Neues Brauen: Valentin Lapp und das „Original alkoholfreie Bier“ 1896-1905

Bier ist ein mythenschwangeres Gebräu, dessen geschichtswissenschaftliche Erforschung bestenfalls in den Kinderschuhen steckt. PR-Handreichungen und Frohsinnsvorlagen von Brauereien, Auftragsjournalisten und selbsternannten Bierexperten dominieren nahezu unwidersprochen, feiern das recht homogene Produkt Bier als eines voller Charakter, sind selbst aber billigste Ware. Ähnliches gilt auch für den wachsenden Markt alkoholfreier Getränke, über dessen Geschichte wir, abgesehen von wenigen Markenartikeln, kaum etwas wissen. Niemand wird daher ignorant oder recherchefaul geziehen, wenn er das erste alkoholfreie Bier hierzulande in die 1950er Jahre datiert – oder gar in die 1980er Jahre (vgl. etwa Franz Meußdoerffer und Martin Zarnkow, Das Bier. Eine Geschichte von Hopfen und Malz, München 2014 [ebook]). Der Blick ist auf den Wachstumsmarkt gerichtet, historische Entwicklungen und Pfadabhängigkeiten erscheinen als unwichtiges Beiwerk, werden wie Schaum zur Seite gewischt.

Dieser Beitrag wird den Blick weiter zurückwenden. Hierzulande wurde das erste über mehrere Jahre mit Erfolg angebotene alkoholfreie Bier deutlich vor dem Ersten Weltkrieg vom fränkisch-sächsischen Braumeister Valentin Lapp (1856-1908) produziert und vermarktet. Lapp war allerdings nicht der „Erfinder“ des alkoholfreien Bieres, denn schon kurz zuvor gab es eine Welle immer neuer alkoholfreier Angebote, die teils als „alkoholfreie Biere“ bezeichnet wurden, den heutigen Kriterien dieses Begriffs zumeist jedoch nicht entsprachen. Lapps „Original alkoholfreies Bier“ war es jedoch – und eine historische Analyse dieses Produkt erlaubt zudem, die vielen Schwierigkeiten zu diskutieren, die nicht nur zum Marktaustritt Lapps, sondern auch zum Scheitern vieler anderer alkoholfreier Biere dieser Zeit führten. Wenn Sie dies mitnehmen, wissen Sie schon mehr als viele vermeintliche Experten und Journalisten. Falls Sie jedoch an mehr als oberflächlichem Wissen interessiert sind, dann lade ich Sie ein, sich mit mir auf eine verwickelte, nicht immer eindeutige Reise in die bis dato unbekannte Vergangenheit des neuen alkoholfreien Brauens zu begeben.

Dieser Artikel ist zugleich der erste von vier geplanten Beiträgen, die sich am Beispiel des alkoholfreien Bieres mit der Neugestaltung des Trinkens im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Drei Fallstudien stehen am Anfang: Das neue Brauen von Valentin Lapp behandelt den Umbruch beim Brauen selbst; die Untersuchung des 1901 reichsweit eingeführten „alkoholfreien Bieres“ Hopkos führt zurück in die frühe Werbewelt nicht alkoholischer Limonaden; das vornehmlich im Ruhrgebiet angebotene Trinkmit der Bochumer Schlegelbrauerei steht für die Integration alkoholfreier Biere in das Sortiment marktnah produzierender Brauereien. Ein vierter Artikel wird dann die entwickelten Fäden zusammenziehen, wird den mit den industriell gefertigten Nichtalkoholika verbundenen Bruch der deutschen Trinkkultur um 1900 zusammenführend analysieren.

Alkohol als Gefahr, Bier als hilfreiches Übel

Am Anfang gilt es erst einmal Abstand zu gewinnen: Im Gegensatz zu gängigen Beschwörungen des guten alten Bieres war dieses schwachalkoholische Getränk bis weit ins 19. Jahrhundert hinein von höchst heterogener Qualität. Häusliches und gewerbliches Brauen waren stark wetterabhängig, verarbeiteten Rohwaren unterschiedlicher Herkunft und Qualität, nutzten häufig verunreinigtes Wasser. Das änderte sich seit den 1840er, vornehmlich aber seit den 1860er Jahren – und dies ist hier nicht näher darzustellen (dazu bald Stefan Manz und Uwe Spiekermann, Making Food Empires: German Technology and Global Mass Production, 1870–1914, Oxford UP 2026, Kap. 7 und 8). Verbesserte chemische Kenntnisse, agrarwissenschaftliche Interventionen, Wissenstransfer von England und Böhmen, ein immer leistungsfähigerer Maschinenbau, ein beträchtlicher Qualifikationsschub durch Fachschulen, Lehrbücher und Fachzeitschriften folgten; sie alle erlaubten Biere neuer Qualität, die nicht nur hierzulande Kunden fanden. Die Wirtschaftsreformen des liberalen Zeitalters ermöglichten stetig größere Betriebe, Aktiengesellschaften prägten zunehmend das Geschäft, Kühltechnik, Pasteurisierung, Reinhefen und neue Transportmittel erlaubten den innerdeutschen Versand, zunehmend auch den internationalen Absatz. Im Gegensatz zu den Aussagen der Hochglanzhistorie führte die Disruption des Bierbrauens in den 1870er und 1880er Jahren jedoch keineswegs zu durchweg hochwertigen Angeboten.

Intensiv geführte Debatten über „Dividendenjauche“ spiegelten vielmehr die weiterhin beträchtlichen Probleme des modernen Brauens, dem vornehmlich oberhalb der Mainlinie vielfach mit den Hilfsmitteln der modernen Chemie abgeholfen wurde. Konservierungs- und Farbstoffe waren nicht unüblich, Hopfensubstitute, Aroma- und Süßstoffe prägten viele Angebote. Ökonomisch waren die Bierbrauereien eine der wichtigsten Träger der Früh- und Hochindustrialisierung, stellten nach Umsatz und Kapitaleinsatz die Textil-, Montan- und chemische Industrie noch um die Jahrhundertwende in den Schatten. Dabei half nicht zuletzt der Aufbau neuartiger Vertriebsstrukturen durch Wirtshäuser und Gaststätten, Biergärten und Kneipen. Als schwachalkoholisches Getränk diente Bier aber auch vielen Alkoholgegnern als Hilfsmittel gegen den dämonisierten Schnapsteufel, also eine sich im frühen 19. Jahrhundert etablierende, vornehmlich vom Branntwein geprägte Alkoholkultur.

Wie gegen das Bier kämpfen? Rausch und Stammtisch als männliche Alltagsfreuden (Fliegende Blätter 85, 1886, Nr. 2161, Beibl., 5 (l.); ebd. 68, 1878, 57)

Der 1883 gegründete „Deutschen Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“ gab der schon in den 1840er Jahren starken Temperenzbewegung neue Impulse (Heinrich Tappe, Der Kampf gegen den Alkoholmißbrauch als Aufgabe bürgerlicher Mäßigkeitsbewegung und staatlich-kommunaler Verwaltung, in: Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Durchbruch zum modernen Massenkonsum, Münster 1987, 189-235, insb. 199-210). Der Feind war der Branntwein, vor allem der billige Kartoffelschnaps, der durch die noch nicht regelmäßig getilgten Fuselöle doppelt toxisch wirkte. Im Gründungsjahr des Vereins wurden fast zwei Drittel des Alkohols im Deutschen Reich als Spirituosen konsumiert, sechs Prozent als Wein, Bier lag bei etwa dreißig Prozent. Der nun einsetzende, staatlich und kirchlich breit unterstützte Kampf gegen den Alkohol konzentrierte sich erst einmal auf das Hauptübel, wollte man doch nicht länger Konsummengen von knapp zehn Liter Weingeist pro Kopf der Erwachsenen hinnehmen (die heutigen Mengen liegen übrigens trotz deutlich sinkender Tendenz noch höher; und bis heute wird Wein hierzulande nicht, Bier nur äußerst moderat besteuert). Bier und Wein blieben lange Bundesgenossen der Temperenzvereine, die 1903 erfolgte Spaltung des Deutschen Vereins in „Ent­haltsame“ und „Mäßige“ verwies jedoch auf letztlich nicht mehr überbrückbare Spannungen innerhalb der Antialkoholbewegung (Hasso Spode, Alkohol und Zivilisation. Berauschung, Ernüchterung und Tischsitten in Deutsch­land bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1991, 169-193).

Warum aber erschien Bier erträglich? Zum einen war es eine wichtige Übergangsdroge, die den Verzicht auf Spirituosen einfacher gestalten konnte. Bier hatte zudem nur einem Alkoholholgehalt von zumeist drei bis vier Prozent, war damit deutlich alkoholärmer als die heutigen Pilsener mit Anteilen von etwa fünf Prozent. Bier war aber zugleich ein integraler Bestandteil der Alltagskost. Es war nicht, wie heute, vorrangig ein Stimmungswandler. Es war „flüssiges Brot“, ja, eine kräftigende Alltagsspeise. Bier materialisierte Ruhe und Geselligkeit, regte die Lebensgeister, erfrischte im Sommer, löschte den Durst nach körperlicher Arbeit. Der Biertrinker mochte nach Ansicht der vornehmlich bürgerlichen Temperenzler faul und träge sein, doch anders als der Trunkenbold, der Säufer, galt er nicht als halt- und charakterloses Subjekt, musste nicht vorrangig therapiert, sondern konnte in die richtige, die mäßige Richtung gelenkt werden. Auch in Bierhallen hieß es: „Wo man Bier trinkt, kannst Du ruhig lachen, / Böse Menschen trinken schärf’re Sachen“ (Bayerisches Gastwirths-Zeitung 15, 1894, Nr. 23, 6).

Geselliges Miteinander in einem Berliner Kellerlokal (Illustrirte Zeitung 82, 1884, 415)

Aufbau einer alkoholfreien Gegenkultur

Neben repressive (und durchaus wirksame) Maßnahmen — etwa härtere Strafgesetze gegen Alkoholdelikte, die wegweisende Branntweinsteuer von 1887 und restriktivere Konzessionsvergaben für Gaststätten und Kleinhandel — traten aber von Beginn an „positive“ Alternativen zum Alkoholkonsum. Sie waren Ausdruck einer recht einseitigen fürsorglichen Ausrichtung auf die Erziehung des männlichen Industriearbeiters durch Kirchen, Wohlfahrtspfleger, Wissenschaftler und Sozialstatistiker. Der beträchtliche Alkoholkonsum der eigenen Berufsstände und der Frauen blieben eher im Hintergrund – sieht man einmal von den akademischen Studiosi ab. Das war Sozialreform über Bande, denn schlechte Wohnverhältnisse und das enge Miteinander von Familie, Verwandtschaft und Schlafgängern führten die Betroffenen fast zwingend in die Wirtshäuser und Kneipen, Saufkasinos und Kaschemmen. Konnte man deren Quasimonopol für Feierabend und Wochenende jedoch durchbrechen, so hoffte man mittel- und langfristig die „Trunksucht“ erst beim Branntwein, dann vielleicht auch beim Bier zu vermindern. Dazu sollten zuerst Schankstätten neuen Typus gegründet werden, in denen der gefährliche Trunk durch einen labenden Trank erst ergänzt und dann ersetzt wurde.

In vielen Artikeln und Broschüren präsentierte man die Utopie einer nichtalkoholischen Gaststätten- und Getränkekultur (U[we] Spiekermann, Grundlagen der modernen Getränkekultur. Ein historischer Rückblick, Aktuelle Ernäh­rungsme­dizin 21, 1996, 29-39). Besseres sollte an die Stelle des alkoholtriefenden Alten treten. Man möge, so hieß es in einer Petition des Centralverbandes der evangelisch-christlichen Enthaltsamkeitsgesellschaften in Deutschland zur Bekämpfung der Trunksucht, „statt der Branntweinschänken mehr Kaffeeschenken, Kaffeebuden, Theebuden, Kaffee- und Theewagen, sowie Lokale mit warmen Speisen konzessionir[en, US] und die Steuern auf Kaffee, Thee und alkoholfreies Bier ermäßig[en, US]“ (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Leg. 6, Sess. 1884/85, Bd. 6, Anlagen, Berlin 1885, 934).

Dies spiegelt unfreiwillig die noch enge Palette nichtalkoholischer Getränke: Es ging um (Ersatz-)Kaffee und zumeist heimische Teemischungen, die zwar wärmen konnten, nicht aber erfrischen und den Durst löschen. Malzkaffee sollte erst in den 1890er Jahren neue geschmackliche Optionen eröffnen. Das hätten grundsätzlich auch Fruchtsirups, Mischgetränke aus Wasser und Saft sowie die von Frauen gern getrunkene Mandelmilch tun können, doch erstere waren zumeist überzuckert, litten an dem noch brenzligen Pasteurisierungsgeschmack. Hinzu kam das Wasser resp. teures Mineralwasser als eigentliches Temperenzgetränk; und natürlich die Frischmilch. Seltersbuden folgten, nach der Jahrhundertwende auch ein vor allem im Rheinland und Westfalen erstaunlich umfangreiches Netzwerk von Milchhäuschen. Vor diesem Hintergrund ist die ja erst einmal aufhorchen lassende Nennung von „alkoholfreiem Bier“ in der Petition besser verständlich. Darunter verstand man damals aber kohlensäureimprägnierte Limonaden mit bierähnlichem Geschmack, meist aus Großbritannien importiertes Ingwerbier. Doch ein Pendant zur vielgestaltigen, von den britischen und dann auch US-amerikanischen Abstinenzlern vorangetriebenen Alltagskultur karbonisierter Limonaden und Sirupe gab es hierzulande eben nicht (Colin Emmins, Soft Drinks, Merlins Bridge 1991), Folge der lange stärkeren Regulierung der Apotheken und Drogerien. Coca-Cola sollte sich in Deutschland erst nach mehr als vierzig Jahren etablieren. Limonadenessenzen konnte man hierzulande kaufen, gewiss, doch der Geschmack des oft noch selbstbereiteten Tranks war gewöhnungsbedürftig, stand häuslich bereiteten Beerensäften deutlich nach (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 10, Beibl. 2, 3). In einer großenteils außerhäuslichen, öffentlichen Trinkkultur ging es jedoch um neue Marktangebote, konsumierbar im geselligen Miteinander.

Alkoholfreie Trinkhalle für Mineralwasser und Himbeersirup (Hagener Zeitung 1892, Nr. 86 v. 11. April, 4)

Angesichts dieser Malaise der Alternativen gewannen Bestrebungen an Boden, die alkoholhaltigen Weine und das Bier zu entgiften. Der Vorteil war offenkundig, musste man doch die bestehenden Trinkgewohnheiten nicht grundlegend ändern. Dadurch konnte man zudem den bisher duldend akzeptierten schwächeren Alkoholika langfristig die Grundlage entziehen. Welch eine Chance, zumal sich die Deutschen so gut wie kaum eine andere Nation auf die chemisch-technologische Veränderung der Nahrungsmittel verstanden. Das hatte man bereits bei anderen Genussmitteln gezeigt, mochten diese auch weniger erhitzt diskutiert worden sein (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost, Göttingen 2018, 182-185). Es gab Gesundheitspfeifen und zahlreiche Verfahren für nikotinarme Zigarren, nikotinärmere Tabake dienten neuen Sanitätszigaretten. Auch die Entgiftung des Kaffees war unternehmerisches Ziel (Ein Kaffee ohne Kaffein, Die Umschau 2, 1898, 813-814), mochte es auch bis 1906 dauern, ehe Kaffee HAG diese technische Utopie überzeugend verwirklichte.

