutische Rundschau 4, 1928, Nr. 62, 6). Im Januar 1928 folgte aus ähnlichen Gründen das in dem einst von Wallenstein (1583-1634) ausgebauten Jetschin produzierte „Kombucha Sakura“ (Pharmazeutische Post 61, 1928, 162). Kombucha-Jobra stellte sich ab April 1928 auf diesen Gegenwind ein, modifizierte die eigene Werbung. Auch „Kombucha-Saltrattes“ durfte ab Dezember 1928 wieder in Apotheken verkauft werden, falls „die Zubereitung in der Tagespresse nicht auf marktschreierische Art angekündigt und nicht gegen verschiedene Krankheiten empfohlen“ wurde (Ebd. 62, 1929, 173). Staatliche Instanzen und Anbieter näherten sich einander an, mochten die Heilserwartungen auch weiter befeuert werden.

Diese regulativen Eingriffe hatten auch Einfluss auf die Vermarktung einschlägiger Kombuchaprodukte in Österreich. Dort setzte die Mode etwas später ein, so dass sich die Irreführung der Öffentlichkeit in engeren Grenzen bewegte. Bezeichnend dafür war die Zulassung der Teeschwammextrakte „Chambucho“ und „Fungojapon“. Sie wurden Mitte 1929 erlaubt, vorausgesetzt, „daß das Präparat nicht als Heilmittel gegen Krankheiten oder Krankheitssymptome empfohlen oder angekündigt wird“ (Pharmazeutische Post 62, 1929, 617). Der Produzent ließ daraufhin die „Ankündigung als Heilmittel aus der Packung entfernen“, während die empfehlende Gebrauchsanweisung weiter genutzt wurde (Fungojapon frei verkäuflich, Drogisten-Zeitung 44, 1929, 400).

Schon zuvor wurden in der Tschechoslowakei aber auch erste Pharmazeutika angeboten. Das von Siegwart Herrmann entwickelte und gemeinsam mit der Norgine AG im März 1928 auf den Markt gebrachte Präparat „Kombuchal“ war ein sauer schmeckendes, zuckrig eingedicktes und in Sirupform überführtes Kochbuchagetränk (Pharmazeutische Post 61, 1928, 116; Wissenswertes vom Teepilz, Österreichische Apotheker-Zeitung 11, 1957, 580, 582-583, hier 582, Wiener Medizinische Wochenschrift 78, 1928, 1246). Es sollte die beim Tee vermeintlich nachgewiesenen therapeutischen Wirkungen in die ärztliche Praxis überführen (Patent Nr. 538028, Kl. 30h, Gr. 2, erteilt am 29. Oktober 1931, angemeldet am 20. Februar 1927, Happy Herbalist.com), doch ein größerer kommerzieller Erfolg blieb aus. Die Norgine war ein 1897 zur wirtschaftlichen Verwertung des gleichnamigen Appretur- und Klebestoffes gegründetes Unternehmen (L. Melzer, Norgine, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, 2. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 8, Berlin und Wien 1931, 141-142). Die Patente des norwegischen Ingenieurs Axel Krefting erlaubten eine neuartige Nutzung des Seetangs. Die Produktion erfolgte erst in der französischen Bretagne, nach finanziellen Schwierigkeiten wurde 1906 im cisleithanischen Aussig die Chemische Fabrik „Norgine“ Dr. Viktor Stein gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 164 v. 15. Juli, 8; Oesterreichische Chemiker-Zeitung 9, 1906, 295; Die Verwendung von Seetang in der Textil-Industrie, Leipziger Monatsschrift für Textil-Industrie 31, 1916, 505). Versuche, 1905 eine deutsche Dependance zu etablieren, scheiterten (Berliner Börsen-Zeitung 1905, Nr. 85 v. 19. Februar, 20). Der Naturstoffproduzent Norgine diversifizierte in den Folgejahren, war im deutschen Markt mit zahlreichen Hilfsprodukten der Textilindustrie präsent und konstituierte sich 1926 als Aktiengesellschaft (Österreichische Chemiker-Zeitung 29, 1926, 121). 1928 wurde schließlich in Berlin eine deutsche Zweigniederlassung gegründet – sicher auch zur Vermarktung des Präparates Kombuchal (Berliner Börsen-Zeitung 1928, Nr. 480 v. 12. Oktober, 8). Die Norgine wurde nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei rasch arisiert, Nutznießer war die Berliner Schering AG (Deutscher Reichsanzeiger 1939, Nr. 285 v. 6. Dezember, 3; ebd. 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 3; ebd. 1944, Nr. 100 v. 3. Mai, 2). Siegwart Hermann musste in die USA fliehen (Helmut Maier, Chemiker im „Dritten Reich“, Weinheim 2015, 359). Auf der heutigen Website der Firma (Geschichte – Norgine Deutschland) wird ein Zerrbild der eigenen Geschichte gezeichnet, werden die Arisierungen nicht erwähnt.

Wissenschaftliche Forschung über die Wirkungen des Wunderpilzes

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Die Palette der vermeintlich freundlichen Bakterien (Ullsteins Blatt der Hausfrau 48, 1932/33, 589)

Auch wenn es in den 1920er Jahren noch eine breite Naturheilkunde- resp. Volksmedizinbewegung gab, war für die Akzeptanz eines Präparates wissenschaftliche Forschung doch unabdingbar. Das unterstrichen auch zahlreiche Übernahmen aus der Erfahrungswelt der Laien durch die pharmazeutische Industrie, etwa Chinin resp. Sauermilch, Kefir, Molke, Joghurt und Traubenkuren. Auch der Teepilz und seine Getränke wurden auf ihre Heilwirkungen untersucht. Doch überraschenderweise blieb die Zahl einschlägiger Untersuchungen gering, blieb zudem vorrangig auf das Gebiet der früheren K.u.K.-Monarchie begrenzt (einen recht lückenhaften Überblick enthält Eduard Stadelmann, Der Teepilz. Eine Literaturzusammenstellung, Sydowia 11, 1957/58, 380-388).

Eine detaillierte Darstellung der wissenschaftlichen Forschung ist für unsere Fragestellung nicht erforderlich. Zwei Richtungen sind allerdings zu unterscheiden, nämlich einerseits die mikrobiologische Essenz der Teepilzgärung und der resultierenden Getränke, anderseits der Nachweis kausaler Heilwirkungen. Dabei fand der japanische Algentee, der eigentliche Kombucha, kaum Interesse, auch wenn er damals als Laminaria-Tee durchaus zu kaufen war (Ueber den Japanischen Pilz (Japan-Schwamm), Pharmazeutische Post 60, 1927, 500-502, hier 501-502).

Die mikrobiologische Analyse konzentrierte sich lange auf die schon von Lindner 1913 behandelte Interaktion des für die Essigsäuregärung und die Celluloseproduktion zentralen Bacteriums xylinum mit Hefen (ebd., 501; Der japanische Teepilz (Kombucha), Pharmazeutische Post 61, 1928, 114-116). Siegwart Hermanns Arbeiten konzentrierten sich dagegen vornehmlich auf die Rolle der Glukonsäure, einer heute unter dem Kürzel E 574 wohlbekannten Fruchtsäure (Siegwart Hermann, Zur Pharmakologie der Glukonsäure, Archiv für experimentelle Pharmazie und Pathologie 154, 1930, 143-160). Kombucha war für ihn „eine Pilzgenossenschaft aus Hefen und Bakterien, welche gezuckertes Teeinfus zu säuern vermag. Sie bestand aus „zwei torulaartigen Hefen, dem Bacterium gluconicum, dem Bacterium xylinum und dem Bacterium xylinoides. Das Teeinfus dient der Pilzgenossenschaft als stickstoffhaltiges Nährsubstrat. Der zugesetzte Rohrzucker wird durch die in einer Hefeart und im Bacterium gluconicum enthaltene Invertase in Lävulose und Dextrose gespalten, die Dextrose dann vom Bacterium gluconicum in d-Gluconsäure übergeführt. Aus dem durch die Hefegärung entstandenen Alkohol wird von allen vorhandenen Bakterien durch Oxydation Essigsäure gebildet“ (Hermann, 1929, 1752). Dies wurde in der zeitgenössischen Forschung stetig wiederholt, galt als Grundlage fast aller Marktangebote und auch als Bewertungsmaßstab für Fragen der chemischen Echtheit sowie der Reinheit der Präparate (Medizinische Klinik 25, 1929, 1508; Fortschritte der Medizin 47, 1929, 993-994; Kombucha und toxische Vigantolwirkung, Die Volksernährung 5, 1930, 81).

Die Heilwirkungen der Präparate hielten sich rein wissenschaftlich in engen Grenzen. Eine rückblickende Analyse ergab Wirkungen „auf die Verdauung, […] bei Arteriosklerose und die spezifische Wirkung der Gluconsäure. Am häufigsten erwähnt wird die leicht abführende Wirkung des Pilztees, die aber am wenigsten spezifisch ist […]. Diese widersprechenden Ergebnisse beweisen jedenfalls, daß die beobachten Heilerfolge, soferne sie überhaupt als solche zu bezeichnen sind, keine Begründung zur Anpreisung des Teepilzes als ‚Wundermittel‘, wie er in der Presse neuerdings bezeichnet wird, bieten“ (Teepilz, 1957, 582 resp. 583; analog E[rich] Soos, Ref. v. Steiger u. Steinegger, Teepilz, Scientia Pharmaceutica 25, 1957, 129). An diesem Ergebnis hatte sich auch bei Beginn der 1990er Kombucha-Mode kaum etwas geändert (Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis, vollst. 4. Neuausgabe, hg. v. P[aul] H[einz] List und L[udwig] Hörhammer, Bd. 4, Berlin-W, Heidelberg und New York 1973, 254-256; DGE: Ist Kombucha ein Gesundheitselixier?, DGE-Info 2000, 165-166). Aus historischer Perspektive stand neben anderen Naturstoffen, wie etwa Cannabis. Deren komplexe Wirkstoffmechanismen waren auf die Kausalverbindung Stoff und Wirkung nicht einfach herunterzubrechen. Dadurch wurde die Analyse von Heilwirkungen und die Entwicklung von Pharmazeutika wesentlich erschwert.

Wachsende Kommerzialisierung und viel Schmäh: Die Kombucha-Mode in Österreich 1927 bis 1929

Die böhmische Kombucha-Mode schwappte 1927 über die Grenzen. Eine einfache Notiz über ein „japanisches Volksheilmittel“ des Budapester Naturheilkundearztes Lederer verwies auf die „erstaunliche Wirkung“ des Teegetränks, das „von medizinischen Fachleuten als eine ernste und beachtenswerte Heilmethode angesehen“ wurde (Ein Pilz gegen Arteriosklerose, Tagblatt 1927, Nr. 168 v. 23. Juli, 6; auch in Salzburger Volksblatt 1927, Nr. 178 v. 5. August, 6; Remscheider General-Anzeiger 1927, Nr. 165 v. 18. Juli, 7; Schwäbischer Merkur 1927, Nr. 323 v. 15. Juli, 1). Die meisten österreichischen und deutschen Zeitung druckten sie unkritisch ab, nur einmal wurde „Vorbehalt“ angemeldet (Münchner Neueste Nachrichten 1927, Nr. 188 v. 13. Juli, 2). Kombucha-Tee wurde auf der Wiener Herbstmesse präsentiert, das Interesse war groß, schon Ende 1927 hieß es in Wien, dass der Wunderpilz sich „in der Bevölkerung eines großen Vertrauens“ erfreue und „gegen alle möglichen Krankheiten benützt“ wird (Kombucha, Tagblatt 1927, Nr. 277 v. 2. Dezember, 6). Wieder waren die Laien schneller als die Experten.

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Unbehagen an Wundermitteln (Landfrau 1930, Nr. 50, 2)

Sie ließen der Begeisterung recht freien Lauf: Der Teepilz sei ein „Naturerzeugnis“ mit möglichen gesundheitsfördernden Eigenschaften, schädliche Wirkungen kaum zu erwarten (Dinslage und Ludorff, 1927, 458). Das wurde öffentlich als Bestätigung des Heilwertes verstanden. Nur selten wurden diese Hoffnungen öffentlich als „ein frommer Glaube“ (Neues Wiener Journal 1928, Nr. 12997 v. 27. Januar, 6; ähnlich Teepilz, Deutschösterreichische Tages-Zeitung 1927, Nr. 298 v. 25. Dezember, 19) benannt. Einzig die Antialkoholbewegung ging zunehmend auf Distanz, da das Gärgetränk knapp ein Prozent Alkohol enthielt, mehr also als die Selbstverpflichtungen etwa der Guttempler (Teepilz und Enthaltsamkeitsverpflichtung, Neuland 39, 1930, Sp. 196-197, hier 196) erlaubten. Die Naturheilkunde begrüßte die Neuerung, förderte sie, sah sie als Teil „der Ur-Apotheke Gottes“ in der noch „viele, zum Großteil ungehobene Heilschätze zu finden“ seien (Ekkehard, 1928).

Die Begeisterung schlug etwaige Bedenken in den Wind. Die Pilznutzer pochten auf das Recht der eigenen Beurteilung des Neuen, „beobachten an sich selbst eine deutliche Hebung des Allgemeinbefindens, fühlen sich widerstandfähiger, heiterer“ (Kombucha, Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 104, 20). Warum also auf wissenschaftliche Bestätigungen warten? Diese Spannung zwischen unterschiedlichen Wissensformen wurde durch Begriffe wie „Volksheilmittel“ oder „Volksmittel“ gemildert („Japanischer Schwamm.“, Frauen-Briefe 1928, Folge 36, 10). In den 1920er Jahren spiegelte sich in der „Volksmedizin“ eine weit verbreitete Skepsis gegenüber einer dominant pharmazeutisch ausgerichteten Medizin, gegenüber Verschreibungsärzten. Selbstmedikamentierung war noch weit verbreitet. Alternative Heilverfahren, etwa die Biochemie oder auch die Homöopathie besaßen eine breite Anhängerschar: Der 1926 gegründete „Reichsausschuß der gemeinnützigen Verbände für Lebens- und Heilreform“ hatte etwa 5 Millionen (korporative) Mitglieder (125 Jahre Deutscher Naturheilbund. Digitalausgabe, o.O. 2016, 17), Rohkost und Vitamine standen hoch im Kurs, ebenso Sport und Gymnastik zur Abwehr „zivilisatorischer“ Bedrohungen. Noch aber waren diese Alternativen davon überzeugt, dass sich die guten Volksmittel – und dazu gehörte auch der Teepilz – mit der Zeit in den Kanon der wissenschaftlichen Medizin einreihen würden.

Vor diesem Hintergrund hatte die Kombucha-Mode in Österreich (und dann auch in Deutschland) deutlich andere Akzente. Während in Böhmen die soziale Dimension einer Bürgerbewegung und die Interaktion zwischen medialer Öffentlichkeit, wissenschaftlicher Forschung und dann auch einseitig präsentierten Marktprodukten dominierten, wurde dies alles in Österreich wesentlich stärker ironisiert, als Ausdruck einer aus dem Tritt geratenen, gleichwohl aber unverzichtbaren Moderne gedeutet. In Wiener Gazetten dominierte vielfach Schmäh: „Kombucha ist sein Name. Er ist ein Glückpilz, dieser Wunderpilz, von Damenkreisen viel begehrt, gerne weitergegeben und als das ‚derzeit Beste‘ allgemein empfohlen. […] Die Damen wollen ewig jung sein, sie trinken den Wunderpilztee mit Begeisterung, ‚vielleicht ist doch etwas daran.‘ Zudem ist er ein Mittel, das ausgezeichnet schmeckt und das Genußgift Alkohol unter der Maske eines Heilmittels – und wenn schon alles versagt, mit der Ausrede auf das Abführmittel – in die Kehle einschleichen läßt“ (Juvenal, Der Damen Wunderpilz, Der Tag 1928, Nr. 1824 v. 1. Januar, 24). Es blieb 1928 nicht bei den auch in Prag am Anfang stehenden Damen, also den Repräsentantinnen des Juste Milieu. Doch es verging in Österreich ebenfalls Zeit, bis die Mode auch Angestellte und Arbeiter erreichte. Im Hochsommer 1928 aber hieße es: „Wien ist überschwemmt – um nicht zu sagen ‚überschwämmt‘ von einem Gewächs. Die einen sagen, es käme aus Indien, die andern aus Japan, und alle heißen es einen Schwamm und fragen den Volksarzt, ob es wahr sei, daß man gesund bleibe oder seine Krankheiten kurieren könne, wenn man einen Auszug trinke, der aus diesem Wunderschwamm hergestellt sei. Der Volksarzt, sonst immer so gerne bereit, allen Fragen Antwort zu geben, vor den Schwammerlfragen wird er schon ganz schwach“ (Schwamm drüber, Das Kleine Blatt 1928, Nr. 224 v. 13. August, 8). Auch in Wien war die Kombucha-Mode Teil des sozialen Miteinanders: „Holte einst der Jüngling seiner Dame den Handschuh aus der Löwenarena, so hat er heute ein zwar ungefährlicheres, aber weitaus verläßlicheres Mittel, die Gunst einer Schönen zu erringen. Nicht Schätze, nicht Geldeswert, nein, er verspricht ihr ein Stückchen Kombucha. Kombucha, das Wunderding, mit dem man die Sympathien aller erringt, wenn man ihnen ein Stückchen davon überläßt. Plötzlich, unangesagt wie die Seuche oder eine Modeerneuerung, war der Kombucharummel da. Jede Hausfrau hält es für ihre Pflicht, Kombucha anzusetzen, in jedem Haushalt über ganz Europa ist Kombucha zu finden. […] Es ist der Stein der Weisen, ein elixirum longae vitae, es reinigt das Blut, vertreibt Seuchen, Schlacken und Krankheiten; die einen trinken den Wundersaft, weil er so ein glänzendes Mittel gegen die Arterienverkalkung und gegen den hohen Blutdruck sein soll; die anderen, alternde Damen, schwören auf ihn, er könne die lästigen Wallungen im Wechsel verscheuchen, die anderen wieder züchten den Teeschwamm, weil er eben ‚gesund‘ ist, viele, weil er – ein alkoholfreier Champagner – gut mundet und zart prickelnd moussiert, der Rest endlich macht den Kombucharummel mit, weil es die anderen auch tun und eben, weil sie ein Stückchen zum Ansetzen geschenkt erhalten haben“ (Die Kombucha-Mode, Neues Wiener Journal 1928, Nr. 12521 v. 30. September, 18).

Kombucha wurde damals durchaus historisiert, wurde als Nachgänger der früheren Mode-Allheilmittel Joghurt, Knoblauch und zuletzt Lukutate präsentiert. Entscheidend aber war das quirlige Ergebnis: Der „japanische Schwamm ist Tagesgespräch. Beim Rummy und bei ähnlichen Anlässen, die die Menschen zusammenführen, wird Kombucha weitergegeben. Bei der weiblichen Bevölkerung erfreut sich der japanische Schwamm unbegrenzten Zutrauens und wird als Allheilmittel bei allen möglichen Zuständen bemützt. […] In Damenkreisen – allerdings naschen auch schon Männer von diesem Trankerl – wird der japanische Schwamm als ‚Verjüngungsmittel‘, namentlich als Mittel gegen die gefürchtete Arterienverkalkung gepriesen“ (Juvenal, Das jüngste Allheilmittel, Der Tag 1928, Nr. 2088 v. 23. September, 21-22, hier 22). Nüchternere Zeitgenossen sahen eine Gesellschaft im irrealen Rausch: „Der Schwammglaube drang in zahllose Hirne, um sich unerschütterlich darin festzusetzen. […] Aber der Ruhm des Gewächses ist zu groß geworden. Er ist in Wien eine Autorität geworden, der Schwamm, die jeder Skepsis und Kritik standzuhalten vermag“ (Paul Stein, Des Japanischen Schwammes Glück und Ende, Arbeiter-Zeitung 1928, Nr. 286 v. 14. Oktober, 7). Ein Jahr nach dem Aufkommen ergab man sich augenzwinkernd der Mode: „‚Hab’n S‘ a schon an Schwamm?‘ Ueberall kann man jetzt diese Frage vernehmen: Auf der Straßenbahn, beim Greißler, im Versatzamt, beim Heurigen und auch am Zentralfriedhof. […] Und je weniger die Menschen über den Schwamm wissen, desto nachdrücklicher ist die Verehrung, die sie ihm zollen. Der seuchenartigen Verbreitung des Wunderschwamms liegt eine ‚Sympathie‘ zugrunde: Soll er wirken, so muß er verschenkt werden.“ Grotesk-johlend stimmte man ein in die Parole der Zeit: „‚Es gibt ka Krankheit, dö er nöt heilt‘“ (beide J. Vinzenz, Der Schwamm, Kleine Volks-Zeitung 1928, Nr. 357 v. 27. Dezember, 8-9).

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Grundlagen für die Kombuchabereitung (Ullsteins Blatt der Hausfrau 44, 1928/29, 812)

Im Frühjahr war ganz Österreich angefixt, zumindest aber die städtische Bevölkerung: „Cambucho ist eine Modekrankheit, eine Volksseuche der Autosuggestion, ein Lebenselixir, Cambucho ist eben ‚der japanische Schwamm‘, den heute kaum eine Hausfrau in Wien, Graz oder Linz nicht kennt, Cambucho ist es, den sie einer armen, nicht unwissenden Freundin mit beschwörenden Gebärden dringendst empfiehlt, für den sie sogleich zwei oder drei verschiedene Arten der Zubereitung angeben kann. […] Die Wissenschaft steht diesem Modegesundheitspilz noch fassungslos, erfahrungslos gegenüber. […] Aber wer glaubt heute noch der Wissenschaft?“ Gewiss, die praktische Arbeit mit dem glitschigen, sich stets wandelnden Pilz war nicht jedermanns Sache, bedurfte der Erfahrung. Doch Hoffnung bestimmte dank des Wunderpilzes den Alltag vieler: „Er hilft gegen einfach alles! Gegen alles! So man gläubig ist! Denn der Glaube ist ja bekanntlich imstande, Berge zu versetzen, warum soll er also keine Linderung der Schmerzen bringen können?“ (Zitate n. Trinken Sie Cambucho?, Tages-Post 1929, Nr. 87 v. 13. April, 1). Gab es schönere Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben? Auch im Radio war Kombucha ein Thema (Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 250 v. 11. September, 5; Radio Wien 7, 1931, Nr. 48, 53), selbst in Küchenzetteln der Zeit fand er Eingang, ebenso in Rezepte (Vobachs Frauenzeitung 32, 1929, H. 37, 2; ebd., H. 43, 31; ebd., H. 46, 30; ebd. 33, 1930, H. 1, 28; B. Gladbacher Volkszeitung 1929, Nr. 127 v. 3. Juni, 9; Altenaer Kreisblatt 1929, Nr. 128 v. 4. Juni, Frauenzeitung, Nr. 19, 4). So half man sich selbst, war zugleich aber auch Teil eines imaginierten globalen Lernprozesses.

Japan als imaginierte Heimat des Kombuchas

Der Erfolg der Kombucha war begleitet von Vorstellungen einer Welt der Übernahmen und des Ausgleichs nach dem (vorläufigen) Ende der Großmachtpolitik der beiden mitteleuropäischen Reiche. Ohne den Bezug auf Asien, insbesondere auf die aufsteigende, doch unbekannte Macht Japan wäre die Mode deutlich schwächer ausgeprägt gewesen. Schon in Böhmen wurden Versatzstücke von Geisha und Samurai, von Drill und Selbstverleugnung in ein Fremdbild einer gesunden, aufstrebenden Nation verdichtet. Das galt auch in Österreich, während im Deutschen Reich der von Japan okkupierte deutsche Kolonialbesitz in China Teil der Wendung gegen Versailles war. Die imaginierte Heimat des Kombuchas abstrahierte von dem mit dem Übergang zur Showa-Zeit 1926 einsetzenden aggressiven Imperialismus Japans, war eher gespeist von Vorstellungen einer einfachen, duld- und arbeitsamen Bevölkerung, die sich auch durch Katastrophen wie dem Erdbeben und Stadtbrand in Tokio 1923 nicht aus der Balance bringen ließ.

Kitsch und Agrarromantizismus bestimmten das Bild der Kombucha: „Zu uns kam er erst vor einigen Jahren aus Japan. Dort, auf zwergenniedlichen Bambustischen, neben knospenden Pflaumenzweigen oder einer großen Kirschblüte an sonnigem Zimmerplatz freut er sich seines stummen Pilzlebens.“ Ihm galt es auch in Mitteleuropa einen Platz zu gewähren, „wo ihn die Finger der Sonne durch die gläsernen Wände seiner engen Heimstätte kosen können, [denn, US] dann söhnt er sich aus mit dem neuen Aufenthalt. Dann träumt er von seiner Urheimat in fernen blaugrünen klaren Bächen Japans, wo er immer am Wurzelfuß friedlicher, blühender und wohlriechender Büsche gedeiht und manchmal zu riesigen Exemplaren sich auswächst, in exotischer märchenschöner Üppigkeit“ (beide Kaulitz-Niedeck, 1927). Faktenwidrig wurde das Narrativ des in Japan seit jeher benutzten Volksheilmittels verbreitet (Salzburger Volksblatt 1927, Nr. 294 v. 24. Dezember, 13), faktenwidrig verband man es mit niedrigen Arterioskleroseraten, mit Erfolgen im Kampf gegen Alterskrankheiten, Gicht, Rheuma und vielem mehr (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1927, Nr. 159 v. 7. November, 3; Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 236 v. 11. Oktober, 11). Japanischer Gleichmut? Ergebnis des Teepilzes! Innere Hygiene! Ergebnis des Teepilzes! Kombucha-Mode? Seit langem Alltag in Japan, in Ostasien (Etwas über den Teepilz, Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 5).

Gängige Versatzstücke eines exotisierten Japans ergänzten diese Phantasmen: Deutsche Missionare hätten den „japanischen Teepilz“ mit nach Europa gebracht (Der japanische Teepilz, Illustrierte Nützliche Blätter 44, 1928, 177). Der wachsende wissenschaftliche Austausch habe dem „immer noch geheimnisvollen Asien Heilmittel“ abgerungen, „die auch für uns Europäer eine ganz hervorragende Wirkung zeigen“ (Der Teepilz ein Volksheilmittel, Die Neue Zeitung 1929, Nr. 269 v. 28. Juli, Unterhaltungsbeil., 4). Auch der „vulkanische Boden“ Japans durfte nicht fehlen, denn dort habe man den Schwamm „bereits vor einigen hundert Jahren“ gefunden (Sozialdemokrat 1928, Nr. 25 v. 29. Januar, 11). Auch die „berühmte graziöse Japanerin schiebt ihre schlanke Linie dem Gebrauch von Kombucha zu“ (Der japanische Teepilz, Lippspringer Anzeiger 1931, Nr. 79/80 v. 5. April, 8).

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Exotisierung Asiens in der zeitgenössischen Teewerbung (Der Welt-Spiegel 1924, Nr. 3 v. 20. Januar, 4 (l.); Der Haushalt 1, 1929, Nr. 4, 14; Vorwärts 1926, Nr. 10 v. 7. Januar, 4 (r.))

Festzuhalten ist nicht nur, dass derartige Lügen ein unverzichtbarer Bestandteil der Kombucha-Mode waren, dass damit insbesondere Kombucha-Präparate beworben wurden. Festzuhalten ist auch, dass derartige Versatzstücke bis heute wirken, bis heute bespielt werden. Die Kombucha-Mode markiert nicht nur den öffentlichen Raum als einen Möglichkeitsraum für Wunder, sondern auch als einen Raum haltloser, doch gerne geglaubter Lügen. In Österreich wurde dieses mit selbstironischem Schmäh, mit Augenzwinkern beantwortet – nicht aber mit dem Realismus einer ideal gedachten offenen Gesellschaft.

Markenartikel auch in Österreich: Ein Eindruck

Die Kombucha-Mode in Österreich wurde seit 1928 von zahlreichen Marktangeboten mit geprägt. Kombucha-Präparate waren „in jeder Drogerie zu haben“, in jeder Apotheke erhältlich (Die Frau und Mutter 17, 1928, H. 11, 34; Kleine Volks-Zeitung 1928, Nr. 196 v. 16. Juli, 7). „Eine geschäftstüchtige Industrie hat sich dieses Artikels bereits bemächtigt“ (Der Teepilz als Handverkaufsartikel der Apotheke, Pharmazeutische Post 62, 1929, 175-177, hier 175). Von Böhmen übernahm man den Begriff „Kombucha“, der dann zunehmend variiert, 1928 neben den Begriff des (Tee-)Schwamms trat, um 1929 hinter dem allgemeineren Begriff des „Teepilzes“ zurückzufallen (Gustav A. Kellers, Kombucha-Honig (Teepilz-Honig), Illustrierte Nützliche Blätter 45, 1929, 36-37, 56-57).

Angesichts der Erfahrungen in Böhmen achteten die österreichischen Zulassungsinstanzen auf eine zurückhaltendere Werbung. Gleichwohl war weiter die Rede von der „wunderbaren Heilwirkung“ des Pilzes. Die Marke „Kambekka“ war Teil der Grundversorgung der Selbstbereiter mit einer Reinkultur – und demnach kaum bedeutend. Doch das vom Wiener Milchwissenschaftler und Bakteriologen Willibald Winkler (1854-1941) hergestellte Produkt verkörperte den damaligen Wirtschaftsnationalismus – selbst bei vermeintlich japanischen Produkten. Winklers Standardprodukt war offenkundig nicht sehr erfolgreich, doch das war seiner Ansicht nach Folge der noch dominierenden ausländischen – tschechoslowakischen – Konkurrenz: „Es ist nun schade, daß noch immer ausländische Ware in Oesterreich verkauft wird, obwohl man in Oesterreich selbst Institute hat, die wissenschaftlich und wirtschaftlich unter Kontrolle hervorragender Fachmänner der Gärungsindustrie dieselbe Ware erzeugen. Leider können diese Institute infolge Geldmangels mit der ausländischen Industrie nicht konkurrieren, die ja ungeheure Geldmittel aufbringen kann“ (Der japanische Teeschwamm, Illustrierte Kronen-Zeitung 1929, Nr. 10588 v. 15. Juli, 3). Solche Autarkieträume spiegelten nicht nur die wirtschaftlichen Probleme der Zeit, sondern vor allem eine wachsende Bedeutung von offensiv beworbenen Markenprodukten.

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Reine Pilze aus dem Laboratorium (Neuigkeits-Welt-Blatt 1928, Nr. 242 v. 18. Oktober, 15)

Dennoch war der österreichische Kombucha-Markt noch nicht von Markenprodukten dominiert. Pilzableger dürften die Mode befeuert haben, ebenso nicht nähere benannte Pilzkulturen aus Drogerien und Apotheke. Gleichwohl begannen erst Anbieter sich allein auf das Kombucha-Getränk zu konzentrieren. „Chambucho“ war ein Zwischenprodukt, ein „japanischer Teeschwammextrakt“, den man in zuckerhaltige Nährflüssigkeiten schütten konnte, um so eine Gärung in Gang zu setzen, an deren Ende „ein schwach alkoholhältiges (zirka 1%) moussierendes Getränk entsteht, das nach einigen Angaben auch vitaminähnliche Gärungsprodukte enthalten soll“ (Chambucho, Drogisten-Zeitung 44, 1929, 402). Damit war Selbstbereitung ohne Pilz möglich. Das seit Ende 1927 angebotene Chambucho bot neue Vermarktungs- und Wertschöpfungsmöglichkeiten (Freie Stimmen 1927, Nr. 254 v. 6. November, 11). Es erinnerte an die vielfältige Zahl gelingsicherer Spirituosenessenzen, die suggerierten, mit einem Zwischenprodukt, Weingeist und einigen Flaschen echten Likörs, echten Rum erstellen zu können. Das Heim war nicht mehr länger Probierstube und Experimentierort, sondern mutierte zum Endpunkt einer vom Produzenten großenteils vorgegebenen Handlungsroutine, an deren Ende ein Kombucha-Getränk stehen würde. Damit trat zugleich die Nährlösung in den Blickpunkt der Anbieter. Sie war anfangs in das Belieben der Selbstbereiter gestellt, mochten sich auch aromatische Teesorten am besten eignen. Das Zwischenprodukt „Chambucho“ erforderten nun solche Zutaten (Der indische oder japanische Teepilz und seine Wirkung, Neue Freie Presse 1929, Nr. 23380 v. 16. Oktober, 6). Damit intensivierte sich auch der Wettbewerb der Ansatztees, der Ansatzmassen.