Eine Welt ohne Giftstoffe? Anti-Nicotin, nikotinarme Zigaretten aus Dresden (Offizieller Katalog der Deutschen Kunstausstellung Dresden 1899, Dresden 1899, Werbung, 14)

Die Entgiftung der Getränke begann beim Obstwein. Das Deutsche Reich war kein wirkliches Obstland. Der Obstbau lieferte jedoch regional und saisonal teils beträchtliche Mengen an Rohwaren, die kaum von den bestehenden Konservenfabriken, sondern vorrangig von den Hausfrauen eingekocht, zu Mus oder Saft verarbeitet wurden. Ausgepresstes Obst verdarb jedoch rasch, Hefe- und Schimmelpilze forderten ihren Tribut. Leistungsfähige Konservierungsmittel stoppten zwar die Gärung, beeinträchtigten aber den Geschmack. Entsprechend vergor man Obst vor dem allgemeinen Aufkommen der Hitzesterilisierung zum schwachalkoholischen Haustrank, bei dem der aus Äpfeln bereitete Most hervorragte. In den 1890er Jahren begannen dann systematische Forschungen über die Pasteurisierung von Fruchtsäften, einem Verfahren also, das in der Brauerei seit Jahrzehnten angewandt wurde, um die Haltbarkeit des Bieres zu erhöhen ([Julius] Kochs, Technisches aus dem Gebiete der alkoholfreien Obstgetränke, Die Volksernährung 2, 1927, 246-247). Den Unterschied machte der für seine Riesling-Sorte bekannte Schweizer Pflanzenphysiologe Hermann Müller-Thurgau (1850-1927). Er pasteurisierte frisch gepresste Fruchtsäfte bei 60-70 °C, ermöglichte dadurch sterile Fruchtsäfte, die nicht weiter vergoren (H[ermann] Müller-Thurgau, Die Herstellung unvergorener und alkoholfreier Obst- und Traubenweine, Frauenfeld 1896; J[ulius] Neßler, Alkoholfreie Trauben-, Obst- und Beerenweine, Wochenblatt des Landwirthschaftlichen Vereins im Großherzogthum Baden 1898, 442-443). Sie sollten Most und Obstwein ersetzen, wurden daher ab 1896 (und bis zum Weingesetz 1909) als „alkoholfreie Weine“ vermarktet. Dieser Begriff bezeichnete also keine Entgiftung, keine Entalkoholisierung, wohl aber einen alkoholfreien Ersatz für ein gängiges alkoholhaltiges Alltagsgetränk. Temperenz über Bande.

Alkoholfreie Weine nach Müller-Thurgau (Vegetarischer Vorwärts 4, 1897, 194)

Valentin Lapp: Lebensdaten eines führenden Technologen der deutschen Brauwirtschaft

Zurück zum Bier. Die kapitalkräftige Produktion, die zunehmende Standardisierung ansprechender Qualitäten, die reichsweite Präsenz des dunklen Münchner Biers und auch des von nationalistischer Seite strikt bekämpften böhmischen Pilseners sowie die vor allem in den Städten rasch wachsende Zahl von Gaststätten bildeten die Grundstrukturen für einen stetigen Anstieg des Bierkonsums von 1880 79 Litern pro Kopf der Erwachsenen über 1890 100 Liter auf 119 Liter 1900. Damit aber war der Markt gesättigt, denn die Antialkoholbewegung konnte nicht nur den Spirituosenkonsum massiv verringern, sondern setzte nun auch der Brauwirtschaft zu: 1913 lag man bei 103 Litern pro Kopf. Auch wenn die technologische Innovationskraft der deutschen Brauereien Mitte der 1890er Jahre teils schon an die großenteils von deutschen Emigranten geprägte US-amerikanische Bierindustrie übergegangen war, so war man aufgrund dieses Marktdrucks doch emsig bemüht, die eigene Produktion zu optimieren, um preiswerte, hochwertige und zugleich vielgestaltige Biere anzubieten.

Womit wir schließlich bei Valentin Lapp angekommen sind. Er war einer von vielen Technologen, deren Innovationskraft die deutschen Brauereien seit den 1870er Jahren an die Weltspitze hatte treten lassen. Lapp war Bierbrauer durch und durch, eine reibungslos funktionierende Produktion standardisierten Biers war für ihn Grundlage jeden Geschäfts. Er war Prozessoptimierer, ein steter Tüftler, der allerdings über die Entwicklung neuer Verfahren kaufmännischen Pragmatismus mehrfach aus den Augen verlor. Um den späteren Produzenten und Patentinhaber des „Original alkoholfreien Bieres“ genauer einschätzen zu können, ist ein Blick auf die nur teilweise zu rekonstruierende Biographie erforderlich.

Valentin Lapp wurde als Martin Valentin Lapp am 11. Mai 1856 in Neustadt a.d. Aisch, also einer zwischen Würzburg und Nürnberg gelegenen mittelfränkischen Kleinstadt geboren. Er war, wie seine Eltern Christoph Stefan Lapp und Anna Margaretha, geb. Herold, evangelisch-lutherischer Konfession (StdA Dresden, 6.4.25, Eheaufgebote/Eheregister 1876-1922, 1883, Nr. 448). Lapp wuchs in einem bürgerlichen Elternhaus auf, sein 1894 verstorbener Vater war zumindest im Jahrzehnt zuvor Privatier (Aischthalbote 1894, Nr. 24 v. 28. Januar, 2). Zwei jüngere Brüder lassen sich nachweisen, einerseits Johann Paulus Candidus (1858-1941), anderseits Johann Matthäus Stephan Leonhard (1860-1910) (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Nr. 11121, Sterberegister, Nr. 903, Frankfurt IV, 1941, Nr. 1193/IV; ebd. Nr. 9451, Heiratsregister 1849-1930, Bornheim, 1886, Bl. 446, Nr. 1036; ebd. Nr. 10667, Sterberegister Frankfurt II, 1910, Nr. 373).

Am Maifeiertag 1883 verlobte sich Valentin Lapp, damals bereits Braumeister in Dresden, mit der aus der sächsischen Hauptstadt stammenden Hausbesitzertochter Selma Anna Killing, die Heirat folgte am 15. Oktober (Leipziger Tageblatt 1883, Nr. 121 v. 1. Mai, 2227; ebd. 1883, Nr. 294 v. 21. Oktober, 5332). Die evangelisch-lutherische Gattin stammte aus solventem Haus. Ihr verwitweter Vater war Schiffseigner, Weinhändler und Hausbesitzer (StdA Dresden, 6.4.25, Eheregister 1876-1927, 1883, Nr. 448). Am 1. Dezember gebar Selma Lapp einen Sohn, Arthur Alexander. Die Geburtsanzeige erfolgte mehr als eine Woche später durch die Hebamme, am 20. Dezember verstarb die junge Mutter im Alter von nur 20 Jahren (StdA Dresden, 6.4.25, Geburtsregister 1876-1907, 1884, Nr. 3304; ebd., Sterberegister 1876-1957, 1884, Nr. 2909; Dresden, Kirchliche Wochenzettel 1703-1902, Taufanzeigen, 1865; Leipziger Tageblatt 1884, Nr. 358 v. 23. Dezember, 6909). Valentin Lapp verließ kurz darauf Dresden und heiratete nach angemessener Trauerzeit 1886 ein zweites Mal, nun die in Bamberg wohnhafte Restaurationstochter Marie, geb. Greß (Allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen 1886, Nr. 143 v. 23. Juni, 2). Doch neuerlich war die Ehe vom Tod überschattet, Sohn Arthur starb zweijährig kurz vor Weihnachten.

Tod der ersten Ehefrau Selma 1884 und des gemeinsamen Sohnes Arthur 1886 (Dresdner Anzeiger 1884, Nr. 360 v. 15. Dezember, 15 (l.); Bamberger Volksblatt 1886, Nr. 287 v. 18. Dezember, 3)

Dieser Tod muss Valentin Lapp tief getroffen haben, schaltete er doch mehrere größere Anzeigen, ebenso eine Danksagung (Allgemeine Zeitung für Franken und Thüringen 1886, Nr. 296 v. 18. Dezember, 2; Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 347 v. 18. Dezember, 4; ebd. 1886, Nr. 350 v. 21. Dezember, 4). Erst knapp fünf Jahre später folgte am 12. November 1891 ein weiterer Stammhalter, der Sohn Theodor (Bamberger Neueste Nachrichten 1891, Nr. 312 v. 13. November, 3). Obwohl Lapp sowohl in Bamberg als auch seiner späteren Wirkungsstätte Leipzig gewiss lokale Prominenz besaß, konnte ich keine weiteren Familienanzeigen finden. Allerdings heiratete er am 12. April 1902 noch ein drittes Mal, nämlich die 1866 in Mähren im Westerwaldkreis geborene Emma Amalie Keppler, Tochter des in Brünn ansässigen Karl Baron Keppler (1817-1891) und seiner Frau Therese, geb. Engelhard (1828-1911). Valentin Lapp heiratete also standesgemäß, doch nach den beiden Schicksalsschlägen in den frühen 1880er Jahren rückte das Berufsleben in den Vordergrund seines Daseins.

Braumeister in Dresden 1881-1884

Nach einer wahrscheinlich im heimischen Franken absolvierten Ausbildung findet man Valentin Lapp 1881 als Braumeister des Hofbrauhauses Dresden (Allgemeine Hopfen-Zeitung 21, 1881, 823). Dresden, damals eine rasch wachsende Metropole mit knapp 200.000 Einwohnern, war mittlerweile vom bayerischen Lagerbier dominiert, auch böhmisches Pilsener gewann rasch Marktanteile (Analysen Dresdner Biere, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen NF 3, 1880, 227-230). Das Hofbrauhaus war 1872 als Aktiengesellschaft gegründet worden, eine Folge der Deregulierung durch die erste Aktienrechtsnovelle von 1870 und dem unmittelbar folgenden Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch. Mit einer Kapitalisierung von 1,761 Mio. M übertraf es die lokale Konkurrenz deutlich (Mason, The Joint Industrial Enterprises of Saxony, Reports form the Consuls of the United States on the Commerce, Manufactures, etc. of their Consular Districts 4, 1881, 453-457, hier 455). Das Hofbrauhaus besaß ein damals für die meisten Brauereien eher unübliches Flaschenbiergeschäft, ferner eine integrierte Malzfabrik (Berliner Börsen-Courier 1889, Nr. 239 v. 12. Mai, 16). Valentin Lapp konnte dadurch seine erlernten Kenntnisse vielgestaltig erweitern und auf den technisch neuesten Stand bringen.

Das wird wohl auch der Grund für einen kurz darauf folgenden Wechsel zur ebenfalls 1872 gegründeten Dresdner Gambrinus Brauerei gewesen sein, entstanden aus der 1860 gegründeten Privatbrauerei Ripl & Sohn Zum Gambrinus (Heinrich Gebauer, Die Volkswirtschaft im Königreiche Sachsen, Dresden 1893, 541). Hier konnte der „liebenswürdige und auf der Höhe der Zeit stehende Braumeister“ (Gambrinus 11, 1884, 387) jedenfalls neue Maschinen einführen und testen, darunter vor allem die Läuterzentrifuge des Frankfurter Braumeisters und Zivilingenieurs Conrad Zimmer. Die Gambrinus Brauerei produzierte zudem deutlich größere Biermengen als das Hofbrauhaus (Mason, 1881, 455).

Die Erste Bamberger Export-Brauerei Frankenbräu 1885-1893

Die Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“ nach der Fertigstellung (Bier-Export-Blatt 2, 1886, Nr. 13, 1)

1885 verließ Valentin Lapp dann Dresden für eine neue Karriere in Bamberg, etwa 55 km nordöstlich von seiner Geburtsstadt gelegen. Hier hatte der jüdische Kaufmann und Ziegeleibesitzer Simon Lessing (1843-1903), dessen Vater, der Hopfenhändler Samuel Lessing (1808-1878) sich 1862 in Bamberg angesiedelt hatte, 1885 ein etwa 22.500 m² großes Areal mit einer modernen Brauerei und Mälzerei bebauen lassen (Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 4 v. 4. Januar, 2). Am 5. November 1885 kaufte die neu gegründete „Erste Bamberger Export-Bierbrauerei Frankenbräu“ den Betrieb. Regionale Investoren steuerten 1,1 Mio. M Kapital bei (Bayerische Handelszeitung 15, 1885, 660). Valentin Lapp war nicht Mitgründer, wohl aber Vorstand der Direktion (Handbuch der bayerischen und württembergischen Actiengesellschaften 4, 1886, 54). Als auf dem Fabrikgelände residierender Brauereidirektor hatte er sowohl die Produktion vor Ort als auch das anvisierte Exportgeschäft ins Laufen zu bringen. Nicht alle waren vom Erfolg der Neugründung überzeugt: „Ob eine neue Exportbrauerei unter den gegenwärtigen Verhältnissen noch zeitgemäß ist, möchten wir bezweifeln und wir glauben auch nicht, daß wenn die Aktien an den Markt gebracht werden sollten, sich viele Liebhaber finden würden“ (Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“ in Bamberg, Münchener Fremdenblatt 1885, Nr. 336 v. 2. Dezember, 5). Andere jedoch wünschten „dem Etablissement unter der vorzüglichen Leitung des tüchtigen und erprobten Direktors Herrn Lapp Blühen und Gedeihen“ (Bamberger Neueste Nachrichten 1886, Nr. 4 v. 4. Januar, 2).

Während die meisten Brauereien für den lokalen, gegebenenfalls für den regionalen Markt produzierten und ihr Bier somit frisch in Fässern in die weitere Nachbarschaft verbrachten, zielte eine Exportbrauerei deutlich weiter – auch wenn das Ausland schon abseits der bayerischen Grenzen begann, war das Deutsche Reich doch noch in fünf Brauereigebiete mit eigenen Standards, Steuern und Zöllen aufgeteilt. Dies erforderte eine technisch versierte Produktionstechnologie, vielfach auch die Pasteurisierung des frisch gebrauten Bieres. Die neue Brauerei war von dem Dortmunder Architekten Plücker als eine Musteranlage konzipiert worden, Lapp beaufsichtige gleichermaßen Bau und die von der renommierten Chemnitzer Maschinenfabrik Germania stammende maschinelle Einrichtung. Besonderer Wert wurde auf die hohe Qualität der Vorprodukte gelegt, ein betriebsinternes Darrensystem half die Malzverarbeitung zu kontrollieren. Zwei moderne Eismaschinen und umfangreiche Kelleranlagen erlaubten eine angemessene Reife des Lagerbiers, zwei Dynamos speisten die Lichterzeugung, eine Dampfmaschine trieb die Fabrik an. Die anvisierte Kapazität von 100.000 Hektolitern pro Jahr konnte grundsätzlich weiter erhöht werden (Die Erste Bamberger Export-Bierbrauerei „Frankenbräu“, Bier-Export-Blatt 2, 1886, Nr. 13, 2). Schon vor Produktionsbeginn wurden erste Lieferverträge mit großen preußischen Gaststätten abgeschlossen, im März 1886 erhielt Lapp Prokura. Dennoch dürfte der kaufmännische Betrieb schwerpunktmäßig beim Bürochef Albert Udo Ellerbrock gelegen haben (Bayerische Handelszeitung 16, 1886, 252).

Bierexport von Bayern nach Schlesien und den USA (Breslauer Zeitung 1886, Nr. 643 v. 15. September, 4 (l.), Army Navy Journal 33, 1895, Nr. 1676, 79)

Lapp dürfte von Anbeginn versucht haben, einerseits die geschmacksbeeinträchtigende Pasteurisierung zu verbessern. Stolz annoncierte man „pasteurisirtes Bier in Fässern für überseeischen Export, System Lapp“, erhielt dafür Preise, bewarb derartiges „tropensicheres Faßbier“ (Frankenbräu unter dem Aequator, Würzburger Stadt- und Landbote 1891, Nr. 136 v. 12. Juni, 4). Anderseits dürfte Lapp an der Kohlensäureimprägnierung der Biere gearbeitet haben, da dieser Zusatz das Produkt vollmundig und frisch hielt. Schließlich etablierte er eigene Eis-Waggons, konnten damit auch weiter entferntere Kunden „frisch“ beliefert werden (Bayerisches Bier-Export-Blatt 4, 1888, Nr. 56, 8). All dies waren wichtige Fertigkeiten, die wenige Jahre später in die Produktion seines „Original alkoholfreien Bieres“ mit einfließen sollten. Anregungen dürfte er auch bei einer mehrwöchigen Geschäftsreise nach Schweden gewonnen haben, denn dort war nicht nur die Temperenzbewegung alltagsbestimmend, sondern dort setzten Forschungen zu karbonisierten Limonaden und anderen alkoholfreien Getränken früher ein als im bierseligen Franken (Bamberger Volksblatt 1890, Nr. 143 v. 3. Juli, 3). 1896 wurden im norddeutschen Brauereigebiet pro Kopf 85 Liter gebraut, während es in Württemberg 236 und in Bayern satte 282 Liter waren (Bayerische Gastwirths-Zeitung 18, 1897, Nr. 30, 1).

Unter Valentin Lapps Leitung wurde die Frankenbräu weiter vergrößert und konnte den Ausstoß auf beachtliche Höhen schrauben. Von 1887 auf 1888 verdoppelte er sich auf 68.000 hl, von denen 65.000 exportiert wurden. 1889 stieg der Wert auf 74.000 (71.000 Export), 1890 auf 75.000 hl. Doch die vor allem in den USA einschneidende Wirtschaftskrise 1890/91 ließ die Exporte auf 52.000 hl zurückgehen. 1891 sank der Ausstoß erstmals auf 70.000 hl, neue Marken wie dunkel und gold-gelb gebraute „Deutsche Würze“ konnten dies nicht verhindern. Das galt auch für den auf vier Eis- und Kühlmaschinen sowie drei Dampfmaschinen ausgeweiteten Maschinenpark (Angaben n. Gambrinus 16, 1889, 232; ebd. 17, 1890, 338; ebd. 18, 1891, 369; Gambrinus 19, 1892, 334). Frankenbräu blieb eine exportorientierte Brauerei, repräsentierte deutsches Bier in zahlreichen Auslandsmärkten, beschickte selbstverständlich auch die 1893er Weltausstellung in Chicago (Condensed official catalogue of interesting exhibits […], Chicago 1893, 18).

Werbung für Frankenbräu in einer deutschen Fachzeitschrift (Bayerisches Bier-Export-Blatt 3, 1887, Nr. 29, 8)

Doch kurz danach warf Valentin Lapp die Brocken hin, in der Fachpresse hieß es freundlicher: „Herr Valentin Lapp, der langjährige und mit vielen Erfolgen thätige technische Director der Exportbrauerei ‚Frankenbräu‘ in Bamberg hat auf seine Stelle resignirt“ (Gambrinus 20, 1893, 879). Parallel wurde bekannt, dass er eine Brauerei in Leipzig-Lindenau gekauft hatte (Bayerisches Brauer-Journal 3, 1893, 535; Exportbrauerei „Frankenbräu“, Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 511 v. 8. November, 4). Am 27. Dezember 1893 wurde Lapp offiziell durch den zuvor in Arnstadt und Leipzig tätigen Brauereidirektor Elvir Faber ersetzt (Bayerische Handelszeitung 24, 1894, 44).

Anlass für diese einschneidende Veränderung dürfte der nur dank der Zusammenarbeit fast aller Investoren vermiedene Konkurs der Frankenbräu gewesen sein. Die Gewinnentwicklung ließ das Drama erahnen: Hatte die Bamberger Brauerei 1891/92 noch einen Gewinn von 72.664 M erzielt, so schloss das Geschäftsjahr 1892/93 mit dem immensen Verlust von 653.170 M (Gambrinus 21, 1894, 36). Daraufhin beschlossen die Aktionäre einen strikten Kapitalschnitt von mittlerweile 2,2 Mio. M auf 733.000 M, also auf ein Drittel. Innerhalb der Branche hieß es skeptisch: „Der Beschluß, das Actiencapital nicht nur um den Betrag der Unterbilanz, sondern um das Doppelte derselben zu reduciren, läßt darauf schließen, daß trotz der vorgenommenen Abschreibungen die Buchwerthe noch zu hoch in der Bilanz stehen, und deren weitere Herabsetzung nöthig erscheint“ (Gambrinus 21, 1894, 42). Die Lokalpresse urteilte unfreundlicher: „Die Aktie Frankenbräu ist keinen Pfennig werth. […] In Wirklichkeit ist Frankenbräu überschuldet und hätte daher schon längst nach gesetzlicher Vorschrift den Konkurs ansagen sollen“ (Betrüger im Großen, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 4 v. 8. Januar, 1). Eine Dividende wurde dennoch ausgeschüttet.

Was war passiert? Frankenbräu war Opfer der auch damals gar nicht so seltenen Wirtschaftskriminalität geworden. Die Gebrüder Jakob und Nathan Heßlein waren respektierte und vermögende Geschäftsleute (erst Tuchhändler, dann Bankiers), Nathan seit 1885 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Bamberger Brauerei. Sie begannen Ende der 1880er Jahre jedoch Differenzgeschäfte an verschiedenen Börsen – und bedienten sich dabei auch der Depositen ihres Bankgeschäftes. Die Spirale von Verlusten und neuerlichen Spekulationen führte in den Ruin: „Was die Aktienbrauerei Frankenbräu anlangt, für welche Heßlein die Mitgründer und Finanziers waren, so hat die Firma die meisten Aktien der ersten Emission al pari übernommen und erheblich über pari verkauft, hat also ganz erheblich verdient; damit nicht zufrieden, hat diese Firma, um den Kurs zu steigern, wieder Aktien eingekauft, um sie noch höher zu verkaufen; letzteres mag ihr nicht ganz gelungen sein, aber verwerthet hat sie alle ihre Frankenbräuaktien. Heute ist nicht die Brauerei Schuldnerin der Firma Heßlein, sondern umgekehrt“ (Das Falliment Heßlein, Neues Münchener Tagblatt 1893, Nr. 146 v. 28. Mai, 4-5). Jakob Heßlein brachte sich nach der Aufdeckung des jahrelangen Betruges um, Bruder Nathan versuchte es zweimal vergebens. Die Passiva der Heßleins betrugen mehrere Millionen, ihr Bankrott wäre seit 1891 nur durch ein Spekulationswunder an der Börse zu verhindern gewesen (Helmbrechtser Anzeiger 1894, Nr. 81 v. 8. Juli, 2-3).

Zeitgenössisch war die Aufregung groß und unterminierte zugleich das Vertrauen in die Geschäftsfähigkeit der Frankenbräu. Die lokale Presse hatte den Fall mit aufgedeckt, der investigative Redakteur wurde anfangs jedoch als „Ehrabschneider und Verleumder“ denunziert (Frankenbräu Bamberg, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 13 v. 18. Januar, 3). Die neue Leitung der Brauerei betonte, dass sie auch ohne von außen kommende Kritik „von sich aus Ordnung gemacht, die aufgehäuften unsicheren Posten beseitigt, den Betrieb vereinfacht und vernünftig reduzirt, die gebührenden Abschreibungen vollzogen und den Aktionären einen Wein eingeschenkt hätte“ (Frankenbräu Bamberg, Neue Bayerische Landeszeitung 1894, Nr. 53 v. 7. März, 3). Die beträchtlichen persönlichen Opfer der Aktionäre und der Tantiemenverzicht des Aufsichtsrates spiegelten die dennoch erst spät einsetzenden Gegenmaßnahmen. Das Geschäft befand sich seit 1895 neuerlich „in steter und erfreulicher Zunahme begriffen“ (Bamberger Tagblatt 1896, Nr. 193 v. 21. August, 3), 1896/97 betrug der Ausstoß wieder 73.690 hl (Bayerische Gastwirths-Zeitung 18, 1897, Nr. 29, 2), ab 1901 firmierte man um, nannte sich nunmehr „Hofbräu“.

Valentin Lapp äußerte sich anfangs nicht zu diesem nur knapp abgewendeten Konkurs, hatte er doch zuvor seine Position zur Verfügung gestellt, war er derweil schon mit der Aufbauarbeit in Leipzig beschäftigt. Angesichts von späteren Pressevorwürfen erklärte er 1904: „Solange ich dort tätig war, hat die Brauerei Dividende bezahlt, bis sie durch das Fallissement ihres Aufsichtsratsmitgliedes Bankier Heßlein um ca. 700.000 M bar geschädigt wurde. […] Ich war gar nicht in der Lage, diesen Fall zu verhindern“ (Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 357 v. 16. Juli, 6). Damals wurde aber auch betont, dass die Frankenbräu hohe Summen für die Forschungen Lapps aufgewandt hatte (Gross-Crostitz, Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 386 v. 31. Juli, 13). Diese hatten zuvor die Gewinne der Brauerei ermöglicht und gesichert.

Die Bayerische Bierbrauerei V. Lapp Leipzig-Lindenau 1894-1901/02

Helles und dunkles alkoholfreies Bier für Gesunde und Kranke (Leipziger Tageblatt 1900, Nr. 646 v. 20. Dezember, 9982)

Am neuen Wirkungsort Leipzig sollte Valentin Lapp 1896 das erste „Original Alkoholfreie Bier“ produzieren. Als Wirkstätte hatte er die 1849 errichtete Dampfbrauerei des kurz zuvor verstorbenen Brauers Gustav Adolf Offenhauer (1831-1890) erworben. Die in Leipzig-Lindenau an der Kaiser Wilhelm-Straße 1-3 (heute Endersstraße) gelegene Firma wurde modernisiert, am 17. März 1894 die „Bayerische Bierbrauerei V. Lapp“ mit Lapp als Inhaber ins Handelsregister eingetragen (Leipziger Tageblatt 1894, Nr. 145 v. 21. März, 2106). Wie schon in Bamberg, wohnte Valentin Lapp auf dem Firmengelände (Leipziger Adreßbuch 1895, T. II, 272).

Leipzig war allerdings für jeden Brauer eine Herausforderung. Wurden 1890 im Großraum noch 672.510 hl hergestellt, so war dieser Wert trotz raschem Bevölkerungswachstums 1893 auf 637.512 hl gesunken und erreichte 1896 nur noch 616.534 hl (Die wirthschaftliche Lage des Leipziger Brauereigewerbes, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 357 v. 16. Juli, 5251). Zudem schwand in Leipzig, aber auch in ganz Sachsen und Thüringen, die Bedeutung just des bayerischen Lagerbieres, während das helle böhmische Pilsner Marktanteile gewann (Die Bierexport-Verhältnisse Bayerns, Leipziger Tageblatt 1896, Nr. 228 v. 6. Mai, 3423). Für einen fränkischen Neuankömmling mit sächsischen Markterfahrungen konnte dies nur zweierlei bedeuten: Einerseits Produktion erstklassiger, dem Namen der Bayerischen Bierbrauerei verpflichteter Angebote, anderseits die Neuentwicklung weiterer marktgängiger Angebote. All dies hatte massive Folgen für den Braubetrieb selbst, denn die betrieblichen Prozesse mussten optimiert, zugleich aber neue Marktchancen erschlossen werden. Valentin Lapp hatte, wie schon in Bamberg, die Innovationsführerschaft zu erringen.

Spezialangebot eines alkoholarmen Champagner-Weißbiers (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 297 v. 14. Juni, 4677)

Das bedurfte längerer Vorarbeiten, zumal das Patent- und Markenrecht damals reichsweit im Fluss war. Lapps erstes Leipziger Patent, ein im April 1894 angemeldetes Verfahren zur Gewinnung von Bierwürze im ununterbrochenen Betrieb, deutete jedoch in die Richtung betrieblicher Rationalisierung (Gambrinus 22, 1895, 251). Auch neu entwickelte Biertransport- und Ausschankgefäße dienten einem schnelleren Betriebsablauf und der Reduktion manueller Arbeit (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 135 v. 8. Juni, 21). Veränderungen im Angebot sind mangels Anzeigen nicht vor 1897 nachweisbar. Lapps Sortiment kreiste anfangs um die erwartbaren bayerischen Sorten. Kunden bewarben etwa sein Bockbier oder aber sein Helles (Leipziger Tageblatt 1895, Nr. 101 v. 24. Februar, 1372; ebd., Nr. 268 v. 2. Juni, 27). Das oben angeführte, jedoch erst 1899 nachweisbare Champagner-Weißbier unterstrich jedoch eine gewisse Erweiterung der Produktpalette. Das anfangs nur als Begriff und Utopie der Temperenzbewegung bekannte alkoholfreie Bier lag demnach im Trend der strukturellen Aufgaben Lapps. Ein zeitgenössischer Analyst sah sie vor allem als Marktchance, „Bier aus billigen Produkten herzustellen, welche obergährig einen guten Geschmack besitzen, auf Flaschen gezogen, lange haltbar sind und noch einen relativ guten Verdienst ergeben“ (Max Wender, Praktische Anleitung zur Fabrikation kohlensäurehaltiger Erfrischungs- und Luxus-Getränke, Berlin und Wien 1898, 218). Dazu aber mussten Verfahren entwickelt werden, um die enge Symbiose von Geschmacks- und Alkoholbildung zu durchbrechen. Die dem Bierbrauen zugrundeliegende alkoholfreie Bierwürze ist kaum trinkbar. Erst die von Hefe ausgelöste Gärung führt zur Alkohol- und Kohlensäureentstehung, zum vollmundigen und frischen Geschmack des Bieres. Wie aber in diesen menschlich genutzten chemischen Prozess eingreifen, um am Ende mehr zu erhalten als nicht trinkbare Plörre?

Neue Marktchancen durch Technologie: Lapps Ausflug in die Biersiphonproduktion

Diese technologische Aufgabe ging Valentin Lapp wahrscheinlich 1895/96 an. Doch über den Entwicklungsprozess, die Ideenfindung und ihre Umsetzung wissen wir kaum etwas. Wir können 1896 erste recht unpräzise Angaben über Lapps auf Verkostungen präsentiertes „Original alkoholfreie Bier“ finden. Pröbeln und Tüfteln sind halt schwerer darzustellen als das finale Produkt. Um zumindest eine Vorstellung von Lapps Vorgehen zu gewinnen, hilft allerdings ein Blick auf eine weitere Innovation, mit der er damals recht erfolgreich war.