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Chambucho, ein Kombucha-Getränk (Grazer Tagblatt 1929, Nr. 577 v. 15. Dezember, 19 (l.); Österreichs Frauenzeitung 1930, Nr. 28, 8)

Abgeklärter, kürzer, kommerzieller: Die Kombucha-Mode im Deutschen Reich 1928 bis 1930

Im Deutschen Reich war der Teepilz schon vor dem Ersten Weltkrieg bekannt. Seine Bedeutung nahm nach Hyperinflation langsam zu, Rückfragen aus verschiedenen Regionen lassen eine frühe Verbreitung in München, im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und in Westpreußen vermuten (Ars Medici 15, 1925, 194; Apotheker-Zeitung 41, 1926, 741; H. Löwenheim, Ueber den indischen Teepilz, ebd. 42, 1927, 148-149; Dinslage und Ludorff, 1927, 459; Lakowitz, 1928, 299). Trendsetter waren auch hier Anhänger der Naturheilkunde (Sprinkmeyer, Ueber den indischen Teepilz, Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1927, Nr. 168 v. 21. Juli, 4).

Breite Belege für eine Kombucha-Mode im Deutschen Reich finden sich jedoch erst im der zweiten Hälfte 1928: „Seit einigen Monaten ist das Interesse für das Gewächs besonders groß“ hieß es beispielsweise aus Hamburg ([C.] Hahmann, Der indische Teepilz, Hamburger Anzeiger 1928, Nr. 219 v. 18. September, 6). Allgemeiner gehaltene Beiträge unterstützen diese Periodisierung (P. Tollmann, Kombucha oder der japanische Teepilz und seine Bedeutung als Heilmittel, Die Volksernährung 4, 1929, 90-91, hier 90). Der Wunderpilz verbreitete sich nicht überall, Berlin folgte der Mode erst 1929 und trottete bestenfalls dem allgemeinen Trend hinterher (A[ndreas] K[nauth], Teekwas, das moderne vergorene Teegetränk, Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 18 v. 11. Januar, 9). All das steht aber unter dem generellen Vorbehalt dieses Aufsatzes, dass nämlich Selbstbereitung vor der Ausbildung eines dann bemerkenswert breiten Marktangebotes weit verbreitet war, ja dominierte ([Julius] Kochs, Ein neuartiges Essiggetränk, Hildener Rundschau 1929, Nr. 86 v. 13. April, 6). Die Quellen lassen einen jedoch im Stich. Auch im Deutschen Reich sprach man von einem 1928 einsetzenden „Kombucha-Rummel“ – aber zugleich, dass viele „sich dieses neueste Volksheilmittel im Hause“ herstellen (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929).

Die Kombucha-Mode des Auslandes wurden aufgegriffen und als Werbeargument verwandt (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 64 v. 5. März, 4). Gleichwohl verlief sie ruhiger, wurden jedenfalls weniger in den Fachzeitschriften, in Zeitschriften und Zeitungen kommentiert. Nüchternere Berichte dominierten, kurze Hinweise. Doch wie in Österreich dienten zahlreiche Tageszeitungen auch dazu, akute Fragen über die Pflege des Pilzes, die Zubereitung des Teegetränks und zu dessen Zuträglichkeit zu beantworten. Die Reaktionen und Kommentare waren insgesamt weniger enthusiastisch, deutlich skeptischer angesichts der „Uebertreibungssucht“ der Kombucha-Werbung. Sie sei so unglaubwürdig und übertrieben, „daß dadurch auch seinen wirklichen, guten Eigenschaften gegenüber Mißtrauen entstehen muß.“ Das galt nicht allein und nicht primär der kommerziellen Reklame, „denn die meisten Teepilze dürften verschenkt werden“ (sämtlich Der saure Pilz, Lengericher Zeitung 1929, Nr. 66 v. 19. März, 7).

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Der Teepilz als modisches Allheilmittel (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 21 v. 18. August, 14)

Trotz dieser Unterschiede folgte die deutsche Kombucha-Mode den Grundmustern Böhmens und Österreichs: „Eines Tages war er da, der Teepilz, der alle Krankheiten kurieren soll. Mit beispiellosem Siegeslauf eroberte er ganz Europa und auch in Deutschland fand er zahllose begeisterte Anhänger. Ja, man kann geradezu von einer Teepilzpsychose sprechen, die noch keineswegs abgeflaut ist. Noch immer berichtet man sich von wunderbaren Heilungen, die der Teepilz vollbrachte und selbst in die Reihen skeptischer Wissenschaftler drang sein Ruf (Walter Finkler, Der Teepilz – ein neues Volksheilmittel, Hamburgischer Correspondent 1930, Nr. 709 v. 16. Februar, 5). Die Reklameschreie setzten zugleich selbstbestimmtes Austesten in Gang: „Bevor dieser indische Teepilz Japos noch weiten Kreisen bekannt gemacht worden ist, haben wir auf eigene Faust Versuche mit ‚Japos‘ angestellt“ (Ja-posiere Dich gesund, Schwerter Zeitung 1929, Nr. 22 v. 26. Januar, 7).

Die beträchtliche Alltagsbedeutung des Teepilzes im Deutschen Reich manifestierte sich auch in vielfach humoristisch und im Dialekt gehaltenen Kolumnen. Hier ein Beispiel aus Friesland: „Hier hett körts ‘n gefahrde Mann ‘n Vördrag over ‚indische Teepilz‘ holln, de ok Wolga-Qualle un russische Blume nömt wordt. Van dat ‚Gewächs‘ makt man ‘n ‚säuerliche Flüssigkeit‘, de man drinkt un ditt Husmiddel sall tegen allerhand Leiden, so as Gicht, Stoffwechselstörungen un anner Krankheiten helpen. De Pilz gifft alle veertin Dage ‘n Offlegger un nu kannst di denken, wat de ‚leidende Menschheit‘ Jagd up ‘n Teepilz makt“ (Trintje van Ollersum, Breef ut de Grootstadt, Jeversches Wochenblatt 1928, Nr. 238 v. 9. Oktober, 6). Und analog tönte es aus Bayern: „Aber g’lobt wird er sehr, der Teepilz. Probiern Sie ‘s halt a’mal damit, Frau Schlibinger. De fremd’n Völker, de ham schon vui‘ so Mittel erfund’n, wo ‘s bei uns net gibt. – Mei‘ Schwager, der war selbige Zeit beim China-Feldzug, vor s‘ geheiratet ham. Der sagt, in bezug auf G’sundheit fehlt si‘ nix bei de Chinesn‘, kloa aber zaach! Des kann scho‘ sei, daß da der Pilz wos ausmacht. De ess’n ‘an ja mittags zur Supp’n, wia mir an Maggi. De fress’n ja überhaupts alles mögliche nei‘, sagt mei Schwager, Eidachsln und bachane Vogelnester und Hund‘ – pfui Deifl übera’nand…! Probier’n S‘ amal den Pilz, Frau Schleibinger. Wern S‘ sehng: der tuat Eahna guat!“ (Der Teepilz, Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 17 v. 18. Januar, General-Anzeiger, 1)

Kombucha-Mode unter kommerziellen Vorzeichen: Markenprodukte im Deutschen Reich

Das Deutsche Reich, gemeinsam mit den USA damals führender Anbieter von Pharmazeutika, entwickelte deutlich mehr Kombucha-Präparate als die böhmische und österreichische Konkurrenz, vermarktete diese jedoch zunehmend unter dem Begriff „Teepilz“, der auch die öffentliche Debatte dominierte. Die Präparate waren aber keineswegs neu, sondern man griff die seit 1928 bestehende Trias von Reinzuchtpilzen, Kumbucha-Extrakten und -Getränke auf. Neu war im Deutschen Reich allerdings ein Koppelangebot, entstand doch für die Pilzgärung „eine neue Industrie […], die eigens hierzu geeignete Gläser fabrikmäßig herstellt“ (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929; vgl. auch Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 191 v. 16. Juli, 12). Angesichts der hohen Leistungsfähigkeit der tschechischen Glasindustrie dürfte es entsprechende Angebote jedoch auch im benachbarten Ausland gegeben haben.

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Koppeleffekte der Mode: Teepilzgläser im Warenhaus Hermann Tietz (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 181 v. 6. Juli, 16)

Der wichtigste Teepilz-Markenartikel im Deutschen Reich war der vom Münchner Sagitta-Werk GmbH hergestellte „Mo-Gû“. Dabei handelte es sich an sich um eine Dachmarke für Pilz, Extrakt und Getränk. Die Sagitta-Werk GmbH war im Oktober 1920 gegründet worden und konzentrierte sich auf die Produktion und den Vertrieb einfacher Drogerieartikel (Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 261 v. 16. November, 16). Das galt für Sagitta-Hustenbonbons oder -Balsam (Münchner Neueste Nachrichten 1922, Nr. 492 v. 20. Dezember, 4; AZ am Abend 1925, Nr. 310 v. 25. November, 3; Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 92 v. 4. April, 6), ebenso für Haarwuchsmitteln oder Lebertran. Das Sagitta-Werk wurde anfangs von Mitgliedern der Familie Fasching geleitet, die auch Inhaber der Münchner Schützen-Apotheke waren (Münchner Neueste Nachrichten 1925, Nr. 343 v. 12. Dezember, 3; Deutscher Reichsanzeiger 1926, Nr. 91 v. 20. April, 7). Der zuvor im Haarhandel tätige Münchner Kaufmann Max Linnbrunner war seit Oktober 1928 Geschäftsführer des Sagitta-Werks und treibende Kraft bei der Teepilzvermarktung (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 195 v. 24. August, 11; ebd. 1928, Nr. 244 v. 18. Oktober, 9).

19_Muenchner Neueste Nachrichten_1928_10_03_Nr270_p14_Salzburger Chronik_1929_09_21_Nr218_p10_Kombucha_Teepilz_Mo-Gu_Getraenke_Heilmittel

Grenzüberschreitender Verkauf des Teepilzes Mo-Gû (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 270 v. 3. Oktober, 14 (l.); Salzburger Chronik 1929, Nr. 218 v. 21. September, 10)

War die Vermarkung der Kombucha-Präparate zuvor eher anonym, eine von Gebrauchsgütern, Marken und Firmen, so präsentierte sich Linnbrunner als aktiver Propagandist der Mo-Gû-Waren. In zahllosen, meist ein wenig variierten PR-Artikeln, stellte er einerseits die Heilwirkungen, anderseits die Bequemlichkeit des „japanischen Teepilzes“ vor: „Nach den vielseitigsten Erfahrungen wird dieser Extrakt als wirksames Heilmittel zur milden, jedoch sicheren Darmregulierung, gegen Verdauungsbeschwerden, bei Arterienverkalkung (Gefäßerkrankungen), gichtischen und rheumatischen Erkrankungen sowie verschiedenen Stoffwechselstörungen mit zweifellos günstigem Erfolg angewandt“ (Max Linnbrunner, Vom Teepilz, Freie Stimmen 1930, Nr. 150 v. 3. Juli, 3). Eine kostenlos verteilte Broschüre pries ebenso vorsichtig wie bestimmt das wissenschaftlich nicht sicher belegte Gesundheitsprofil. Zunehmend wichtiger, weil neuer als die durch die Mode ohnehin bekannten Anwendungsgebiete, wurde die einfache und bequeme Handhabung. Selbstbereiter konnten einen hochwertig-reinen Pilz erstehen, dann ihr eigenes Ding machen. Das fertige Getränk war teuer, sollte jedoch die gleichen Wirkungen haben wie ein über mehrere Tage zuhause vergorenes Getränk. Hinzu trat ein Konzentrat, der Mo-Gû-Extrakt, der alle Wirkstoffe enthielt und wie Medizin zu nehmen war. Linnbrunner verwies zudem regelmäßig auf die vielfältig variablen Teeansätze: Neben schwarzem Tee oder Mate empfahl er heimische Kräuter, Erdbeer- und Brombeerblätter, Lindenblütentee, aber auch fertig käufliche Mischungen „von Huflattich, Lindenblüten, Scharfgarbe, Pfefferminze und Waldmeister“ (Max Linnbrunner, Vom Teepilz, Fürstenfelder Zeitung 1930, Nr. 80 v. 6. April, 6). Das Sagitta-Werk bzw. die Münchner Schützenapotheke hatten das käufliche Angebot erweitert, deckten zugleich die gesamte Wertschöpfungskette ab (Pharmazeutische Post 63, 1930, 64). Ab Ende 1930 bot man zudem Mo-Gû-Extrakt-Tabletten an, „die gleichfalls alle wirksamen Bestanteile des Teepilzes enthalten wie Encyme, Hormone, Vitamine und vor allem auch Gluconsäure“ (Max Linnbrunner, Was sagt die Wissenschaft über die Wirkung des Teepilz-Getränkes?, Fürstenfeldbrucker Zeitung 1931, Nr. 35 v. 12. Februar, 6). Innerhalb weniger Jahre war aus dem häuslich zu pflegenden Pilz ein Pharmazeutikum geworden: Einnehmen und schlucken reichte, die vermeintliche Fron des eigenen Tuns nahm man dem Käufer ab.

20_Illustrierter Sonntag_1929_07_07_Nr14_p04_Jugend_35_1930_p318_Hamburger Anzeiger_1929_08_23_Nr196_p5_Teepilz_Mo-Gu_Heilmittel_Tee-Extrakt_Sagitta-Werk

Reichsweite Präsenz: Werbung für Mo-Gû (Illustrierter Sonntag 1929, Nr. 14, v. 7. Juli, 4 (l.); Jugend 35, 1930, 318; Hamburger Anzeiger 1929, Nr. 196 v. 23. August, 5)

Mo-Gû wurde reichsweit über Apotheken, Drogerien und Reformhäuser vertrieben. Es wurde als Vorbeugemittel beworben, so konnte man die Einsatzfelder benennen, ohne kausale Wirkungen zu behaupten. Die Anzeigen zielten zumeist auf das allgemeine Publikum, einzelne konzentrierten sich jedoch auf spezielle Krankheiten, etwa die Gichtprävention (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 600 v. 20. Dezember, 7). Bei der Vermarktung orientierte sich das Sagitta-Werk an gängigen Drogenartikeln, so dass man durchaus Kostproben verteilte, um den Absatz anzukurbeln.

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Kostenlose Kostproben zur Ankurbelung des Absatzes (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 302 v. 6. November, 16)

Neben Dachmarken wie Mo-Gû etablierten sich im Deutschen Reich auch zahlreiche spezialisierte Angebote. Die Münchener Firma Dr. König konzentrierte sich etwa auf eine „Japanische Trinkkur“ also nach Rezept einzunehmende Convenienceprodukte (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 64 v. 5. März, 4). Da die Herstellung der Teepilz-Präparate recht einfach war, gab es rasch weitere Adaptionen. Die Hefezuchtanstalt Kitzingen liefert beispielsweise den echten indisch-japanischen Teepilz Fungojapon in Reinzucht – nannte ihn gar ein gutes Mittel gegen „Melancholie“ (Etwas über den Teepilz, Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 5). Hinzu kam ein gleichnamiger Tee-Extrakt für „an Arterienverkalkung, Furunkeln, hohem Blutdruck, Gicht u. anderen Alterserscheinung. Leidende“ (Godesberger Volkszeitung 1931, Nr. 1 v. 2. Januar, 10).

22_Muenchner Neueste Nachrichten_1928_12_30_Nr355_p23_Ebd_02_10_p15_Kombucha_Teepilz_Fungojapon_Getraenke_Ripo_Chermose_Kitzingen

Spezialisierte Angebote: Fungojapon und Ripo Chermose (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 355 v. 30. Dezember, 23 (l.); ebd., Nr. 40 v. 10. Februar, 15)

Andere Anbieter emanzipierten ihr Angebot von dem geregelten Verkauf über Apotheken, indem sie allein Fertigprodukte anboten. So etwa die in München produzierte ‚Ripo Chermose“. Sie wurde als Heilmittel, also als trinkfertiger Extrakt, aber auch als reines Tischgetränk angeboten (AZ am Abend 1928, Nr. 267 v. 16. November, 5). Kurz vor Weihnachten 1928 eingeführt, wurde es als „gesundheitsförderndes“ Getränk in einer mostartigen und einer filtrierten, glanzhellen Variante offeriert (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 343 v. 16. Dezember, 10). In dieser Form konnte es auch im Kolonialwarenhandel abgesetzt werden, fand seinen Weg auch in die Lebensmittelabteilungen von Warenhäusern (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 84 v. 27. März, 12).

23_Die neue Buecherschau_07_1929_H05_sp_Ebd_H06_sp_Kombucha_Teepilz_Kara_Berlin

Karna-Teepilze aus Berlin (Die neue Bücherschau 7, 1929, H. 5, s.p. (l.), H. 6., s.p.)

Spezialisierungen gab es jedoch auch bei der Reinkulturproduktion von Pilzen, etwa in Form der Indischen Teepilzzucht in Berlin. Die Mehrzahl der meist für einen regionalen Markt produzierenden Betriebe boten jedoch Pilze und Extrakte an, so etwa die Münchner Teepilz-Züchterei und Extraktbereitung A. Kröll oder das Dresdner Laboratorium Gerner (Münchner Neueste Nachrichten 1928, Nr. 120 v. 2. Mai., 19; Dresdner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 97 v. 26. April, 18).

24_General-Anzeiger für Bonn und Umgegend_1928_11_10_Nr13271_p20_Kombucha_Teepilz_Conti_Bonn

Minutenwerk und Glanzleistungen: Conti-Kombucha (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13271 v. 10. November, 1928, 20)

Das Münchner Sagitta-Werk war eine Ausnahme, weil es ein breites und wachsendes Angebot reichsweit anbot. Doch das übliche Teepilz-Angebot war 1928/29 regional ausgerichtet. Gutes Beispiel hierfür war die Bonner Continentale Kombucha Extraktion, deren sloganhafte Werbung im November 1928 einsetzte: „Kombucha ist Ihr Lebenselixier, Kombucha schützt Sie und verjüngt Ihr Herz“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13282 v. 24. November, 3). Die Conti konzentrierte sich anfangs auf den Selbstbereiter, offerierte neben dem Pilz auch Gärkübel und Ansatztee zum Paketpreis von erst 6, dann 4 Mark (Bonner Zeitung 1928, Nr. 382 v. 18. November, 4). Dieses Angebot wurde rasch um ein Getränk, die „Kombucha-Moussade“ ergänzt. Die Werbung suggerierte Wirkungen, geredet wurde über „Verblüff. Erfolge b. Nervosität, Müdigkeit, Abgespanntheit, Arterienverkalkung, Gicht, Rheuma, Darmträgheit“ (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1928, Nr. 13300 v. 15. Dezember, 6). Die Conti investierte zudem in die Verpackung ihrer Pilze, bot die „neue asiatische Droge“ im schicken „Flakon mit Purpurkappe“ an (Ebd. 1929, Nr. 13393 v. 12. April, 8). Während der Pilz dem Apothekenvertrieb vorbehalten blieb, wurde „Conti-Kombucha-Edel-Moussade“ über Drogerien und auch Kolonialwarenläden abgesetzt. Proben und Broschüren gab es kostenlos.

25_Godesberger Volkszeitung_1928_03_02_Nr052_p20_Kombucha_Teepilz_Conti_Getraenke_Grippe_Vertriebsnetz_Bonn

Suggestive Vermarktung im Bonner Umfeld (Godesberger Volkszeitung 1928, Nr. 52 v. 2. März, 12)

Alle diese Produkte waren mit Heilsversprechen verbunden, dienten offensiv der Prävention, aber auch als Kräftigungsmittel (DGA illustriert 1929, Nr. 151 v. 31. März, 23). Dennoch blieb der Verkauf auf Bonn begrenzt. Erst im Mai 1929 investierte der kleine Betrieb in Markterweiterungen, erweiterte den Absatz bis nach Duisburg (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1929, Nr. 13430 v. 25. Mai, 19; DGA 1929, Nr. 294 v. 26. Juni, 10). Doch das reichte nicht, um im Markt bestehen zu können. Im November fand in Bonn die Zwangsversteigerung statt (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1929, Nr. 13572 v. 9. November, 16). Die Gründe sind unklar, doch Wettbewerber wie die auf ein Kombucha-Getränk spezialisierte Oberkasseler Firma Wesseling trafen mit ihren frei Haus gelieferten Angeboten die Kundenwünsche offenbar besser (Oberkasseler Zeitung 1929, Nr. 152 v. 14. Dezember, 3 (l.); ebd. 1930, Nr. 16 v. 6. Februar, 4).

Die Kombucha-Mode gebar eben nicht nur ein hohes Interesse, sondern lockte auch eine wachsende Zahl von Anbietern. Das 1907 gegründete Joghurtwerk des Münchner Bakteriologen Ernst Klebs war Marktführer im Versandhandel von Joghurt- und Kefirfermenten und Brütapparaten. Seit 1929 nutze er seine reichsweite Vertriebsstruktur auch zum Absatz von Teepilzen, setzte damit kleinere lokale Anbieter unter Druck.

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Versandhandel des Teepilzes (C.V.-Zeitung 1929, 212)

Am Ende dieses kurzen Überblicks steht mit dem Extraktionswerk Neschitz resp. Schöna/Krippen (heute Bad Schandau) ein besonderer Fall. Sein Inhaber Paul Propfe, bot seit 1928 Teepilze im Versandgeschäft an – zu Beginn in der Tschechoslowakei, im gleichen Jahr aber auch im Deutschen Reich.

27_Frauenfreude - Maedchenglueck_1928_Nr104_p18_Pilsner Tagblatt_1928_04_08_Nr099_p5_Versandgeschaeft_Kombucha_Teeschwamm_Neschwitz

Kombucha von Propfe, Neschwitz (Frauenfreude – Mädchenglück 1928, Nr. 104, 18 (l.); Pilsner Tagblatt 1928, Nr. 99 v. 8. April, 5)

Die reichsweit geschalteten Anzeigen enthielten die gängigen Heilsversprechen, bewarben aber zunehmend auch nicht näher definierten Ansatztee. Pfropfe vertrieb die Pilze unter dem Namen „Yaponge“ (Westfälische Zeitung 1928, Nr. 288 v. 8. Dezember, 20; Altonaer Nachrichten 1929, Nr. 93 v. 22. April, 3), doch sein kommerzielles Interesse galt der anonymen Teeware. Er plädierte für Spezialansatztees, „welche für die einzelnen Leiden besonders zusammengesetzt sind“ (Hamburgischer Correspondent 1928, Nr. 183 v. 20. April, 10) und lehnte „gewöhnlichen“ schwarzen Tee „wegen seiner schädlichen Alkaloide“ als Nährflüssigkeit ab (Badische Presse 1929, Nr. 333 v. 21. Juli, 11).

28_Sueddeutsche Monatshefte_25_1927-28_H03_pV_Versandgeschaeft_Teepilz_Yaponge_Propfe_Neschwitz_Heilmittel_Krippen

Reichsweites Angebot per Versandgeschäft (Süddeutsche Monatshefte 25, 1927/28, H. 3, V (l.); Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 448 v. 22. September, 3)

Teepilze wurden rasch zur Nebenware, ab 1929 konnte man sie bei Kauf von Ansatztee vermeintlich gratis erhalten. Die Preise waren hoch, doch das Versprechen war, durch „für die einzelnen Krankheiten speziell zusammengesetzten Ansatztees […] einen auffallend gesteigerten Kurerfolg [… zu] bewirken“ (Echo der Gegenwart 1929, Nr. 75 v. 29. März, 13).

29_Muenchner Neueste Nachrichten_1929_08_11_Nr217_p09_Duesseldorfer Stadt-Anzeiger_1929_10_17_Nr288_p10_Versandgeschaeft_Teepilz_Tee_Propfe_Krippen

Ansatztee als attraktives Geschäftsfeld (Münchner Neueste Nachrichten 1929, Nr. 217 v. 11. August, 9; Düsseldorfer Stadt-Anzeiger 1929, Nr. 288 v. 17. Oktober, 10)

Die Geschichte des Extraktionswerkes endete 1930 vor dem Schöffengericht Dresden. Pfropfe hatte spätestens ab Ende 1929 die Teemischungen manipuliert, hatte sie unter falschem Namen in den Handel gebracht. Da die genaue Zusammensetzung den Käufern vielfach nicht bekannt war, entsponnen sich kontroverse Debatten über die Essenz lauteren Wettbewerbs. Pfropfe wurde schließlich zu einer recht moderaten Geldstrafe verurteilt, sein Unternehmen schied jedoch aus dem Markt aus (Unlauterer Wettbewerb mit Tee, Sächsische Staatszeitung 1930, Nr. 196 v. 23. August, 7).

30_Ingolstaedter Anzeiger_1929_07_30_Nr172_p6_Remscheider General-Anzeiger_1929_06_20_Nr143_p12_Kombucha_Teepilz_Fungojapon_Reformhaus

Reformhausangebote (Ingolstädter Anzeiger 1929, Nr. 172 v. 30. Juli, 6 (l.); Remscheider General-Anzeiger 1929, Nr. 143 v. 20. Juni, 12)

Die nicht kleine Zahl von Markenangeboten belegt eine durch die Kombucha-Mode zwischen 1928 und 1930 in Gang gesetzte Marktdynamik. Festzuhalten ist jedoch, dass parallel die Bedeutung der Vertriebsstruktur Reformhaus, Drogerie und Apotheke weiterhin hoch war. Sie verkauften teils Markenartikel, vielfach aber auch anonyme Ware.

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Anonyme Ware aus der Drogerie (Murtaler Zeitung 1929, Nr. 16 v. 20. April, 12 (l.); Bonner Zeitung 1930, Nr. 46 v. 16. Februar, 3)

Sie waren zugleich – abseits der allgemein unterrichtenden Zeitungen – die eigentlichen Ratgeber für alle mit dem Wunderpilz verbundenen Fragen (Godesberger Volkszeitung 1930, Nr. 62 v. 15. März, 10). Dies wurde durch Hinweise und Gemeinschaftswerbung immer wieder unterstrichen (Ullsteins Blatt der Hausfrau 43, 1927/28, H. 2, 34-35, hier 34; Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1930, Nr. 104 v. 5. Mai, 7). Trotz der rasch wachsenden Bedeutung der Markenartikel hatte der Handel mit Teepilz-Präparaten immer noch ein Gesicht, nämlich das der Fachleute vor Ort.

32_Hamburger Anzeiger_1929_02_13_Nr037_p12_Ebd_09_13_Nr214_p6_Essener Anzeiger_1929_09_17_Nr218_p14_Teepilz_Kombucha_Kleinanzeigen

Kleinanzeigen (Hamburger Anzeiger 1929, Nr. 37 v. 13. Februar, 12 (l.); ebd., Nr. 214 v. 13. September, 6; Essener Anzeiger 1929, Nr. 218 v. 17. September, 14 (r.))

Der Anteil reiner Geschenke bzw. von Nachbarschaftsangeboten ist unklar, dürfte aber die Marktangebote (mit abnehmender Tendenz) übertroffen haben. Kleinanzeigen offerierten Teepilze schon ab 50 Pfennigen (Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 489 v. 16. Oktober, 4). Neben Ablegern konnte dergestalt auch Kombuchatee günstig erworben werden (Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 410 v. 31. August, 4). Zugleich waren die Anpreisungen ungeschnörkelt: „Indischer Teepilz gegen Arterienverkalkung“ (Berliner Volks-Zeitung 1929, Nr. 188 v. 21. April, 11). Geringe Kosten und Heilsversprechen waren abseits der Selbstaktivierung wichtige Gründe für den temporären Erfolg.

Das Ende der Kombucha-Mode

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Spott über das rasche Wachstum des Teepilzes und dessen Folgen (Fliegende Blätter 170, 1929, 173)

Die Kombucha-Moden in Böhmen, Österreich und dem Deutschen Reich dauerten jeweils zwei Jahre lang, kamen dann aber an ein rasches Ende: „Merkwürdig schnell war der Zauber aus. Versunken und vergessen ist der japanische Schwamm“ (Abschied vom japanischen Schwamm, Der Wiener Tag 1932, Nr. 3095 v. 1. Januar, 14). Die Gründe dafür waren vielfältig, sind zugleich nur zu umreißen, kaum sicher zu benennen.

Erstens wurde die häusliche Hege des Pilzes, die stete Beschäftigung mit dem Teepilz, die indirekte Konsumpflicht des frischen oder kurzfristig auf Flaschen gezogenen Kombucha-Tees irgendwann langweilig. Die soziale Dynamik dünnte aus, es verblieben Arbeit, Mühsal, der nicht immer appetitliche Umgang mit dem Pilz machte keine rechte Freude mehr.

Zweitens veränderte sich die Einschätzung der gesundheitlichen Wirkungen des Teepilzes – und zwar ohne neuartige Forschungsergebnisse. Setzte man zu Beginn der Moden eher auf die Chancen, vergegenwärtigen nun auch immer mehr Journalisten: „Besondere arzneiliche Wirkungen kommen dem Teepilz nicht zu“ (Ostdeutsche Morgenpost 1930, Nr. 160 v. 11. Juni, 7). Ebenso schwand die zuvor tendenziell positive wissenschaftliche Grundhaltung zum Kombucha, der – so in einem Standardwerk – „durch zahlreiche Publikationen zu unverdienter Berühmtheit gelangt“ sei (C[arl] Wehmer, Mykologie, technische, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, 2. völlig neubearb. Aufl., Bd. 7, Berlin und Wien 1931, 751-775, hier 761).

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Überbleibsel bei Unentwegten (Frankenberger Tageblatt 1931, Nr. 151 v. 2. Juli, 6)

Drittens nahm die Zahl der Rückfragen zu möglichen Gesundheitsgefährdungen beträchtlich zu. Inmitten der Mode wurden sie nonchalant weggedrückt: „Wer vor dem heilkräftigen Teepilz zittert, der mag ihn meiden – – – und leiden!“ (Teepilz, Neuigkeits-Welt-Blatt 56, 1929, Nr. 32 v. 7. Februar, 11). Nun aber wurde von Todesfällen durch unsachgemäßen Umgang mit Teepilzgetränken berichtet (Pilzteevergiftungen, Mittelbadischer Kurier 1930, Nr. 118 v. 21. Mai, 5; Durch Teepilz vergiftet, Salzburger Wacht 1932, Nr. 196 v. 26. August, 5). Waren anfangs die Heilserwartungen überbürdend, so waren es nun objektiv unbegründete Ängste.

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Pointierte Einschätzung des Teepilzes in einer Tageszeitung (Linzer Volksblatt 1930, Nr. 69 v. 23. März, 12)

Viertens schwankte die Qualität der Markenartikel bzw. Marktangebote beträchtlich. Nahrungsmittelchemiker monierten vielfältige Verschmutzungen bei der Aufzucht der Pilzkulturen auch in Apotheken und Drogerien. Ebenso ließ die Qualität der Ansatztees immer wieder zu wünschen übrig, wurde teurer russischer oder chinesischer Schwarztee doch durch mindere Qualitäten oder aber Kräutertee ersetzt. Hinzu kamen Verunreinigungen bei Tee-Extrakten und Kombucha-Getränken, so dass die Heil- und Erfrischungsgetränke immer mal wieder zersetzt waren (Maxim Bing, Zur „Kombuchafrage“, Die Umschau 33, 1929, 118-119, hier 188). Doch auch zu Hause gab es vielfältige Probleme: „Daß der Anblick eines solchen verwucherten Pilzes, der von den abgestorbenen Pilzteilen, der sogenannten Pilzleiche, eingehüllt wird, nicht gerade ästhetisch, ja sogar ekelerregend wirkt, sollten schon eine Warnung sein, solche Pilzableger zur Herstellung eines medizinalen Tees zu verwerten“ (Teepilz-Kombucha-Frage, 1929). Ableger verlören rasch ihre Wirkung, die Nährlösungen würden unterschiedlich vergoren, der Ertrag vielfach wertlos (Knauth, Der Teepilz, Deutscher Garten 1935, 29). Das entmutigte, wollte man nicht Reinkulturen kaufen.