Bier war zu dieser Zeit ein vornehmlich in Gläsern außerhäuslich konsumiertes frisches Getränk. Es wurde nach dem Brauen in Holzfässer gefüllt und gelagert, nach der Reife zum Gastwirt, zum Ausschankplatz transportiert und dort mit Hilfe tradierter Mechanik oder aber elaborierter Bierpressionen ausgeschenkt und dem willigen Kunden dargetan. Flaschenbier gab es, aber die stetig entweichende Kohlensäure begrenzte Haltbarkeit und Geschmack. Es kam mit den Flaschenfüllapparaten in den 1870er Jahren auf, doch hierzulande blieb die Mechanisierung der Hohlglasproduktion deutlich hinter der in den USA zurück. Für Exportbiere konnte sich die Flaschenabfüllung durchaus etablieren, blieb jedoch vor Ort bis in die 1890er Jahre eine von den Gastwirten erbittert bekämpfte Alternative.

Das galt auch für die nach britischen Vorbildern entwickelten Biersiphons, die seit 1895 dem häuslichen Bierkonsum eine weitere Option eröffneten (Syphon-Bier, Hopfen-Kurier 15, 1895, Nr. 74, 4). Zwar hieß es abschätzig: „Mit dieser Neuerung hat es in Bayern noch eine gute Weile“ (Bayerische Gastwirths-Zeitung 16, 1895, Nr. 50, 1-2, hier 2), doch mit der 1896 gegründeten Kasseler Bier-Siphon AG gewann das Geschäft reichsweite Dimensionen. Biersiphons verloren deutlich weniger Kohlensäure als Flaschen, zerbrachen nicht, waren zudem einfacher zu kühlen. Üblich waren 5-Liter-Gefäße, die in Brauereien oder aber dem Großhandel gefüllt und gegen Pfand den Haushalten direkt geliefert wurden. In Leipzig wurde im August 1896 eine Filiale der reichsweit führenden Kasseler Bier-Siphon AG eingerichtet (Leipziger Tageblatt 1896, Nr. 322 v. 27. Juni, 4777). Im Innovationszentrum Leipzig wurde sie jedoch rasch von der Deutschen Syphon-Ges. Roesler & Co. abgehängt, die mit ihrem Globus Selbstschänker eine bis weit in die 1920er Jahre genutzte Siphonkonstruktion etablierte (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 210 v. 3. September, 9; Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 329 v. 1. Juli, 4866). Die neuen Geräte erlaubten allesamt häuslichen Konsum frisch verfüllten Bieres, holten gleichsam das Wirtshaus in die eigene Wohnung.

Aufbau eines Vertriebsnetzes und Produktvarianten der Lappschen Biersiphons (Hannoverscher Courier 1897, Nr. 20603 v. 6. März, 4 (l.); Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1320)

Siphons sicherten und erweiterten den lokalen Markt, doch zugleich konnten die Geräte regional, national und auch in Auslandsmärkten eingesetzt werden. Für den tüftelnden Technologen Valentin Lapp war dies eine Herausforderung – auch als Absatzchance für sein zeitgleich entwickeltes alkoholfreies Spezialbier. Die Werbeankündigungen klangen verheißungsvoll: „Dieser im Gross- und Kleinbetriebe praktisch bewährte, vorzüglich construirte, nicht zerbrechliche Bier-Siphon bildet ein ausserordentlich vollkommenes Bier-Transport-Conservierungs- und Ausschank-Gefäss; speziell für den Haushalt. Derselbe wird in der Grösse von 5 und 10 Liter angefertigt, zeichnet sich besonders durch ein elegantes Aeussere, seine Dauerhaftigkeit sowie vorzügliche Funktion aus und ermöglicht den einfachsten, sparsamsten Betrieb bei geringstem Kohlensäure-Verbrauch und leichtester Reinigung. Derselbe ist mit einem Griff zu öffnen und ebenso wieder absolut zu verschliessen“ (Johannes Kleinpaul (Bearb.), Offizieller Katalog der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung zu Leipzig 1897, Leipzig 1897, Anzeigen, 14). Lapp hatte die vorhandenen Geräte präzise analysiert und technisch deutlich verbessert.

Am 28. Dezember 1896 gründete er gemeinsam mit einem lokalen Investor am Sitz seiner Brauerei ein neues Unternehmen, die Leipziger Salon-Bierkrug-Gesellschaft, Valentin Lapp & Co., vermarktete seine derweil erteilten Patente (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 7 v. 5. Januar, 106; Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 173 v. 26. Juli, 15). Das neue Biergefäß etablierte sich rasch: „Nebst dem Reissing’schen Biersyphon ist jener von Lapp der bekannteste und verbreitetste. Diese Syphons […] bestehen aus einem innen silberverzinnten und überdies emaillirten, verschieden gestalteten Gefäss aus Kupfer“ (C. Gronert, Biersyphone (Schluss.), Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1304-1305, hier 1304). Lapp veränderte seinen Grundtyp rasch: Fass-, Kannen- und Flaschenformen wurden angeboten, zudem auch Glassiphons mit direkten und indirektem Kohlensäuredruck. Dieses Modell „Prosit“ war gezielt für den „überseeischen Bedarf“ entwickelt worden, Lapp nutzte seine zuvor in Bamberg entwickelte Expertise (Hamburgischer Correspondent 1898, Nr. 509 v. 30. Oktober, 17). Hinzu kamen unterschiedliche von einem bis zehn Liter reichende Größen (Allgemeine Zeitschrift für Bierbrauerei und Malzfabrikation 25, 1897, 1320). Die Salon-Bierkrug-Gesellschaft konnte rasch ein reichsweites Vertriebsnetz aufbauen. Zudem nutzte Lapp die Siphons für den Hausversand seiner bayerischen Biere, auch das „Original Alkoholfreie Bier“ konnte nach Erscheinen darin geordert werden.

Neue Absatzformen: Lappsches Bier in selbst konstruierten Siphons (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 387 v. 21. März, 2110)

Der Leipziger Brauereidirektor konnte also bestehende Marktchancen rasch mit technisch nicht nur wettbewerbsfähigen, sondern neue Standards setzenden Produkten nutzen. Außerdem gelang es dem früheren Exportbrauereileiter, nicht nur lokale, sondern auch überregionale Vertriebsnetze aufzubauen. Lapp zielte auf den häuslichen Konsum, durchbrach die Zwänge der öffentlichen Gaststättenkultur. Biersiphons konnten sich allerdings nur für wenige Jahre gegen den Vormarsch des durch neue Bügelverschlüsse und Kronkorken technisch verbesserten Flaschenbiers behaupten. Das Scheitern dieser – nach den Mineralwässern in den 1870er Jahren – zweiten Siphonmode betraf auch Lapp, denn sein Unternehmen wurde am 7. Juli 1902 aus dem Handelsregister gelöscht (Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 343 v. 9. Juli, 4859). Für die Entwicklung und den Vertrieb des neuen alkoholfreien Bieres waren die von Lapp bei den Siphons an den Tag gelegten Fertigkeiten jedoch eine Art Blaupause.

Lapps „Original alkoholfreies Bier“: Zusammensetzung und Produktionsverfahren

Anfang 1897 frohlockte Wilhelm Bode (1862-1922), Geschäftsführer des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch der geistigen Getränke, später Vorstandsmitglied des Vereins für Gasthausreform: „Das neueste ist, daß es seit Ende 1896 auch vorzügliches alkoholfreies Bier gibt, ein sehr nahrhaftes, angenehmes Getränk, dem vielleicht eine große Zukunft bevorsteht“ (Wilhelm Bode, Zur Geschichte des Bieres, Das Leben 11, 1897, 150-157, hier 156). Als „Mäßiger“ plädierte er nun erst recht für „die Bevorzugung der leichten Biere und Einführung alkoholfreier Getränke“ (Die Berliner Frühjahrsversammlungen zur Fürsorge für Wanderer und Arbeitslose, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 215 v. 29. April, 3203). Zuvor hatte er verschiedene neue Produkte gekostet, Lapps „Original alkoholfreies Bier“ ragte dabei heraus.

Ein neues alkoholfreies Bier, wissenschaftlich umkränzt (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 133 v. 14. März, 1918)

Lapps Innovation zirkulierte seit Ende 1896 bei den Ausstellungen und Vereinstreffen der Temperenzbewegung, der Naturheilkunde und Sozialreform: „Die Bayerische Bierbrauerei R. [sic!] Lapp in Leipzig-Lindenau bringt seit kurzem ein alkoholfreies Bier in den Handel, das, ohne Surrogate und Konservierungsmittel hergestellt, zum Preise von 15 Pf. (hell) und 20 Pf. (dunkel) pro Flasche Leipzig franko Haus abgegeben wird“. Ein abstinenter Arzt reiste eigens nach Leipzig, um Valentin Lapp und sein Produkt kennenzulernen: „Höchstbefriedigt bin ich von beiden. Das Bier ist absolut alkoholfrei, unbegrenzt haltbar, sehr schmackhaft, nicht durch das widersinnige Verfahren gewonnen, daß man zuerst alkoholhaltiges Bier macht und dann mühsam und teuer den Alkohol wieder entfernt, sondern durch Verhütung jeder Zersetzung in der sorgfältigst bereiteten, sterilisierten und gehopften Würze, unter späterem Zusatz von Kohlensäure. Dabei ist das Bier billig. Daß wir es schon so weit gebracht haben, daß wir unter Bierbrauern welche finden, die wie R. [sic!] Lapp mit seiner ganzen Familie Abstinente sind und ihre Erkenntnis noch in die That umsetzen, ist gewiß erfreulich. Hochintelligent, gut in seinem Fach gebildet, einer idealen Auffassung zugänglich, werden wir in der Mitarbeit dieses bayerischen Bierbrauers einen Kampfgenossen in jenem Lager gefunden haben, wo man es wohl am wenigsten erwartete“ (Beides nach Alkoholfreies Bier, Hygieia 10, 1896/97, 374-375).

Lapp selbst, dessen Abstinenz anderweitig nicht belegt ist, zielte jedoch über den Glasrand der Temperenzbewegung hinaus. Sein alkoholfreies Bier war Wissensprodukt, kein Ersatz, sondern eine neue Biersorte eigener Qualität. Seine vor Ort ab März 1897 geschaltete Anzeigenwerbung präsentierte ein neues „Hausgetränk“ für alle. Formal erinnern die Annoncen an die gerade in Leipzig seit Jahrzehnten besonders gepflegten Malzextrakte, Gesundheitsbiere und Porter. Analysen waren Trumpf, sollten die Güte des Neuen wissenschaftlich bezeugen. Gleich drei renommierte Nahrungsmittelchemiker hatten das „Bier“ Ende 1896, Anfang 1897 untersucht: Die Leipziger Karl Hoffmann und Oskar Bach sowie der Berliner Carl Bischoff. Hoffmann fand ein Getränk „von dunkelrother Farbe, vollkommen klar, von feurigem Glanze, [es, US] schäumte stark und hielt den Schaum genügende Zeit. Dasselbe wirkte erfrischend und ist der Geschmack der süßlich bittere eines guten Bieres.“ Das galt auch noch fünf Wochen später. Bach lobte den gänzlich fehlenden Alkohol, ferner den Verzicht auf Süß- und Zusatzstoffe. Am aussagestärksten war Bischoffs Analyse: Lapp sei demnach vom ärztlichen Wunsch bewegt worden, „ein kräftiges, die normalen Bestandtheile eines Bieres enthaltendes Getränk verwenden zu können, ohne gleichzeitig den Alkoholgehalt mit hinnehmen zu müssen. Es ist das hier vorliegende Erzeugnis entstanden und mit Recht mit dem Namen ‚Alkoholfreies Bier‘ benannt worden, wenn auch gewissermaßen bisher im Allgemeinen ein Gebräu erst Bier genannt wurde, wenn in demselben unter dem Einfluß der Gährung sich Alkohol gebildet hat. […] Man kann den Geschmack des Gebräues sonst als einen sehr kräftigen, brodigen oder malzigen Geschmack kennzeichnen und ist das Getränk durch seinen starken Kohlensäuregehalt auch von recht erfrischendem Geschmack“. Das neue alkoholfreie Bier sei steril produziert, daher lange lagerfähig (alle Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 133 v. 14. März, 1918). Fasst man zusammen, so war dies eine brautechnisch gelungene Innovation, ansprechend und auch geschmacklich dem Bier entsprechend. Bischoff allein verstand jedoch die dahinterstehende Erschütterung der eben nicht festen Welt der Nahrungsmittelbezeichnungen. Bier ohne alkoholische Gärung? Dennoch bezeichneten zwei der Gutachter das „Original alkoholfreie Bier“ just als Bier.

Lapps alkoholfreies Bier per Nachnahme (Tageblatt der 69. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Braunschweig 1897, Nr. 1 v. 19. September, 49)

Es dauerte noch ein Jahr, bis auch die neuartige Produktionsweise – auf Basis eines in Großbritannien zuerkannten Patentes – bekannt wurde: Ausgangspunkt war demnach zerkleinertes Malz, das auf 60° C erhitzt, stehengelassen und dann gekocht wurde. Nach dem Abläutern, also dem Abfiltern fester Malzbestandteile, wurde der warmen Bierwürze mehrfach Diastase hinzugefügt, so dass die Stärke in Zucker umgewandelt werden konnte. Der Sud wurde erhitzt, Hopfendrüsen hinzugefügt und verkocht. Die Würze wurde anschließend zentrifugiert, reagierte mit der Luft, wandelte sich in eine schaumige Masse, die man dann sacken ließ und unter möglichst geringem Wärmeverlust filtrierte. Diese Flüssigkeit wurde zerstäubt und mit Kohlensäure imprägniert, anschließend in einer Kühlschlange möglichst rasch auf den Gefrierpunkt abgekühlt. Danach sättigte man die eiskühle Würze nochmals mit Kohlensäure (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 77-78; Alkoholfreies Bier, Drogisten-Zeitung 24, 1898, 558; Alkoholfreies Bier, Hopfen-Kurier 18, 1898, Nr. 21, 3-4). Diese Informationen wurden großenteils nur wiedergegeben, riefen jedoch auch Widerspruch hervor. Es handelte sich doch um einen Bruch mit der tradierten Braukunst, denn die Bierwürze wurde nicht vergoren: Es hieß, dass der Begriff alkoholfreies Bier „eigentlich sinnlos“ sei, nur der Einfachheit halber genutzt werden könne (Alkoholfreies Bier, Technische Rundschau 4, 1898, 266). Deutlicher war die Resonanz von Brauern: „Die Herstellung dieses Bieres verträgt sich also nicht mit der einschlägigen bayerischen Gesetzgebung“ (Lapp-Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 193). Wir werden auf diese sich rasch zuspitzende Debatte zurückkommen.

Valentin Lapp hat sein patentiertes Produktionsverfahren anschließend immer wieder verbessert, so dass es sich nur bedingt um ein standardisiertes Markenprodukt gehandelt hat (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 129). Zudem wurden die zwei Anfangssorten, Helles und Dunkles, rasch um drei weitere Varianten ergänzt. Dabei ging es für den Erfinder nicht nur um den Geschmack: „Dieses für unverdorbene Gaumen sehr wohlschmeckende, stark schäumende Bier hat einen erheblich höheren Nährwert als das alkoholische, das ja mit Unrecht als ‚flüssiges Brot‘ angepriesen wird“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Lippstädter Zeitung 1897, Nr. 39 v. 31. März, 1). Redaktionelle Werbung pries die Pioniertat, die Abkehr von ebenso bezeichneten Vorgängern mit ihrem „abscheulichem Geschmack“: „Die Ueberwindung der großen technischen Schwierigkeiten ist nun dem in Fachkreisen als Capacität bekannten Brauereibesitzer Valentin Lapp in Leipzig-Lindenau gelungen. In seinem ‚Original alkoholfreien Bier‘ stellt er ein Getränk her, das allen Anforderungen, namentlich auch in medicinischer Hinsicht, entspricht“ (Hamburgischer Correspondent 1897, Nr. 23 v. 2. Dezember, 12-13). Es folgten obligate Erfolgsmeldungen über die Verwendung als Hausgetränk für Frauen, Kinder und Wöchnerinnen, in Krankenhäusern und Kantinen, auch in den Überseemärkten. Das alkoholfreie Bier war Nähr- und Kräftigungsmittel, diente Rekonvaleszenten und Gebrechlichen, fand auch seinen Weg auf den häuslichen Tisch. Glaubt man der Temperenzpresse, so handelte es sich um einen auch kommerziellen Erfolg: „In Leipzig führen 10 Restaurants das Bier ständig, in Eisenach wird es im Stadtpark verschänkt und an acht Stellen in Flaschen verkauft. Nach München gehen Waggon-Sendungen und neben den Trinkerheilanstalten werden auch Nervenheil- und andere Anstalten gute Abnehmer. An einem deutschen Hofe kommt es auf den Tisch der Prinzen. In Norwegen wird es demnächst auch hergestellt“ (Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 31-32). Valentin Lapp erhielt vielgestaltigen Beifall, galt „als ein hochgebildeter, hervorragend tüchtiger Fachmann“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Das Volk 1898, Nr. 147 v. 26. Juni, 9).

Virtuelle Konkurrenten: Bassara und Frada

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ steht in der Tradition bieranaloger alkoholfreier Getränke. Ihre Zahl nahm Mitte der 1890er Jahre deutlich zu, der Erfolg der „alkoholfreien Weine“ setzte Forscherenergie und Investorengeld in Bewegung. Vertreter der Temperenzbewegung hatten sich zuvor vor allem von zwei Innovationen das versprochen, was nun Lapps Produkt leisten sollte: Eine Alternative für den täglichen häuslichen Konsum, mit dem man aber auch die Gegenkultur alkoholfreier Gaststätten attraktiver ausgestalten konnte.

Bei den beiden früheren Produkte handelte es sich einerseits um Bassara, das 1896 für eine gewisse Aufmerksamkeit bei Versammlungen von Naturforschern und Medizinern sorgte (Allgemeine Wiener Medizinische Zeitung 41, 1896, 445). Das „alkoholfreie Bier“ bestand aus geheim gehaltenen Zutaten, vornehmlich jedoch Pflanzenauszügen. Das von der Kasseler Firma Dr. Hilgenberg Nachf. produzierte Getränk zielte vornehmlich auf den englischen Markt, dem dortigen Faible für Ingwer- und Rootbeer. Auch wenn gerade Apotheker auf die Marktchancen solcher Nichtalkoholika aufmerksam gemacht wurden, so hatte es mit Bier lediglich den Namen gemein (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558).

Entstehen eines Marktes „alkoholfreier Biere“: Bassara und Frada (Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland 38, 1897, 558 (l.); Badische Presse 1900, Nr. 129 v. 6. Juni, 8)

Deutlich anders zu bewerten ist das ebenfalls 1896 entstandene Frada. Es wurde von dem in der Lebensreformbewegung fest verankerten Chemiker Walther Nägeli (1851-1919) in seiner seit 1878 bestehenden Konservenfabrik in Mainz-Mombach entwickelt (Bayerische Handelszeitung 8, 1878, 80). Das seit Juli 1896 vertriebene Frada war Nebenprodukt einer breiten und Zeitgenossen beeindruckenden Palette von Frada-Fruchtsäften aus Äpfeln, Beerenfrüchten, Kirschen und Pflaumen, die er als „alkoholfreie Weine“ vermarktete. Das Verfahren des alkoholfreien Biers Frada wurde 1896 patentiert, steht also zeitlich vor Lapps „Original alkoholfreiem Bier“ (Westdeutsche Zeitung 1896, Nr. 176 v. 29. Juli, 3). Bier wurde in üblicher Weise hergestellt, der Alkohol dann mechanisch entzogen (Badische Presse 1900, Nr. 129 v. 6. Juni, 8). Der Geschmack variierte, zudem misslang der Aufbau einer leistungsfähigeren Vertriebsstruktur. Nägli verkaufte seine zahlreichen Patente Ende 1899 an die in Berlin neu gegründete Theodor Reissing & Co. GmbH für einen Pauschalpreis von 30.000 M (Berliner Börsen-Zeitung 1900, Nr. 353 v. 31. Juli, 12). Frada-Bier war nicht viel mehr als ein Versuchsballon, der bald ohne Luft landete. Das Präparat unterstrich vor allem die technologischen Fallstricke der Produktion alkoholfreier Ersatzprodukte, auch wenn der nachträgliche Entzug des Alkohols in der Folge vielfach versucht wurde.

Aufbau eines Vertriebsnetzes für Lapps „Original Alkoholfreie Bier“

Beim Aufkommen dieser alkoholfreien Biere waren sich viele Temperenzler sicher, dass dies nicht drei beliebige Einzelprodukte waren, sie vielmehr eine Zeitenwende einläuteten: „Die Jahre 1896 und 1897 werden in der Geschichte der Getränke und der Trinksitten wahrscheinlich epochemachend sein, […]. Wenn bisher die Streitfrage war: Wein und Bier oder Wasser? so wird sie bald auch lauten: alkoholisches Bier oder alkoholfreies? alkoholischer Wein oder alkoholfreier? gefährliches oder gesundes Getränk?“ (Wein und Bier ohne Alkohol, Kneipp-Blätter 7, 1897, 133-134). Die Jugend würde mit neuen Wahlmöglichkeiten aufwachsen, sie würde der Trunksucht nicht anheimfallen. Dabei handelte es sich jedoch um typische Wunschwelten von Bildungsbürgern fernab wirtschaftlicher Realitäten. Denn so unverzichtbar die Produktentwicklung auch sein mag; über den Markterfolg entscheidet vorrangig der Aufbau eines Vertriebsnetzes, also die Nähe zum Konsumenten. Und darauf gründete die Ubiquität der Alkoholika: 1893 gab es in der Stadt Leipzig nicht weniger als 148 Gastwirtschaften, 1153 Schankwirtschaften mit und 188 ohne Branntweinausschank, zudem noch 281 Branntweinkleinhandlungen (Statistisches Jahrbuch für das Königreich Sachsen 33, 1905, 148).

Im Gegensatz zu Nägeli, der für sein alkoholfreies Bier lediglich die gängigen Absatzwege seiner Frada-Fruchtsäfte nutzte, baute Valentin Lapp ein breit gefächertes, weit über den lokalen Absatz seiner bayerischen Biere hinausreichendes Vertriebsnetzwerk auf. Vier Ebenen sind zu unterscheiden: Erstens nutzte er seine lokalen und regionalen Absatzstrukturen. Alkoholfreie Biere erweiterten das bestehende, gemein vertraglich fixierte Angebot vornehmlich von Münchner, Kulmbacher, Lagerbier und – eine Morgengabe an das sächsische Publikum – Pilsener um die neuen alkoholfreien Sorten. Da es sich um Flaschenbier handelte, schied dies bei größeren Wirtschaften aus, auch wenn 1897 die Offensive der Gastwirte gegen diese Verpackung schon wieder am Abebben war. Hinzu trat vor Ort ein kostenloser Bringdienst zu den gängigen Lieferusancen. Zweitens transformierte Valentin Lapp seine Brauerei in ein Versandgeschäft für das neue Flaschenbier. Probekistchen mit vier Flaschen sollten den Einstieg ermöglichen, ansonsten versandte die Brauerei Bierkästen mit 12, 24, 50 und 100 Flaschen per Nachnahme ins gesamte Inland. Drittens beschritt Lapp mit seinem neuen „Original alkoholfreiem Bier“ den üblichen Weg für damalige Gebrauchsgüter, seien es Fleckenwasser oder aber Asthmazigaretten aus Cannabis: Er versuchte Großhandelsdepots zu errichten, Bierhandlungen und Brauereien für einen gemeinsamen Vertrieb zu gewinnen. Diese vergaben anschließend Regional- und Lokalkonzessionen, derer Inhaber dann einzelne Gaststätten und Einzelhändler belieferten. Viertens schließlich bemühte er sich auch um einen internationalen Ausfuhrhandel.

Genaue Angaben zu den jeweiligen Erfolgen fehlen. Der Preis des „Original alkoholfreien Bieres“ war allerdings relativ hoch, entsprach dem von in Flaschen versandten alkoholhaltigen Spezialbieren, lag damit aber mindestens fünf Pfennig höher als gängige Standardbiere; wobei wir nicht wissen, ob es sich um eine der vielfach üblichen Halbliterflaschen handelte. Da Kunden aber über die „nicht große Flasche“ (Die christliche Welt 11, 1897, Sp. 384) lamentierten, dürfte der Inhalt geringer gewesen sein, zwischen 0,4 und 0,2 Liter, lehnte sich vielleicht an die zumeist 0,3 oder 0,4 Liter fassenden Biergläser in den Gaststätten abseits Bayerns an. Es gab damals keine standardisierten Bierflaschen. Lapps Standardflaschen waren 20 Zentimeter hoch, doch der bauchige Hauptteil machte weniger als die Hälfte aus. Bequemlichkeit hatte ihren Preis.

Standardbierflasche aus Valentin Lapps Brauerei in Leipzig-Lindenau (l.) und Suche nach Generalagenturen für die Belieferung der Großstadtmärkte (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Objekt Nr. Z0135658 (l.); Berliner Tageblatt 1897, Nr. 446 v. 3. September, 10)

Der Bahnversand von Lapps alkoholfreiem Bier erfüllte zumindest anfangs die gesteckten Erwartungen, teilte seine Brauerei doch drei Monate nach der Einführung mit, „sie müsse fast alltäglich ihre Geschirre nach dem Bayerischen Bahnhofe schicken, um die nach Süddeutschland gehenden Sendungen ihres alkoholfreien Bieres, monatlich 120 bis 150 Kisten, zollamtlich behandeln zu lassen“ (Errichtung einer Zollabfertigungsstelle am Bahnhofe zu Plagwitz-Lindenau, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 260 v. 5. Juni, 4222). Folgen wir nun den Kistchen, etwa in den Schopfsteiner Gasthof „Zum Pflug“: Dort wurde Lapps Dunkles verkostet, sein malziger Geschmack gewürdigt: „Auch der gewiegteste Bierkenner würde im übrigen dem schäumenden Gerstensafte nicht anmerken, daß ihm der Rausch erzeugende Bestandteil fehlt und doch ist dem so. […] Das in Rede stehende Bier hat nur einen Fehler, es ist zu teuer. Während es die Brauerei Lapp-Leipzig-Lindenau an Ort und Stelle für 15 bezw. 20 Pfg. liefern kann, erhöht sich in Schopfheim […] durch Fracht, Steuer u.s.w. der Preis auf 70 Pfg.“ (Ingolstädter Tagblatt 1897, Nr. 38 v. 17. Februar, 5). Beim Bier gab es im Deutschen Reich noch keinen freien Warenverkehr. Unter Temperenzlern hoffe man daher auf eine breitere dezentrale Produktion: „Aber gewiß ist die Zeit nicht mehr fern, wo alle Brauereien in einen edlen Wettstreit eintreten werden, nicht mehr das stärkste (d. h. giftigste) sondern das gesündeste Bier herzustellen“ (Alkoholfreie Weine, Feierstunde 1898, Nr. 36, 3). Bildungsbürgerliches Wunschdenken…

Konzessionierter Absatz (General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1900, Nr. 3854 v. 3. November, 1 (l.); Echo des Siebengebirges 1900, Nr. 95 v. 28. November, 3)

Lapp versuchte daher verstärkt, lokale Vertriebsfirmen zumal im norddeutschen Braugebiet zu gewinnen. Diese wurden am Verkaufserlös angemessen beteiligt, sollten dann Vertrieb und Werbung eigenständig durchführen. Große Biersendungen würden die Kosten deutlich vermindern. Das gelang, wenngleich von einer reichsweiten Vor-Ort-Präsenz des „Original alkoholfreien Bieres“ nicht die Rede sein konnte. Enthaltsamkeit blieb ein teures Unterfangen. Entsprechend dürfte Lapps Produkt auch im Ausland nur geringen Widerhall gefunden haben. Valentin Lapp sprach zwar anfangs von der „außerordentliche[n, US] Verbreitung“, von „Erfolgen in staatlichen und privaten Anstalten“, von „großen nach Ägypten und dem Orient versandten Posten“, pries das alkoholfreie Bier gerade für die Tropen, denn es erfrische, während „man nicht die lähmende und erschlaffende Wirkung des Alkohols mit in den Kauf nehmen muß“ (Alkoholfreies Bier, Deutsche Kolonialzeitung 11, 1898, 201). Doch die umfangreiche Werbung in der einschlägigen Deutschen Kolonialzeitung wurde nach 1898 nicht mehr fortgesetzt, der Widerhall war zu gering (Tropenkoller, Hamburger Fremdenblatt 1903, Nr. 126 v. 31. Mai, 25).

Ein alkoholfreies Getränk für die Kolonien (Deutsche Kolonialzeitung 11, 1898, Nr. 26, Beil., 209)

Vermarktung im Umfeld der Temperenzbewegung

Die vier eingeschlagenen, allerdings nur teils erfolgreichen Vertriebswege waren zwar nicht häufige, grundsätzlich aber auch von anderen Brauereien gewählte Formen, um insbesondere für Spezialbiere überregionalen Absatz zu finden. Sie waren Ausdruck der Produktorientierung der Branche. Es galt ein gutes Bier zu produzieren, dieses dem Kunden vor Augen zu führen – und dann würde er zugreifen, denn er hatte Durst. Das alkoholfreie Bier war jedoch von anderer Qualität, denn es zielte auf die große Zahl der Biertrinker, die dem Alkohol kritisch gegenüberstanden, die aber die vielen anderen Attribute des Bieres nicht missen wollten. Alkoholfreies Bier war damit konsumentenzentriert, durchbrach das brauliche Selbstgespräch am Gärbottich, war das Ergebnis gesellschaftlicher Ansprüche just an die Brauwirtschaft. Lapps Innovation stand für eine neue Macht des Konsumenten, für seine vielfach nur beschworene Souveränität. Es ging nicht um ein verbessertes Weiter-so, sondern um eine neuartige Konsumentenorientierung. Alkoholfreies Bier war die Materialisierung von seit den 1880er Jahren öffentlich artikulierten Ansprüchen. Entsprechend gab es einen fünften, in der Öffentlichkeit auch am stärksten thematisierten Vertriebsweg, nämlich den Absatz über die Institutionen der Temperenzbewegung. Deren zehntausende Vereinsmitglieder waren als Kernmarkt des Neuen eigentlich gesetzt. Alkoholfreies Bier nicht nur zu fordern, sondern es nun auch zu kaufen, schien eine Frage der Fairness zu sein, zumal sich Lapp mit dem neuen Bier nicht nur Freunde schuf: Der lokale Verein Leipziger Gastwirte lehnte es nach kurzem internen Meinungsaustausch strikt ab, das alkoholfreie Bier auch nur zu verkosten (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 174 v. 6. April, 2580).