Fünftens entfalteten auch die zunehmend verfügbaren Convenienceprodukte ihre Wirkung. Extrakte und Tablettenkonzentrate boten eine einfache Alternative. Angesichts der Fixkosten für Pilz, Zucker und Nährflüssigkeit erschienen die Preise nicht gar zu hoch. Die neuen Angebote gruben zumindest Teilen der Selbstbereiter das Wasser ab, enthäuslichte Teile der Kombuchabereitung. Die soziale Dynamik der Mode schwand, die Branche konnte wirtschaftlich nicht gegenhalten. Die ab 1930 rasch wegbrechende Anzeigenwerbung spiegelte die finanzielle Schwäche der kurzzeitigen Wachstumsbranche.

Das Ende der Kombucha-Moden führte nicht zum sofortigen Ende der Teepilzverwendung. Selbst während der Krise entstanden weitere neue Marken, wie etwa der kurzfristig erfolgreiche Japos-Teepilz. Doch die große Mehrzahl der Markenartikelanbieter reduzierte ihr Angebot, stellte den Betrieb dann ein.

36_Der Fuehrer_1931_01_11_Nr009_p08_Westfaelische Zeitung_1930_10_04_Nr242_p4_Kombucha_Teepilz_Japos_Drogerie

Spätes, doch neues Angebot in Apotheken, Drogerien und Reformhäusern (Der Führer 1931, Nr. 9 v. 11. Januar, 8 (l.); Westfälische Zeitung 1930, Nr. 242 v. 4. Oktober, 4)

An die Stelle der Spezialisten traten nun zeitweilig Apotheken, Drogerien, wohl auch Reformhäuser. Kombucha konnte als Handverkaufsmittel das Sortiment abrunden, die Kleinproduktion sorgte während der Krise für eine bessere Auslastung der kleinen Laboratorien (Teepilz, 1929, 175-176). Als Verkäufer und Hersteller standardisierter Pharmazeutika, Drogerieartikeln und Reformwaren standen sie für verlässliche Qualität, angesichts vielfach gebundener Preise schien bei ihnen die Gefahr übersteigerter Preise geringer zu sein. Hinzu kamen Qualitätssicherungsmaßnahmen, etwa die nun zunehmend übliche Gebrauchsanweisung für verpackte Pilze und Pilzpräparate (Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung 1931, Nr. 45 v. 23. Februar, 9; Ohligser Anzeiger 1931, Nr. 144 v. 23. Juni, 4).

37_Das Kleine Volksblatt_1938_04_17_Nr106_p32_Westfaelische Zeitung_02_01_Nr027_p13_Teepilz_Kleinanzeigen

Ein kleiner Markt von Unbewegten, gespiegelt in Kleinanzeigen (Das Kleine Volksblatt 1938, Nr. 106 v. 17. April, 32 (l.); Westfälische Zeitung 1936, Nr. 27 v. 1. Februar, 13)

Auch eine zunehmend kleinere Gruppe von Selbstbereitern machte unverdrossen weiter. In den Kleinanzeigen der 1930er Jahre findet man immer wieder Angebote von Teepilzen, ebenso Kaufgesuche. Doch angesichts gescheiterter Heilserwartungen dominierte Ernüchterung (Hamburger Anzeiger 1937, Nr. 127 v. 4. Juni, 11). Und zugleich trat die Kombucha-Mode in die lange Reihe vergangener Moden, die die Zeit überlebt hatte (Welt am Sonnabend 1941, Nr. 26 v. 28. Juni, 1).

Insgesamt hatten im Laufe der Kombucha-Moden Fachleute ihren Stellenwert ausgebaut – als Wissenschaftler, Produzenten und Händler. Sie hatten das von den Laien mit Freude befeuerte Phänomen anfangs kaum bestimmen können, doch sie gewannen zunehmend Einfluss auf das Geschehen. Sie waren in der Lage, Ratschläge für eine hygienische und ertragreiche Selbstbereitung zu geben. Sie etablierten zahlreiche Reinkulturen und bequem zu nutzende Extrakte, Getränke, Konzentraten, auch Bonbons und Infusionen. Sie machten dadurch den Pilz berechenbarer, sicherer, nahmen ihm aber auch das Geheimnisvolle, das Aufregende, das Selbstbestimmte. Auch dadurch verlor das Phänomen an Charme und Lockreiz. Und es brauchte Vergessen und je eine ganze Generation, ehe Ende der 1950er Jahre und der 1990er neue, gleichwohl anders geprägte Kombucha-Moden einsetzten.

Epilog: Die gelangweilte Konsumgesellschaft

38_Burgenlaendische Freiheit_1997_07_02_Nr27_p070_Ebd_1998_05_06_Nr19_p63_Ebd_2000_02_02_Nr05_p31_Kombucha_Heilmittel_Ratgeber

Neue Wunder alten Typs (Burgenländische Freiheit 1997, Nr. 27 v. 2. Juli, 70 (l.); ebd. 1998, Nr. 19 v. 6. Mai, 63; ebd. 2000, Nr. 5 v. 2. Februar, 31)

Die Unterschiede lagen vornehmlich in einer anderen kommerziellen Grundlegung und Flankierung. An die Stelle der Selbstbereitung der Vielen war das Vorbild der Wenigen getreten, die ihr Wissen, ihre Kniffe in vielfältigen Ratgebern gut verkauften (Helmut Golz, Kombucha. Ein altes Teeheilmittel schenkt neue Gesundheit, 4. Aufl., Genf und München 1992; Günther W. Frank, Kombucha. Healthy beverage and natural remedy from the Far East, 5. Aufl., Steyr 1994). Deutlich anders war auch der regulative Rahmen, war Kombucha doch ein Lebens-, kein Heilmittel, mochten angesichts neuer Kombuchajoghurte, -tabletten und -kapseln auch Grenzüberschreitungen an der Tagesordnung gewesen sein (Johanna Tüntsch, Essen 2000: Was geht, was bleibt, was kommt?, AID-Verbraucherdienst 45, 2000, 489-490). Deutlich anderes war auch die Stellung der Wissenschaft. Sie wurde Ende der 1990er Jahre zwar wieder auf dem falschen Fuß erwischt, musste auf die Forschungsergebnisse der 1920er und 1930er Jahre zurückgreifen. Doch eine therapeutische oder gesundheitsfördernde Wirkung wurde auch von rasch einsetzender Forschung „wissenschaftlich nicht nachgewiesen“. Kombucha sei ein „ein angenehmes, säuerlich-fruchtiges und erfrischendes Getränk“ – nicht mehr und nicht weniger (Georg Schön, Pilze. Lebewesen zwischen Pflanze und Tier, München 2005, 53). Das galt auch abseits der deutschen Grenzen: „In conclusion, none of the numerous health claims for Kombucha is supported by clinical evidence. The consumption of Kombucha tea has been associated with serious adverse events. Its therapeutic use can therefore not be recommended” (E[dzard] Ernst, Kombucha: A Systematic Review of the Clinical Evidence, Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde 10, 2003, 85-87, hier 87).

Dennoch sind die Heilserwartungen und Heilverheißungen fast unverändert geblieben, werden allerdings in andere Sprachbilder gepackt. Weiterhin wird vom Wunderpilz gesprochen, vom „Lebenselixier“, von „Licht und Lebenskraft“. Akademische Bildung schützt nicht davor, Kombucha als „orientalisches Getränk“ zu präsentieren, aus dem ostasiatischen Raum stammend, „wo der Teepilz seit Jahrhunderten als Naturheilmittel im Gebrauch ist“ (Ulrike Berges, Getränke mit heilender Kraft?, UGB-Forum 11, 1994, 155-158, hier 157). Kaum ein Ratgeber, kaum eine Webseite verzichtet auf haltlose „Anekdoten“ wie die über den vermeintlichen koreanischen Arzt Kombu, der im 5. Jahrhundert den Teepilz von Japan nach Korea gebracht haben soll (C. Dufresne und E. Farnworth, Tea, Kombucha, and health: a review, Food Research International 33, 2000, 409-421, hier 409). Naturwissenschaftler betätigen sich als Mythenerzähler, unbehelligt von nominell kompetenten Gutachtern.

Gewiss, die Bewertung der dritten Kombucha-Mode ist damit nur angerissen, nicht mehr. Doch dies reicht vielleicht aus, um Vorstellungen steten Lernens und fortschreitender Aufklärung in Frage zu stellen. Die Kombucha-Mode der 1920er Jahre war vergessen, musste vergessen werden. Denn nur so, ohne den Blick in den Spiegel der eigenen Geschichte, konnte der Wunderpilz neu imaginiert und kommerziell aufgeladen werden. Kombucha war schon in den 1920er Jahren Künstliche Kost, ein Phänomen, ein Getränk ohne Zeit, ohne Ort.

Heute wird es als natürliches, immer noch Heil bringendes Lebensmittel gefeiert. Es dient als Projektionsfläche und Container unserer Wünsche. Angesichts fehlender empirischer Kenntnisse über seine Herkunft und seine Nutzung ist es zugleich ein typisches Beispiel der Bereicherungsökonomie (Luc Boltanski und Arnaud Esquere, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018). So behaupten Vertreter des Kopenhagener Nobel-Restaurants Noma unverfroren, dass noch vor zehn Jahren „kaum jemand in Dänemark Kombucha“ trank (René Redzepi und David Zilber, Das Noma-Handbuch Fermentation, 3. Aufl., München 2020, 110). So als habe man dort nicht schon vor hundert Jahre ähnliche Erfahrungen gemacht wie in Mitteleuropa. So als habe die dritte Kombuchawelle Dänemark ausgespart. Doch nur so kann Kombucha für etwas Neues stehen. Dabei hilft natürlich wieder Freund Kombu, dort zum Physiker mutiert, gleichwohl nutzbar. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts wird ausgegrenzt, doch Ostasien und Ostrussland bilden wiederum den verkitschten Hintergrund des eigenen Tuns. Der meisten historisch-empirischen Kenntnisse abhold, widmet man sich dann der Fermentation von Kombucha im Noma, baut so kulturelles Kapital auf, um es in materielles Kapital umzumünzen.

Doch wer wollte die immer neuen, zumeist alten Moden verdammen? Auch in gelangweilten Konsumgesellschaften unserer Breiten ist Respekt angebracht vor der mit der steten Neuentdeckung der Kombucha einhergehenden Spielfreude und Probierwilligkeit. Nährflüssigkeiten wechseln, Tee wird geschätzt, doch auch Cola und Bier vergoren. Wie sonst sollte man den Dingen auf den Grund kommen? Neugier auf den Wunderpilz und seine Heilwirkungen ist eben ein konstitutives Element des Menschseins. Ebenso wie es „Räume der Gewalt“ (Baberowski, 2016) gibt, in denen nicht gezähmte Teile unser „Natur“ weiterhin freigesetzt werden, gibt es auch „Räume des Wunders“. Im Falle der Kombucha spiegelt das einen alltagspraktischen und kommerziell unterfütterten Glauben an die Allmacht der Natur, an die Weisheit alter Kulturen. Das ist zu kurz gegriffen, kann regressiv sein, zumal von Kulturwesen. Doch solcher Wunderglaube verweist zurück auf die engen Grenzen unseres rationalen Lebens, unserer gleisengen Vorstellungen von Fortschritt und Wohlleben. Der Wunderglaube wird nicht vergehen, sollte als Teil einer über den Menschen hinaus weisenden Sehnsucht verstanden werden. Was wäre das Leben schließlich ohne einen Wunderpilz?

Uwe Spiekermann, 12. August 2023

Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg

Denkt man heute ans Einmachen, so stehen einem schöne, satte Bilder vor Augen – die Farben des Herbstes, der Ernte. Doch Idylle ist fehl am Platz, reden wir historisch über Konservierung. Sie war (und ist) elementar, erforderlich, um die geernteten Nahrungsmittel, um geschlachtete Tiere und ihre Produkte möglichst lange, das ganze Jahr über zu nutzen, zumindest aber bis zur nächsten Ernte damit hauszuhalten. Nahrung ist ohne Konservierung ein flüchtiges Gut. Sie ist nicht einfach für uns da, ihr Wesen ist Verwesung, Zersetzung, Entwertung, Auslaugung, Verderb. Konservierung kann diesen Prozessen Einhalt gebieten. Sie steht für die Selbstbehauptung des Menschen im Angesicht einer grundsätzlich feindlichen Natur und einer zwischen Lebewesen bestehenden Fraßkonkurrenz.

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„Conserven“ – Dachbegriff für länger haltbar gemachte Nahrungsmittel (Kladderadatsch 42, 1889, Nr. 44/45, Beibl., 2)

Im 19. Jahrhundert war dies alltagspräsent, Hungersnöte prägten noch die Jahre 1816/17 und 1846/47. Konserven konnten etwas dagegensetzen. Dieser Begriff stand bis Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht für einzelne Produkte oder Verfahren, sondern für verarbeitete und haltbare Lebensmittel als solche. Doch Mitte des Jahrhunderts veränderte sich diese Struktur mit dem aufkommenden Maschinenzeitalter, mit der das Alltagsleben langfristig grundlegend verändernden Industrialisierung. Maschinen nährten die Hoffnung auf menschliche Herrschaft über die Natur, auf neue Souveränität. War Konservierung zuvor in den bäuerlichen und bürgerlichen Haushalt eingebunden, in Ernterhythmen und Jahreszeiten, so schien mit dem Aufkommen einer Konservierungsindustrie im späten 19. Jahrhundert eine neue Zeit des Umgangs mit der Nahrung anzubrechen. Technik sollte helfen Zeiten und Räume zu durchbrechen, zu überwinden. Die Träume dieser Zeit prägen vielfach noch unsere heutige Welt: technischer Fortschritt, regionale und nationale Arbeitsteilung, der Ausgleich des Mangels durch freien Handel. Dadurch sollten Hunger und Mangelernährung besiegt, soziale Konflikte vermindert und die Haushalte von mühseliger Arbeit entlastet werden. Die tradierten Techniken des Pökelns und Dörrens, des Einkellerns und Räucherns sollten zentralisiert und durch Hitzesterilisierung und Kältetechnik, durch Büchsenkonservierung und chemische Konservierungsmittel abgelöst werden.

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Gewerbliche Konservierung und häusliches Einmachen („Tischlein deck dich“ kein Märchen mehr, Hanau und Frankfurt a.M. 1901, 1 (l.); Die Frischhaltung 44, 1950, H. 7, s.p.)

Doch schon diese Bilder unterstreichen, dass die Geschichte anders verlief. Die Konservierungsindustrie führte eben nicht zu einer raschen Verdrängung der häuslichen Konservierung, wohl aber zu deren tiefgreifender Veränderung (Uwe Spiekermann, Zeitensprünge. Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880-1940, in: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten, hg. v. Katalyse/Buntstift, Köln 1997, 91-109).

Konservierung im 19. Jahrhundert: Anfänge einer Versorgungsindustrie

Um die Geschichte des häuslichen Einkochens verstehen zu können, ist es dennoch ratsam mit der frühen gewerblichen Konservierung anzufangen. In deutschen Landen startete diese relativ spät – zumal im Vergleich zu Großbritannien, der damals führenden Weltmacht. Obwohl die grundlegenden Konservierungstechniken seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt waren, entwickelten sich erste handwerklich arbeitende Betriebe erst in den „hungrigen“ 1840er Jahren; und erst in den 1860er Jahren begann der Aufstieg der fischverarbeitenden Industrie an der Nord- und Ostseeküste oder der bis heute bekannten Braunschweiger Spargelkonservenindustrie (Martin Humbert, Die Entstehung der Konservenindustrie und ihre technische sowie wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Bereich der Obst- und Gemüsekonserven, Diss. rer. pol. Hamburg 1997). Deren Produktion blieb jedoch vor 1890 gering, erst danach begann ein rascher Aufstieg (Wolfgang Horn, Vom Klempnergag zur Massenware, die Anfänge der Braunschweiger Konservenindustrie, Braunschweig 1988 (Ms.); Carsten Grabenhorst, Seesen – Stadt der Konserve. Geschichte der Seesener Konserven- und Blechwarenindustrie von 1830 bis 1926, Seesen 2011).

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Von der regionalen zur nationalen Delikatesse: Werbung für Spargelkonserven 1886 (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2155, Beibl.)

Spargel in Blechkonserven war ein Luxusprodukt, war eine edle bürgerliche Speise. Das lag weniger an den Kosten für Anbau und Ernte, sondern vorrangig an den hohen Aufwendungen bei Herstellung und Verpackung. Das Kochen der Pflanzen war langwierig, erst 1873 wurden Autoklaven eingesetzt, in denen Nahrung durch Überdruck schneller sterilisiert werden konnte. Die Dosen mussten noch per Hand verlötet werden; erst 1889 wurden erste automatische Dosenverschlussmaschinen eingesetzt. Dosenkonserven blieben daher bis ins späte 19. Jahrhundert einem kaufkräftigen bürgerlichen Publikum vorbehalten.

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Konservensonderverkauf im KaDeWe (Berliner Tageblatt 1912, Nr. 135 v. 14. März, 12)

Konserven wurden jedoch nicht nur durch Maschineneinsatz billiger. Auch der Einzelhandel modernisierte sich während des Kaiserreichs rasch, erweiterte sein Sortiment, bot neue haltbare Produkte an. Am Anfang standen seit den 1870er Jahren vor allem Versandgeschäfte. An deren Seite traten Massenfilialbetriebe und ab den 1890er Jahren dann erste Warenhäuser. Sie alle nutzten Konserven, um dem Publikum ihre Preiswürdigkeit unter Beweis zu stellen.

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Fehlende Einheitlichkeit: Form- und Materialvielfalt bei Rahmprodukten ([Paul] Buttenberg, Über Dauermilchpräparate, in: Bericht über die Allgemeine Ausstellung für hygienische Milchversorgung im Mai 1903 zu Hamburg, hg. v. Deutschen Milchwirtschaftlichen Verein, Hamburg 1904, 25-43, hier 29)

Ein Kernproblem der Blechkonserven war allerdings, dass man nicht sah, was man kaufte, dass man dem Anbieter und dem Verkäufer trauen musste (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 458-460). Anfangs hatten die Dosen vielfach nicht einmal Etiketten, denn lang haltende Klebstoffe sind technisch komplex (Wilhelm Gruber, Das Konservenetikett im Wandel der Zeit, Die industrielle Obst- und Gemüseverwertung 50, 1965, 204-209). Doch auch die Qualität schwankte beträchtlich, zudem waren die Büchsen teils nur unzureichend gefüllt. Das änderte sich erst nach der Jahrhundertwende, auch aufgrund der Klagen der Käufer. Während größere Firmen ihre Markenprodukte vielfach noch in eigenen Verpackungen in unterschiedlichen Größen anboten, vereinbarten insbesondere kleine Anbieter Offerten in einheitlichen Größen. Seit 1907 gab es erste Einheitsdosen etwa für Obst und Gemüse. Das half Vertrauen zurückzugewinnen. Die Konsummengen aber blieben begrenzt: Um 1900 verzehrte der Durchschnittsdeutsche etwa ein Kilogramm Konserven pro Jahr und Kopf, um 1913 war es dann immerhin schon die doppelte Menge.

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Glas statt Blech? Transparent angebotenes Eigelb 1896 (Fliegende Blätter 104, 1896, Nr. 2656, Beibl.)

Die nicht unerhebliche Skepsis gegenüber undurchsichtigen Konservenbüchsen führte zur Suche nach Alternativen. Glaskonserven wurden schon im späten 19. Jahrhundert angeboten, doch ihre Brüchigkeit und ihr relativ hoher Preis legten den Einsatz nur bei hochwertigen Angeboten nahe, insbesondere bei Arzneien und Drogerieartikeln. Noch in den späten 1930er Jahren lag die durchschnittliche Bruchquote bei 2 bis 3 Prozent (Eduard Nehring, Die Verwendung metallischer und nichtmetallischer Werkstoffe als Verpackungsmaterial in der Konservenindustrie, in: Wissenschaft und Technik in der Konservenindustrie, Braunschweig 1939, 41-54, hier 44-45). Für Glas sprach damals vor allem seine Geschmacksneutralität, seine Undurchlässigkeit, seine Ungiftigkeit. Verzinntes Dosenblech war relativ korrosionsbeständig, tolerant gegenüber Druck und Temperaturen, leichter als Glas und besser stapelbar. Doch je nach Füllgut gab es trotz des 1887 erlassenen Blei-Zink-Gesetzes immer wieder Vergiftungsfälle durch gelösten Zinn und auch gelöstes Lötblei.

Wie bei der Blechkonservenindustrie hing die Nutzung des Werkstoffes Glas von dessen preiswerter Massenproduktion ab. Das bedeutete vor allem eine rationale und auch mechanisierte Hohlglasherstellung. Die handwerklich betriebenen Waldglashütten bekamen schon seit der Jahrhundertmitte Konkurrenz durch Glashütten mit größer gebauten Schmelzöfen mit einer oder gar mehreren Schmelzwannen. Holzfeuerung wurde zunehmend auf Kohle, Gas und Koks umgestellt und ermöglichte dünnwandigeres und schlierenfreieres Glas (L[udwig] Lobmeyr (Hg.), Die Glasindustrie, ihre Geschichte, gegenwärtige Entwicklung und Statistik, Stuttgart 1874, insb. 166-177). Die Produktionssprünge im späten 19. Jahrhundert resultierten vor allem aus größeren und heißeren Öfen. Dabei ragte der seit 1867 grundsätzlich verfügbare Siemenssche Regenerativofen heraus. Er war ursprünglich für die Stahlproduktion entwickelt worden, bewährte sich aber auch bei der Leichen- und Tierkadaververbrennung. Die durch indirekte Hitzeführung möglichen höheren Temperaturen ließen das Glasgemenge schneller schmelzen und den Durchfluss beträchtlich steigen. Doch noch erfolgte die Produktion vornehmlich per Hand und Mund durch die standesbewusste Gruppe der Glasbläser  (Georg Goes, Arbeitermilieus in der Provinz. Geschichte der Glas- und Porzellanarbeiter im 20. Jahrhundert, Essen 2001, insb. Kap. VII).

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Mechanisierung der Hohlglasherstellung: Owens-Maschine 1912 (Library of Congress, Washington DC, ncl2004001184)

Das änderte sich erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als vollautomatisch blasende Maschinen eingeführt wurden. Die erste sog. Owens-Maschine lief im Deutschen Reich 1908 an, doch ein Kartell wachte über eine markt- und preisschonende Etablierung. Entsprechend veränderte sich die Hohlglasherstellung nur langsam. Selbst in technisch führenden Unternehmen, wie etwa Gerresheim, wurden tradierte Verfahren über Jahrzehnte weiter genutzt. Dadurch konnten sich viele mittlere Unternehmen behaupten, wenn sie ihre Produktion auf Nischen konzentrierten.

Handarbeit führte dazu, dass die im 19. Jahrhundert produzierten gläsernen Vorratsgefäße deutlich anders aussahen als die uns allen bekannten Konservengläser (Astrid Bergmeister, Mindestens haltbar bis… Konservieren und Bevorraten in Glasgefäßen, Essen 1998, insb. 24-37). Sie wurden teils frei, teils modelgeblasen. Die Gläser wurden zumeist mit einem Korken verschlossen, teils auch verwachst. Sie waren daher hygienisch heikel, die gewölbten Böden schwer zu reinigen. Aus diesem Grunde wurden sie vielfach geschwefelt, was wiederum gesundheitsgefährdend war. Die Konservierungsgläser dieser Zeit waren noch nicht standardisiert, auch wenn man sie in unterschiedlichen Größen kaufen konnte. In den Haushalten wurden sie etwa mit Marmelade oder Gelee gefüllt und dann mit Papier, Blasen oder Leim verschlossen. Das war nicht steril, so dass es bei den Glaskonserven häufig Verderb gab.

Der Haushalt als Experimentierfeld technischer Innovationen

Die häusliche Konservierung lebt bis heute von einnehmenden Bildern, wie sie uns aus bürgerlichen Kochbüchern und Haushaltslehren des späten 19. Jahrhunderts im Gedächtnis prangen: Gefüllte Vorratskeller mit schimmernd lockenden Regalen, ein wenig auch die behäbige Gemütlichkeit Wilhelm Buschs (1832-1908): „Eben geht mit einem Teller / Wittwe Bolte in den Keller, / Daß sie von dem Sauerkohle / Eine Portion sich hole, / Wofür sie besonders schwärmt, / Wenn er wieder aufgewärmt“ (Max und Moritz, München 1865, 11). Festzuhalten ist jedoch, dass häusliche Konservierung notwendig war, um preiswert und ohne größere gesundheitliche Schäden durch das das Jahr, zumal durch Winter und Frühling zu kommen. Häusliches Konservieren war mühselig, das Ergebnis nicht immer schmackhaft. Es ging nicht um eine abwechslungsreiche Küche, sondern um die Befriedigung von Grundbedürfnissen.

Hausfrauen beharrten daher nicht auf Traditionen, sondern nahmen die vielfältigen Neuerungen der modernen Zeit rasch auf. Das war nicht modisches „Do-it-yourself“, kein „Prosuming“, sondern notwendige Selbsthilfe. Bis zur Jahrhundertwende erfolgten viele Verbesserungen, nicht aber grundlegende Veränderungen: Die wichtigste Konservierungstechnik war das Einkellern oder Einmieten vor allem von Kartoffeln, aber auch von Kohl, Äpfeln oder Möhren. Entsprechende Vorräte fanden sich meist über das ganze Haus, über die kleine Wohnung verteilt. Wichtig waren ferner das Einlegen in Essig, Trocknen, Dörren, Pökeln und Räuchern. Konservierung war jedoch in vielen Haushalten kaum möglich, setzte es doch den Besitz oder Kauf von Kleinvieh, von Obst und Gemüse voraus. Damals wurde deutlich weniger Fleisch, Obst und Gemüse gegessen, Der Konsum richtete sich stark nach Ernte- und Schlachtzeiten. Häuslich konservierte Nahrung war aber sozial weiter verbreitet, denn man bekam sie, wie auch Getreide und Mehl, noch als Lohn für Arbeit. Vieles blieb regional begrenzt, wie etwa die Mostherstellung im Süden und Südwesten. Manches verlor an Bedeutung, etwa das Dörren in gemeinsam genutzten Dörrhäuschen.

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Nicolas Appert und eines seiner gläsernen Konservierungsgefäße (Wikipedia)

Neue industrielle Produkte veränderten nur langsam die häusliche Konservierung. Am wichtigsten war der Einsatz der Konservierungsmittels Zucker, wodurch die Muskocherei um Marmeladen und Gelees ergänzt werden konnte. Viele Verfahren waren bekannt, konnten jedoch nicht umgesetzt werden. Der französische Koch und Konditor Nicolas Appert (1749-1841) entwickelte beispielsweise schon 1804 aus heutiger Sicht praktikable Verfahren der Hitzesterilisierung in Gläsern. Die Art der von ihm verwandten Gläser verdeutlicht aber auch, dass der sterile Verschluss ein Kernproblem des Verfahrens blieb. Es verwundert daher nicht, dass er seine Luxuskonserven ab 1812 in Blechbüchsen packte und verkaufte. Sein Hauptwerk wurde 1832 ins Deutsche übersetzt, weitere Auflagen folgten ([Nicolas] Appert, Die Kunst, alle animalischen und vegetabilischen Nahrungs-Substanzen durch viele Jahre aufzubewahren […], Prag 1844). Doch die Auswirkungen blieben begrenzt.

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Haushaltskonservierung mittels Blechbüchsen (Kladderadatsch 22, 1869, n. 48)

Die Modernisierung des häuslichen Konservierens begann daher nicht mit Glasbehältnissen, sondern mit „hermetisch verschließbaren“ Blechkonserven. Glasanbieter konterten, boten ihrerseits sicher verschließbare Glasgefäße an. Im letzten Drittel des 19. Jahrhundert tobte ein Kampf zwischen Blech und Glas, getrieben von Haushaltslehrerinnen und Kleintüftlern, von Unternehmern und Chemikern.

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Glaskonserven in den 1870er Jahren (A[nton] Hausner, Die Fabrikation der Conserven und Canditen, Wien, Pest und Leipzig 1877, 156)

Dabei ging es nicht nur um die Gefäße, sondern vor allem um den sicheren und sterilen Verschluss derselben. „Luftdicht“ oder „hermetisch“ wurden zu zentralen Werbeversprechen. Obwohl die Palette der Patente und Angebote wuchs, blieben die Ergebnisse bescheiden: Für den normalen Haushalt waren Blechdosenmaschinen zu teuer, während der Gläserinhalt entgegen den Anpreisungen immer wieder verdarb.

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Konservenglas mit Bügelverschluss und blecherne Einmachbüche (H[einrich] Timm, Die Obst- & Gemüseverwertung für Haushaltungs- und Handelszwecke, Stuttgart 1892, 73 (l.) und 74)

In einer dynamischen Markt- und Konsumgesellschaft führte dies zu Alternativangeboten. Die Defizite der Gefäße sollten beispielsweise durch neue chemische Konservierungsmittel gemildert, ja gebannt werden (Ueber Salicylsäure und ihren Gebrauch im Haushalte, Allgemeine Hausfrauen-Zeitung 1, 1878-79, 26). Rasch bekannt wurde beispielsweise Dr. Oetker’s Salicyl, das auf das Einmachgut gestreut wurde, um Schimmelbildung zu verhindern. Die seit Mitte der 1870er Jahre vertriebene Salizylsäure nutzte man aber vor allem als Arzneimittel, etwa gegen Hühneraugen. Aufgrund ihrer akut reizenden Wirkung konnte sie Magen-Darm-Schädigungen hervorrufen, wurde aber trotz kontroverser Debatten um die Jahrhundertwende erst 1959 als Konservierungsstoff für Lebensmittel verboten. Dr. Oetker verringerte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Dosis und taufte das Produkt zur „Einmach-Hülfe“ um (Daheim 50, 1914, Nr. 45, 33).

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Chemische Hilfsstoffe für das Einmachen (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 19 v. 8. August, III (l.); Die Woche 7, 1905, Nr. 29, III)

Die eigentliche Innovation beim Einkochen, beim dann so genannten Einwecken, erfolgte durch Johann Carl Weck (1841-1914), einem der vielen Tüftler in diesem Felde. Er war es, der 1895 das Patent eines kurz zuvor verstorbenen Chemikers, Rudolph Rempel (1859-1893) aus Gelsenkirchen erwarb. Es war das Patent eines Apparates zum selbständigen Schließen und Entlüften von Sterilisiergefäßen. Weck war Lebensreformer, Antialkoholiker und Vegetarier. Mit seinem Apparat wollte er nicht nur Gewinn machen, sondern die Alltagsernährung verändern (J[ohann] Weck, Erfahrung über Konservierung, Vegetarische Warte 31, 898, 80-81). Er verband seinen Namen mit dem des Apparates (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 89 v. 15. April, 11), baute ein Netzwerk von Agenturen und Zweigniederlassungen auf. Schon 1902 verließ Weck sein Unternehmen, Lizenzzahlungen versüßten den Abschied. Das eigentliche Geschäft machte Georg van Eyck (1869-1951), ein erfahrener Groß- und Einzelhändler für Haushaltswaren im niederrheinischen Emmerich. Er hatte gemeinsam mit Johann Weck Anfang 1901 die J. Weck GmbH im badischen Öflingen gegründet (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 7 v. 9. Januar, 11), und er war es, der die Firma zum Marktführer erst im Deutschen Reich, später auch in Europa machte.