Valentin Lapp präsentierte sein „Original alkoholfreies Bier“, aber auch seinen neu entwickelten Malzextrakt und eine Trinkwürze (beides Gesundheitsbiere), bei zahlreichen Ausstellungen sowohl der engeren Temperenzbewegung als auch auf medizinischen und naturwissenschaftlichen Tagungen und Kongressen (Verein für Gesundheitspflege zu L.-Plagwitz, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 260 v. 23. Mai, 3862). Das neue Produkt wurde als „eine entschiedene Consequenz des gedachten Heilungsregimes“ (Pharmaceutische Post 30, 1897, 504) der Abstinenz zumeist positiv beschrieben (General-Anzeiger für Essen und Umgegend 1897, Nr. 226 v. 2. Oktober, 4; Münchner Neueste Nachrichten 1898, Nr. 139 v. 25. März, 9; Die Ersatzgetränke-Ausstellung in Heidelberg, Mäßigkeits-Blätter 15, 1898, 129-130; Die Neuheiten-Ausstellung, Düsseldorfer Zeitung 1898, Nr. 262 v. 23. September, 3).

Präsentation als „bestes Gesundheitsbier der Welt“ (Saale-Zeitung 1897, Nr. 554 v. 26. November, 8)

Zusammengefasst ragen innerhalb der Berichte drei Punkte hervor, nämlich Freude und Stolz, Fragen des Geschmacks und Rückfragen an den Preis. Die Temperenzler sahen sich erstens durch das Lappsche Produkt selbst bestätigt. Rasch parolte man, dass es nun endlich Mittel gäbe, „die einen Uebergang zum Anti-Alkoholismus ermöglichen: genußreiche Ernährung ohne die Schattenseiten der Berauschung, die so oft in’s Elend führt!“ (Allgäuer Zeitung 1898, Nr. 61 v. 16. März, 5). Alkoholfreies Bier erlaube die der eigenen Bewegung immanente höher entwickelte Lebensfreude. Doch ein vorbehaltloses Ja war nicht zu hören: „Natürlich werden die neuen Getränke nur ganz allmählich Boden gewinnen, wie das auch bei allen heute beliebten der Fall war. Es wird ihnen an Gegnern und Hindernissen nicht fehlen; […]. So treten sie langsam in einen Wettbewerb mit den Alkoholgetränken und viele werden davon Nutzen haben“ (Das Volk 1898, Nr. 147 v. 26. Juni, 9). Zweitens hielt man sich bei der Einschätzung des Geschmacks vielfach zurück. Das alkoholhaltige Bier blieb Geschmacksreferenz, an die Entwicklung einer eigenen Geschmackskultur dachte man nicht. Man wog ab, empfand die helle Variante ansprechender als die dunkle, hob diejenigen Sorten hervor, die „im Geschmack dem gewöhnlichen alkoholhaltigen Bier am nächsten“ kamen (Ersatzgetränke für Alkohol, Wörishofer Blätter 9, 1898, 598-599, hier 599). Selbst kritische Stimmen wurden positiv umgebogen: „Was den Geschmack anbetrifft, so dürfte es dem gesunden Biertrinker kaum imponiren; der Kranke wird ihn faut de mieux sicher gern in den Kauf nehmen, um nur seinen Durst zu stillen“ (Pharmaceutische Post 30, 1897, 504). Drittens war das alkoholfreie Bier vielen schlicht zu teuer. Als bei der Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke 45 Pfennig für ein halbes Liter gefordert wurden, fand es „wenig Anklang“ (Badischer Beobachter 1898, Nr. 173 v. 30. Juli, s.p.). Dann aber folgte Zukunftsmusik, harfte man das Lied von niedrigeren Preisen bei höherem Absatz.

Vertriebsnetzwerk der Lebensreform (Volkswacht 1898, Nr. 173 v. 28. Juli, 4)

Bei den Ausstellungen und Tagungen suchte Valentin Lapp aber nicht nur Einzelkunden, sondern versuchte vorrangig, sein Produkt in Krankenhäuser, Anstalten und Kantinen einzuführen. Bei den Betreuten galten andere Geschmackskriterien, wir lasen dies schon. Gerade in Trinkerheilanstalten könne alkoholfreies Bier für die Patienten ein wertvolles Mittel sein, „um den Uebergang zum Wasser- und Wenigtrinken zu vermitteln“ (Mäßigkeitstag in Heidelberg, Emscher Zeitung 1898, Nr. 176 v. 30. Juli, 1-2, hier 2). In Kantinen sollten die Arbeiter eine Alternative zum üblichen Bier haben, in Dresden und Berlin soll dies auch gelungen sein (Schutz der Arbeiter gegen den Alkohol, Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 539 v. 22. Oktober, 7745). Die Vermarktung bei Ärzten und Sanatorien hob den höheren Nährwert des alkoholfreien Biers besonders hervor (Bautzener Nachrichten 1898, Nr. 289 v. 14. Dezember, 3349). Und entsprechend weitete sich das Einsatzfeld aus, umgriff blutarme Frauen, aber auch kränkliche Kinder. Otto Dornblüth (1860-1912), späterer Herausgeber des Pschyrembels, forderte seine Kollegen auf, künftig den alkoholhaltigen Malzextrakt durch Lapps nährenden alkoholfreien Trank zu ersetzen (Ärztliche Rundschau 8, 1898, 348-349, hier 349).

Integration des alkoholfreien Bieres in alkoholfreie Gaststätten (General-Anzeiger der Stadt Mannheim und Umgebung 1902, Nr. 308 v. 7. Juli, 8)

Der Worte wurden also viele gewechselt, an Bemühungen fehlte es nicht. Doch im Markt alkoholfreier Getränke waren die Folgen überschaubar. Als Ende 1898 die Redaktion der Siegener Zeitung „Das Volk“ um Adressen von Produzenten alkoholfreier Biere gebeten wurde, verwies sie an den Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, nicht aber an Valentin Lapp oder einen Wettbewerber (Das Volk 1898, Nr. 295 v. 17. Dezember, 7). Dabei hatte der Leipziger Brauer auch innerhalb der Temperenz- und Naturheilkundebewegung um Unterstützung gegeben, insbesondere um lokale Niederlagen einrichten zu können (J. Okic, Sieben Jahre in Wörishofen, Wörishofen 1898, Inserate, 4). Diesen wurde nur sehr selten entsprochen, eine der wenigen Ausnahmen gab es just in der Biermetropole München (Lappsches alkoholfreies Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 37). Zusammengefasst war das Interesse seitens der Temperenzbewegung groß, ja sehr groß. Doch es gab fast keine wirkliche Unterstützung. Lapps „Original alkoholfreies Bier“ wurde zwar in das noch nicht sonderlich breite Sortiment alkoholfreier Gaststätten integriert, doch dessen Kern bildeten nach wie vor Heißgetränke, Mineralwässer und zunehmend auch süße Limonaden. Alkoholfreie Weine und Bier ergänzten, traten aber nicht in den zuvor viel beschworenen Mittelpunkt. Innerhalb der vornehmlich bürgerlichen, vornehmlich protestantischen Temperenzbewegung waren nur wenige wirklich bereit, einen höheren Preis für Nichtalkoholika von teils ungewohntem Geschmack auszugeben. Gezielte Subventionierungen hätten dies ändern können, doch daran wurde nicht einmal gedacht. Die bürgerlichen Kreise traten zwar beredt für ihre Ideale ein, es fehlte ihnen jedoch das handgreifliche Engagement und die Opferbereitschaft, die das katholische Milieu und insbesondere die sozialdemokratische Arbeiterschaft im späten Kaiserreich auszeichnete.

Widerstand: Was ist Bier, was ist alkoholfreies Bier?

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ war Teil einer tiefgreifenden Transformation der deutschen Trinkkultur um die Jahrhundertwende. Ähnlich wie die heutige, mehr behauptete und auf relativ überschaubare Bevölkerungsgruppen begrenzte Transformation – Stichwort vegan – war sie begleitet von Sprachspielen. Dieses war typisch für Versuche, dominante Ernährungs- und Trinkweisen durch relativ kleine, medial präsente Kader aufzubrechen. Was modisch klingen mag und gern mit Verweis auf moderne Theoretiker der kulturellen Hegemonie oder der repressiven Toleranz begründet wird, war allerdings schon tradiertes Wissen für Gebildete im späten 19. Jahrhundert, für die damals gängige Sprachphilosophie. Wilhelm von Humboldt (1767-1835), heute im Schatten seines Bruders stehend, war selbst Transformator, legte als Reformer und Gelehrter die Grundlagen einer heutzutage längst aufgegebenen Idee von Bildung, sei es im Gymnasium, sei es in den Universitäten. Die Sprache, so Humboldt, „steht ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft gränzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren, gegenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, […]“ (Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, Berlin 1836, 106). „Alkoholfreies Bier“ war Ausdruck menschlicher Phantasie, eine Worterfindung durch Übertragung. Es handelte sich um eine Metapher, unsinnig, aber anschaulich und ansatzweise verständlich. Sprache hat ihre Eigengesetzlichkeiten, warum sonst sprechen wir einerseits von Zahnbürste – die doch Zähne reinigt –, anderseits vom Schneckenhaus, obwohl in ihm nur ein Weichtier haust. Alkoholfreies Bier war rein sprachlich ein paradiesischer Begriff, verwies auf die Auflösung der Gegensätze, auf das Miteinander von Wolf und Lamm. Es überrascht daher nicht, dass dieses bildungsbürgerliche Sprachspiel keinen Anklang bei Brauern und Chemikern, Juristen und auch Abstinenzlern fand. Letzteren war das alkoholfreie Bier ein Wolf im Schafspelz, ein falscher Prophet des Nichtvereinbaren.

Die wirtschaftlich interessierten, durch das Neue herausgeforderten Kreise urteilten ähnlich apodiktisch: „Die Bezeichnung alkoholfreies Bier ist ein Unsinn“ (Franz Elsner, Die Praxis des Chemikers, 7. umgearb. u. verm. Aufl., Hamburg und Leipzig 1900, 316). Bier war demnach von Alkohol nicht zu trennen. Es war Resultat einer Vergärung stärkehaltiger Stoffe, eines „natürlichen“ Prozesses, in Gang gesetzt durch kunstfertig bereitete Zutaten, umgesetzt durch eine ausgeklügelte Maschinerie. Das Wunder des Bieres bestand aber auch darin, dass unsachgemäßes Brauen Getränke hervorbringe, die „Abneigung und Widerwillen“ hervorrufen würden. Man konzedierte, dass insbesondere „amerikanischen Kunstgetränke“ dank Zutaten und Kohlensäure „gar nicht schlecht schmecken und auch nicht sehr übel bekommen.“ Bier sei aber chemisch weit komplexer, könne nicht chemisch-technisch simuliert werden. Unabhängig vom Geschmack sei das Resultat aber niemals Bier (Zitate n. Ueber das Lapp’sche Verfahren zur Gewinnung von Bierwürze und das sogenannte alkoholfreie Bier, Gambrinus 25, 1898, 217). Die Kritik am Begriff „alkoholfreies Bier“ hatte noch eine zweite Dimension, die anfangs vor allem aus der besseren Kenntnis der chemischen Zusammensetzung „alkoholfreier Weine“ und „alkoholfreier“ Säfte stammte, an sich aber auch aus rudimentärem Wissen über die Gärung. Alkohol ist fast allgegenwärtig, auch der Mensch produziert es täglich. Die Mengen sind gering, gewiss. Aber mit den damaligen Apparaturen war es nicht möglich, „alkoholfreie“, sondern höchstens alkoholarme Produkte zu schaffen. Dieser implizite Betrugsvorwurf waberte bis in die zeitgenössischen Karikaturblätter (Kladderadatsch 58, 1905, Nr. 2, Beibl. 2, 2). Hinzu kam, dass für Brauer alkoholfreies Bier auch deshalb nicht erforderlich war, weil Bier selbst das alle anderen überstrahlende Temperenzgetränk sei (Alkoholfreies Bier, Gambrinus 25, 1898, 93-94, hier 94).

Sollte das wissenschaftlich präsentierte „Original alkoholfreies Bier“ gar keines sein? (Saale-Zeitung 1898, Nr. 78 v. 16. Februar, 12)

Lapps „Original alkoholfreies Bier“ setzte einen definitorischen Streit in Gang, der grundsätzlich dazu hätte führen können, dass sich Naturwissenschaftler (und viele naturwissenschaftlich gebildete Praktiker) als Modellplatonisten erkannten, als unreflektierte Kulturwissenschaftler. Jede Beschwörung von „Natur“ ist unreflektierter Mystizismus – und so auch die damalige (teils bis heute hochgehaltene) Definition von Bier. Erst in den Folgejahren, parallel zu Steuererhöhungen auf Alkoholika und der Besteuerung nichtalkoholischer Getränke, agierten zumindest die staatlichen Kontrollorgane weniger apodiktisch als die Interessenvertreter der Brauer. 1906 bündelte der führende Nahrungsmittelchemiker Adolf Beythien (1867-1949) das damalige Wissen über „alkoholfreies Bier“. Auch er betonte, dass es derartiges nicht geben könne, doch aufgrund einer inkonsistenten Vergabe von Warenzeichen und Patenten habe sich der Begriff im Markt einbürgern können, müsse man mit ihm arbeiten. Drei Verfahren seien zu unterscheiden: Erstens die nachträgliche Entfernung des Alkohols aus vergorenem Bier, wie beim patentierten Frada-Bier. Zweitens die Verkochung von Malz mit Hopfen nebst nachträglicher Kohlensäurezufuhr, also der von Valentin Lapp gewählte Weg. Drittens aber auch der Einsatz von Mikroorganismen, die den Zucker der Bierwürze ohne Alkoholbildung zerlegten – ein auch von Lapp nach der Jahrhundertwende beschrittener Weg (A[dolf] Beythien, Über alkoholfreie Getränke, Sitzungsberichte und Abhandlungen der Naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS 1905, Dresden 1906, 70-90, hier 76-77). Diese drei Verfahren wurden seitens der Freien Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker 1907 akzeptiert, flossen dann auch in die Steuergesetze ein. Acht Jahre zuvor war das noch anders, denn der Internationale Kongress für angewandte Chemie in Wien nahm 1899 eine Resolution an, die es als unstatthaft erklärte, die Begriffe Bier oder Wein für unvergorene Getränke zu verwenden (Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene 17, 1899, 521).

Diese Debatten über Sprache und Definitionen waren wichtig, führten sie doch zur Akzeptanz und zur Ablehnung ganzer Branchen – wie wir in den letzten Jahren an der sprachlichen Libertinage im Umgang mit veganen Produkten oder aber der Dubai-Schokolade erfahren haben. Und sie hatten wichtige Auswirkungen auf die Stellung gerade des Pionierproduktes Valentin Lapps. Dieser hatte sein neues Produkt nach Eingang der Analysen am 2. Februar 1897 beim Patentamt angemeldet, und bereits am 11. März wurde sein Warenzeichen unter Nummer 22749 eingetragen. Beim „Original Alkoholfreien Bier“ handelte es sich demnach um ein Brauereierzeugnis, um „Bier, alkoholfreies Bier“ (Alkoholfreies Bier – kein Bier, Gambrinus 26, 1899, 349-350, hier). Wie schon zuvor bei Nägelis Patent des Frada-Bieres war der Begriff damit rechtlich verbindlich anerkannt.