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Johann Weck und seine Schutzmarke (Wikipedia (l.); Tischlein, 1901, 12)

Die Grundlage für diesen Erfolg war einerseits Werbung, die bis heute ihre Liebhaber findet. „Frischhaltung“, Markenbegriff und neues mit dem Einmachen zunehmend deckungsgleiches Substantiv, erschien als Verheißung eines besseren Lebens, einer Gesellschaft, in der der Mensch die Natur befriedet hatte und beherrschte. Anfangs schaltete Eyck nur wenige Anzeigen, warb stattdessen mit Plakaten, mit Broschüren, hob sich dadurch von den vielen anderen Anbietern ab. Doch Werbung allein wäre zu wenig gewesen, mochte der Apparat auch so funktionieren, wies es sich Appert schon ein Jahrhundert zuvor erträumt hatte. Weck bot seit der Jahrhundertwende jedoch nicht nur einen Apparat zum Einkochen an, sondern weitete die Palette auf Einkochgläser und Dienstleistungen aus, bot ein Gesamtpaket an, ein Rundum-Sorglos-Paket. Das hatten andere eben nicht.

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Apparat, Gläser und ein sicherer Verschluss (H[ans] Allihn und [Ottilie] Allihn, Rationelle Krankenkost, 2. verb. Aufl., Öflingen 1911, 44)

Zudem knüpfte die Firma ein direktes Band mit ihren Kundinnen (W.D. Müller, Aus der Werbegeschichte des Hauses „Weck“, Mitteilungen des Vereins Deutscher Reklamefachleute, 1915, 280-282). Sie gründete Beratungsstellen, die Hausfrauen zeigten, wie Apparate und Gläser zu nutzen waren. Sie beschäftigte Wanderlehrerinnen, die auch auf dem Land präsent waren. Sie gab seit 1901 zudem eine eigene Zeitschrift heraus, „Die Frischhaltung“, die 1915 immerhin ca. 10.000 zahlende Abonnenten hatte, die sie unterhielt, informierte und mit vielfältigen „erprobten“ Rezepten versorgte. Hinzu kamen zahlreiche im Auftrag der Firma herausgegebene Broschüren, Rezept- und Kochbücher, Haushalts- und Gesundheitslehren.

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Konservierungsgläser der Firma Weck (M[ax] Hotop und E[dmund] Michael (Bearb.), Koche auf Vorrat, Bd. 1, Öflingen 1905, 12, 13)

Für das Wachstum der Firma waren weniger die Apparate als vielmehr die Konservierungsgläser entscheidend. Sie sorgten für steten Nachkauf, zumal immer neue Formen, Größen und Spezialgläser angeboten wurden.

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Einkochen als eine Kombination von Glas, Gummi, Hitze und hauswirtschaftlicher Arbeit (Hotop und Michael (Bearb.), 1905, 14 (l.), Dass., 9. Aufl., Öflingen 1911, 14)

Erfolgsgaranten waren dabei die flach geschliffenen Deckel, die mittels eines Gummirings dicht hielten und die Bügel, die während des eigentlichen Einkochens unverzichtbar waren. Geräte und Gläser machten zugleich etwas her, waren präsentabel, nicht nur in Küche und Keller, sondern auch auf der Tafel. Die Firma Weck bot zudem eine Reihe ergänzender Geräte und Gefäße an, etwa Gemüsedämpfer. Ihr Absatz reichte zwar nicht an den der eigentlichen Einweckapparate heran, war für das Wachstum von Firma und Umsatz aber wichtig. Weck konnte dadurch eine breite Palette haushälterischer Tätigkeiten aus einer Hand bedienen.

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Steinzeug als Alternative: Konkurrierendes Angebot einer kleineren Glashütte (Der Praktische Ratgeber im Obst- und Gartenbau 18, 1908, Nr. 22, Anzeigenteil, 1)

Weck wies vor dem Ersten Weltkrieg einer ganzen Branche und vielen Glashütten den Weg. Nachahmerprodukte kamen rasch auf, Apparate und vor allem Einmachgläser wurden vielfach variiert. Kein Konkurrent besaß jedoch ein derart breites Angebot und auch eine derart vielgestaltige Werbung wie der im Schwarzwald ansässige Pionier. Dessen Angebote waren relativ teuer, die Firma hielt die Preise bewusst hoch. Sie folgte einer Qualitätsstrategie, bei der es nicht nur um haltbare Nahrung, sondern auch um lange nutzbare Geräte und Gefäße ging.

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Anhaltender Wettbewerb zwischen Fabrik- und Haushaltskonserven (Fliegende Blätter 138, 1913, Nr. 3521, Beibl.)

Der Durchbruchserfolg Wecks zeigte sich aber auch an anderen Marktbewegungen. Schon vor dem ersten Weltkrieg nutzte die Firma erfolgreich die weiterhin bestehenden Geschmacks- und Sicherheitsprobleme der Blechkonserven, um die im Glas eingemachten Produkte als wohlschmeckend zu vermarkten, als höherwertige Alternative zu den „faden Konserven“ der Industrie. Diese Kampagnen waren so erfolgreich, dass auch Anbieter zeitgenössischer Haushaltshelfer – hier Liebigs Fleischextrakt – diese breit geteilte Vorstellung unterstützten.

Verpflichtungen: Einmachen und staatliche Krisenbewältigung

Vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges gab es also eine spannende Wettbewerbsstruktur: Auf der einen Seite eine rasch wachsende Konservenindustrie, deren Produkte zunehmend preiswerter wurden, die auch immer wieder neue Angebote integrierte, so etwa die in den 1890er Jahren aufkommenden Bockwürstchen der Halberstädter Firma Heine. Auf der andern Seite wurde um 1900 die häusliche Konservierung zu einer einfach umsetzbaren bürgerlichen Tugend, zum Stolz der selbstbewussten Hausfrau, die mit Hilfe neuer Technik und neuer Gläser für ihre Liebsten sorgte. Um 1914 hätten Analysten wohl ein weiteres rasches Wachstum der Konservenindustrie beschworen, da die Arbeiterschaft für billige Konserven zunehmend gewonnen werden konnte. Das legten zumindest die Absatzzahlen der Konsumgenossenschaften nahe. Doch es sollte anders kommen – und das war die Folge der Weltkriege und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nicht Enthäuslichung dominierte, sondern eine neuartige Verhäuslichung des Konservierens.

Während des Ersten Weltkrieges galt Einkochen als nationale Pflicht, als Rückgrat der Alltagsversorgung, als Mittel zum Durchhalten. Just deshalb griff nun der Staat ein, vornehmlich auf lokaler und regionaler Ebene. Die Ernten mussten mit weniger Personal und Fuhrwerk eingebracht werden, das Militär wurde vorrangig versorgt. Staatliche Instanzen machten nun dort weiter, wo Weck bereits angesetzt hatte, bei der umfassenden Belehrung über das Einkochen durch Hausfrauenvereine und Hauswirtschaftlerinnen. Zugleich aber investierte der Staat in neue Techniken. Zinnblech war durch die alliierte Seeblockade ab 1915 kaum mehr verfügbar, wurde vorrangig für Militärbelange zurückgehalten. Glashütten produzierten vermehrt für den Kriegsbedarf, und auch dort fehlten die vielen eingezogenen Fachkräfte. Daher förderte der Staat vor allem alternative Techniken, insbesondere das Dörren und die Kühltechnik.

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Aufrüstung im Haushalt (Joh. Ernst Brauer-Tuchorze, Transportable Trockner für die Dauerbereitung von Gemüse […], Prometheus 27, 1916, 616-620, hier 617 (l.) und Johannes Schneider, Das Dörren des Obstes und der Gemüse, Leipzig 1916, 12)

Dörren, also das Trocknen von Nahrungsmitteln, wurde nicht nur gewerblich betrieben, sondern drang mittels einfacher und auch elaborierter Apparate in die Haushalte vor. Doch die Technik war unausgegoren, Obst, Gemüse und Fleisch hielten nicht lange, schmeckten schlecht. Gerade seit dem Hungerwinter 1916/17 nahm nicht nur die Menge, sondern gerade auch die Qualität der Nahrung deutlich ab. Doch es blieb die sehnsuchtsvolle Erinnerung an die gefüllten Konservengläser des ersten und zweiten Kriegsjahres.

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Alternativen zum Weck-Verfahren: Vakuum Schnellkonservierungsapparat (Voss 1921, Nr. 46 v. 17. Dezember, 16)

Aufgrund der Materialbewirtschaftung während und auch unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Produktion neuer häuslicher Konservierungsapparate beschränkt, musste man sich insbesondere in ärmeren Haushalten mit Konservierungstechniken des späten 19. Jahrhunderts behelfen oder aber hamstern. Doch nach dem Kriege nahmen die Angebote rasch zu. Im Mittelpunkt standen zum einen billige Verfahren, um so die teureren Apparate umgehen zu können. Doch zugleich wurden von vielen Firmen, teils auch direkt von Glashütten, Konservengläser wieder vermehrt angeboten, fielen doch die Militäraufträge weg. Dies führte zu einem relativen Preisverfall Anfang der 1920er Jahre, so dass nun auch vermehrt Arbeiterhaushalte zum Einkochen übergingen. Das war aber war auch notwendig, denn gerade während der Hyperinflation 1922 und vor allem 1923 galt es wieder schlicht, die Grundversorgung im Winter sicherzustellen.

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Vielfältige Angebote: Konservierungsverfahren Anfang der 1920er Jahre (Zeitschrift für Waren- und Kaufhäuser 20, 1922, Nr. 22, 51 (l.); ebd., Nr. 33, 43; ebd., Nr. 26, 17 (r.))

Firmen und Marken wie Linn, Rex oder Duplex boten zudem preiswerte Komplettangebote an (Ratgeber zum Selbstgebrauch […] in Konservengläsern und Einkochapparaten Marke „LINN“, Arnstadt o.J.). Der Marktführer Weck geriet dadurch unter Druck, zugleich aber verbreiterte sich der gesamte Absatzmarkt während der 1920er Jahre erheblich. Dagegen stagnierte die Konservenindustrie. Das hatte nicht nur mit der vermehrten Haushaltskonservierung und dem Dosenmangel während des Krieges zu tun. Vielmehr war die Qualität der Konserven deutlich schlechter geworden, da die Qualität der Vorprodukte deutlich sank, da die Zahl beschädigter, undichter Dosen deutlich stieg. Zunehmend Sorgen bereitete auch der Vitamingehalt der Angebote. „Vitamine“ wurden erst 1911/12 benannt, doch nun wurde rasch klar, dass große Hitze B- und C-Vitamine zerstörte. Das unterminierte das Renommee der Konservennahrung weiter. Schonendere Verfahren mit leistungsfähigeren Maschinen und einer besseren Hitzeführung folgten, doch der Absatz nahm erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wieder stärker zu.

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Vermehrte Anzeigenwerbung (An unsere Geschäftsfreunde! Eine Reihe Vorlagen für wirkungsvolle Anzeigen, hg. v. J. Weck und Co., Öflingen 1927 (Ms.), 2)

Was machte parallel der Marktführer Weck? Zuerst machte er weiter wie bisher, warb mit den bekannten Argumenten und begründete die hohen Anschaffungskosten mit der hohen Qualität von Gläsern und Apparaten (Warum ist die Marke WECK immer noch die verhältnismäßig billigste?, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1927 (Ms.). Herausgestellt wurde auch der Geschmack und der Nährwert der häuslich konservierten Nahrung; dass, obwohl sich beim Einmachen das Problem des geringen Vitamingehaltes gleichermaßen stellte und die Haushaltshygiene nicht immer ideal war. Das fiel aber beim Selbstmachen scheinbar nicht so ins Gewicht. Weck intensivierte daher auch vermehrt in Werbung, nutzte nun auch vermehrt Anzeigen (Der große Erfolg. Reklame-Ratgeber, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen 1928). Nicht vergessen werden darf, dass die hohen Verkaufspreise auch hohe Handelsspannen ermöglichten. Daher bevorzugten Händler die badischen Angebote, präsentierten sie in ihren Läden an bevorzugten Plätzen, nutzten gerne die einladend gestalteten Plakate für Verkaufsräume und Schaufenster oder die Vorlagen für Zeitungsanzeigen.

23_Lehrbuch_1935_hinteres Titelblatt_Einmachen_Außenhandel_Weck_Karte_Konservenglas

Weck als Weltmarke Mitte der 1930er Jahre (Kleines Lehrbuch für erfolgsicheres [sic!] Einkochen der Nahrungsmittel mit den Frischhaltungs-Einrichtungen Weltmarke WECK, Öflingen 1935, hinteres Titelblatt)

Zugleich verbesserte die Firma ihre Kostenstruktur. Obwohl weiterhin neue Gläser entwickelt und vermarktet wurden, nahm deren Variationsbreite doch ab, wurden die Formen länger beibehalten. Wichtiger noch war der verstärkte Export. Er führte zu niedrigeren Fixkosten, stärkte zugleich die Stellung der deutschen Premiummarke gegenüber staatlichen Instanzen und der Öffentlichkeit. Mitte der 1930er Jahre hatte Weck fast 4000 Beschäftigte, war damit ein wichtiger Faktor innerhalb des vom NS-Regime neu etablierten Reichsnährstandes.

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Einkochen in Dosen (Einmachen von Obst und Gemüse, hg. v. Reichsausschuß für Volkswirtschaftliche Aufklärung, Leipzig 1935, 7)

Gleichwohl gelang es nicht, die Glaskonservierung auch im häuslichen Bereich alternativlos zu machen (Blechdosen oder WECK-Gläser?, Frischhaltung 28, 1928/29, 178-180). Während der 1920er Jahren wurden jährlich immerhin 30.000 Büchsenverschlussmaschinen verkauft, 1930 kauften Privathaushalte ca. 27 Millionen leere Blechbüsen, die in der Regel zweimal gefüllt wurden. Der Umgang mit diesen Dosen war in dieser Zeit einfacher geworden und auch billiger, wenn man über etwas größere Herde und Vorratskapazitäten verfügte. Weck, aber auch andere Anbieter nahmen diese Herausforderung an und warben verstärkt auf dem Lande und in Kleinstädten: „Nun schlüpft sogar das liebe Schwein / als ‚Wurst‘ ins Glas von Weck hinein“ (zit. n. Bergmeister, 1998, 48; vgl. auch Das Schwein im Weck – die Sparkasse der Hausfrau, Frischhaltung 28, 1928/29, 82-85). Das mag heute fern unserer Alltagsernährung klingen. Doch 1933 gab es letztmals mehr Beschäftigte in der Landwirtschaft als in der Industrie; und die Zahl der Kleingärtner lag bei 2,6 Millionen. Sie erwirtschafteten schätzungsweise 30 Prozent des deutschen Gemüseertrags, zogen die Mehrzahl der Kaninchen groß.

Mittels dieser Maßnahmen gelang es der Firma Weck ihre Marktführerschaft nicht nur zu behaupten, sondern während der Weltwirtschaftskrise noch auszubauen. Während die Arbeitslosigkeit den männlichen Familienernährer besonders traf, konnte die Hausfrau – und vermehrt wieder in der Mittelschicht – so einen produktiven Beitrag zur Familienwirtschaft beisteuern. Generell ist der Bedeutungsgewinn der Glaskonservierung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht ohne einen Blick auf die sich ändernde Rolle der Hausfrauen, der Frauen allgemein, zu verstehen. Firmen wie Weck adelten von Beginn an die rechnende Hausfrau, die mit Hilfe ihrer Apparate und Gläser eine Art Zusatzeinkommen schuf, die ihre Hauswirtschaft wie eine kleine Fabrik leitete.

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Einkochen als produktive Tätigkeit der Hausfrauen (Die Frischhaltung 48, 1954, H. 6, s.p.)

Einkochen war eine weibliche Arbeit, doch eine, die Geld sparte und das Haushaltsgeld vermehrte. Und dies war nicht mehr die von Friedrich Schiller im späten 18. Jahrhundert besungene „züchtige Hausfrau“, die mit „ordnendem Sinn“ ihre Rolle erfüllte und nimmer ruhte. Die einkochende Hausfrau war eine Marktexpertin, kannte sich im Garten und in der Hauswirtschaft aus, kalkulierte kühl und rechenhaft den Einkauf und das eigene Konservieren. Der Mann mochte das Haupteinkommen verdienen, doch die Frau dachte mit und schuf Mehrwert.

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Einkochen im völkischen Umfeld: Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Sicherung des Volksvermögens (Anleitungen für das Einkochen von Nahrungsmitteln mit den Frischhaltungsgeräten Marke Weck, Öflingen 1941, 79)

Was während der Weimarer Republik noch Ausdruck einer modernen, effizienten Hausfrau war, wandelte sich während der NS-Zeit jedoch beträchtlich. Glaskonserven und Einmachen standen immer auch im Zusammenhang mit deren Ideologie, deren Biologismen. Es ging nie nur um Arbeit für die eigene Familie, sondern diese war immer auch Arbeit für das deutsche Volk, die deutsche Rasse (Nancy R. Reagin, Marktordnung and Autarkic Housekeeping: Housewives and Private Consumption under the Four-Year Plan, 1936-1939, German History 19, 2001, 162-184). Was der Bauer auf den Markt brachte, der Kleingärtner erntete, wurde durch vielfach blond dargestellte Hausfrauen bewahrt und für alle gemehrt. Damit diente sie sich selbst, ihren Kindern, ihrem Gatten, ihrem Volk.

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Einkochen als Pflicht der deutschen Frau (Lehrbuch, 1935, 31 (l.); Anleitungen, 1941, Titelblatt)

Einkochen wurde während des Nationalsozialismus zu einem häuslichen Quasi-Militärdienst der Frau, war ihr Beitrag zur „Nahrungsfreiheit“ des Deutschen Reichs, reduzierte die Importe. Die Firma Weck stellte sich willig in den Dienst des NS-Regimes, unterstützte Ideen landwirtschaftlicher Autarkie. In ihren Publikationen war die Volksgemeinschaft immer auch eine Einkochgemeinschaft. Einkochen wurde zur moralischen Verpflichtung, zum Dienst für Führer und Vaterland (Mechtilde Raetsch (Bearb.), Meine Vorratsküche, erw. Ausg., Berlin 1936).

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Moralische Verpflichtung (Lehrbuch, 1935, 1)

Für die Firma Weck hatte die einkochende Frau ihre natürliche Aufgabe gefunden, eine Aufgabe, die sie glücklich und dankbar machen sollte (Glück im Glas, hg. v. J. Weck & Co., Öflingen o.J. (1936)). Eine einfache haushälterische Tätigkeit wie das Einkochen wurde im Sinne des Regimes aufgeladen – und die Mehrzahl der Hausfrauen folgte willig. Und doch: Der eigentliche Umschwung hin zu modernen Formen der Fremdversorgung und Konservierung erfolgte just während der NS-Zeit (Spiekermann, 2018, insb. 474-548). Fast die Hälfte der öffentlichen Forschungsinvestitionen von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges floss in die Agrarwirtschaft und den Lebensmittelsektor.

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Einsäuerung von Sauerkraut, Trocknen von Obst (Einmachen, 1935, 13)

Die Folge war ein besseres Wissen über Erntepraktiken, Lagertechniken, Verarbeitung und Konservierung, über Geschmack und Lebensmittelpsychologie. Selbst getrocknete Nahrungsmittel wurden nun zunehmend schmackhaft. Die Haushaltsratgeber der 1930er Jahre empfahlen das Einkochen, präsentierten aber auch eine breite Palette tradierter Formen des Einmachens (Ewald Köhnemann, Saft, Mus und Marmelade, Berlin 1940). All dies auf dem vermeintlich neuesten Stand der Wissenschaft, was selbst für die Vergärung von Kohl zu Sauerkraut galt.

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Abseits der Sterilisierungsapparate: Einkochen im Gasbackofen (Kochbuch für den Junker u Ruh Gasherd, Karlsruhe 1940, 54)

Auch die wachsende Zahl von Elektro- und Gasherden erlaubte neue Formen des Einmachens – ganz ohne teure Konservierungsgeräte. Daneben zahlte sich die intensive Forschung von Kühl- und Gefriertechnik aus. Diese war zwar vornehmlich für die Wehrmacht gedacht, auch der „Volkskühlschrank“ ließ auf sich warten. Der Aufbau der Kühlkette sollte den eroberten europäischen Großraum miteinander und dann auch die Haushalte mit vitaminhaltiger und tiefgefrorener „Frischkost“ versorgen. Der Elektrokühlschrank, in Deutschland seit Ende der 1920er Jahre von der US-Firma Frigidaire in den Massenmarkt eingeführt, blieb eine Ausnahme für wohlhabende Haushalte. Doch die Werbung vermittelte schon einen Abglanz ganz anderer, schonenderer Verfahren für die Haushaltskonservierung und einer nationalsozialistischen Wohlstandsgesellschaft.

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Vorbote eines neuartigen technischen Systems: Werbung für Elektrokühlung (Lebe gesund durch Elektrokühlung […], Mannheim 1939, Titelblatt)

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es schon ein breites, vor allem propagandistisch aufbereitetes Angebot von Gefrierkonserven, die im Haushalt nur noch gelagert oder besser sofort verwertet werden sollten. Die Mehrzahl der Deutschen aß solche Produkte erst ein bis zwei Jahrzehnte später, erst in den 1960er Jahren setzte sich Tiefkühlkost allgemein durch.

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Hitzesterilisierung, Einkochen und andere Konservierungsverfahren im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse, 1942, 81)

Im Zweiten Weltkrieg aber – das zeigen die Ergebnisse einer Untersuchung der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung von ca. 14.000 Personen im Deutschen Reich 1941 (Ergebnisse einer Untersuchung über die häusliche Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 49-87) – wurde in fast jedem deutschen Haushalt Vorratshaltung betrieben; zumeist von Obst und Gemüse, aber auch von Fleisch und selbst Pilzen. Dies galt für Stadt und Land. Frischware wurde nicht nur zum unmittelbaren Verzehr gekauft, sondern auch, um sie einzumachen, um einen Puffer bei Versorgungsengpässen zu haben. Blicken wir auf die Konservierungsarten, so dominierte die Hitzesterilisierung bei weitem. Sie erfolgte zumeist in Gläsern. Das betraf insbesondere Obst und Gemüse, aber auch Fleisch, Wurst und Speck. Marmelade wurde vorwiegend eingekocht, Gurken eingesalzen oder eingesäuert, Pilze vielfach gedörrt, Wurst und Speck häufig geräuchert. Bemerkenswert war auch, dass es nur geringe soziale Unterschiede bei der Haushaltskonservierung gab. Ein Volk, ein Reich, und (fast) alle Haushalte am Konservieren.

33_Lehrbuch_p28_Haushaltskonservierung_Hausschlachtung_Weck_Kampf-dem-Verderb

Kampf dem Verderb (Lehrbuch, 1935, 28)

Das war auch ein Folge der 1936 im Rahmen des Vierjahresplan einsetzende Kampagne „Kampf dem Verderb“. Sie sollte die Hauswirtschaft effizienter machen, auf Engpässe, Rationierung und Krieg vorbereiten, gab daher Hilfestellungen für Einkauf, Zubereitung, Konservierung, Einkellerung und Resteverwertung. Weck, aber auch viele andere Firmen, unterstützten mit eigenen Werbekampagnen. All dies ging einher mit propagandistischen Feldzügen à la „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“, „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ und schuf neue Phantasiegeschöpfe, etwa „Groschengrab, das Ungeheuer“ (Spiekermann, 2018, 388-391). Weck, ein NS-Musterbetrieb, profitierte davon. Bis Kriegsende propagierte dieser Einmachen als Teil des vermeintlichen Schicksalskampfes des deutschen Volkes, beschwor Nahrung als Waffe und die einkochende Hausfrau als Kämpferin (Hanns W. Brose, Die Wirtschaftswerbung im Dienste der häuslichen Vorratshaltung, Markt und Verbrauch 14, 1942, 131-135).

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Mobilisierung bis zum Schluss (Die Deutsche Volkswirtschaft 13, 1944, 744 (l.); Einmachzeit, 1940, Titelblatt)

Wachsende Fülle: Haushaltskonservierung und Haushaltshandeln in Zeiten der Enthäuslichung

Über die Nachkriegszeit will ich Ihnen nur einige allgemeine Trendaussagen geben, denn dies ist eine Zeitspanne, die sie selbst aus ihrer Lebenspraxis und/oder den Erinnerungen ihrer Familien oder Freunde kennen – oder zumindest kennen könnten. Weck transformierte seine Botschaft der Haushaltskonservierung jedenfalls in die Nachkriegszeit, verlor aber Produktionsstätten und Glashütten im „Osten“. Ersatz kam zeitweilig von kleineren Anbietern, darunter etwa der bis heute bestehenden Boffzener Firma Noelle & von Campe.

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Sortimentsstrukturen in SB-Geschäften und Supermärkten 1954-1988 (Spiekermann, 2018, 665)

Die Bedeutung konservierter Nahrung stieg seit den 1950er Jahren immens an, auch wenn uns das vielfach nicht bewusst ist. Die Konservierung wurde jedoch immer stärker vom Haushalt in die Versorgungsketten zurückverlegt, im großen Stil erfolgte Enthäuslichung. Selbst „frische“ Nahrung ist heute vielfach vorbehandelt, wird insbesondere gekühlt. Die in der Zwischenkriegszeit beträchtlich fortentwickelten Techniken des Gefrierens und Kühlens, des Trocknens, des Einsatzes immer leistungsfähigerer Verpackungen, von Zusatzstoffen und Aromen wurden nun mit der weiter entwickelten amerikanischen und britischen Technik gekoppelt. Die angelegten Veränderungen gestalteten Einkauf und Vorratshaltung ab den 1950er Jahren tiefgreifend um, setzten sich dann in den 1960er Jahren durch, wurden durch die Technisierung der Haushalte, insbesondere durch Kühlschränke und Gefriertruhen in den 1970er Jahren nochmals beschleunigt.

Häusliche Konservierung ist auch heutzutage nicht unwichtig. Doch ihre Bedeutung hat sich grundlegend gewandelt. Sie ist kaum mehr Mittel gegen Not, Mangel und Enge. Stattdessen ist sie Beziehungspflege, Ausdruck von Zuwendung und Liebe, von Selbstbehauptung angesichts überquellender Verkaufsregale. In einer Welt austauschbarer Güter sind selbstgemachte Marmeladen oder selbst eingelegte Gemüse etwas Besonderes (Heinz G. Gans, Konservieren rund ums Jahr, Köln 2013). Das nehmen wir gerne an, teilen es auch gerne, denn es soll zeigen, wer wir sind und dass wir sind.

Wir leben heute – trotz neuerlicher „Versorgungsengpässe“ – in einer im Vergleich zum 19. und frühen 20. Jahrhundert fast paradiesischen Welt, kaum mehr rückgebunden an Ernterhythmen, an die Mühsal der Agrikultur. Die Hoffnungen des 19. Jahrhunderts, sie haben sich erfüllt, wir haben sie erfüllt, vielfach gar übertroffen. Die Geschichte der Haushaltskonservierung zeigt jedoch, dass dieser Weg in die Versorgungssicherheit nicht alternativlos war. Haushalte dominierten die Konservierung noch um 1940, trotz funktionierender und leistungsfähiger Industrien. Dies gründete auf einer speziellen Rolle der Hausfrau, auf spezialisierten und unterstützenden Unternehmen, auf staatlichen Zielen relativer Autarkie. Fremdversorgung war nie alternativlos, das unterstreicht die Geschichte der Haushaltskonservierung in Glas, in Blech und mittels anderer Techniken. Wir haben unsere Wahl getroffen, haben damit Freiheiten abseits des früher üblichen Haushaltshandelns gewonnen. Doch dies bedeutet nicht, dass wir oder unsere Nachfahren nicht doch einst auf entsprechende Selbsthilfe wieder zurückgreifen werden, vielleicht gar müssen.

Uwe Spiekermann, 30. April 2022

Selbstbereitete Alkoholika und mehr: Max Noa und das Essenzengeschäft

Max Noa war einer der vielen Aufsteiger der Wilhelminischen Ära. Aus beengten mittelständischen Verhältnissen stammend, etablierte sich der sächsische Staatsbürger nach einigen Zwischenstationen als Drogist in der Reichshauptstadt Berlin. Diese schüttelte in den 1880er Jahren langsam den Sand aus dem eher provinziellen Gewand der preußischen Hauptstadt, wuchs unaufhörlich, wurde internationaler, entwickelte sich zu einer kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Metropole. Max Noa hat zu diesem Aufschwung beigetragen, ein stolzer Wilhelminer, schon um 1900 wohlhabend. Er ging diesen Weg weiter, brach endgültig mit seiner Herkunft, brach aus nach vorn. Er kombinierte Wissenschaft und Wirtschaft, verstand die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, nutzte die schon länger bekannten Essenzen, um unter- und kleinbürgerlichen Kunden selbstbereitete Alkoholika, Limonaden, Bienenhonig und vieles mehr anzudienen. Damit wurde er reich, stolzer Besitzer einer in Volllast surrenden Fabrik, ein geachteter Bürger, wohl etabliert. Und doch muss man zögern, will man dieses Leben glücklich nennen. Sein Geschäftsmodell, das Essenzengeschäft, übernahm er von der Konkurrenz. Nach der Vermählung gebar ihm seine Frau fünf Kinder, doch mindestens drei davon starben kurz nach ihrer Geburt. Sein Geschäft lebte von wilhelminischer Großspurigkeit, Werbung und Produktion erfolgten in der breiten Grauzone von fehlender Regulierung und in Kauf genommenen Rechtsbruchs. Max Noa starb früh, siebenundvierzigjährig, während des Ersten Weltkrieges, dessen Rationierungssystem sein Geschäftsmodell unterminierte. Seine Firma bestand weiter, doch seine Erben wandelten sie rasch zum pharmazeutischen Unternehmen, konnten in den späten 1920er Jahren den Rückfall zur einfachen Drogerie jedoch nicht aufhalten.

Sie wollen mehr wissen? Dann gibt es, falls Sie nicht selbst aktiv werden wollen, zwei Möglichkeiten: Zum einen können Sie sich den von André König 2015 geschriebenen Katalog zu einer Ausstellung über den ab 1907 in Niederschönhausen lebenden und produzierenden Unternehmer bestellen. Für 7,50 € erhalten Sie eine fundierte lokalhistorische Studie mit reicher Bebilderung, die einen guten Eindruck von Max Noas Betrieb gibt, ohne aber analytische Distanz zum Unternehmen und zum Unternehmer zu halten. Zum anderen aber können Sie unmittelbar weiterlesen, will ich im Folgenden doch eine andere Lesart auf einer deutlich erweiterten und anders gelagerten Quellengrundlage anbieten. Denn Max Noa war nicht allein eine Ortsgröße des heutigen Berliner Bezirks Pankow, sondern vorrangig Kind seiner Zeit. Er kann daher nicht primär im lokalen Rahmen, sondern muss als Teil und Ausdruck der allgemeinen Veränderungen der wilhelminischen Ära verstanden werden, dieser Durchbruchszeit hin zu unserer Lebenswelt. Entsprechend erlaube ich mir, Sie erst einmal von Max Noa wegführen, denn sein unternehmerischer Erfolg basierte auf den grundstürzenden Veränderungen der organischen Chemie und der Pharmazie seit Mitte des 19. Jahrhunderts und der folgenden Entstehung einer leistungsfähigen Essenzenindustrie.

Essenzenproduktion: Ein Gewerbe mit schillerndem Potenzial

Essenzen, das waren lange Zeit die mittels einer meist alkoholischen Flüssigkeit ausgezogenen „kräftigen Bestandtheile der einfachen Arzneisubstanzen“ (Samuel Hahnemann, Apotheker-Lexikon, 1. Abt., T. 1, Leipzig 1793, 266). Sie enthielten das wesentliche, das wirksame Konzentrat einer Substanz, eines Körpers. Doch auch abseits des medizinisch-pharmazeutischen Sektors sprach man im frühen 19. Jahrhundert von Essenzen: Fruchtessenzen dienten der Bereitung kühlender Getränke im Sommer, konnten aber auch dem wärmendem Punsch der Winterzeit zugefügt werden. Parfüms und Kosmetika gewannen ebenfalls an Bedeutung, eingefangene Düfte und Wirkstoffe für die Haut. Und da war das weite Feld der Genussmittel, der Tee- und Kaffeeessenzen, vor allem aber der Destillation von Spirituosen und Likören.

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Auf den Spuren des Geschmacks: Chemische Zusammensetzung von Fruchtessenzen Mitte der 1860er Jahre (Illustrirte Gewerbezeitung 31, 1865, 149)

Die Essenzen gründeten auf Erfahrungswissen von Medici, Apothekern, Drogenhändlern und Manufakturisten. Daraus entwickelte sich seit dem späten 18. Jahrhundert ein breiter Ratgebermarkt, meist in Form von Fach- und Rezeptbüchern. Das Gewusst-wie zielte weniger auf den häuslichen Bereich, sondern auf verwertbare Waren in einem noch gebundenen Markt. Essenzen erlaubten Zeitensprünge, bewahrten den Geschmack frisch geernteten Obstes, gerade gepflückter Kräuter. Die Herstellung erfolgte kleinteilig, Käufer hatten den Produzenten zu vertrauen. Essenzen waren noch nicht standardisiert, variierte doch die Qualität des Weingeistes und anderer Auszugsmittel, war der Ergebnis abhängig von den verwandten Apparaturen, den Außentemperaturen, der Lagerung, den Glasflacons und Transportmitteln. All dies prägte das Handwerk der Apotheker und Drogisten noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, doch spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen die aufstrebende Chemie und die sie tragende Vorstellung einer stofflich-essentiellen Welt eine neue Deutungshoheit. Anorganische und organische Welten ließen sich demnach kausal auf Stoffe und Stoffwechsel zurückführen. Konnte man diese erkennen, gewann man Handlungsmacht: Die richtige Kombination der Stoffe erlaubte gezielte Reaktionen und dann – wichtiger – Kreationen. Menschen wurden zum Agens der Natur, konnten zum Wesen der Dinge vordringen, konnten die „Natur“ erkennen und sie nachbilden. Gar mehr wurde möglich, denn chemische Synthesen schufen neue Stoffe und Waren: Farben wie das modische Mauve und die bunte Palette der Teerfarben, ätherischen Öle, Aromen und künstlichen Essenzen. Was in England und Frankreich begonnen hatte, wurde in den deutschen Landen aufgegriffen und zu neuen Höhen gebracht.

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Produktionsstätten von Schimmel & Co. in Leipzig 1879: Marktführer bei ätherischen Ölen und Essenzen (Die Jubelfeier der Schimmel & Co. Aktiengesellschaft Miltitz bei Leipzig, Miltitz o.J. [1929], 3)

Die industriell gefertigten Essenzen unterschieden sich deutlich von denen des frühen 19. Jahrhunderts. Sie waren stofflich standardisiert, waren also nicht nur in großer Menge (und damit billiger) herzustellen, sondern konnten gezielt als Vor- und Zwischenprodukte für andere Branchen eingesetzt werden. Arbeitsteilung und Spezialisierung gingen Hand in Hand, unterstützten den Aufschwung etwa der pharmazeutischen und kosmetischen Industrie. Zugleich veränderten sie die tradierte Herstellung von Genussmitteln. Das betraf etwa die Süßwarenproduktion, ehedem lokal verankert, Werk von Konditoren und Bonbonmachern. Essenzen erlaubten nun Massenfabrikation, anonyme Produkte, die regional, teils auch national vermarktet wurden. Ohne Fruchtessenzen wären etwa die Stollwerckschen Brauselimonadenbonbons nicht möglich gewesen, die seit den 1880er Jahren mit Zitronen-, Erdbeer-, Himbeer-, Johannisbeer-, Kirsch- und Orangengeschmack lockten, die man durch Zusatz von Wasser und Wein gar zu einer „Champagner-Imitation“ aufpeppen konnte (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 25, 1884, n. 110). Die Konsumenten nahmen den Wandel indirekt wahr, blickten nicht auf die Zwischenprodukte, sondern auf zahlreiche Innovationen: Neben die seit längerem geschätzten Punschessenzen traten neuartige Kaffee- oder Tee-, dann auch zahlreiche Limonaden-Extrakte. Sie boten Hilfe für den Alltag, ermöglichten rasch zuzubereitende und durchaus schmackhafte Heiß- und Kaltgetränke. Etablieren konnte sich ferner die potenziell lebensgefährliche Essig-Essenz. Auch unter den Pharmazeutika finden sich zahlreiche „Essenzen“, die – rein begrifflich – zunehmend „Tinkturen“ Platz machten, ehe beide durch Markenartikelbezeichnungen abgelöst wurden. All diese Konsumgüter wären ohne Vorprodukte kaum möglich gewesen. Die Essenzenindustrie produzierte spezialisierte Halbfertigwaren für die Konditorei, Gastwirte und die Spirituosenindustrie, entwickelte dadurch neue Marktsegmente (vgl. etwa Aus dem Bericht von Schimmel & Co. in Leipzig, April 1887, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 28, 1887, 190-192). Diese Angebote und die damit verbundene Grundlagenforschung wurden dann auch von zahlreichen Apothekern und Drogisten aufgegriffen, denn sie konnten mit nur geringen Veränderungen „eigene“ Produkte kreieren, neue Rezepte umsetzen. Max Noa stand in dieser langen Reihe.

Alkoholikaproduktion im Bannkreis der Essenzen

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Lang zurückreichende Tradition: Anzeige für eine Likör-Essenz zur „kalten“ Selbstzubereitung von Likör (Münchener Tagblatt 1846, Nr. 257 v. 17. September, 2197)

Max Noa spezialisierte sich um die Jahrhundertwende auf Essenzen für selbstbereitete Alkoholika. Diese waren schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein verfügbar, dienten einem wohlig berauschendem Trank. Bei dessen „kalter“ Herstellung – kalt im Gegensatz zur „heißen“ Destillation, also dem „Brennen“ von Alkohol – wurde die Essenz mit Wasser und Spiritus vermengt. Anbieter waren vorrangig Produzenten und Händler, die ihrerseits vorrangig Produzenten und Händler belieferten (F.W.G. Hahn, Handbuch für Destillateure, Berlin 1844; Dominik Horix, Der vollkommene Liqueurfabrikant […], 3. Ausg., Mannheim 1845). Das Prinzip der „kalten“ Zubereitung war einfach nachvollziehbar, der Erfolg hing jedoch von der richtigen Dosierung ab. Die alkoholischen Essenzen waren noch nicht standardisiert, entsprechend offen war das Ergebnis. Der Marktunsicherheit stellten einzelne Anbieter ihr persönliches Renommee entgegen. In München wurde etwa eine Broschüre des Chemikers Ferdinand v. Gazzera kostenlos vertrieben: Der „Herausgeber versichert, daß Jedermann nach Anleitung desselben in einigen Stunden Unterricht, die ebenfalls gratis gegeben werden, eine Anzahl Sorten Liqueure, welche die von Italien, Martinique und Frankreich übertreffen müssen, zum Preis von circa 36 kr. per Bouteille anfertigen kann“ (Der Bayerische Volksfreund 1844, Nr. 191 v. 29. November, Sp. 766). Ähnliche Angebote gab es in den meisten größeren Städten des Deutschen Bundes. Teils schlossen sich gar lokale Anbieter zusammen, um vor Ort mehr oder minder einheitliche Produkte zu verkaufen, mit denen eine „kalte“ Zubereitung einfach und sicher gelingen könne. Kleinproduzenten und Händler, Apotheker und Drogisten orderten derartige Essenzen, um ihren Kunden preiswerte und dennoch ansprechende Spirituosen anbieten zu können.

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Geschmacksprobleme überwunden? (Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen 1848, Nr. 9 v. 10. Januar, Sp. 116)

Die aufstrebende Essenzenindustrie trat seit den 1860er Jahren in die Fußstapfen dieser lokalen Anbieter (Gustav Mettin, Gründlich practische Anleitung zur Selbstbereitung aller in- und ausländischen Liqueure […], Leipzig 1867; Anleitung zur Bereitung von Liqueuren, Branntweinen, Arac, Cognac, Franzbranntwein, Rum und anderen geistigen Getränken auf kaltem Wege, 14. Aufl., Leipzig 1870). Ihre Präparate waren preiswerter und standardisiert, so dass die „kalte“ Zubereitung ein vorhersehbares Ergebnis nach sich zog. Gleichwohl wäre es verfehlt, von einem allgemeinen Siegeszug dieser Halbfertigprodukte zu sprechen. Der Markt war nämlich kaum reguliert, so dass teils ohne Rücksicht auf Verluste produziert werden konnte. Beispielsweise ergab eine Analyse der Rotweinessenzen der Berliner Firma Ermisch und Hellwig kurz vor dem Erlass des ersten reichsweiten Nahrungsmittelgesetzes einen hohen Anteil gesundheitsgefährdenden Fuchsins (Rothweinfälschung, Düsseldorfer Volksblatt 1877, Nr. 246 v. 14. September, 3). Der krebserregende Teerfarbstoff stand für das Janusgesicht der Chemie, die neue Stoffe synthetisierte, zugleich aber neue Gesundheitsgefährdungen mit sich brachte.

Marktunsicherheit blieb weiterhin ein Kernproblem. Die Spirituosenproduktion musste zudem mit einem seit der „Branntweinpest“ der 1840er Jahre rückläufigen Alkoholkonsum umgehen. Zivilgesellschaftliche und staatliche Maßnahmen kumulierten schließlich im Branntweingesetz von 1887. Dessen Steuererhöhungen verstetigten die bis 1932 sinkenden Konsumraten für Alkohol und insbesondere Spirituosen. Der Preisdruck auf die Anbieter war spürbar und führte zu einem gespaltenen Markt. Aussagen über Berlin charakterisierten auch nationale Entwicklungen: „Eine große Zahl hiesiger Geschäftsleute, in deren Händen sich die Fabrikation und der Handel mit Branntwein befindet, beschäftigt sich nicht mit Destillation, sondern mischt Essenzen mit Sprit geringster Qualität, während die größeren Fabriken lediglich feiner Liqueure herstellen“ (Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 8, 1882, 115). Essenzen wurden vor allem in den preiswerteren Marktsegmenten eingesetzt: „Der hiesige Massenconsum wird durch die Destillationen und Schankgeschäfte, die geringe Qualitäten Sprit mit Essenzen mischen, befriedigt“ (Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 9, 1883, 127). Gerade die zahlreichen kleinen Ausschanklokale, die Destillationen, boten derartige Billigalkoholika an, mochten sie damit ihre Kunden auch an der Nase herumführen (Friedenauer Lokal-Anzeiger 1895, Nr. 80 v. 5. Oktober, 1).

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Diffusion nach unten (Offizieller Spezial-Katalog, Bd. 5, Berlin 1896, Werbung, 14)

Die Spirituosenindustrie reagierte auf diese Marktveränderungen verhalten (Berlin und seine Arbeit. Amtlicher Bericht der Gewerbe-Ausstellung Berlin 1896, Berlin 1898, 430). Erst nach Erlass des Warenzeichengesetzes von 1894 wurden nach und nach starke Markenartikel etabliert, in Berlin etwa durch Mampe, Gilka oder aber Sandmann & Wolffgang. Die vielfach hochpreisigen Spirituosen ließen trotz Steuerlast Raum für Gewinne, mochten sie auch nicht an die Qualität und Reinheit der vermehrt eingeführten Spezialitäten des Auslandes heranreichen. Das galt zumal für französischen Cognac, karibischen Rum oder den meist aus niederländischen Kolonien stammenden Arak. Sie bildeten die eigentlichen Referenzprodukte der deutschen Hersteller, an ihrem Geschmack und ihren Farbnuancen arbeiteten sich sowohl Spirituosen- als auch Essenzenfabrikanten ab – und parallel offerierten sie billigen Kümmel, Korn, Wacholder oder aber vielfältige Kartoffelschnäpse.

Im Gegensatz zu anderen Branchen konnte die aufstrebende Nahrungsmittelkontrolle diesem Markttreiben kaum Einhalt gebieten: „Die Chemie, welche man in allen Nahrungsmittel-Angelegenheiten zu Hülfe ruft, kann mit ihrem schwerfälligen wissenschaftlichen Apparat die flinken Fälscher ebensowenig einholen, wie die brave Kuh den Hasen“ (Unpolitische Zeitläufte, Düsseldorfer Volksblatt 1888, Nr. 342 v. 17. Dezember, 6). Dies galt, obwohl Spirituosen und Essenzen in den lokalen Untersuchungsämtern und seit den späten 1880er Jahren auch vom Kaiserlichen Gesundheitsamt regelmäßig untersucht wurden (Ed[uard] Polenske, Ueber einige zur Verstärkung spirituöser Getränke, bezw. zur Herstellung künstlichen Branntweins und Cognaks im Handel befindlichen Essenzen, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 6, 1890, 294-303, 518-521, hier 294). Die Chemiker konnten die gängigen Alkoholika zwar beschreiben, doch ihre Indikatoren erlaubten nur ansatzweise Aussagen über Qualität und Herkunft, über die Art der Produktion oder gar den Geschmack der Waren (Fritz Elsner, Die Praxis des Nahrungsmittel-Chemikers, 3. umgearb. u. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1885, 197-202). Das betraf zum einen Verschnitte, also die Mischung unterschiedlicher Chargen zu einem neuen Façonprodukt. Vor allem Weine und Kognak wurden dergestalt gemischt – was schon damals hochwertigere Gegenangebote forcierte, etwa breit beworbene „Naturweine“. Eugen Sell (1842-1896), Leiter des chemischen Laboratoriums des Kaiserlichen Gesundheitsamtes, resümierte am Ende einer detaillierten Marktanalyse, „daß durch die Prüfung des Geruches und Geschmackes von Seiten wirklich sachverständiger Fachleute in weitaus den meisten Fällen eine viel sicherere Beurtheilung möglich ist, als sie mit Hülfe der chemischen Analyse gewonnen werden kann“ (Ueber Cognak, Rum und Arak, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte 6, 1890, 335-373, hier 373). Den beträchtlichen Fortschritten der Nahrungsmittelanalytik zum Trotz sollte dieses Kontrolldefizit bis weit ins 20. Jahrhundert bestehen bleiben – und damit auch eine wichtige Konstante im Essenzengeschäft von Max Noa bilden (Paul Lohmann (Hg.), Lebensmittelpolizei, Leipzig 1894, 144; August Gaber, Die Likör-Fabrikation, 9. verb. u. sehr verm. Aufl., Wien und Berlin 1913).

Essenzen zur häuslichen Selbstbereitung: Ein Markttrend der 1890er Jahre

Während es seit den 1950er Jahren allgemein hieß, dass Essenzen Halbfabrikate seien, „die den Letztverbraucher selbst nicht erreichen und von denen dieser auch kaum etwas weiß“ (Magdalene Pantke-Beyerling, Spirituosenessenzen, Der Volkswirt 11, 1957, Nr. 34, Beil., 25-26, hier 25), war dies im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert anders. Mochten Händler und Gastwirte auch die Masse der alkoholischen Essenzen kaufen, so nahm auch die Bedeutung der häuslichen Selbstbereitung von Alkoholika deutlich zu – die Branntweinsteuer ließ den mündigen Verbraucher aktiv werden. Essenzen erlaubten auch Letztkonsumenten eine häusliche Herstellung von Alkoholika. Diese Selbstermächtigung des Verbrauchers war typisch für die unmittelbare Jahrhundertwende, die durch die Verhäuslichung vieler ehedem außerhäuslicher Arbeiten und Dienstleistungen gekennzeichnet war. Sie war auch Folge der liberalen Reformen im Umfeld der Reichsgründung. Mochten die tradierten Steuerrechte des Staates auch weiter bestehen, so waren doch viele Vorrechte zum Bierbrauen oder dem Destillieren von Obst gefallen. Die Arzneimittelverordnung von 1875 hatte die Anfertigung geistiger Getränke in Haushalten explizit erlaubt; und auch die restriktiveren Folgeverordnungen rüttelten daran nicht (Otto Meissner, Die Kaiserliche Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln vom 27. Januar 1890, Leipzig 1890, 31).

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Hilfe für den kundigen Drogisten und Apotheker: Extraktionsapparat (Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Pharmacie, Bd. 9, Wien und Leipzig 1890, 380)

Der Weg zum Letztverbraucher war jedoch lang. Es waren anfangs pharmazeutische Mittelsmänner, Apotheker und insbesondere Drogisten, die alkoholische Essenzen auch ohne Heilzweck herstellten. Das hatte es schon zuvor gegeben, doch um die Jahrhundertmitte lag die Arbeit noch in der Hand von wenigen Spezialisten. Seit den 1870er Jahren konnten jedoch aufgrund der Fortschritte des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung Destillationsapparate deutlich günstiger erworben werden. Das weiterhin bestehende staatliche Prüfungs- und Zulassungswesen gab beiden Berufsständen weiterhin die Aura hoher Fachqualifikation, mochten sich Ausbildung und Studium auch eher auf Grundkenntnisse der Stoffe und der daraus herzustellenden Zubereitungen konzentrieren. Viele Apotheker und Drogisten nutzten jedenfalls die Chancen der neuen Freiheiten – und weiteten parallel ihre Angebote und Sortimente aus. Dabei halfen die zahlreichen Postreformen der 1870er Jahre, denn sie ermöglichten einen meist regionalen, teils aber auch nationalen Versandhandel, durchbrachen also lokal begrenzte Märkte (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 296-298).

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Onon, Vinol, etc. – Markenartikel zur Selbstbereitung von Kognak (Bürger-Zeitung für Düsseldorf und Umgebung 1895, Nr. 169 v. 17. November, 3; ebd., Nr. 292 v. 15. Dezember, 3)

Die Zahl der Angebote von Essenzen für die Selbstbereitung von Alkoholika stieg spätestens seit Anfang der 1890er Jahre deutlich an. Dabei scheint das Rheinland eine gewisse Vorreiterrolle eingenommen zu haben, denn Mitte der 1890er Jahre finden sich dort nicht nur zahlreiche Angebote insbesondere von Kognakessenzen, sondern diese wurden bereits als Markenartikel angeboten. Das zeugte von Selbstbewusstsein. Mochten die einschlägigen Anzeigen die Produktqualität noch immer an chemische und pharmazeutische Kompetenz rückbinden, so stellten diese Anbieter ihre Produkte doch neben die wachsende Zahl von Arzneimitteln, die wissenschaftlich klingende Markennamen in klingende Münze umwandelten.

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„Echter“ Kognak selbst gemacht – dank Dr. Mellinghoffs Essenzen (Vorwärts 1895, Nr. 268 v. 15. November, 10 (l.); ebd., Nr. 288 v. 10. Dezember, 11)

Auch in Berlin gaben kurzfristig Anbieter aus Deutschlands Westen der Ton an: Den Trend setzte 1895 der Apotheker Friedrich Wilhelm Mellinghoff aus Mülheim an der Ruhr, nachdem er zuvor vorrangig im Rheinland aktiv gewesen war. Er offerierte seit Oktober Kognakessenz für 75 Pfennig die Flasche (Vorwärts 1895, Nr. 254 v, 30. Oktober, 11). Das „Rezept“ für den begehrten Labetrunk war einfach: „Man füge zu dieser Essenz 1 Liter feinsten 96prozentigen Weingeist und 1¼ Liter Wasser hinzu.“ Schon seien 2¼ Liter „Kognak“ fertig. Charakteristisch für einschlägige – und in ihrer Zusammensetzung völlig unklare – Angebote war die Warnung vor „angeblichen Cognac-Essenzen dunklen Ursprungs“ (Vorwärts 1895, Nr. 284 v. 5. Dezember, 10), also der panschenden und betrügerischen Konkurrenz ähnlicher Anbieter. Üblich waren damals der Absatz über ein lokales Depot (oder per Versand) und mehrere Monate intensive Werbung. Anschließend setzte der Essenzenhersteller sein Geschäft andernorts in gleicher Weise fort und belieferte die neuen Stammkunden per Post (Badische Presse 1900, Nr. 2 v. 4. Januar, 6). Mellinghoff siedelte sich 1899 in Bückeburg an (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 116 v. 18. Mai, 13; Deutsche Wirtschaftsführer, bearb. v. Georg Wenzel, Hamburg, Berlin und Leipzig 1929, Sp. 959-960), wo er ein reichsweites Niederlagen- und Versandgeschäft für Likör-, Kognak-, Rum-, Arak-, Limonaden- und Punsch-Essenenzen betrieb (Badische Presse 1900, Nr. 293 v. 15. Dezember, 4; Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1901, Nr. 300 v. 27. Dezember, 8; Wochenblatt für Zschopau und Umgegend 1904, Nr. 125 v. 22. Oktober, 827; Badische Presse 1910, Nr. 35 v. 22. Januar, 9; ebd., Nr. 263 v. 11. Juni, 12; Badische Presse 1913, Nr. 53 v. 1. Februar, 10). Dieses sollte auch Max Noa Konkurrenz bereiten. In Berlin war Mellinghoff jedoch nicht mehr aktiv. Während der NS-Zeit sattelte er auf die Süßmosterei um und blieb diesem Gewerbe auch in der Bundesrepublik treu (Chemisch-technische Bezugsquellen mit Adressbuch der chemischen Industrie des Deutschen Reiches, Danzigs und Österreichs, hg. v. Helmut Gustav Bodenbender, Berlin 1935, 85).

Mellinghoffs Kognak-Essenzen trafen jedoch nicht nur auf abnahmebereite Käufer. Die konkurrierenden Spirituosenhersteller schmähten seine Offerte als „Cognac-Jauche“, als „eine plumpe Spekulation auf die Taschen derjenigen […], deren geistiges Conto stark mit ‚Soll‘ belastet ist“ (Geheimmittel-Schwindel und Apotheken-Monopol, Brennerei-Zeitung 13, 1896, 1637-1638, hier 1637). Im marktliberal regierten Berlin hatte derartige Kritik keine Folgen, anders jedoch im sächsischen Crimmitschau. Dort hielt der Stadtrat im September 1900 Gesundheitsschädigungen für wahrscheinlich und erklärte den Absatz von Spirituosenessenzen glatt für unzulässig. Das war rechtswidrig und wurde wieder aufgehoben, verdeutlichte jedoch den stetig mitzudenkenden Widerstand gegen die neuen Produkte (Branntwein-Schärfen und -Essenzen, Brennerei-Zeitung 18, 1901, 2372). In Berlin aber war Mellinghoff erst einmal ein wichtiger Trendsetter – und das nicht nur wegen seiner Essenzenwerbung auch auf Litfaßsäulen. Er fand zahlreiche Nachahmer, etwa den Getränkefilialisten Eugen Neumann oder aber Johannes Fischer aus Berlin Ost (Vorwärts 1895, Nr. 284 v. 5. Dezember, 10; ebd., 1900, Nr. 47 v. 25. Februar, 10). Auch Max Noa dürfte die neuen Angebote interessiert zur Kenntnis genommen haben, denn er etablierte sich 1896 als selbständiger Drogist.

Aufbau einer Existenz: Der Drogist und Unternehmer Max Noa

Das war ein langer Aufgalopp, doch notwendig, um die unternehmerische Leistung Max Noas angemessen einschätzen zu können. Er stand am Ende tiefgreifender Marktveränderungen, die er dann beherzt aufgreifen sollte. Charakterisierungen wie „beherzt“ sind allerdings kaum zulässig, denn die Quellenlage und die erforderliche analytische Distanz legen es nahe, sich vorrangig auf die Wiedergabe der wenigen bekannten Eckpunkte seines Lebens zu konzentrieren (Uwe Spiekermann, Why Biographies? Actors, Agencies, and the Analysis of Immigrant Entrepreneurship, in: Hartmut Berghoff und ders. (Hg.), Immigrant Entrepreneurship […], Washington 2016, 37-51).

Max Edmund Noa wurde am 7. September 1868 als Sohn des Kürschnermeisters Hermann August Noa und der Hausfrau Auguste Pauline Noa, geb. Ketzscher, zweitverheiratete Grass, im sächsischen Werdau geboren und evangelisch getauft (Landesarchiv Berlin (LAB), Personenstandsregister, Heiratsregister der Berliner Standesämter 1874-1936, Berlin XIIb, 1899, Nr. 178). Dreizehnjährig begann er im nahegelegenen Glauchau eine 1885 abgeschlossene Lehre zum Drogisten (dies und die folgenden Angaben n. André König, Die Drogerie und Essenzenfabrik Max Noa in Berlin-Niederschönhausen. Vom Aufstieg und Niedergang eines Unternehmens, Berlin 2015, 9-10). Noa blieb in seiner Branche, arbeitete erst in Spandau, anschließend im brandenburgischen Wriezen und dem schlesischen Grünberg. Nach dieser damals typischen Wanderschaft ging er nach Berlin und begann 1890 seine zweijährige Konditionszeit, erforderlich, um eine Drogerie selbständig führen zu können. Noa übernahm schließlich 1896 von dem Drogisten Otto Bleck eine seit 1885 bestehende Drogerie in der Reinickendorferstraße 48, im rasch wachsenden Arbeiterbezirk Wedding. Sein Vorgänger war offenkundig geschäftstüchtig, gründete mehrere Drogeriefilialen und wurde 1895 Gesellschafter der pharmazeutischen Firma F. Ketzer & Co., die 1898 dann der Schöneberger Apotheker William Jacoby übernahm (Deutscher Reichsanzeiger 1895, Nr. 190 v. 12. August, 7; ebd. 1898, Nr. 283 v. 30. November, 10).

Wirtschaftlich etabliert, heiratete Max Noa am 17. März 1899 die am 1. Dezember 1874 im mecklenburgischen Waren geborene, in Berlin lebende und ebenfalls evangelische Clara Anna Auguste Johanne Dahl (LAB, Personenstandsregister, Heiratsregister der Berliner Standesämter 1874-1936, Berlin XIIb, 1899, Nr. 178). Die Heirat erfolgte mit vollem Bauche, schon am 18. September 1899 wurde dem jungen Ehepaar Erna Minna Johanna geboren (LAB, Personenstandsregister, Geburtenregister 1874-1906, Berlin XIII, 1899, Nr. 3501). Weitere Geburten folgten mit nur kurzen Abständen im jeweiligen Wohnhaus der Noas: Am 7. August 1901 Käthe Thekla Luise, am 16. August 1902 Paula Thekla Anna, am 20. November 1904 Betty Hella Klara und schließlich am 6. September 1905 mit Hermann Noa auch ein Stammhalter (LAB, Personenstandsregister, Geburtenregister 1874-1906, Berlin XIII, 1899, Nr. 2937; ebd., Berlin XIIIa, 1902, Nr. 1733; ebd., Berlin Xa, 1904, Nr. 2378; ebd. Berlin XIII, 1905, Nr. 3501). Doch die Freude über den Nachwuchs währte nicht lange, denn auch der Tod war ein steter Hausgenosse der Noas. Käthe starb nach einer Woche am 13. August 1901, Paula am 31. Januar 1904 mit anderthalb Jahren und Hermann am Tag nach seiner Geburt (LAB, Todesfälle 1874-1955, Berlin XIII, 1901, Nr. 1930; ebd., Berlin Xa, 1904, Nr. 109; ebd., Berlin XI, 1905, Nr. 1609). Betty dürfte ebenfalls jung gestorben sein, auch wenn ich einen Beleg hierfür nicht habe finden können. Es blieb allein Erna.

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Verkaufsraum von Max Noas (wohl an der Kasse) Drogerie in der Reinickendorferstraße 48 (Die Destillation[,] Weinkelterei und Brauerei im Haushalte, 10. verm. u. verb. Aufl., Berlin s.a. [1903], s.p.)

Max Noa war Drogist – und als solcher verkaufte er die gängigen Drogeriewaren seiner Zeit. In den digital bekanntermaßen schlecht erschlossenen Berliner Tageszeitungen finden sich einschlägige Hinweise, etwa die Teilnahme an berlinweiten Werbekampagnen für Dr. med. Woerlein’s Magentrank, einem für kurze Zeit von Jean Becker, Ludwigshafen, propagierten diätetischen Tee (Vorwärts 1901, Nr. 290 v. 12. Dezember, 11) – oder aber für die imprägnierten Zahnbürsten von Max Blumgart (Berliner Tageblatt 1909, Nr. 121 v. 8. März, 4).

Bekannt wurde Max Noa ab Ende 1899 mit Spezialartikeln, nämlich mit „Noas Original-Extrakten“, die er ab Ende 1899 mit bebilderten Anzeigen bewarb. Im Adressbuch firmierte sein junger Betrieb bald darauf unter „Noa’s Orig. Extracte zur Selbstbereitung v. Cognac, Rum, Branntwein, Likören, Limonaden und Bier. Fabrikation mit Maschinenbetrieb“ (Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1902, T. IV, 84). Noa betonte immer wieder deren Echtheit und Originalität, stellte sich als „Erfinder“ dar. Doch wirklich neu war an diesen Extrakten nichts. Max Noa etablierte sich im Windschatten seiner Berliner Konkurrenz, kopierte deren Geschäftsmodelle und Sortiment.

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Einstieg in den Essenzenhandel – Noa-Werbung 1899 (Vorwärts 1899, Nr. 304 v. 30. Dezember, 7)

Lernen vom Marktführer: Otto Reichel und Max Noa

Max Noa hat sein Essenzengeschäft auf den Vorarbeiten anderer aufgebaut. Doch als er 1899 seine „Original-Extrakte“ anbot, nutzte er eben nicht nur die allgemeinen Kenntnisse und Vorprodukte der Essenzenindustrie, sondern er übernahm sein Geschäftsmodell von einem Konkurrenten, nämlich der seit 1890 in Berlin tätigen chemisch-pharmazeutischen Firma von Otto Reichel. Das war nicht illegal, schon aufgrund des schwach ausgeprägten Wettbewerbsrechtes: Das 1896 erlassene Gesetz gegen den Unlauteren Wettbewerb und der 1903 erfolgte Bundesratsbeschluss über den Verkehr mit Geheimmitteln und ähnlichen Arzneimitteln begrenzten gewisse Auswüchse des intensiven Wettbewerbs, doch deren Wirkung blieb äußerst begrenzt. Die Fehden zwischen konkurrierenden Firmen wurden häufig in der Öffentlichkeit ausgetragen, landeten vielfach aber auch vor Gericht. Um Max Noas Geschäftsmodell zu verstehen, ist daher ein Blick auf das Vorbild Otto Reichels erforderlich.

Die chemisch-pharmazeutische Fabrik von Otto Reichel residierte in Friedrichshain-Kreuzberg, in der Eisenbahnstraße 4, gegenüber der damaligen Markthalle IX, heute Markthalle 9, bekannt durch den Kampf der Anwohner für den dortigen Aldi-Markt. Reichel war ein innovativer und zugleich typischer Geheimmittelanbieter. Er konzentrierte sich auf gängige (und staatlich kaum regulierte) Kosmetika, die er gemäß gängigen Wissens zusammenmengte und unter eigenem Namen vertrieb. Da gab es Kraftwasser gegen Haarausfall, Haarfärbemittel, Cremes gegen Pickel, Sommersprossen, Runzeln und Nasenröte, Mittel gegen Rheumatismus und Gicht, Hustensaft sowie Blutreinigungspulver und auch Essig-Essenz. Reichels Zehrkur „Graziana“ sollte gegen Korpulenz helfen, seine Kraftpillen dagegen Magerkeit bekämpfen. Diese Präparate verweisen schon auf Markenartikelbildung. Otto Reichel nutzte seit 1897 das neue Warenzeichenrecht, schützte beispielsweise seine Hautcreme „Creme Benzoe“ oder Schädlingsmittel, wie sein „Konzentriertes Wanzen-Fluid“ oder das „Special-Schwabenpulver Poudre Martial“ (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 226 v. 23. September, 7; ebd. 1897, Nr. 272 v. 19. November, 12; ebd. 1897, Nr. 246 v. 19. Oktober, 12). Dies erfolgte nachträglich, teils Jahre nach dem Vertriebsbeginn. Das galt auch für die seit Ende 1897 geschützten „Combinierte[n] Original Reichel-Essenzen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 300 v. 21. Dezember, 9).