Lapps Warenzeichen für „alkoholfreies Bier“ (Deutscher Reichsanzeiger 1897, Nr. 73 v. 26. März, 21)

Gleichwohl wurde Valentin Lapp ein Patent für seine Erfindung verweigert. Das Kaiserliche Patentamt holte zuvor drei Gutachten ein. Die Handelskammer Leipzig bejahte, dass die „Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ eine übliche Warenbezeichnung geworden sei“ (Leipziger Tageblatt 1898, Nr. 520 v. 13. Oktober, 7667). Das Berliner Pendant, die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft, erklärten die Bezeichnung dagegen „als eine mißbräuchliche Verwendung des Wortes Bier“ (Alkoholfreies Bier, Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 21, 1898, 687). Die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, die neben Weihenstephan wichtigste Ausbildungsstätte der Brauer, gab daraufhin den Ausschlag. Sie sang das Lied der sie finanzierenden Kreise: Bier entstehe durch Vergärung. Wenn man bei der Herstellung einen Bestandteil „herausnimmt, so verliert das Getränk seinen Charakter und seine eigenthümliche Genußwirkung als Bier. […] Die womöglich gesetzlich sanktionirte Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ würde vielmehr nur den Zweck haben können, aus dem Umstande, daß es sich dabei um ein alkoholfreies Getränk handelt, auf Kosten des wirklichen ‚alkoholhaltigen‘ Bieres Kapital zu schlagen, indem es vor dem Publikum als das ‚unschädliche‘ Bier gegenüber dem ‚schädlichen alkoholhaltigen‘ Bieres ausgegeben wird.“ Dies sei unlauterer Wettbewerb zu Lasten der Bierbrauerei, es gelte, „die Möglichkeit einer solchen mißbräuchlichen Anwendung der ohnehin widersinnigen Bezeichnung ‚alkoholfreies Bier‘ schon im Keime auszuschließen“ (Alkoholfreies Bier gibt es nicht, American Brewers‘ Review 12, 1898/99, 395). Dieses Ergebnis „eingehender Ermittelungen“ (Die Unzulässigkeit der Bezeichnung „alkoholfreies Bier“, Bayerisches Brauer-Journal 9, 1899, 186) wurde in der Fachpresse gefeiert, dann breit in der Presse gestreut (etwa Lüdenscheider Wochenblatt 1899, Nr. 76 v. 30. März, 6; Hamburger Fremdenblatt 1899, Nr. 77 v. 31. März, 22. Offiziell: Reichs-Medizinal-Anzeiger 24, 1898, 313).

Alkoholfreies Bier gibt es nicht – Eine Eloge (Kladderadatsch 52, 1899, Nr. 17, Beibl. 2, 3)

Lapp legte Widerspruch ein, schließlich musste er sein alkoholfreies Bier als Bier versteuern, resultierte der hohe Preis auch aus dieser Veranlagung, denn es gab keine Steuer für alkoholfreie Getränke. Das preußische Finanzministerium schmetterte sein Anliegen ab, denn alkoholfreies Bier sei zwar keine Verkehrsbezeichnung, wohl aber handele es sich um ein Bier im Sinne des Brausteuergesetzes (Bier, 1899, 350). Die Brauereipresse frohlockte, verwies auf die Besonderheiten der norddeutschen Gesetzgebung, zugleich aber auf den Zwang einer einheitlichen nationalen Regelung. Valentin Lapp habe nicht unlauter gehandelt, zumal alkoholfreier Wein ein gängiger, unbeanstandeter Verkehrsbegriff sei. Doch nun müsse man Klarheit schaffen.

Lapp kritisierte diese Ungleichbehandlung, verwies auf die breite Marktpräsenz und die Gutachten wissenschaftlicher Kapazitäten (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 193 v. 17. April, 3068). Die Versagung des Patents hatte zwar keine unmittelbaren Auswirkungen, doch die öffentliche Debatte nützte dem neuen Produkt sicher nicht. Zeitgenossen witzelten, ob man denn künftig noch Wasser als „Gänsewein“ bezeichnen dürfe (Hamburgischer Correspondent 1901, Nr. 580 v. 11. Dezember, 12). Und in mehreren anderen Fällen, so bei dem von Karl Michel (1836-1922), dem Leiter der Münchener praktischen Brauerschule hergestellten alkoholfreien Bieres, entschieden die Gremien noch strikter. „Alkoholfreies Bier“ war zwar Teil der Alltags- und Werbesprache, zeitweilig aber nicht der Warenzeichen und Patente. Valentin Lapp ließ sich dadurch allerdings nicht irritieren, arbeitete weiter in vermintem Gelände. Er entwickelte in den folgenden Jahren mehrere Verfahren zur Herstellung verbesserten alkoholfreien Bieres; und diese wurden dann auch patentiert.

Tradierte Werbung

Die Bierwerbung des späten Kaiserreichs, zumal die damals gängige Anzeigenwerbung, war wenig elaboriert, fiel rasch hinter die zunehmend übliche Ästhetisierung und Abstrahierung insbesondere der Markenartikelwerbung zurück. Bier zeichnete sich eben weniger durch Marken als vielmehr durch Sorten aus, klebte am Begriff des Bieres selbst. Genannt wurden die Namen der Brauereien, doch für die Produkte hatte man nur Gattungsbegriffe. Bier als großenteils lokal gebrautes und konsumiertes Getränk war vor Ort präsent, Anzeigenwerbung verwies auf saisonale Spezialbiere, auf das Angebot größerer Gastwirtschaften und Bierhallen. Auch Valentin Lapp hielt am Sortenbegriff fest, mochte er auch eine neue Biersorte geschaffen haben. Diese aber hob er nicht eigens hervor, sondern verwies mit dem Begriff „Valentin Lapps ‚Original alkoholfreies Bier‘“ auf seinen Pionierbetrag, verband ihn mit seinem Namen – nicht aber dem seiner Brauerei. Die Werbung für dieses Produkt wurde nicht von den zunehmend wichtigen Reklamefachleuten gestaltet, wurde nicht mittels der in anderen Branchen üblichen Bildwelten präsentiert. Das Gesundheitsbier stand zwar teils in der Tradition der Heilmittelwerbung, erreichte aber auch nicht ansatzweise deren eingängige, direkt ins Auge fallende Gestaltung.

Informative Werbung für ein neuartiges Produkt (Siegener Zeitung 1897, Nr. 275 v. 25. November, 3)

Die Anzeigen der Einführungsphase waren sachlich gehalten, verzichteten zumeist auf Bildschmuck, arbeiteten mit einfachen Fettungen. Sie stellten die Alkoholfreiheit der neuen Biersorte heraus, verzichteten vor Ort häufig darauf, den Erfinder ansprechend hervorzuheben. Lapps Produkt wurde mit den damals üblichen Symbolen hoher Qualität vorgestellt, also Medaillen, Belobigungen und Analysen. Letztere wurden auch als Flugblätter verteilt, die – wie damals bei Geheimmitteln üblich – gleich zu „Broschüren“ geadelt wurden (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1898, Nr. 31 v. 6. Februar, 2); durchaus mit schönen Titelvignetten.

Extrabeilagen als Werbemittel, also doppelseitige bedruckte Werbeblätter (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 387 v. 2. August, 5613)

Die Anzeigen waren anfangs vielfach mit redaktioneller Werbung gekoppelt. Sie wurden über Annoncenexpedition dann reichsweit geschaltet. Es handelte sich zumeist um Heroen- und Fortschrittsgeschichten: „Nachdem es bereits seit längerer Zeit ermöglicht war, Wein alkoholfrei herzustellen, ist es nach langen kostspieligen Versuchen dem bekannten Bierbrauer gelungen, ein vollkommen alkoholfreies Bier herzustellen, das mit den weitverbreiteten englischen Erzeugnissen dieser Art in keiner Weise zu vergleichen ist und dieselben weit an Nährwerth übertrifft“ (Siegener Zeitung 1897, Nr. 277 v. 27. November, 3). Der stete Verweis auf die Analysen hob das Produkt besonders hervor, zugleich grenzte man sich von unberufenen Kräften ab (General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend 1898, Nr. 112 v. 17. Mai, 3). Beim Nährwert verglich man das neue Bier mit Porter oder Malzextrakt, doch anders als diese sei es nicht erschlaffend, sondern erfrischend. Die wissenschaftliche Aura unterstrich man mit entsprechenden Begriffen, schrieb über Kohlensäure und Nährsalze. Das zielte auf die übliche, meist nur behauptete, Qualitätsführerschaft.

Lapps Werbung positionierte sein alkoholfreies Bier als wissenschaftlich und gesellschaftlich eingefordertes Produkt, als ein Bier, dass dessen rätselhaften Reiz bewahre, doch auch neuen Anforderungen gerecht werde (Bautzener Nachrichten 1898, Nr. 288 v. 13. Dezember, 3334). Entsprechend galt es als ein Getränk für alle, benannte diese Gruppen auch: „So wäre denn in dem alkoholfreien Bier auch ein lange gesuchtes Getränk für Kinder und Frauen, aber auch für Sänger, Sportsleute, sowie alle Solche gefunden, die geistig und physisch angestrengt thätig sind“ (Coburger Zeitung 1898, Nr. 91 v. 20. April, 1). Sein Konsum sei modern und zukunftsgewandt, trendy und hip: „Bei der überall in steigender Tendenz begriffenen Enthaltsamkeits- und Mäßigkeitsbewegung wird das original-alkoholfreie Bier, welches schon jetzt von vielen Seiten als das beste Bier der Welt anerkannt sein soll, eine große Zukunft haben“ (Thorner Presse 1898, Ausg. v. 30. Juni, 6).

Versand als stete Option im nationalen Markt (Alkoholismus 1, 1900, n. 456)

Die lokale, von den Niederlagen direkt geschaltete Werbung knüpfte an solche Aussagen an, war jedoch kleiner, hob das Besondere hervor, koppelte es aber auch mit alkoholischen Getränken.

Attraktion des alkoholfreies Biers – als wissenschaftliche-rationales Produkt und als Ergänzung des Standardsortiments (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1898, Nr. 34 v. 10. Februar, 3 (l.); General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1898, Nr. 289 v. 19. Oktober, s.p.)

Gerade größere Bierhandlungen, sog. Bierverlage, integrierten Lapps Alkoholfreies zwar in ihre Werbung, präsentierten es aber als Teil eines breiteren Sortiments. Es stand hier als Spezialbier zum Kauf, während es im deutlich kleineren Umfeld der Temperenzler als Produkt ohne Alkohol präsentiert wurde. Lapp selbst schied in seinem Leipziger Heimatmarkt zwischen seinen alkoholhaltigen Biersorten und dem „Original alkoholfreien Bier“ aus „reinem Malz und Hopfen“ (Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 249 v. 18. Mai, 3942).

Alkoholfreies Bier als Versandgut einschlägiger Bierhandlungen (General-Anzeiger für Chemnitz und Umgegend 1898, Nr. 194 v. 23. August, 4)

Nicht zu vergessen ist die umfangreiche, auch auf Lapp zielende Agitation gegen alkoholfreie Biere. Meist handelte es sich um Witze, um Fragen der Männlichkeit, um lustige Verse, mit denen man sich von den Sonderlingen, von Bier ohne Alkohol abgrenzte: „‚Vögel, die nicht singen, Glocken die nicht klingen, Pferde die nicht springen, Kinder die nicht lachen – wer hat Lust an solchen Sachen!‘“ (Kreuz und quer, Westfälische Zeitung 1903, Nr. 96 v. 25. April, s.p.)

Insgesamt warb Valentin Lapp, warben auch seine lokalen Vertragspartner für das neue Produkt weit intensiver als es in der Branche üblich war. Sie hatten jedoch keine über die Produktpräsentation hinausgehende Strategie, ihnen gelang keine produktspezifische Formensprache. Auch deshalb wurde das alkoholfreie Bier von der zeitgleich einsetzenden Welle karbonisierter Limonaden werbetechnisch weit in den Schatten gestellt. Sie schufen neue Markenartikel mit eigener Produktidentität, spielten mit der sprachlichen Unbestimmtheit des Feldes, präsentierten Mischungen von Aromen, Farbstoffen, Süßstoffen und Kohlensäure als alkoholfreies Bier. Valentin Lapp dürfte das mit Befremden zur Kenntnis genommen haben, doch führte dies nicht zur Veränderung seiner Werbung. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil er sich nach der Jahrhundertwende abermals unternehmerisch veränderte, seine Bayerische Brauerei in Leipzig verkaufte, verlagerte und in ein neues, ambitioniertes Projekt einer großenteils automatisiert arbeiteten Brauerei und Mälzerei überführte. Das „Original alkoholfreie Bier“ wurde parallel weiter gepflegt, verändert und verbessert.

Verkauf und Neugestaltung: Die Brauerei Groß-Crostitz 1901/02-1904

Im August 1901 wurde in Leipzig die Brauerei Groß-Crostitz AG mit einem Kapital von 1,5 Mio. M gegründet. Ziel war der „der Erwerb und Fortbetrieb der von Val. Lapp in Leipzig-Lindenau bisher betriebenen Brauerei“, der Kauf seines „Brauereigrundstücks in Groß-Crostitz, die Einrichtung und der Betrieb einer Brauerei auf demselben, die Herstellung und der Verkauf von Bier jeglicher Art und die Verwerthung und Ausnutzung der Systeme, Patente und Verfahren des genannten Lapp“ (Leipziger Tageblatt 1901, 435 v. 27. August, 6079). Der Brauer erhielt 900.000 M, 320.000 für die auf den Grundstücken lastenden Hypotheken, 350.000 in bar und 250.000 in 250 Aktien. Sowohl das englische Patent für alkoholfreies Bier, die in Deutschland derweil angemeldeten Verfahren und die Verfügungsrechte über einen in den USA patentierter Apparat zur Herstellung von alkoholfreiem Bier gingen dadurch in die Hände einer Investorengruppe über, deren Zentrum die Brauerfamilie Naumann bildete, die seit 1828 in Leipzig Bier produzierte.

Die Neugründung bedeutete nicht das Ende der Karriere von Valentin Lapp, war für ihn vielmehr der Einstieg in noch ambitionierteres Unternehmen. Rein äußerlich veränderte sich erst einmal wenig: Lapp wurde zum Vorstand bestellt, der ihm schon zuvor nach Leipzig gefolgte Albert Udo Ellerbrock erhielt Prokura und kümmerte sich um den kaufmännischen Bereich (Brauerei Groß-Crostitz, Actiengesellschaft in Leipzig, Gambrinus 28, 1901, 716). Die neue Brauerei sollte ein Musterbetrieb werden, eine großenteils automatisch arbeitende Brauerei und Mälzerei. Letzteres schien besonders lukrativ, auch weil Kathreiner dort eines seiner Inlandswerke für Malzkaffee betrieb. Die meisten Lapp zuvor erteilten Patente betrafen bereits Einzelkomponenten des neuen Idealbetriebes (Zeitschrift für das gesammte Brauwesen 26, 1903, 660). Er sollte weiterhin alkoholfreies Bier produzieren, ein im Mai 1901 erteiltes Patent Verfahren zur Herstellung eines alkoholfreien gehopften Malzgetränkes unterstreicht die kontinuierliche Entwicklungsarbeit (Deutscher Reichsanzeiger 1903, Nr. 110 v. 11. Mai, 20).