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Teilansicht einer Anzeige von Otto Reichel (Vorwärts 1896, Nr. 263 v. 8. November, 20)

Otto Reichel präsentierte seine Spirituosenessenzen ab Ende 1896 – und es ist offenkundig, dass er dabei den Pfaden folgte, die Friedrich Wilhelm Mellinghoff ein Jahr zuvor werbewirksam betreten hatte. Es gab jedoch drei wichtige Unterschiede: Erstens setzten die Anzeigen neue Maßstäbe. Reichel hatte für seine Geheimmittel zuvor kaum ausgeschmückte, höchstens mal mit einem Kreuz versehene, doch in großer Zahl geschaltete Anzeigen genutzt. Nun aber nahm deren Umfang deutlich zu, so dass die Anzeigen wahrlich jedem Leser ins Auge fallen mussten. Zweitens offerierte Reichel eine bisher nicht bekannte Breite einschlägiger Essenzen. Mochten Kognak- und Rumessenzen auch im Mittelpunkt der Werbung stehen, so waren sie doch nur Teil eines Angebotes, das fast alle gängigen Destillate und Liköre abdeckte – 1900 waren es ca. 200 Präparate. Drittens konzentrierte sich Reichel erst einmal auf das stationäre, auf das lokale Geschäft. Berlin bot halt mehr als etwa Mülheim an der Ruhr. Es dauerte aber nur wenige Jahre, bevor auch die Reichelschen Essenzen reichsweit angeboten wurden. Auch dafür gab es Vorbilder, etwa den Stuttgarter Unternehmer Julius Schrader, der seit spätestens 1898 ein breites Sortiment von „Liqueur-Patronen“ anbot, um „auf einfachste Weise […] feinsten Liqueur“ und Spirituosen selbst anzufertigen (Über Land und Meer 81, 1898/99, Nr. 9, s.p.; Jugend 3, 1898, 81).

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Kognak- und Rum-Essenzen als wichtigste Einzelangebote Otto Reichels (Vorwärts 1898, Nr. 31 v. 6. Februar, 14 (l.); ebd., Nr. 56 v. 8. März, 10)

Doch blicken wir etwas näher auf das Angebot von Otto Reichel, denn Max Noa kopierte eben nicht nur das Essenzengeschäft als solches, sondern übernahm ebenfalls die kleinen Nuancen der Dienstleistung. Das betraf etwa den Bringdienst: Wie im damaligen Handel üblich, konnten die Essenzen nicht nur im Ladengeschäft gekauft (und probiert), sondern auch telefonisch und schriftlich bestellt werden. Ein Pferdefuhrwerk brachte die Waren dann im Regelfall innerhalb eines Tages. Mengenrabatte wurden gewährt, beim Kauf von sechs Flaschen gab es eine siebte gratis hinzu. Die Glasflaschen wurden wieder zurückgenommen, die Käufer erhielten fünf Pfennig retour. Auch mit kostenlosen Etiketten für den Hausgebrauch hielt Reichel die Käufer bei Laune. Kalkulatorisch wichtiger war, dass auch der für die Selbstbereitung unverzichtbare Weingeist nach Tagespreisen mitbestellt werden konnte. Die Kunden erhielten also eine Art Komplettpaket, denn Rezepte lagen der Lieferung bei, lediglich Wasser, Schüsseln und Flaschen mussten zu Hause bereitstehen.

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Etablierung der Dachmarke „Lichtherz“ durch Otto Reichel (Vorwärts 1900, Nr. 83 v. 8. April, 12)

Die frühen Anzeigen Reichels enthielten noch die für Geheimmittelwerbung üblichen Empfehlungsschreiben, die dreisterweise unter der Rubrik „Aus der Wirklichkeit“ liefen (Vorwärts 1896, Nr. 263 v. 8. November, 20). Es dauerte ein wenig, bis derartig unüberprüfbare und häufig glatt erfundene Lobhudelei in summarische Bewertungen überging, also einem allgemeinen Lobpreis des Geschmacks und der Ergiebigkeit der Präparate. Zentral für derartige Anzeigen war auch der stete Verweis auf die Exklusivität der Angebote – und die zwingend erforderliche Vorsicht vor Nachahmungen. So hoffte Reichel Stammkunden zu schaffen und zugleich den Umstand zu überdecken, dass die Essenzen zumeist umetikettierte Zwischenprodukte der Essenzenindustrie waren. Ohne deren Zulieferung wäre die große Vielzahl von Einzelprodukten nicht möglich gewesen.

Die Umsicht Reichels zeigte sich auch in der frühen Verwendung eines Bildzeichens. Seit Anfang 1900 nutzte der wohl etablierte Produzent chemisch-pharmazeutischer Präparate die Marke „Lichtherz“, um damit seine Angebote von denen der Konkurrenz abzuheben (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 46 v. 22. Februar 1901, 11). Umsicht bedeutete aber auch, dass sich der gewiefte Unternehmer der Fallstricke des Marktes genau bewusst war. Seine Geheimmittel wurden von Chemikern und Pharmazeuten vielfach als überteuert, gar wertlos kritisiert. 1897 wurde ihm vom Berliner Oberverwaltungsgericht die Erlaubnis zum Handel mit Giften entzogen (Vorwärts 1899, Nr. 131 v. 8. Juni, 7). Polizeibehörden warnten vor mehreren seiner Produkte, einzelne kamen dann am 1. April 1907 auf die erweiterte Geheimmittelliste des Bundesrates, durften damit nicht mehr öffentlich beworben werden. Max Noas Kopie des Reichelschen Geschäftsmodells war auch ein Ausflug in die grauen Bereiche der Konsumgütermärkte des Kaiserreichs.

Max Noa von der Drogerie zum Versandgeschäft

Als Max Noa 1899 erstmals seine „Original-Extrakte“ anbot, war er Inhaber einer Drogerie. Er meldete „Noa’s Original-Extrakte“ am 14. September 1900 als Warenzeichen an, erhielt den gewünschten Rechtsschutz am 24. Dezember 1900 für die „Fabrikation und Vertrieb von Spirituosen und Extrakten“ (Deutscher Reichsanzeiger 1901, Nr. 22 v. 25. Januar, 10). Ab dem 1. April 1903 verlagerte er seinen Geschäftssitz in die Elsasserstraße 5, heutzutage Teil der Torstraße in Berlin-Mitte, westlich vom Rosenthaler Platz. Die Familie wohnte nah bei, in der Elsasserstraße 14, die Drogerie in der Reinickendorferstraße 48 wurde als Filiale weiter betrieben.

Max Noa ließ seinen Betrieb am 17. August 1903 offiziell eintragen, er selbst war der alleinige Inhaber (Volks-Zeitung 1903, Nr. 388 v. 20. August, 3; Berliner Börsen-Zeitung 1903, Nr. 388 v. 20. August, 17). Diese Firma wurde kurz vor Weihnachten 1904 in Max Noa „Helvetia-Versandhaus“ umbenannt (Deutscher Reichsanzeiger 1904, Nr. 299 v 20. Dezember, 20) – und damit der Wandel hin zu einem reichsweit aktiven Versandgeschäft eingeleitet. Unter dieser Bezeichnung firmierte er auch im Berliner Adressbuch sowie in einschlägigen Branchenverzeichnissen (Adreßbuch und Warenverzeichnis der chemischen Industrie des deutschen Reichs, Ausg. IX, Berlin 1906, T. 1, 326). Dabei gab er an, dass das Versandhaus bereits 1885 gegründet wurde – doch die Eintragung im Deutschen Reichsanzeiger spricht dagegen. Max Noa verlagerte 1907 erst seinen Wohnsitz und dann auch seine Firma nach Niederschönhausen, in die Treskowstraße 5. Die einschlägige Änderung im Handelsregister erfolgte Anfang Februar 1908 (Deutscher Reichsanzeiger 1908, Nr. 33 v. 7. Februar, 12). Renommeesteigernd waren zudem Hoflieferantentitel erst der Prinzessin Adolf von Schwarzburg-Rudolstadt (1904), dann auch des spanischer und griechischer königlichen Hofes (1910). Dabei handelte es sich allerdings nicht um wirkliche Ehrentitel, sondern um eine gern genutzte Einnahmequelle sekundärer Mächte und kleinerer Herrschaften. Adolf von Schwarzburg-Rudolfstadt (1801-1875) hatte seinen Staat noch in den Bankrott getrieben, seine Gattin Mathilde von Schönburg-Waldenhof (1826-1914) die Hoheitsrechte der Schönburgischen Herrschaften 1878 verloren. Auch kleine Summen eines bürgerlichen Aufsteigers nahm die Prinzessin daher gerne. Ähnliches dürfte für die notorisch klammen Könige Alfons XIII. (1886-1941) und Georg I. (1845-1913) gegolten haben. Gleichwohl: Der Hoflieferantentitel prangte seither stolz auf Noas Werbeanzeigen – auch wenn man sich fragen kann, ob dieser im Werbeumfeld sozialdemokratischer Zeitungen wirklich umsatzsteigernd war.

Max Noas Marketing

Max Noas Marketing bestand aus vier Hauptkomponenten, nämlich ersten Anzeigenwerbung, zweitens dem Versand einer reichhaltig bebilderten Werbebroschüre, drittens der Warenverpackung und viertens den gängigen Maßnahmen der Kundenbindung eines Versandgeschäftes, nämlich Werbeschreiben und Preislisten. Mangels archivalischer Quellen und Sachobjekten müssen wir uns auf die ersten beiden Hauptkomponenten konzentrieren, sollten diese beiden Leerstellen aber im Kopf behalten.

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Fehlendes Corporate Design: Lager von Noas Original-Extrakten (Destillation, [1903], s.p.)

Das Marketing Max Noas folgte im Prinzip dem seines Konkurrenten Otto Reichel, war aber stets eine Nummer kleiner. Noas Betrieb besaß anfangs keine Werbeabteilung, die Anzeigen erhielten werbliche Stringenz vornehmlich durch recht konsequent eingesetzte und selten gewechselte Bildmotive. Es ging Noa um eine recht stete werbliche Präsenz, um eine kontinuierliche Erinnerung an das eigene Angebot. Das war produktbedingt, verkaufte er doch nicht sehr teure Waren in recht kleinen Chargen. Käufer sollten in Stammkunden umgewandelt werden, erst regelmäßige Bestellungen machten das Geschäft profitabel. Entsprechend waren die Werbeanstrengungen der ersten Jahre beträchtlich, nahmen dann jedoch ab, verlagerten sich. Noa agierte damit ähnlich wie zuvor Mellinghoff: Der Erschließung eines regionalen Marktes folgten Anstrengungen in anderen. Dies erlaubt zugleich Periodisierungen: Wie bei Reichel stand während der ersten Jahre der Berliner Markt im Fokus der Anzeigenwerbung. Das änderte sich seit 1904/05, ging einher mit dem Aufbau eines tendenziell reichsweiten Versandgeschäfts. Der Umzug nach Niederschönhausen 1907 erlaubte dann eine weitere Ausweitung des Geschäftes, ermöglichten die dortigen vergrößerten Produktions-, Verpackungs- und Versandkapazitäten doch eine verstärkte Werbung auch für pharmazeutische Artikel. Wenige Jahre später war aus der Drogerie ein breit aufgestelltes Versandgeschäft geworden, dessen Kern aber weiterhin Spirituosenessenzen bildeten. Das Sortiment umfasste nun aber auch Grundstoffe für Honig und Bier, Kosmetika und pharmazeutische Artikel, im Versandhandel auch Angebote anderer Markenartikelhersteller. Das war betriebswirtschaftlich sinnvoll, verringerte es doch die Abhängigkeit von einzelnen Präparaten. Das Marketing wurde dadurch jedoch schwieriger, denn – wie bei vielen anderen Versandgeschäften – hielt allein der Name des Inhabers das wachsende Sortiment zusammen.

Die übliche unternehmerische Antwort wäre die Schaffung einer Dachmarke gewesen – so wie es Reichel mit „Lichtherz“ vorgemacht hatte. Noa besaß seit 1900 Zeichenschutz für „ Noa‘s Original-Extrakte“, hinzu kam 1902 die „Arche Noa“ (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 239 v. 10. Oktober, 9). Doch dieses Warenzeichen wurde – bildlich stark variiert – vornehmlich 1904/05 verwandt, vereinzelt auch noch bis 1909 (Vorwärts 1909, Nr. 20 v. 24. Januar, 8). Als Dachmarke diente sie jedoch nicht, da blieb es bei Max Noas Namen. Derart personenzentrierte Werbung war zwar im späten 19. Jahrhundert noch üblich, entsprach aber nicht mehr dem Marketing nach der Jahrhundertwende, das vom Vordringen starker Markenartikel gekennzeichnet war. Noas Produkte besaßen kein derartiges Eigengewicht. Lediglich zwei Warenzeichen wurden angemeldet, 1902 „Bowlenmann“ (erteilt am 21. Januar 1903, Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 38 v. 13. Februar, 14) und 1910 „Hopfenperle“ (erteilt am 14. November 1910, Deutscher Reichsanzeiger 1910, Nr. 280 v. 29. November, 19). Max Noa gelang zwar der Aufbau eines erfolgreichen Unternehmens, doch er scheiterte an der Etablierung moderner Produkte mit Markenidentität.

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Sparen mit Noas Original-Extrakten (Vorwärts 1900, Nr. 47 v. 25. Februar, 12

Blicken wir nun genauer hin, zuerst auf die Anzeigenwerbung für „Noa’s Original Extrakte“. 1899 bis 1902 dominierte eine kombinierte Bild-Text-Anzeige, die bis mindestens 1909 weiter verwandt wurde. Sie stellte anfangs die Extrakte als Gruppe vor, erwähnte die verschiedenen Alkoholika nur summarisch, gab keine Preise, sondern eine Preisspanne an. Details enthielten die Gratisprospekte. Freier Versand innerhalb Berlins bei Mindestabnahme wurde zugesichert, Rabatte bei größeren Bestellungen garantiert. Der Text, vor allem aber das Bild beantworteten die offenkundige Frage, wie die Selbstbereitung denn aussähe. Während der Text auf die möglichen Einsparungen einging, repräsentierte der wohlgekleidete Herr mit zeitgenössischer Manneszier einen mittelständischen Kunden, befreite die Extrakte also vom Odium des Billigersatzes.

Die Anzeigengestaltung blieb während des Zeitraumes im Wesentlichen unverändert, einzig die appellative Schlagzeile variierte. War anfangs die Rede von den Produkten („Rum, Cognac oder Liqueur“) oder der möglichen Ersparnis, so lockte man später den Kunden mit suggestiven Sätzen („Wissen Sie Schon?“, „Billige Saat – Reiche Ernte“, „Versuch macht klug!“ oder „Haben Sie es vergessen?“ (Vorwärts 1900, Nr. 264 v. 11. November, 18, ebd., Nr. 275 v. 25. November, 18; ebd., Nr. 293 v. 16. Dezember, 13; ebd., Nr. 293 v. 23. Dezember, 13). Eingeflochten wurden ferner genauere Preisangaben. Ab 1901 wurde dann auch das Bildelement mit Text angereichert und variiert, der zuvor leere Werberaum gefüllt. Dort hieß es nun „Reinheit garantiert! Streng reell!“ oder aber „Bei 6 Fl. die 7. gratis. Ausserhalb bei 12 Fl. franco.“ (Vorwärts 1901, Nr. 41 v. 17. Februar, 8; ebd., Nr. 162 v. 14. Juli, 8). Ende 1901 wurde die Werbefigur schließlich von den bei Ausstellungen gewonnenen Medaillen umkränzt. Deren Strahlkraft litt zwar unter dem grassierenden „Medaillenschwindel“ – also dem einfachen Kauf einschlägiger Auszeichnungen –, doch so konnte sich Noa in eine Reihe mit vielen anderen Konsumgüterproduzenten (und Otto Reichel) stellen, die derartige Verbleibsel des späten 19. Jahrhunderts weiterhin nutzten. Die Variation von Text und Bildkranz erlaubte Max Noa jedenfalls werbliche Stringenz ohne Langeweile ob der ewig gleichen Anzeige. Und seit März 1901 mendelte sich gar die Sentenz „Trinken Sie gern“ (Vorwärts 1901, Nr. 162 v. 3. März, 8) als wichtigste Überschrift heraus, denn wer würde dies schon verneinen?

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Produktwerbung mit imaginären Autoritäten (Vorwärts 1902, Nr. 137 v. 15. Juni, 8)

Max Noas Anzeigen boten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen steten Alltagbegleiter für viele Berliner. Eine erste Neufassung erfolgte 1902. Für kurze Zeit wurde nun mit vermeintlichen Experten geworben, die Güte und Wohlfeilheit von Noas Präparaten priesen. Namen hierzu fehlten, es handelte sich um reine Werbeimaginationen. Das Motiv verschwand jedoch rasch wieder. Das galt auch für die trinkfreudige Familie, die 1903 einzelne Anzeigen Noas zierte.

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Patriarchale Familienidylle rund um den selbstbereiteten Noa-Trank (Vorwärts 1903, Nr. 214 v. 13. September, 17)

Diese wenigen Variationen waren Ausnahmen. Die seit 1899 dominierende Bild-Text-Anzeige wurde immer wieder variiert, diente seit 1902 auch der Anpreisung von Noas Limonaden-Extrakten, enthielt auch ab und an „Rezepte“. Doch ihr Ende schien nahe, als ab 1905 die „Arche Noa“ (Vorwärts 1905, Nr. 19 v. 22. Januar, 19) mit Bild- und Symbolkraft vordrang. Mochte die warenrechtlich relevante Schutzmarke auch deutlich anders ausgesehen haben, so bot sich das neu gestaltete Archenbild als Dachmarke eines sich ausweitenden Sortiments regelrecht an. Doch schon ab November 1905 trat das Motiv wieder in den Hintergrund, mochte es auch sporadisch noch bis mindestens 1909 in Anzeigen verwendet worden sein (Vorwärts 1909, Nr. 20 v. 24. Januar, 8).

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Die „Arche Noa“ in voller Fahrt (Berliner Volks-Zeitung 1905, Nr. 63 v. 7. Februar, 8)

Max Noas Anzeigenwerbung besaß keine klare Linie, variierte weit stärker als die führender Konsumgüteranbieter dieser Zeit. Doch sie erfüllte offenbar ihren Hauptzweck, nämlich genügend Käufer für die Extrakte zu gewinnen. Spätestens 1905 endete jedenfalls die Frühphase des Marketings, die noch stark vom Kampf um den Berliner Kernmarkt geprägt war. Nun setzte eine anders gelagerte Werbung ein, vornehmlich in überregionalen Zeitschriften und Zeitungen. Die Anzeigen übernahmen die wichtigsten Motive der Anfangszeit, waren aber tendenziell kleiner und konzentrierten sich zunehmend auf einzelne Produkte. Noa zog sich spätestens 1908 zunehmend aus den Berliner Zeitschriften zurück, beließ es bei saisonaler Werbung bzw. Erinnerungswerbung. Doch bevor wir darauf eingehen, gilt es erst einmal das wichtigste Einzelelement des Noaschen Marketings in den Blick zu nehmen, die lange gratis abgegebene Werbebroschüre „Die Destillation im Haushalte“.

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Ein Rezeptbuch, ganz umsonst und portofrei (Vorwärts 1901, Nr. 53 v. v. 3. März, 8)

Max Noa legte schon 1899 Bestellungen „ausführliche Prospekte mit wertvollen Rezepten“ gratis bei. Es handelte sich vornehmlich um eine Werbebroschüre, um einen kleinen, noch allein auf die Essenzen zugeschnittenen Einkaufskatalog. Sie war wichtig, mussten die Käufer doch selbst aktiv werden, mussten lernen, wie sie ihre Getränke auf kaltem Wege herstellen konnten. Selbstbereitung bedurfte der Erklärung und Anleitung. Mittels sog. „Rezepte“ wurde das Sortiment vorgestellt und der Wunsch nach diesen wohlig klingenden Getränken geschürt. Von Rezepten konnte allerdings nicht die Rede sein, bestanden sie doch häufig allein aus Essenz plus Weingeist plus Wasser, musste bei Likören, Cremes, Bowlen und Punsch zudem Zucker hinzugefügt werden. Das galt auch für Limonaden, während bei „Weinen“ das Gemenge auch Hefe enthalten musste. „Bier“ war noch komplizierter. Die Broschüre enthielt ferner die üblichen Versandkautelen, gab ansprechende Einblicke in den Noaschen Betrieb, präsentierte einzelne Auszeichnungen und Gutachten und endete mit zahlreichen Dankes- und Empfehlungsschreiben. Belastbare Aussagen zu den Inhaltsstoffen der Essenzen und zu deren Produktion fehlten, mochten auch viele positiv stimmende Worte das gerichtsnotorische Nichts umkränzen. Es handelt sich also um ein überdurchschnittlich gut gemachtes Werbemittel, dem Verbindlichkeit und Substanz jedoch im Wesentlichen abgingen. Es ging um ein gutes Gefühl für den hoffnungsfrohen Einkauf.

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Umschlagbilder von Max Noas Werbebroschüre „Die Destillation […] im Haushalte“ 1903 (l.) und 1908

Die Rezeptbücher wurden von Max Noa im Eigenverlag produziert, konnten aber auch im Buchhandel gekauft werden. Im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels fand es allerdings keine Erwähnung. Die Broschüre wurde auch in Österreich angeboten (Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 53, 1903, 846). In der Noaschen Werbung fand ich sie ab der achten Auflage 1901 (Vorwärts 1901, Nr. 53 v. 3. März, 8). Konkurrent Reichel zog rasch nach, offerierte seine kostenlose Broschüre „Die Destillation im Hause“ spätestens ab 1902 (Der oberschlesische Wanderer 1902, Nr. 240 v. 15. Oktober, 5).

Noa passte die Neuauflagen immer wieder an das sich weitende Sortiment an, wechselte nach den Umzügen auch die einschlägigen Photos aus. Ihr Umfang weitete sich entsprechend: Die zehnte Auflage von 1903 besaß 112 Seiten, die 1908 nach der Betriebsverlegung nach Niederschönhausen erschienene Neuauflage schon 160 Seiten. Ab 1909 stieg der Umfang auf 192 Seiten, der auch bei der letzten, der 1915 erschienenen 18. Auflage beibehalten wurde. All dies führte zu steigenden Kosten, so dass man spätestens 1905 dazu überging, für den alleinigen Versand eine Schutzgebühr von 50 Pfennig zu verlangen (Der Wahre Jacob 22, 1905, 4705; ebd. 26, 1909, 6264).

Während die Werbebroschüre die Konstante im Marketing Noas bildete, veränderten sich mit dem Sortiment auch die Schwerpunkte der Anzeigenwerbung. Die Sortimentsausweitung betraf weniger den Vertrieb von alkoholischen Essenzen als vielmehr Limonaden- und Honig-Essenzen, Wein- und Biergrundstoffe. Wichtiger noch waren pharmazeutische Produkte. Max Noa hatte – wie schon zuvor Otto Reichel – mit derartigen Angeboten seine unternehmerische Karriere begonnen. Die hier gezeigten Schädlingsbekämpfungspräparate sind nur ein besonders prägnantes Beispiel. Noa bot ferner einfache Pharmazeutika an, etwa den Kräutermix „Hustentropfen Noa“ (Pharmazeutische Praxis 9, 1910, 43).

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Schädlingsbekämpfung à la Noa – hier teils noch als Max Ed. Noa (Vorwärts 1900, Nr. 131 v. 9. Juni, 7 (l.); ebd. 1901, Nr. 186 v. 11. August, 6)

Spätestens 1907, wohl nach dem Umzug nach Niederschönhausen, begann Noa verstärkt Kosmetika herzustellen und zu verkaufen; dieses Mal von Beginn an begleitet von einer weiteren Werbebroschüre, die gratis „Die Geheimnisse der Schönheit“ offenlegte (ähnlich wie zuvor Otto Reichel in „Die Schönheitspflege“ (Gartenlaube Kalender 1903, Leipzig 1902, Industrieller Anzeiger, 18)). „Creme Noa“ war das am intensivsten beworbene Produkt des Berliner Selfmademans.

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Lukrative Kosmetika für eine bürgerliche Kundschaft: Creme Noa und Noa’s Büsten-Kräutermilch (Jugend 12, 1907, 193 (l.); Lustige Blätter 23, 1908, Nr. 19, 15)

Die Anzeigen folgten stilistisch denen der Essenzen. Ein einladendes Frauenkonterfei lenkte den Blick auf das Einsatzgebiet der Creme, unterstützt von einer fett gehaltenen Überschrift. Diese konnte wechseln, während man erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann, auch das Bildelement zu variieren (Der Große Straßburger hinkende Bote 1913, Straßburg 1912, 109). Die Präparate boten Allerweltsware, Hautpflege mit unbekannten Inhaltsstoffen, Busencremes mit gängigen Hausmitteln. Und doch illustrieren diese Kosmetika das unternehmerische Kalkül Noas. Die Anzeigenwerbung für alkoholische Essenzen schaltete er vor allem in Arbeiterzeitungen und -zeitschriften, etwa den SPD-Organen „Vorwärts“ und „Der Wahre Jacob“, sowie in der billigen Massenpresse, etwa der „Berliner Volks-Zeitung“. Seine Kosmetika präsentierte er dagegen in bürgerlichen Karikaturzeitschriften wie den „Fliegenden Blättern“ oder aber bürgerlichen Massenillustrierten wie „Die Woche“. Der Bau neuer Fabrikationsstätten in der Treskowstraße diente also nicht allein der Ausweitung des Unternehmens, sondern auch einem sozialen Upgrading (neudeutsch für die soziale Aufwertung von Produkten und Dienstleistungen). Parallel intensivierte Noa seine Werbeaktivitäten. Zeitungswerbung wurde weniger wichtig, überregionale Kalender, Wochenbeilagen von Tageszeitungen und vor allem Publikumszeitschriften gewannen an Bedeutung.

Auch wenn im Rahmen dieses kleinen Beitrages keine umfassenderer Belege präsentiert werden können, so begann Noa (oder damit beauftragte Annoncenexpeditionen) gegen Ende der 1900er Jahre mit einer recht genauen Zielgruppenanalyse für die einzelnen Produkte – und einer von Produkt zu Produkt unterschiedlichen medialen Präsenz. Das ging einher mit einer auch saisonal variablen Werbung – obwohl die Essenzen im Regelfall länger haltbar waren. Diese Ausdifferenzierung konnte das Marketing auch erleichtern: Einschlägige Anzeigenmotive wurden teils mehrere Jahre nacheinander unverändert geschaltet.

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Saisonale Werbung für saisonale Produkte (Vorwärts 1912, Nr. 303 v. 29. Dezember, 15 (l.); ebd., 1907, Nr. 162 v. 14. Juli, 11)

Max Noas rationales Kalkül beim Einsatz von Anzeigen hatte allerdings auch eine Kehrseite. Er bot seinen Kunden nicht nur keine nachvollziehbaren Informationen zu seinen Produkten, zu den verwandten Inhalts- und Grundstoffen, sondern er war auch ein notorischer Aufschneider: Aussagen wie: „Millionenfach erprobt u. bewährt ist die Selbstbereitung von Kognak, Rum, allen echten Likören usw. unter Verwendung der rühmlichst, weit bekannten, höchst prämiierten Noa’s Original-Extrakte“ (Vorwärts 1907, Nr. 53 v. 3. März, 10) oder: „Feinschmecker u. Kenner kaufen bei mir!“ (Vorwärts 1908, Nr. 257 v. 1. November, 13) waren schlicht unrichtig. Noa nutzte zudem positiv klingende Attribute, wenn es denn passte. Der Drogist erhob sich etwa zum „Gärungschemiker“ (Der Wahre Jacob 24, 1907, 5480). Und ob sein Niederschönhausener Betrieb eine „Bier-Extrakt-Brauerei“ (Der Wahre Jacob 23, 1906, 5150) oder eine „Fruchtsaftpresserei“ (Vorwärts 1907, Nr. 162 v. 14. Juli, 11) war, ist füglich zu bezweifeln. Wahrscheinlicher ist, dass er Vorprodukte von Fachanbietern kaufte, diese eventuell vermischte, sicher aber umverpackte. Das mag man als gängige werbliche Schönfärberei abhaken, wurde in der damaligen Reklamekritik aber scharf kritisiert und mündete in Regulierungs- und Verbotsforderungen (Uwe Spiekermann, Elitenkampf um die Werbung. Staat, Heimatschutz und Reklameindustrie im frühen 20. Jahrhundert, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags […], Stuttgart 1995, 126-149, insb. 127-129). Bevor wir uns den damit verbundenen rechtlichen Fragen zuwenden, ist aber noch einen genaueren Blick auf die Rivalität zwischen Max Noa und Otto Reichel zu werfen.

Noa versus Reichel

Als Max Noa um die Jahreswende 1899/1900 als „Erfinder“ einer großen Palette alkoholischer Essenzen auftrat und gar noch 500 Mark demjenigen bot, der nachweisen können „daß meine Original-Extrakte trotz ihrer Billigkeit von einem Konkurrenz-Fabrikat übertroffen werden“ (Vorwärts 1899, Nr. 304 v. 30. Dezember, 7) reagierte der Berliner Marktpionier Otto Reichel erst einmal mit intensivierter Werbung (Vorwärts 1900, Nr. 83 v. 8. April, 12; ebd., Nr. 88 v. 15. April, 11) und der deutlichen Warnung „Vorsicht vor Nachahmungen“. Schließlich hatte er schon mehrere Wettbewerber kommen und gehen sehen. Noas kontinuierlicher Werbung folgten im Mai 1900 dann strikte Hinweise „Zur Aufklärung und Warnung! Die gesetzlich geschützten kombinierten Original Reichel-Essenzen wurden allein von mir erfunden und zuerst in den Handel gebracht. Alle andren Essenzen unter täuschend ähnlichen Namen sind Nachahmungen meiner durch höchste Vollkommenheit berühmt gewordenen Fabrikate, welche niemals erreicht, geschweige denn übertroffen werden können“ (Vorwärts 1900, Nr. 116 v. 20. Mai, 7). Diese Warnung wiederholte er mehrfach (Vorwärts 1900, Nr. 138 v. 17. Juni, 10).

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Warnung Otto Reichels vor der Konkurrenz von Max Noa (Vorwärts 1900, Nr. 199 v. 28. August, 7)

Doch Max Noa zog nicht zurück, sondern ging seinerseits zur Attacke über: „Hüten Sie sich vor minderwertigen Fabrikaten! Meine höchst vollendeten Orig.-Extrakte sind die besten und werden an Vorzüglichkeit von keinem andern Fabrikat auch nur im entferntesten erreicht“ (Vorwärts 1900, Nr. 149 v. 30. Juni, 8). Das war harter Tobak, denn Noas Epigonenrolle war offenkundig. Doch er wusste, dass ein fundierter Vergleich der Essenzen sowohl aufgrund der defizitären Analytik der chemischen und pharmazeutischen Untersuchungsämter als auch aufgrund der intransparenten stofflichen Zusammensetzung der Produkte nicht möglich war. Noas Aufplustern entsprach zwar nicht der vielbeschworenen kaufmännischen Ehre, doch rechtlich war dem nicht beizukommen.

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Warnung Noas vor der „minderwertigen“ Konkurrenz Reichels (Vorwärts 1900, Nr. 264 v. 11. November, 18)

Otto Reichel reagierte, annoncierte in fetter Schrift „Warnung vor nicht echten Fabrikaten unter täuschend ähnlichen Namen“ (Vorwärts 1900, Nr. 204 v. 2. September, 11). Doch Noa setzte weiter nach, nutzte ein von ihm selbst in Auftrag gegebenes und nicht veröffentlichtes Gutachten um unmittelbar vor Weihnachten zur Schmähkritik von Reichels Essenzen überzugehen, „die durch marktschreierische, den kaufmännischen Anstand verletzende Annoncen angepriesen werden (Vorwärts 1900, Nr. 299 v. 23. Dezember, 14).

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Kontinuierliches Kitzeln des Wettbewerbers (Vorwärts 1900, Nr. 299 v. 23. Dezember, 14)

Die Reaktion Reichels folgte auf dem Fuß: Zu Weihnachten schlug er zurück, betonte „Nachahmungen sind keine Meisterwerke“, gefolgt von einer langen Auflistung von „Thatsachen und Zahlen“, die letztlich nichts anderes waren als ein Lobpreis der eigenen Essenzen. Zugleich aber verwies der Marktführer auf mittlerweile mehr als einhundert Drogerien, die seine Präparate in Berlin führen würden. Dieses Exklusivrecht schloss im Regelfall die Konkurrenz aus. Max Noa wurden also in der zweiten Hälfte 1900 wichtige Absatzkanäle verschlossen. Und es mag für ihn besonders schmerzlich gewesen sein, dass sich auch Otto Bleck, der frühere Besitzer seiner eigenen Drogerie, für Reichels Präparate verdingte (Vorwärts 1900, Nr. 275 v. 25. November, 11). Noas Geschäft in der Reinickendorferstraße 48 war ebenfalls von Reichels Niederlagen umgeben: Gleich drei Drogerien der unmittelbaren Nachbarschaft warben für und verkauften die Essenzen des Marktführers (Paul Recollin (Nr. 26a), G. Leisegang (56b) und Paul Trapp (70)). Es ist anzunehmend, dass Noas Absatz durch diese Demonstration von Marktmacht litt, zumal er selbst bis Mitte 1901 nur ganze vier Niederlagen gewinnen konnte (Vorwärts 1901, Nr. 162 v. 14. Juli, 8). Zu diesem Zeitpunkt war die Pressefehde längst ausgelaufen. Für Otto Reichel war sie der Auftakt für den Aufbau eines reichsweiten Netzwerkes von mehr 600 Niederlagen, während Noa noch mehrere Jahre den Berliner Markt beackerte, ehe er in der Lage war, ein reichsweites Versandgeschäft aufzubauen.

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Verbale und wirtschaftliche Gegenwehr des angegriffenen Marktpioniers Otto Reichel (Vorwärts 1900, Nr. 300 v. 25. Dezember, 14)

Es ist nicht klar, ob der harte Kampf zwischen Noa und Reichel größeren Widerhall in der Öffentlichkeit fand. Dieses Ringen um die Hegemonie in einer Marktnische war etwas anderes als etwa der offene Wettbewerb zwischen den Berliner Billigheimern Lubasch und Wertheim in den frühen 1890er Jahre, der es gar auf die Theaterbühnen brachte. Max Noa und Otto Reichel blieben jedenfalls Geschäftsfeinde. Einfacher wäre es gewesen, sich einer den Aufstieg der künstlichen Kost begleitenden Binsenweisheiten zu erinnern: „Das moderne Erwerbsleben läuft auf so verschlungenen Schleichwegen, dass schließlich kaum noch zwischen echt und unecht zu unterscheiden ist“ (Zeitläufte, 1888, 6).

Max Noa und das Recht

Max Noa vertrieb seit der Jahrhundertwende gängige und bereits etablierte Essenzen, deren Gesundheitsgefahr überschaubar war. Chemisch-pharmazeutische Experten hatten nicht über den Wert und Unwert des Alkoholkonsums zu urteilen; ebenso wenig über den Geschmack der kalt zubereiteten Getränke. Entsprechend war der Widerhall auf Noas Produkte gering. Lapidar hieß es, „Noa’s Original-Extrakte sind Mischungen, die zur Darstellung verschiedener Getränke, z.B. Liqueuren, dienen. Die Zusammensetzung derselben ist selbstverständlich geheim“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 45, 1904, 132). Das lag an der geringen Regulierung, lag aber auch am geringen Interesse der Regulierungsinstanzen am Alltagskonsum der ärmeren Bevölkerung. Nur vereinzelt nutzten Gerichte ihre rechtsschöpferische Kompetenz, wie etwa bei der Definition von Zitronenpunschessenz (Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 7, 1909, 10-12, 19-20, 140-142, 155-157, 193-195), die in ein publizistisches Ringen zwischen Nahrungsmittelproduzenten und öffentlichen Nahrungsmittelchemikern mündete. Essenzen waren etablierte Produkte, die ordentlich in natürliche und künstliche eingruppiert wurden, die allesamt wichtige Aufgaben in der Konsumgüterindustrie erfüllten (J[ohannes] Varges, Nahrungsmittelchemie, Leipzig 1907, 46). Unausgesprochen war klar, dass die Selbstbereitung von Alkoholika zu akzeptieren sei, handelte es sich doch um eine Art Selbsthilfe von Arbeitern und Kleinbürger, die vom guten Geschmack profunder Destillate träumten, die aber auch mit den aus Essenzen hergestellten Surrogaten zufrieden waren. Alkoholische Essenzen waren eine Einstiegsdroge in die bürgerliche Konsumgesellschaft, hielten die unteren Schichten jedoch zugleich auf Abstand zum wohlsituierten Bürger, der doch einen durchschnittlich mindestens ebenso hohen Alkoholkonsum hatte wie die dafür allseits geschmähten unterbürgerlichen Trunkenbolde.

Und doch wurde dieser unausgesprochene Konsens gegen Ende der 1900er Jahre zunehmend brüchig. Dafür gab es vielfältige Ursachen: Erstens rangen Produzenten und Chemiker nicht allein um die Definition von Zitronenpunschessenzen, sondern um die Normierung tendenziell aller Nahrungs- und Genussmittel. Die unternehmerische Praxis hatte zunehmend überprüfbaren Ansprüchen von Transparenz und Klarheit zu genügen. Zweitens führten die Verwerfungen des wirtschaftlichen Wettbewerbes zu Rückfragen an „Treu und Glauben“, an „kaufmännische Ehre“, an die „guten Sitten“ im Marktgeschehen. 1909 wurde das Gesetz gegen Unlauteren Wettbewerb novelliert. Eine breit gefächerte gewerbliche Mittelstands- und die noch schwache Konsumentenbewegung stritten weiterhin für Ehrlichkeit und Berechenbarkeit im Geschäftsleben. Drittens gab es eine intensive, vielfach auch öffentliche Debatte über die pharmazeutischen und kosmetischen Geheimmittel. Ein 1910 im Reichstag vorgelegter Gesetzentwurf zu einer reichseinheitlichen Regelung kam zwar nicht zur Abstimmung, doch die Standesvertretungen der Drogisten und Apotheker versuchten mit gewissem Aufwand, überteuerte und unwirksame Angebote anzuprangern und aus dem Markt zu drängen. Viertens führte die finanziell schwache Ausstattung der Reichsebene und die forcierte Aufrüstung nicht nur der Marine 1909 zu zahlreichen neuen oder erhöhten Steuern auf Konsumgüter. Die kostengünstige Selbstbereitung von Alkoholika geriet unter zentralstaatlichen Druck.

28_Vorwaerts_1908_03_15_Nr064_p22_ebd_01_05_Nr004_p19_Otto-Reichel_Essenzen_Spirituosen_DIY_Selbstbereitung_Rum_Kognak

So nicht! Von Max Noa inkriminierte Anzeigen von Otto Reichel (Vorwärts 1908, Nr. 64 v. 15. März, 22 (l.); ebd., Nr. 4 v. 5. Januar, 19)

Max Noas Geschäftsmodell geriet also gegen Ende der 1900er Jahre unter vermehrten Druck durch einen langsam expandierenden Steuer- und Rechtsstaat und neue, nun konsequenter eingeforderte Ansprüche naturwissenschaftlicher Experten und wirtschaftlicher Akteure. Mangels betrieblicher und privater Quellen sind die Folgen nur beispielhaft einzufangen. Drei Beispiele müssen genügen.

Blicken wir zuerst auf ein Leitprodukt im Noaschen Angebot alkoholischer Essenzen, den Kognakextrakt. Das Weingesetz vom 7. April 1909 hatte nicht nur die Produktion, die Zuckerung und die Deklaration des Traubenproduktes neu gefasst, sondern auch die der daraus gewonnenen Spirituosen. „Kognak“ musste demnach ausschließlich aus Wein gewonnen sein. Dadurch wurde die Begriffsverwendung eingeengt: „Bei Kunstprodukten aus Spiritus, Wasser, Essenz und Farbe bereitet darf das Wort Kognak nur angewendet werden, wenn mindestens 10 Teile in 100 Teilen reines Weindestillat sind“ (Georg Ottersbach (Bearb.), Handbuch der Drogisten-Praxis, T. 1, Berlin 1914, 858). Ähnliches galt für Verschnittware. Noa sah dies erst einmal als Chance, um seinen Berliner Konkurrenzen Otto Reichel anzuklagen, da dieser den neu gefassten Begriff „Kognak“ weiterhin in seinen Anzeigen verwandte. Am 20. Dezember 1909 gab das Berliner Landgericht der Klage statt. Reichel ging in Revision, kritisierte dabei aber vor allem die gerichtliche Erlaubnis, dass die Firma Noa in ihren Werbeutensilien „die von ihr hergestellten Extrakte zur Zubereitung von Kognak, Rum und ähnlichen Getränken in ihren Drucksachen als ‚Kognak-Extrakt‘, ‚Rum-Extrakt‘ usw.“ (Kognakextrakt und Rumextrakt sind unzulässige Bezeichnungen, Drogisten-Zeitung 27, 1912, 434) bezeichnen dürfte. Das Revisionsurteil wurde für den Niederschönhausener Unternehmer zum Bumerang. Die Richter untersagten abermals die von Reichel gewählte Begrifflichkeit. Zugleich aber verboten sie Noa (und auch Reichel) die einschlägige Verwendung von Kognak-, Rum- und Arak-Extrakt sowie ähnlicher Begriffe (Kognakextrakt und Rumextrakt sind unzulässige Bezeichnungen, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 53, 1912, 265-266). Damit mussten nun beide Essenzenproduzenten ihre Werbung neu fassen. Extrakte und Essenzen boten also keineswegs Produkte von gleicher oder gar höherer Qualität als die Spirituosenproduzenten. Es handelte sich um zwei strikt voneinander zu trennende Marktsegmente, die werblich nicht vermengt werden durften. Noas Sortimentsausweitung wird auch unter diesem Gesichtspunkt verständlich.

29_Berliner Volks-Zeitung_1912_01_09_Nr013_p10_Badische Presse_1912_02_10_Nr070_p06_Otto-Reichel_Max-Noa_Essenzen_Spiriuosen_Likoer_Selbstbereitung_DIY

Begriffliche Eiertänze: Veränderte Anzeigen nach dem Verbot für Kognak-Extrakt & Co. (Berliner Volks-Zeitung 1912, Nr. 13 v. 9. Januar, 10 (l.); Badische Presse 1912, Nr. 70 v. 10. Februar, 6)

All dies war Ausfluss eines parallel laufenden Ringens um neue Definitionen von Essenzen, Spirituosen und Likören (Essenz, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 9, 1911, 75-76), die nach dem Ersten Weltkrieg dann deutlich komplexer wurden (G. Büttner, Über die Bezeichnung von Grundstoffen und Essenzen zur Herstellung von Getränken und anderen Lebensmitteln, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 1929, 31-33). Dafür sorgte auch die verstärkte Regulierung durch das Branntweinmonopolgesetz vom 8. April 1922, dem Weingesetz vom 1. Februar 1923 sowie dem Lebensmittelgesetz vom 5. Juli 1927. Das sollte die Chancen für das Geschäft mit selbstbereiteten Alkoholika in den 1920er Jahren weiter begrenzen.

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Heimbrauen und Steuer sparen (Der Wahre Jacob 24, 1907, 5480 (l.); ebd. 27, 1910, 6888)

Max Noa warb in den späten 1900er Jahren – durchaus mit Blick auf die lautstark agitierende Temperenzbewegung – vermehrt die Selbstbereitung von Bier. Diese ist, wie jeder weiß, der in den letzten Jahren das modische Heimbrauen versucht hat, ein äußerst komplexer Prozess mit vielen Fallstricken. Eine Brauereizeitschrift handelte diesen am Beispiel eines Landwirtes aus dem unterfränkischen Gerolshofen ab: „Der Landwirt bestellte bei Noa die zur Bierbereitung erforderlichen Stoffe und erhielt diese. Der Empfänger ‚braute‘ zwei- oder dreimal Bier, im ganzen 20 bis 24 Liter; er füllte das Bier in Flaschen ab; nur ein Teil wurde getrunken, der Rest weggeschüttet, weil er wegen schlechten Geschmackes nicht mehr trinkbar war“ (Bierpantscherei bei uns und in Deutschland, Der Böhmische Bierbrauer 36, 1909, 353). Doch dabei blieb es nicht. Denn das Hauptzollamt Schweinfurt erließ nun einen Strafbefehl, da Noa mit dem Versand der Grundstoffe gegen Artikel 7 des bayerischen Malzaufschlag-Gesetzes (Verwendung von Malzsurrogaten bei Erzeugung von Bier) wissentlich Hilfe geleistet habe. Noa wies diesen zurück, wurde jedoch vom Schöffengericht Gerolshofen zu einer Geldstrafe verurteilt (Bayerisches Brauer-Journal 19, 1909, 179). Seine Berufung wurde verworfen, ebenso die Revision vor dem Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts: Wer „Bier für seinen Hausbedarf braue, unterliege ebenso der Aufschlagspflicht wie der gewerbsmäßige Brauer, auch gelte für ihn in der gleichen Weise das Verbot der Verwendung von Surrogaten“ (Bierbrauerei für den Hausbedarf in Bayern, Gambrinus 36, 1909, 478). Das Urteil wurde unterschiedlich beurteilt, und Noa betonte in späteren Anzeigen weiterhin: „ges. erlaubt“ (Der Wahre Jacob 30, 1913, 7974).

Auch im cisleithanischen Österreich geriet der Niederschönhausener Unternehmer rasch unter Druck des dortigen Braugewerbes, nachdem er 1912 für den Hausgebrauch seines Grundstoffes warb. Auch dort hieß es: „Eine offenbare Verleitung zu einer ungesetzlichen Biererzeugung[,] die doch aufs strengste geahndet werden sollte.“ Ebenso wichtig wie der Ruf nach juristischen Sanktionen war jedoch die Schmähung des vermeintlichen Labetrunks: „Und ein solches ‚Gemenge“ soll als Bier gelten? Pfui! Dreimal Pfui!“ (Beide Zitate n. Ein neues Brauverfahren, Gambrinus 39, 1912, 533).

31_Der Wahre Jacob_27_1910_p6717_Arbeiter-Zeitung_1912_08_04_Nr211_p20_Max-Noa_Selbstzubereitung_Bienenhonig_DIY_Berlin_Bodenbach

Angebote zur Selbstbereitung von „Bienenhonig“ im Deutschen Reich und in Österreich (Der Wahre Jacob 27, 1910, 6717; Arbeiter-Zeitung 1912, Nr. 211 v. 4. August , 20)

Max Noa scheint 1913 auch für den Vertrieb seines Grundstoffes für die Selbstbereitung von Bienenhonig verurteilt worden zu sein (Richard Ewert, Die Honigbiene als wichtigste Gehilfin im Frucht- und Samenbau, Leipzig 1939, 56). Faktisch handelte es sich dabei um eine Mischung aus Wasser, Zucker und Essenz, die als Kunsthonig vor dem Ersten Weltkrieg ohne Beanstandungen als preiswerter Brotaufstrich gekauft werden konnte. Auch in diesem Falle regte sich Widerstand weniger gegen das Produkt an sich (Neue Bienen-Zeitung 13, 1913, 179). Es ging vielmehr um die Werbesuggestion, dass ein derartiges Produkt mit Bienenhonig wirklich auf eine Stufe zu stellen sei (C. Schachinger, Kunsthonigfabrikation in Oesterreich, Wiener Landwirtschaftliche Zeitung 64, 1914, 601).

Unternehmer wie Max Noa, Otto Reichel und hunderte weiterer mittelständischer Geheimmittelanbieter nutzten strukturelle Schwächen offener liberaler Wirtschaftssysteme, deren strikte Rechtsorientierung vielfach unterlaufen wurde und die damit eine immer stärkere Regulierung erforderlich machten, um Transparenz- und Gleichheitsversprechen ansatzweise zu genügen. Gemacht wurde, was erlaubt schien; rechtliche Grauzonen wurden konsequent genutzt, dem Kunden ein Produktnutzen suggeriert, den die Ware kaum halten konnte. Gewiss, im geschäftlichen Umgang war man freundlich und verbindlich, für möglichen Geldgewinn wurde eine höfliche Maske übergezogen. Im harten Alltagsgeschäft dominierte jedoch Selbstsucht und Habgier: „Diese absolute Möglichkeit, die Kräfte des Geldes bis aufs Letzte auszunutzen, erscheint nicht nur als Rechtfertigung, sondern sozusagen als logisch-begriffliche Notwendigkeit, es auch wirklich zu tun“ (Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Frankfurt a.M. 1989, 608). Unternehmer wie Max Noa nutzten die Chancen der wilhelminischen Zeit mit ihren nur rudimentär regulierten Konsumgütermärkten. Es ist unklar, ob Noas protestantischer Glaube oder die damals stetig hochgehaltenen Werte kaufmännischer Ehre die theoretisch einfach zu benennende Dynamik der immanenten Amoralität des Gelderwerbs gemildert haben. Doch Noa war, wie viele andere Geheimmittelproduzenten dieser Zeit, offenbar nur durch äußere Zwänge von justiziablen Regeln und Gesetzen in seinem Expansionskurs zu lenken und zu bremsen. Auch wenn Max Noa damit ein zeittypischer Grenzgänger zwischen Moral und Recht war, so hob er sich dennoch ab von ebenfalls zahlreichen zeitgenössischen Unternehmern, die Kunden offensiv und wissentlich täuschten (zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität insgesamt s. Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann, Shady business: On the history of white-collar crime, Business History 60, 2018, 289-304).

Selbstbereitung als Vorläufer des Do-it-yourself

Noas Unternehmen verweist aber auch auf wichtige allgemeine Probleme des deutschen Kaiserreichs, das ja eine sich ausbildende Konsumgesellschaft war. Die Selbstbereitung von alkoholischen Genussmittel und dann auch gängiger Nahrungsmittel verweist auf eine andere Form der Teilhabe. Nicht allein der Markt, nicht allein die vielfältigen Substitute und Ersatzmittel boten einen Zugang zur wachsenden materiellen Fülle der Moderne. Diese öffnete sich nicht allein mit Geld oder durch den moderaten Verzicht, sondern auch durch eigene Arbeit. Die Essenzen Noas, Reichels und anderer boten mehr als Substitute, denn sie verbanden eigenständige Wahl mit eigenständigem Tun. Das war mehr als die vor allem weiblich konnotierten Hausarbeiten, das Reparieren und Flicken, die Hausschneiderei und Gärtnerei. Das wichtige Thema der Selbstbereitung – neudeutsch gleich als Do-it-yourself-Forschung in spätere Zeiten verbannt – ist bisher kaum erforscht. Selbst neuere Arbeiten nehmen es nicht als wichtigen Zweig der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ernst, sondern verzwergen es auf die Wecksche Hitzesterilisierung oder Dr. Oetkers Convenienceprodukte (Reinhild Kreis, Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters, Frankfurt a.M. und New York 2020, Kap. 2.2). Dies leistet einer Periodisierung Vorschub, die sich vornehmlich an der Ambivalenz einer vermeintlich erst in den 1950er Jahre einsetzenden Massenkonsumgesellschaft labt, die aber an den Anfängen seit den 1870er Jahren nicht interessiert zu sein scheint (Nikola Langreiter und Klara Löffler (Hg.), Selber machen. Diskurse und Praktiken des „Do it yourself“, Bielefeld 2017 und auch die an sich sehr profunde Studie von Jonathan Voges, „Selbst ist der Mann“. Do-it-yourself und Heimwerken in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2017).

Blickt man dagegen auf die Selbstbereitung von Alkoholika, so findet man schon um die Jahrhundertwende Abwägungen, die einen modernen, rational handelnden Verbraucher ebenso voraussetzen wie menschliche Kreativität und Gestaltungskraft. Lockreiz für den Kauf der Essenzen war gewiss der vermeintlich niedrigere Preis – zumindest verglichen mit dem offenkundig nicht nachzubereitenden Original. Doch die damaligen Käufer wussten, dass sie keinen Kognak bereiten konnten, dass am Ende ihrer Mühen kaum ein wahrlich edler Tropfen stand. Doch anders als beim Konsum eines standardisierten Markenartikels, bei dem sie vorrangig am Ende eines ihnen unbekannten und vorgegebenen Produktions- und Absatzprozesses eines Markenartikels standen, konnten die Käufer in diesen Fällen Einzelkomponenten wählen und prüfen, konnten den Rezepten folgen oder sie variieren. „Man erhält die Bestandtheile einzeln und nimmt die Mischung eigenhändig vor, und gerade darin liegt die beste Sicherheit für unzweifelhaft reine und stets gleichmäßige Getränke, eine Garantie unter eigenen Augen“ (Vorwärts 1896, Nr. 302 v. 25. Dezember, 13) – so hieß es bei Otto Reichel. Und es dürfte vielen Käufern um das Proben und Testen, das Machen und Mengen gegangen sein, um geselliges Schaffen, ein vorzeigbares Ergebnis – und natürlich um gemeinsames Probieren, Trinken und Betrinken. Das war etwas in Zeiten, in denen Arbeit kaum selbstbestimmt war und weit mehr Zeit in Anspruch nahm als heutzutage.

Auch Max Noa kitzelte seine Kunden nicht nur mit der Geschmackserwartung einer klingend benannten Essenz. Als Vorteile benannte er selbstbewusst: „1. Jeder ist sich der sauberen Handhabe bei der Selbstbereitung bewusst. 2. Es ist jedem möglich, vorher die einzelnen Stoffe auf Tadellosigkeit und Reinheit zu prüfen. 3. Die Ersparnis ist in Anbetracht der geringen Mühe eine horrende und beträgt das Doppelte bis Achtfache der üblichen Handelspreise, da bei der Selbstbereitung nur die wahren Werte der Bestandteile bezahlt werden. 4. Nach meinem Verfahren ist die Zusammenstellung der Spirituosen eine ungemein einfache und leichte, da dieselben sofort rein und blank wie Gold zum Genusse fertig sind und nicht nachgefärbt zu werden brauchen. 5. Das Bewusstsein, zweifellos reinste, schmackhafteste, fuselfreie und bekömmliche Getränke vor eigenen Augen mit eigenen Händen selbst zu bereiten und dabei viel Geld zu sparen, sind Vorzüge, welche erhaben sind und nicht hoch genug geschätzt werden können“ (Destillation, [1903], 9). Gewiss, hier wären kritische Rückfragen nach Gehalt, Preis, Geschmack und Ertrag angemessen. Doch Selbstbereitung hatte eine eigene Logik, die im Wagen und Gelingen lag, im spielerischen Tun selbst im Mannesalter. Die Essenzen waren immer auch Türöffner für eine Welt der materiellen Fülle und Teilhabe, gelenkt und enggeführt, doch auch Abglanz von etwas anderem als der täglichen Fron.

Grenzübertritt: Max Noas Auslandsdependance im böhmischen Bodenbach

Doch zurück in die unternehmerische Praxis Noas: 1912 konnte er sich nämlich endlich vom Odium des steten Nachahmers befreien. Während Otto Reichel allein im Deutschen Reich agierte, errichtete Max Noa kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Vertriebs- und Produktionszentrale im böhmischen Bodenbach, um von dort aus den cisleithanischen Markt zu erobern. Das war gewiss keine einfache Entscheidung, denn in Österreich-Ungarn war die Nahrungsmittelkontrolle strikter als im Deutschen Reich und vor allem dem recht laschen Preußen (Uwe Spiekermann, Redefining Food: The Standardization of Products and Production in Europe and the United States, 1880-1914, History and Technology 27, 2011, 11-36). Ebenso galt es vertrauensvolle Repräsentanten zu finden, denn der Betrieb eines chemisch-pharmazeutischen Unternehmens war an die Präsenz eines qualifizierten Inhabers oder Geschäftsführers gebunden, der eine dreijährige Lehr- und eine zweijährige Konditionszeit abgeleistet haben musste (Drogisten-Zeitung 27, 1912, 242).

Konkurrenz war ebenfalls vorhanden, auch wenn die dortigen Essenzenfabriken hinter dem nordwestlichen Nachbarn zurückstanden. Bei den alkoholischen Essenzen war dies jedoch anders, da gab es eine parallele Entwicklung wie im Deutschen Reich. Ein gutes Beispiel für einen frühen Spezialanbieter war etwa Carl Philipp Pollak in Prag (Linzer Volksblatt 1893, Nr. 276 v. 2. Dezember, 6). Die Trinkgewohnheiten waren gewiss anders, doch andere Essenzen standen bereit: Vorreiter war dabei „Alpestre“, mit dem man vermeintlich einen „echten Chartreuse“ (Mährisches Tagblatt 1893, Nr. 229 v. 7. Oktober, 10) herstellen konnte. Diese Essenz wurde von der Pariser „Compagnie industrielle de produits chimiques et pharmaceutiques“ europaweit vertrieben, doch es gab rasch einschlägige Substitute erst für den Handel und die Wirte, dann auch für gestaltungsfreudige Kaltbereiter. Abseits der Kräuterliköre und Obstbrände gab es zahlreiche Gemeinsamkeiten, griff man doch auch in Österreich zu Kognak, Rum und Arak und weiteren im Deutschen Reich üblichen Branntweinen und Likören. Das unterstrichen schon einheimische Anbieter alkoholischer Essenzen, etwa der in Marburg an der Donau ansässige Drogist Karl Wolf. Er bot seit spätestens 1910 die Rumessenzen Lyrol und Rumatol an (Marburger Zeitung 1910, Nr. 138 v. 17. November, 19; ebd. 1911, Nr. 139 v. 21. November, 7). Oder etwa Hitschmann’s Essenzen-Erzeugung, ansässig im böhmischen Humopletz (Illustrierte Kronen-Zeitung 1912, Nr. 4508 v. 21. Juni, 24). Die Anzeigen erinnerten an die in Noas Heimatland, doch der Markt bot noch beträchtliches Wachstumspotenzial.

32_Pilsner Tagblatt_1904_02_15_Nr046_Marburger Zeitung_1911_10_03_Nr118_p07_Oesterreich_Essenzen_Selbstbereitung_Spirituosen_Likoer_Neuber_Karl-Wolf_Lysol_DIY

Etablierte Essenzen zur Selbstbereitung (Pilsner Tagblatt 1904, Nr. 46 v. 15. Februar, 3 (l.); Marburger Zeitung 1911, Nr. 118 v. 3. Oktober, 7)

Bodenbach selbst war ein mehr als geeigneter Vertriebs- und Produktionsort, denn schon 1898 hatte dort die führende deutsche Essenzenfabrik Schimmel & Co. ein Zweigwerk errichtet. Auch die Firma Karl August Lingner siedelte dort an. Bodenbach war ein Brückenkopf zahlreicher deutscher Konsumgüterproduzenten, etwa des Dresdener Kameraherstellers Stöcking oder des Harmonikaversenders Georg Bernhardt. In dem an der Eisenbahnstrecke Prag-Dresden gelegenen Bodenbach siedelten ferner der Hamburger Haarpflege- und Parfümhersteller Dralle, die Dresdener Kakao- und Schokoladefabrik Hartwig & Vogel und seit 1912 auch Max Noa aus Niederschönhausen (vgl. König, 2015, 34-37). Das war mehr als eine Zusammenballung von Firmen, denn ein derartiges Cluster half bei der Ansiedlung, dem Umgang mit Behörden und dem Aufbau der Vertriebsnetze, zog zudem Facharbeiter in die Region.

Auch vor Ort gab es unmittelbare Konkurrenz: Seit spätestens 1904 produzierte in Bodenbach die Firma H. Neuber & Co. ein breitgefächertes Sortiment alkoholischer Essenzen. Es war mit dem Otto Reichels und Max Noas praktisch deckungsgleich, mochte Neuber auch mit dem Slogan „Einzig in seiner Art!“ werben (Pilsner Tagblatt 1904, Nr. 46 v. 15. Februar, 3). Die tönende Werbesprache stand hinter den Anpreisungen der Deutschen nicht zurück: „Es gibt nichts Interessanteres, nichts Bequemeres als die Selbsterzeugung geistiger Getränke“ (Pilsner Tagblatt 1904, Nr. 3 v. 3. Januar, 8). Doch der angekündigte „Siegeszug durch alle Länder!“ (Teplitz-Schönauer Anzeiger 1904, Nr. 48 v. 23. April, 34) unterblieb. Neuber vertrieb bis mindestens 1914 Essenzen, pharmazeutische Präparate und Apparate, scheiterte aber offenkundig am Aufbau eines über Böhmen und Mähren hinausgreifenden Vertriebsnetzes.

33_Christlich-soziale Arbeiter-Zeitung_1912_07_27_Nr030_p07_Cech_1912_07_10_Nr187_p10_Max-Noa_Essenzen_Spirituosen_Limonaden_Selbstbereitung_DIY_Bodenbach

Werbepräsenz im österreichischen und tschechischen Markt (Christlich-soziale Arbeiter-Zeitung 1912, Nr. 30 v. 27. Juli, 7 (l.); Cech 1912, Nr. 187 v. 10. Juli, 10)

Das aber gelang Noa ohne größere Probleme. Er nutzte dazu die zuvor in deutschen Zeitschriften und Zeitungen bewährten kleinen Anzeigen. Die kurzen Texte wurden auch ins Tschechische übersetzt. Noa nutzte die gängige Massenpresse, annoncierte aber auch in wichtigsten Zeitschriften der österreichischen Arbeiterbewegung. Auffällig ist der gänzliche Verzicht auf Kosmetika. Stattdessen dominierten zurückhaltend formulierte Angebote der alkoholischen Essenzen, im Sommer Limonaden-Essenzen, ansonsten Grundstoffe für „Bienenhonig“, für „Haus-Bier“ und dem seit 1912 auch im Deutschen Reich beworbenen „Brotaufstrich“.

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Werbung für „Brotaufstrich“ und „Haus-Bier“ (Das interessante Blatt 1913, Nr. 21 v. 22. Mai, 29 (l.); ebd., Nr. 29 v. 17. Juli, 36)

Anders als im Heimatmarkt agierte Noa in Österreich kaum mit der Werbebroschüre, sondern mit kleineren Preislisten (https://aukro.cz/max-noa-bodenbach-in-böhmen-decin-podmokly-rekl-noviny-6961759433 [Abruf 5. Januar 2021]). Sie präsentierten vornehmlich Essenzen und die oben angeführten Produkte, ergänzt nur um Küchengewürze und Essig-Essenz. Es ist anzunehmen, dass das Angebot in den Folgejahren erweitert werden sollte, dass man also erst einmal genauere Erfahrungen vor Ort sammeln wollte. Die Regulierung war nämlich anders und strikter. So waren Weinessenzen in Österreich „aus öffentlichen Gesundheitsrücksichten“ (Verbot der von der Firma Karl Philipp Pollak in Prag erzeugten „Weinessenz“, Zeitschrift der Nahrungsmittel-Untersuchung, Hygiene und Waarenkunde 8, 1894, 200) verboten. Ähnliches galt für Verstärkungsessenzen im Spirituosenbereich (Verbot der sogenannten Verstärkungsessenzen, ebd., 351).

Damit hatte die Firma von Max Noa allerdings Probleme. Schon bei der ersten offiziellen Betriebsbesichtigung kam man der gesetzlichen Auskunftspflicht nicht nach und wurde zu einer Strafzahlung verurteilt (König, 1915, 36). Vergehen gegen das elaborierte Weinrecht schlossen sich an (ebd., 37). Insgesamt gelang es allerdings, die Auslandsdependance zu konsolidieren. Genauere Angaben über Umsätze und mögliche Gewinne fehlen.

Das Ringen um Kontinuität im Weltkriege

Der Beginn des Ersten Weltkrieges markierte einen strikten Einschnitt für Max Noas nun internationalen Betrieb, dessen Gesamtbelegschaft ca. 60 Personen umgriff (so König, 2015, 28, allerdings ohne Belege). Beträchtliche Teile der männlichen Belegschaft mussten nun einrücken, auch die Zahl potenzieller Kunden sank. Die Selbstbereitung von Getränken, Honig und anderen Produkten sowie die Wahl aus einer großen Zahl kosmetischer Artikel setzte unausgesprochen Frieden voraus. Derartige Wahlsortimente wurden nun rasch ausgedünnt, zumal die militärisch-staatliche Suprematie den Zugang zu Vorprodukten begrenzte, den Alkohol- und Fettbezug rationierte und schließlich unterband.

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Selbstbereitete Liebesgaben für die durstigen Truppen (Vorwärts 1914, Nr. 347 v. 20. Dezember, 4)

Doch das war nicht die Perspektive 1914/15. Es gab bei vielen Hoffnungen auf einen raschen militärischen Sieg. Max Noa tat so, als sei der Krieg nur ein Intermezzo. Die Essenzen wurden weiter verkauft, nun jedoch anders vermarktet. Das heimische Kaltbrauen, die heimische Kaltdestillation sollte beibehalten, zugleich aber auf die Kunden im Schützengraben gelenkt werden. Anfangs war das durchaus probat, doch spätestens ab Sommer 1915 war eine grundsätzliche Umstellung des Betriebes unvermeidbar. Endes des Jahre wurde „die öffentliche Anpreisung feldpostversandfähiger Pakete und Doppelbriefe mit alkoholischen Getränken oder mit Essenzen zur Herstellung alkoholischer Getränke sowie die allgemeine öffentliche Anpreisung derartiger Erzeugnisse mit dem Zusatz ‚fürs Feld‘ oder ‚für unsere Feldtruppen‘ oder mit ähnlichen Wendungen“ (Gegen die Anpreisung alkoholischer Getränke „fürs Feld“, Friedenauer Lokal-Anzeiger 1915, Nr. 300 v. 22. Dezember, 2) verboten.

36_Haus Hof Garten_37_1915_Nr07_sp_Neues Wiener Tagblatt_1915_02_14_Nr043_p70_Max-Noa_Essenzen_Selbstbereitung_Spirituosen_Bienenhonig_DIY

Essenzenvertrieb als „Kriegshilfe“ (Haus Hof Garten 37, 1915, Nr. 7, s.p. (l.); Neues Wiener Tagblatt 1915, Nr. 43 v. 14. Februar, 70)

Der Niederschönhausener Unternehmer unterstützte die Kriegsanstrengungen der Mittelmächte finanziell. Im November 1915 zeichnete er beispielsweise Kriegsanleihen über 100.000 Kronen bei der Anglo-österreichischen Bank (Neues Wiener Tagblatt 1915, Nr. 318 v. 18. November, 20; Prager Tagblatt 1915, Nr. 308 v. 7. November, 6). Dahinter stand nicht nur nationale Gesinnung, sondern auch unternehmerisches Kalkül, war die Produktion doch von der Unterstützung der Militär- und Zivilbehörden abhängig.

37_Grazer Volksblatt_1915_04_11_Nr244_p12_Der Wahre Jacob_34_1917_p9252_Max-Noa_Ersatzmittel_Bienenhonig_Kunsthonig_Selbstbereitung_DIY

Auf dem Weg zum Ersatzmittelproduzenten (Grazer Volksblatt 1915, Nr. 244 v. 11. April, 12 (l.); Der Wahre Jacob 34, 1917, 9252)

Zugleich aber versuchte Noa wegbrechenden Absatz durch neue Absatzwege zu kompensieren. Das galt vor allem für seine Honigware, die in Österreich nun Händlern als „Honig-Aroma-Pulver“ angeboten wurde. Parallel intensivierte die Firma die Vermarktung von „Brotaufstrich“, seit 1916 auch von „Kunsthonig“ und „Honig-Aroma“ (Zeitschrift für öffentliche Chemie 1917, 382). Diese auch behörderlicherseits propagierten Produkte sollte nicht den an sich geringen Honigkonsum von etwa einem Drittel Kilogramm pro Kopf und Jahr substituieren, sondern vorrangig die wegbrechenden Fettaufstriche. Zucker war 1916 noch ausreichend vorhanden, so dass Max Noa weiter produzieren konnte – begleitet von hauswirtschaftlichen Ratschlägen, Kunsthonig nicht nur zu kaufen, sondern aus Zucker, Wasser, Essenzen und Aromen selbst herzustellen. Gleichwohl, es gab Grenzen unternehmerischer Aktivität. Der massive Wildwuchs bei den Ersatzmitteln wurde anfangs kaum, seit Mitte 1916 dann regional bekämpft, nachdem die Reichsmaßnahmen vom Mai 1916 – eine begrenzte Kennzeichnungspflicht und eine zentrale Auskunftsstelle für Ersatzlebensmittel im Reichsernährungsamt – kaum Wirkung entfaltet hatten. Max Noas konzentriertes Honig-Aroma wurde in Baden und Sachsen als wertloses resp. überteuertes Präparat verboten (Karlsruher Zeitung 1917, Nr. 301 v. 4. November, 4; Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1917, Ausg. v. 3. November, 1). Auch Noas „Hopfenperle-Extrakt“ wurde in Sachsen vom Markt verbannt (Leipziger Tageblatt 1917, Nr. 450 v. 5. September, 6).

Die neuen Warenkreationen versprachen also mehr als dass sie hielten. Doch sie waren immerhin eine sachgemäße Reaktion auf das wegbrechende Kerngeschäft. Der Essenzen-Absatz an die Zivilbevölkerung blieb zwar grundsätzlich erlaubt, als Ersatzmittel wurden sie jedoch genehmigungspflichtig. Doch seit 1917 wurde Weingeist den Truppen und der Rüstungsproduktion vorbehalten, so dass sowohl die Essenzenproduktion als auch deren Vertrieb zum Erliegen kam (Alkoholessenzen sind Ersatzlebensmittel, Friedenauer Lokal-Anzeiger 1918, Nr. 235 v. 7. Oktober, 2).

Wandlung zur pharmazeutischen Versanddrogerie

Max Noa erlebte all dies nicht mehr, denn er starb am 14. März 1916 in Niederschönhausen (LAB, Todesfälle 1874-1955, Niederschönhausen, 1916, Nr. 70). Zwei Monate später ging die Firma Max Noa „Helvetia-Versandhaus“ an seine Witwe Clara Noa über. Prokuren erhielten nun Ernst Ehrmann (Berlin), Gertrud Kreiselt (Berlin-Pankow) und Klara Bauer (Berlin-Niederschönhausen) (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 117 v. 18. Mai, 10). Bei der Testamentsvollstreckung ruckelte es dagegen beträchtlich, denn der damals eingesetzte Testamentsvollstrecker Jacob Werner wurde 1918 abberufen (Deutscher Reichsanzeiger 1918, Nr. 116 v. 18. Mai, 10; ebd., Nr. 153 v. 2. Juli, 5).

38_Vorwaerts_1919_06_12_Nr295_p07_Max-Noa_Essenzen_Limonaden_Selbstbereitung_DIY

Bewährtes neuerlich vorgestellt (Vorwärts 1919, Nr. 295 v. 12. Juni, 7)

Nach Kriegsende gelang es jedoch, der Firma langsam eine neue Leitung und Struktur zu geben. Wie in Familienunternehmen ohne männlichen Nachfolger oft üblich, übernahm ein angeheirateter Schwiegersohn die Unternehmensführung. Noas berufslose Tochter Erna Minna Johanna hatte am 4. August 1919 den am 26. Januar 1892 in Satzvey im Kreis Euskirchen geborenen Apotheker Ernst Flohr geheiratet. Dieser war katholischer Religion und wohnte bei Eheschließung bereits in der Treskowstraße 5. Er stammte aus gutem Saarbrücker, nun Schöneberger Hause, sein Vater Leonhard Flohr war Eisenbahndirektor, während seine Mutter Klara, geb. Holl, bereits verstorben war (LAB, Personenstandsregister, Heiratsregister 1874-1936, Niederschönhausen, 1923, Nr. 95). Schon vor der Heirat hatte Ernst Flohr Prokura erhalten, ebenso Erna Noa. Sie konnte allerdings nur gemeinsam mit ihrem künftigen Ehemann zeichnen, während er voll vertretungsfähig war und auch Grundstücksgeschäfte tätigen durfte (Berliner Börsenzeitung 1919, Nr. 316 v. 17. Juli, 6). Clara Noa war damit aus der unmittelbaren Verantwortung entlassen. Sie heiratete am 27. November 1923 ein zweites Mal, nun den in Ottensen am 10. Juni 1863 geborenen Kaufmann Oskar Friedrich Heinrich Schneider. Beide wohnten offenkundig in der Treskowstraße 5 (LAB, Personenstandsregister, Heiratsregister 1874-1936, Niederschönhausen, 1923, Nr. 179). Diese Ehe wurde am 4. April 1929 geschieden. Klara Schneider nahm daraufhin wieder den Nachnahmen Noa an, wurde nach ihrem Tode am 11. Juni 1936 schließlich an der Seite ihres ersten Gatten Max Noa bestattet.

Die Neustrukturierung des Noaschen Unternehmens ließ allerdings auf sich warten: Es wurde letztlich in drei Firmen aufgespalten, nämlich die Max Noa GmbH, die Max Noa Essenzen-Gesellschaft m.b.H. und die Max Noa A.G. Es ging dabei um die Begrenzung unternehmerischen Risikos, die Einwerbung von Investitionsmitteln und um die operative Trennung des bisherigen Kerngeschäfts, eines neu aufzubauenden pharmazeutischen Schwerpunktes und der Gebäudeverwaltung.

39_Vorwaerts_1922_11_26_Nr559_p08_Max-Noa_Spirituosen_Likoer_Schnaps_Essenzen_DIY

Neu gestaltete Anzeige ohne größeren Widerhall (Vorwärts 1922, Nr. 559 v. 26. November, 8)

Der Gesellschaftervertrag der Max Noa GmbH in Berlin-Niederschönhausen wurde am 16. November 1921 abgeschlossen. Ziel des Unternehmens war „die Herstellung und der Vertrieb von Essenzen, Spirituosen, Parfümerien, Drogen, insbesondere der Fortbetrieb des in Berlin-Niederschönhausen unter der Firma Max Noa bestehenden Fabrikgeschäfts sowie sämtlicher zu diesem Geschäft gehörigen Filial- und Detailgeschäfte und der unter der gleichen Firma betriebenen ausländischen Unternehmungen“ (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 285 v. 7. Dezember, 11). Es ging also um eine neue Unternehmensstruktur mit verminderter Haftung. Das Stammkapital betrug 500.000 M, von dem 498.000 M von Clara Noa stammten. Dies war der Wert des von der Firma Max Noa betriebenen Geschäfts. Die Max Noa GmbH wurde durch die 1923/24 erfolgte Gründung der AG und der Essenzen-GmbH entkernt. Anfang April 1925 wurde sie umfirmiert zur Grundstücksgesellschaft Niederschönhausen Treskowstraße mbH, deren Gegenstand „die Verwaltung der Grundstücke Treskowstraße 5/6 sowie aller im Grundbuche von Pankow bis jetzt auf den Namen Max Noa Gesellschaft mit beschränkter Haftung eingetragenen Grundstücke, der Erwerb und die Verwaltung anderer Grundstücke sowie die Veräußerung von Grundstücken“ (Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 80 v. 4. April, 14) war. Der Gesellschaftervertrag war 1924/25 dreimal umgeändert worden. Ernst Flohr war als Geschäftsführer ausgeschieden, das Stammkapital auf 5000 RM verringert worden (Ebd.). Die Grundstücksgesellschaft Niederschönhausen Treskowstraße mbH erlosch am 21. November 1930 (Deutscher Reichsanzeiger 1930, Nr. 278 v. 28. November, 9). Zuvor hatte man 1927 die Filiale in der Elsässerstraße veräußerst, ebenso 1928/29 die Drogerie in der Treskowstraße (König, 2015, 61-62).

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Die Max Noa GmbH als Mantel der Firmenaktivitäten 1923 (Berliner Adreßbuch 1924, T. 1, 2154)

Die Max Noa Essenzen GmbH wurde Anfang September 1924 mit einem Kapital von 5000 Goldmark gegründet, Geschäftsführer waren Ernst Flohr und Arthur Löhr. Unternehmensgegenstand war der „Vertrieb der Max Noa-Essenzen zur Selbstbereitung von Likören, Limonaden usw.“ (Berliner Tageblatt 1924, Nr. 425 v. 6. September, 6). Es ging hierbei also um die Fortsetzung des früheren Noaschen Kerngeschäftes. Die Essenzen GmbH erlosch am 9. November 1932 (Deutscher Reichsanzeiger 1932, N. 270 v. 17. November, 8) bzw. nach gerichtlicher Nachprüfung am 20. Februar 1933 (Deutscher Reichsanzeiger 1933, Nr. 49 v. 27. Februar, 9).

Damit kommen wir zum Kernstück der Umstrukturierung, der Max Noa Aktiengesellschaft. Sie entstand über Umwege – und es erscheint wahrscheinlich, dass die Hyperinflation die Geschehnisse überschattet hat. Es hätte gewiss einfachere und kostengünstigere Möglichkeiten gegeben, die Firmenaktivitäten der Max Noa GmbH neu zuzuschneiden. Mutmaßungen über damit einhergehende Vermögenstransfers verbieten sich aufgrund fehlender Quellen. Den Anfang machten jedenfalls die Gründung der in Berlin ansässigen Ewa Edellikör & Weinvertriebs-Aktiengesellschaft am 3. März 1923. Wie im Gesellschaftervertrag vom 5. Februar 1923 festgehalten, besaß sie ein Grundkapital von 10.000.000 M und wollte sich dem „Vertrieb von Edellikören und Weinen sowie die Beteiligung an Unternehmungen gleicher Art“ (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 65 v. 17. März, 14, auch für das Folgende) widmen. Es handelte sich um eine Transaktion der Familie Flohr und mehreren Berliner Investoren. Die Aktien waren von nur fünf Personen übernommen worden, nämlich den Niederschönhausener Kaufleute Paul Blankemann, Georg Schmaus und Carl Grantke, dem Berliner Kaufmann Otto Retzlaff und dem Niederschönhausener Zahnarzt Dr. Eugen Flohr. Dessen Bruder Ernst Flohr, der damaligen Geschäftsführers der Max Noa GmbH saß, gemeinsam mit seinem Vater, dem ehedem geschassten Justizrat Jacob Werner, dem Rechtsanwalt Dr. Kurt Ellger und dem Major a.D. Otto Straßburger im Vorstand der AG. Blankemann und Schmaus erhielten wenige Monate später Prokura (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 125 v. 1. Juni, 13).

Es folgte die eigentliche Übernahme, denn gemäß Beschluss der Generalversammlung der fünf Aktionäre am 30. Juni 1924 änderte die Ewa Edellikör- & Weinvertriebs-AG ihren Namen in Max Noa Aktiengesellschaft. Ende Juli 1924 übernahm sie das Geschäft der Max Noa GmbH „unter Ausschluß der Passiven“ (Berliner Börsenzeitung 1924, Nr. 348 v. 26. Juli, 4, auch für das Folgende). Es ging um die Fortführung des Noas Unternehmens, wobei die Rezepte und Fabrikationsmethoden sowie der Fabrikmarke „Arche Noa“ besonders hervorgehoben wurden. Auch das bisherige Geschäft der Ewa wollte man fortführen. Ernst Flohr und das neue Vorstandsmitglied Hans Andres erhielten Prokura, waren jedoch auch einzelvertretungsberechtigt.

41_Des Lahrer hinkenden Boten neuer Kalender_1925_Werbung_p11_ebd_p15_Max-Noa_Otto-Reichel_Bier_Heimbrauen_Selbstbereitung_DIY

Wie in alten Zeiten… Noa und Reichel Seit an Seit 1925 (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender […] 1925, Werbung, 11 (l.), 15)

Die Max Noa AG stand unter keinem guten Stern, erwirtschaftete sie doch vorrangig Verluste. Die Prokura von Georg Schmaus erlosch im November 1924 (Deutscher Reichsanzeiger 1924, Nr. 271 v. 15. November, 13), es folgte die inflationsbedingte Umstellung des Aktienkapitals auf der Generalversammlung vom 28. Juli dann die Herabsetzung des Aktienkapitals von 100.000 auf 50.000 M. Parallel wurde der Aufsichtsrat auf drei Personen verringert, nämlich Leonhard Flohr, „Dr. Walter“ (muss wohl heißen Ernst) Flohr und Arthur Löhr (Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 205 v. 2. September, 6). Die Bilanz war desaströs, am 31. Dezember 1924 stand ein Verlust von 71.983,39 M bei einer Bilanzsumme von 353.363,78 M in den Büchern. Das große Warenlager (205.150 M) deutete auf fehlende Verkäufe hin, die Außenstände von 54.635,80 M auf die Zahlungsschwierigkeiten der Stabilisierungszeit (Deutscher Reichsanzeiger 1925, Nr. 205 v. 2. September, 6). Man entschloss sich letztlich für die Abwicklung. Am 10. März 1928 wurde das Erlöschen der Max Noa AG angekündigt (Deutscher Reichsanzeiger 1928, Nr. 66 v. 17. März, 7), am 4. Juli 1928 dann vollzogen (Deutscher Reichsanzeiger 1928, Nr. 160 v. 11. Juli, 10).

Die verfehlte Neupositionierung als pharmazeutisches Unternehmen

Diese Angaben werden erst verständlich, koppelt man sie mit der unternehmerischen Praxis. Sie ist nur indirekt ermittelbar, doch ergibt sich ein recht klares Bild. Der Apotheker Ernst Flohr nutzte den Eintritt in die Firma und die Heirat, um einerseits Max Noas Kerngeschäft mit Essenzen fortzuführen, um anderseits aber mit Rückendeckung seiner Familie sowie lokaler Investoren die Max Noa GmbH zu einem Pharmaunternehmen auszubauen. Da es hier schwerpunktmäßig jedoch um Max Noas Essenzengeschäft geht, belasse ich es bei einigen summarischen Angaben.

Festzustellen ist, dass nach Ende des Weltkrieges die Essenzenproduktion in Niederschönhausen wieder anlief, dass sie aber noch über Jahre von den strikten Rationierungen und Kontingentierungen der Übergangswirtschaft gekennzeichnet war. Limonaden-Grundstoffe waren mit dem während der Kriegszeit ja wieder erlaubten Süßmittel Saccharin versetzt (Vorwärts 1919, Nr. 295 v. 12. Juni, 7), das neu gestaltete Werbemotiv des Noa-Mann nutzte man erst seit 1922 (Volksstimme [Magdeburg] 1922, Nr. 289 v. 10. Dezember, 10). Die Anzeigenwerbung war deutlich ausgedünnt, für kostenlose Werbebroschüren fehlte das Kapital, auf die wachsende Regulierung hatte ich zuvor schon verwiesen. Die Zahl einschlägiger Anzeigen nahm jedenfalls deutlich ab (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender […] 1925, Werbung, 21).

Stattdessen investierte Ernst Flohr nach Gründung der Max Noa GmbH in neue Pharmazeutika. Folgende Warenzeichen wurden erteilt, teils in Kooperation mit dem Mediziner Dr. Richard Ihlo:

  • Jekorheuma, eingetragen am 10. Mai 1922 (Deutscher Reichsanzeiger 1921, Nr. 130 v. 6. Juli, 4), ein „äußerliches Mittel gegen Rheuma, Nerven-, Narben-, Wetterschmerzen usw.“ (Jahresbericht der Pharmazie 84, 1924, 238), eine nach „Gaultheriaöl riechende, Lebertran u. äth. Öle enthaltende Einreibung“ (Hermann Thoms (Hg.), Handbuch der praktischen und wissenschaftlichen Pharmazie, Bd. VI, 2. Hälfte, T. 1, Berlin und Wien 1928, 1140),
  • Relichnon, eingetragen am 13. Juni 1922 (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 162 v. 25. Juli, 25), ein Flechtensalbe, bestehend aus „Alkohol, Seife und wahrscheinlich Salicylsäure“ (Jahresbericht der Pharmazie 85, 1925, 304; Chemisches Zentralblatt 97, 1926, T. 1, 2382),
  • Iloverm, eingetragen am 15. Juni 1923 (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 150 v. 30. Juni, 1), ein Mittel gegen Faden- und Madenwürmer, das in unterschiedlichen Konsistenzen (zum Einnehmen, zur Ausspülung und zur Einreibung) angeboten wurde, faktisch aber mit einem ätherischen Öl versetzter Lebertran war (Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 53, 1927, 275),
  • Ilogallol, eingetragen am 19. Juni 1923 (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 155 v. 6. Juli, 19), ein Mittel gegen Gallenleiden, bestehend aus Lebertran, Pfefferminzöl und weiteren ätherischen Ölen (Chemisches Zentralblatt 97, 1926, 2383).
42_Des Lahrer hinkenden Boten neuer Kalender_1925_Werbung_p27_Geheimmittel_Heilmittel_Max-Noa_Saposcab_Hautpflege_Hautcreme

Werbung als pharmazeutische Aktiengesellschaft 1925 (Des Lahrer hinkenden Boten neuer historischer Kalender […] 1925, Werbung, 27)

In all diesen Fällen wurde die Max Noa GmbH als „Fabrik pharmazeutischer Präparate“ bezeichnet. Das traf zu, denn auch abseits der oben angeführten neuen Präparate produzierte und vertrieb das Unternehmen zahlreiche Geheimmittel, vielfach noch unter Max Noa entstanden. Sie waren teils durch das Warenzeichen „Arche Noa“ geschützt, meist aber nur nach dem Firmengründer benannt. Auch hier belasse ich es bei einer Auflistung, die gewiss nicht vollständig sein dürfte:

  • Flüssige Frostsalbenseife, eine Lösung aus Seife und Salicylsäure (Chemisches Zentralblatt 97, 1926, 2382),
  • med. Ihlo‘s Benediktineressenz, eine klare, gelbbraune, aromatisch riechende und süß schmeckende Flüssigkeit (Jahresbericht der Pharmazie 85, 1925, 296),
  • Ili, Dr. med. Ihlo’s Kopfläusemittel, eine stark saure Flüssigkeit aus Sabadillessig, Alkohol und Essigäther (Chemisches Zentralblatt 97, 1926, 2383),
  • Karmelitertropfen Marke Arche Noa, eine farblose, aromatisch riechende und schwach sauer reagierende Flüssigkeit (ebd.),
  • Noas destillierte Asthmatropfen, eine neutrale, wasserhelle und klare Flüssigkeit mit Geruch nach ätherischen Ölen, nach Herstellerangaben Mentha-, Zitronenmelissen-, Badianöl- und Eukalyptusöl (Jahresbericht der Pharmazie 85, 1925, 304; Thoms (Hg.), 1928, 1536),
  • Noas Choleratropfen, eine ätherische Baldriantinktur (Jahresbericht der Pharmazie 85, 1925, 304),
  • Noas Hustentropfen, ein Destillat aus Anis, Fenchel, Wolverleiblüten und Salbei in Alkohol (Chemisches Zentralblatt 97, 1926, 2382),
  • Noas Hühneraugenkollodium, eine mit Chlorophyll grün gefärbte zähflüssige Lösung mit Salizylsäure (ebd.),
  • Noas Keuchhustensaft, auch Ahlbeersaft, ein dünnflüssiger, mit Zucker eingekochter Saft von schwarzen Johannisbeeren (ebd., 2383),
  • Noas Magentropfen, ein alkoholischer Pflanzenauszug ohne Zucker (ebd.),
  • Noas Warzenzerstörer, ein Handelsname für konzentrierte Milchsäure (Thoms (Hg.), 1928, 1536; Richard Volk und Fred Winter (Hg.), Lexikon der Kosmetischen Praxis, Wien 1936, 678),
  • Noas Zahntropfen, bestehend aus künstlichem Gaultheriaöl, also aus Methylsalicylat (Pharmazeutische Zeitung 71, 1926, 219),
  • Pain-Expeller Arche Noa, eine äußerlich anwendbare Tinktur aus Pfefferminz-, Melissen- und Kamillenwasser, Ammoniakflüssigkeit und ätherischen Ölen (Thoms (Hg.), 1928, 1649), zugleich ein Generikum des Ankerschen Pain-Expellers, einem seit dem späten 19. Jahrhundert vertriebenen Schmerzmittel,
  • Saposcab, das wahrscheinlich wichtigste, zumindest aber am häufigsten erwähnte Präparat Noas, ein fettfreies, geruch- und farbloses Krätzemittel, inhaltlich ein Gemisch aus einer alkoholischen Kaliseifenlösung, Rizinusöl und Benzoesäureester (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 63, 1922, 24; Jahresbericht für Pharmazie 84, 1924, 250). Die Zuordnung erwies sich als schwierig, ein führender Chemiker forderte eine Eingruppierung als Heilmittel (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 68, 1927, 773),
  • Scheelsches Mundfäulemittel, ein Handelsname für Glycerin (Chemisches Zentralblatt 97, 1926, 2383; Thoms (Hg.), 1929, 1946).

Zusammengefasst produzierte und vertrieb die Max Noa GmbH bzw. dann die Max Noa AG eine große Zahl pharmazeutischer Präparate, die gegen eine breite Palette von Alltagserkrankungen helfen sollten. Sie konkurrierten mit zahlreichen sehr ähnlichen Angeboten, waren daher leicht zu substituieren. Trotz beträchtlicher Anstrengungen Anfang der 1920er Jahre gelang es Ernst Flohr und seinen Mitarbeitern jedoch nicht, starke und unverwechselbare Produkte zu entwickeln. In einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld und angesichts zunehmender Konzentration und Rationalisierung in der pharmazeutischen Industrie scheiterte die Umstrukturierung nach nur wenigen Jahren.

Was bringt ein derartiger Ausflug in kaum beachtete Branchen?

Verehrte Leserin, verehrter Leser! Respekt, wenn Sie bis zum Ende durchgehalten haben. Denn es erfordert einiges Stehvermögen, die Geschichte von Max Noas Essenzengeschäft bis zum recht bitteren Ende nachzuverfolgen. Doch seien Sie sicher, dass auch mir bei der Erforschung dieses historischen Terrains Rückfragen kamen, warum ich denn einem derart kleinen Unternehmen derartige Aufmerksamkeit widmen solle. Meine Antwort ist dreigeteilt, sieht man einmal ab von dem nicht stillzustellenden Interesse von Menschen an anderen Menschen, an Taten, am Gelingen und am Scheitern.

Max Noas Firmengeschichte erlaubt erstens eine spannende Exkursion in eine wenig beachtete Branche, die Produktion und den Vertrieb von Essenzen. Noas Betrieb gründete nicht allein auf den Vorarbeiten der Pharmazeuten und Chemiker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er gründete auch auf der sich daraufhin rasch entwickelnden Nachfrage nach neuen Geschmäckern, solchen, die zuvor allein den hohen Herren und Damen vorbehalten waren. Noa und seine Konkurrenten waren Brückenglieder hin zu einer Welt allseitiger Verfügbarkeit. Galt es zuerst die „natürliche“ Welt nachzuahmen, so gingen Spezialisten parallel daran, neue Welten synthetisch zu erschaffen. Davon ist auch unser Alltag bestimmt, die Düfte, die uns umgeben, die Speisen und Getränke, die wir kaufen und verzehren. Noa war kein wirklicher Erfinder, doch er war ein findiger Kopf. Er verbreitete das neue Wissen, gab ihm eine von anderen bereits erprobte Form, brachte es als „Original“ an den Mann – und gar selten auch an die Frau. Sein Betrieb wies Brüche auf, seine Rede war großspurig, lockte in die Irre. Das wirkt unbehaglich, macht uns damit aber sensibel für die auch heute bestehenden vielfältigen Brüche in den scheinbar für uns bereiteten Sortimenten. Bei Noa hören wir noch das Knirschen einer anlaufenden Maschinerie, die später in ein gefälliges Surren übergegangen ist. Doch die Brüche bestehen weiter, trotz vermehrter Regulierung, trotz eines wohlgefälligeren Angebotes.

Max Noas Firmengeschichte erlaubt zweitens einen zumindest ahnenden Blick auf das weite Feld der Selbstbereitung. Die Entstehung moderner Konsumgesellschaften machte Menschen nicht passiv, sondern setzte Kräfte frei, ermöglichte und erforderte Bewegung. Der passive Konsument mag vielfach beklagt werden, doch neue Warenwelten bedeuteten immer auch Erkundigungen, Nuancierungen, Abstufungen, kurzum, die Entwicklung von Urteilskraft. Wer sich je auf die Fülle konkurrierender Produkte eingelassen, wer mit Distanz die Sortenvielfalt von Äpfeln, die immense Zahl von Borden und Besatzstücken oder die Nuancen verschiedener Bier- und Kognaksorten erkundet hat, wird lockende Panoptiken finden, seinen Horizont weiten. Was für den Käufer und die käuflichen Dinge galt, galt in noch stärkerem Maße für Max Noas Kunden. Sie bezogen Essenzen, orderten damit Steilpässe für eigenes Gestalten und Ausprobieren. Nein, die fehlgelaufenen Versuche und das Scheitern trotz „Rezeptbuch“ will ich hier ebenso wenig wegdrängen, wie die häufig minderwertigen Ergebnisse der Selbstbereitung imaginär kosten. Doch das mache ich aus meiner Warte, im Wissen um ein „gutes“, „echtes“ Bier, um die Varianten des kaum zu standardisierenden Honigs. Noas Kunden machten sich erst auf den Weg – und dazu waren ihnen auch die simplen Anregungen recht, die sie für wenig Geld aus fremder Hand erhielten.

Max Noas Firmengeschichte erlaubt drittens einen Einblick in einen mittelständischen, ja kleinen Betrieb. Solchen bilden nach wie vor das Rückgrat unserer Wirtschaft und unseres Wohlstandes. Sie kommen und gehen, nur sehr selten nehmen sich Praktiker oder Historiker ihrer Geschichte an. Was wir am Beispiel Noas ansatzweise nachvollziehen können, ist deren Abhängigkeit von allgemeinen Entwicklungen, von Entscheidungen, die von kleinen Unternehmern nicht beeinflusst werden können. Wir bekommen eine Ahnung vom täglichen Abstrampeln, von den Bedrückungen, Großtönereien und auch Lügen dieses Arbeitsalltags. Wir sehen in einem mittelständischen Unternehmen wie dem Max Noas Kapitalismus in Aktion, deutlich anders als es uns in mikroökonomischen Kurven oder auf makroökonomischen Schaubildern vor Augen tritt.

Essenzen, Selbstbereitung und Unternehmertum – sie alle verbindet ein Moment der Dynamik und Kreativität, eine Vorstellung des handelnden und unfertigen Menschen. Max Noas Firmengeschichte verweist damit zurück auf uns – und das heißt auch auf Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin.

Uwe Spiekermann, 14. März 2021