Kontinuität des Verkaufs (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1902, Nr. 174 v. 29. Juli, 7 (l.); General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1902, Nr. 4389 v. 11. Mai, 5)

Gross-Crostitz lag etwa zwanzig Kilometer nordöstlich von Leipzig-Lindenau, Lapp besaß dort einen mit Mauerwerk für eine kleine Brauerei versehenen Bauplatz. Bereits 1897 begannen konkretere Überlegungen für den Neubau einer an der Peripherie der Metropole gelegenen Brauerei. 1898 errichtete der Chemnitzer Maschinenbaufabrikant Richard Heymann die Groß-Crostitzer Lagerbier-Brauerei, die aber schon im Folgejahr wieder verkauft wurde (Leipziger Tageblatt 1897, Nr. 357 v. 16. Juli, 5251; Eine eigenartige Gründung, ebd. 1898, Nr. 474 v. 18. September, 33; ebd., Leipziger Tageblatt 1899, Nr. 311 v. 21. Juni, 4886). Für unsere Perspektive auf das neue Brauen sind die Details der Verlagerung der Lappschen Brauerei nicht weiter von Belang. Die „Bayerische Bier-Brauerei, V. Lapp in Leipzig“ wurde im Mai 1902 im Handelsregister gelöscht (Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 2244 v. 4. Mai, 3236). Der Brauereibetrieb wurde fortgeführt und peu a peu an den neuen Standort verlagert (nicht eingesehen wurde der Aufsatz von Fritz Halm, Vom Brauen in Leipzig-Lindenau, Leipzig s.a., StdA Leipzig, Nr. 6811).

Lapps Produktionsmethode galt derweil als Standardverfahren für alkoholfreies Bier (Volkshochschulvorträge, Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 117 v. 6. März, 1639). Die Kontakte zur Temperenzbewegung blieben bestehen, „Original alkoholfreies Bier“ wurde weiter angeboten (Leipziger Jubiläumsausstellung für naturgemäße Lebensweise, Leipziger Tageblatt 1902, Nr. 243 v. 14. Mai, 9). Zunehmend wurde allerdings publik, dass es durchaus alkoholhaltig war, mochten einzelne Untersuchungen auch immer noch betonen: „Alkohol fehlt!“ (Niederstadt, Analysen alkoholfreier Getränke, Pharmaceutische Zeitung 38, 1903, 895). Genauere Analytik ergab 1904 jedoch einen Alkoholgehalt von 0,67 Prozent (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 10, 1905, 766; Leipziger Tageblatt 1905, Nr. 442 v. 31. August, 9). Der seitens der Gewerkschaften 1903 verhängte Boykott gegen die neue Brauerei Groß-Crostitz führte ebenfalls zu Renommeeverlusten (Merseburger Kreisblatt 1903, Nr. 180 v. 17. Mai, 4). Da half es wenig, dass der Temperenztrank andernorts als „Socialreformer in der Flasche“ gepriesen wurde, als Hilfsmittel für die Integration der Fabrikarbeiter in die bürgerliche Gesellschaft (Ein Socialreformer in der Flasche, Wiesbadener General-Anzeiger 1902, Nr. 149 v. 29. Juni, 4).

Werbung im naturheilkundlichen Kontext (Wiesbadener Tagblatt 1903, Nr. 174 v. 15. April, Abendausg., 7)

Festzuhalten sind zudem deutliche Preissteigerungen. Während die Flasche in Leipzig und Mitteldeutschland zumeist 20 Pfennig kostete, führte der langsame Ausbau alkoholfreier Wirtschaften und Cafés zu teils deutlichen Preissprüngen, griff hier die Preisbindung doch nicht. Im Wiesbadener Kneipp-Haus kostete die Flasche 1902 zwischen 30 und 40 Pfennige (Wiesbadener Tagblatt 1902, Nr. 139 v. 23. März, Morgenausg., 8; ebd. 1902, Nr. 221 v. 14. Mai, Morgenausg. 9). Ähnliches galt für lokale vegetarische Restaurants und auch Vereinslokale der Temperenzbewegung (Wiesbadener Tagblatt 1902, Nr. 405 v. 31. August, Morgenausg., 7; Solinger Zeitung 1902, Nr. 163 v. 15. Juli, 3). Die Erträge aus Lapps eingeführtem alkoholfreiem Bier dienten der Institutionalisierung der nichtalkoholischen Gegenwelt, der Erfinder profitierte davon bestenfalls indirekt. Parallel gewann man aufgrund der höheren Kapitalkraft der neuen Brauerei neue Vertragsgaststätten gewinnen, in denen das alkoholfreie Bier nun neben Sorten wie Original Groß-Crostitzer, Export, Urquell und Schankbier verkauft wurde (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1904, Nr. 117 v. 20. Mai, 9). Alkoholfreies Bier sickerte langsam in die üblichen Gaststätten ein.

Der Neubau der Brauerei in Gross-Crostitz verbesserte zeitgleich die Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten Lapps. Mehrere Technologen wurden angestellt, darunter auch Experten aus dem Ausland, wie etwa der schwedische Inspekteur Hans Waerner bzw. der zuvor in Konstantinopel tätige Betriebskontrolleur Hermann Schneider. Davon dürfte auch die Produktionstechnik alkoholfreien Bieres profitiert haben. Mitte Januar 1904 wurde Valentin Lapp ein neues Verfahren im cisleithanischen Österreich patentiert (Gambrinus 31, 1904, 331). Schon Mitte Mai folgte ein verbessertes Verfahren, das den eingeschlagenen Weg noch konsequenter beschritt. Die Bierwürze wurde nun in einem Vakuum einer zeitweiligen Hefegärung unterworfen, ohne dass sich dabei Alkohol bildete. Anschließend begann die zuvor übliche Imprägnierung mit Kohlensäure. So wollte man die berechtigten „Ansprüche an Qualität, Geschmack und Aussehen“ in ein besseres Produkt umsetzen (AT Nr. 16243B). Derartige Innovationen waren jedoch nur wichtiges Beiwerk bei der Schaffung einer neuen Musterbrauerei. Heinrich Trillich, zentrale Figur bei der Entwicklung von Kathreiners Malzkaffee und 1904 bei Kaffee HAG, pries später die „vom Gedanken des Massenbetriebes einheitlich konstruierte Neuanlage“ als „grossartige, mit ganz neuen Gedanken arbeitende Brauerei […]. Hier tritt zum ersten Male das Prinzip durch, Bau und Einrichtungen einheitlich den grossen Massen anzupassen“ (Heinrich Trillich, Die deutsche Industrie. I. Das deutsche Braugewerbe, Die Umschau 10, 1906, 70-73, hier 71).

Konkurs und Abschied aus Leipzig 1904-1905

Das aber war schon ein Schwanengesang: Die seit Anfang 1903 in Gross-Crostitz arbeitende, seit Herbst auf Volllast produzierende Brauerei geriet Mitte 1904 in Zahlungsschwierigkeiten. Die neue Aktiengesellschaft wies damals 320.000 M Hypotheken und mehr als 400.000 M offene Forderungen auf, die schwebende Schuld wurde auf 650.000 M geschätzt (Hallesche Zeitung 1904, Nr. 553 v. 16. Juli, 6; Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 195 v. 15. Juli, Morgenbl., 2). Man hoffte, diese Malaise mittels einer die Gläubiger mit einbindenden Kapitalerhöhung befriedigen zu können (Saale-Zeitung 1904, Nr. 325 v. 14. Juli, 4). Obwohl der Hauptgläubiger, die uns schon von der Frankenbräu bekannte Chemnitzer Maschinenfabrik Germania, dem Verfahren zustimmte, scheiterte der Vergleich an den Schuckert-Siemens-Werken, deren Forderungen lediglich 21.000 M betrugen (Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 195 v. 15. Juli, Abendbl., 4). Entsprechend wurde am 15. Juli 1904 Konkurs angemeldet.

Valentin Lapp geriet nun in das Sperrfeuer öffentlicher und interner Kritik (Gross-Crostitz, Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 386 v. 31. Juli, 13; Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 391 v. 3. August, 9). Die Vorwürfe ähnelten denen der Spätphase der Frankenbräu, abermals wurden die Investitionen in Maschinen sowie zu hohe Ausgaben für Forschung & Entwicklung kritisch vermerkt. Die Details sind spannend, hier aber nicht zu diskutieren. Das Hauptproblem war die Unterkapitalisierung des Modellbetriebes: „Nur mit einem Kapital von M. 1.500.000,- ausgestattet, hatte die Gesellschaft zum Bau der Brauerei M. 2.375.000 benötigt“ (Richard Steinert, Kapitalsbewegung und Rentabilität der Leipziger Aktiengesellschaften, Leipzig 1912, 35). Man wird die Kosten von Beginn an unterschätzt haben, hat aber nicht zuletzt auf Drängen Lapps die anfangs geschmiedeten Pläne umgesetzt und nicht revidiert. Lapps Expertise war dafür ein wichtiges Druckmittel, denn mehrfach bot er seine Demission an, mehrfach wurde diese abgelehnt (Leipziger Tageblatt 1904, Nr. 357 v. 16. Juli, 6).

Lapps alkoholfreies Bier aus Groß-Crostitz, angeboten kurz vor der Konkurseröffnung (General-Anzeiger für Halle und den Saalkreis 1904, Nr. 160 v. 10. Juli, 10)

Die Folgen des nicht zustande gekommenen Vergleichs waren jedenfalls tiefgreifend. Lapp selbst verzichtete auf Forderungen von insgesamt ca. 200.000 M, verlor die gleiche Summe nochmals bei sich bis Anfang 1906 hinziehenden Verteilung der Aktiva (Brauerei Gross-Crostitz, A.-G. in Leipzig, Saale-Zeitung 1904 v. 16. Juli, 6). Anfangs hoffte man etwa die Hälfte der Buchwerte realisieren zu können, am Ende war es ein Drittel (Frankfurter Zeitung 1904, Nr. 222 v. 11. August, Abendbl., 4; (Leipziger Tageblatt 1905, Nr. 662 v. 30. Dezember, 6). Während die Liegenschaften der früheren Brauerei in Lindenau gewinnträchtig zu Baugrundstücken umgewidmet werden konnten, bildeten die hochbewerteten Patente Lapps das eigentliche Problem. Die aufgrund ständiger Änderungen Lapps und verspätet gelieferter Maschinen der Maschinenfabrik Germania Mitte 1904 nur mit einem Fünftel der vorgesehenen Kapazität arbeitende Mälzerei ließ Investoren zurückschrecken, die nach den Friktionen die Idealfabrik praktisch arbeiten sehen wollten, ehe sie weiteres Geld investierten. Während des Konkurses produzierte die Brauerei weiter, Lapp betreute die Produktion als technischer Beirat, zog aber nach Leipzig (Ed[uard] Eckenstein, Entwickelung und Fortschritte der Malzfabrikation in den letzten vierzig Jahren, Basel 1908, 111).

Im August 1905 hatten sich Investoren und Gläubiger dann auf die Zukunft des Unternehmens geeinigt. Die Bierproduktion wurde in der Folge beendet, die technisch ambitionierte Mälzerei als Deutsche Malzfabrik in Groß-Crostitz, G.m.b.H. fortgeführt. Die Lappschen Patente blieben in ihrem Besitz. Parallel liefen verschiedene Schadensersatzklagen, die letztlich aber nur Petitessen in einem krachend gescheiterten Zukunftsprojekt waren (Brauerei Groß-Crostitz, Saale-Zeitung 1905, Nr. 360 v. 3. August, 5). Die Firma blieb ein wichtiger Akteur der mitteldeutschen Malzwirtschaft.

Trotz all dieser Fährnisse, trotz der fordernden Neuanlage vornehmlich der Mälzerei, haben weder Valentin Lapp, noch die sich im Konkurs befindliche Brauerei Groß-Crostitz die Fortentwicklung des alkoholfreien Bieres schleifen lassen. Das im April 1905 patentierte US-amerikanische Patent zeigte vielmehr Fortschritte bei der alkoholfreien Gärung im Vakuum und bei nunmehr um den Gefrierpunkt liegenden Temperaturen (Pharmaceutische Praxis 4, 1905, 333; H[ans] Blücher, Auskunftsbuch für die Chemische Industrie, 9. verb. u. stark verm. Aufl., Leipzig 1915, 32-33). Dieses Patent wurde international intensiv diskutiert (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 14, 1907, 764; Biochemisches Zentralblatt 6, 1907, 619; Chemisches Zentralblatt 78, 1907, 1515; Le Moniteur Scientifique 71, 1909, 161). Ziel war die Beseitigung des Würzegeschmacks und -geruchs. Dazu diente auch eine neuartige Vorbehandlung der Hefe (Herstellung von alkoholfreiem Bier mit normalen Biergeschmack, Chemiker-Zeitung 31, 1907, Repertorium, 76). Es ist unklar, ob dieses Verfahren noch vor Ort angewendet wurde. Es wurde 1908 jedoch auch im Deutschen Reich für die Deutschen Malzfabrik patentiert (Uhlands Technische Rundschau 1908, 44).

Wir sehen also auch nach dem Konkurs ein für Technologen vielfach übliches Verhalten. Lapp wusste um die Mängel seiner eigenen Erfindung, verbesserte diese stetig. Immer wieder gab es kleinteilige Verbesserungen, mochte das „Original alkoholfreie Bier“ sprachlich auch immer gleich beworben werden: Verbesserung als Dauerschleife, besser werden, nicht stehenbleiben. Es waren Praktiker und Unternehmer wie Lapp, deren Fleiß, deren Beharrlichkeit Schatten bis in unsere Gegenwart werfen – unabhängig von damit einhergehenden Makeln.

Arbeit und Tod am Berliner Kurfürstendamm 1906-1908

Der Konkurs der von Valentin Lapp geleiteten Groß-Crostitzer Brauerei und der Übergang zur Deutschen Malzfabrik führten zwar zum Ende der Marktpräsenz des Lappschen „Original alkoholfreien Bieres“ im deutschen Markt, nicht aber zu einem Ende verbesserter Brauverfahren dieses Spezialbieres. Für Lapp bedeutete das Ende der Bierproduktion einen neuen Lebensabschnitt als Vermarkter seiner eigenen Patente, als Berater für alle mit der Brauerei und dem Restaurationsbetrieb verbundenen Fragen – so jedenfalls seine Selbstbezeichnung bei einem im April 1906 beantragten Warenzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 30 v. 1. Februar, 20). Valentin Lapp wurde noch bis Ende 1905 in der Presse als „Bierbrauerei-Direktor in Leipzig“ bezeichnet (Pester Lloyd 1905, Nr. 300 v. 3. Dezember, 15), dürfte aber im Frühjahr 1906 nach Berlin umgezogen sein. Er mietete eine Wohnung am Kurfürstendamm 47, die er auch als Geschäftssitz nutzte (Gambrinus 33, 1906, 574; ebd., 192 lokalisierte ihn noch in Leipzig). 1907 wurden ihm noch zwei Warenzeichen für neue Biere zugesprochen, Urquell und Lapp’s Urstoff (Deutscher Reichsanzeiger 1907, Nr. 30 v. 1. Februar, 20; ebd., Nr. 168 v. 16. Juli, 20).

Todesanzeige Valentin Lapps (De Preanger-Bode 1909, Nr. 28 v. 4. Februar, 3)

Valentin Lapp starb 52-jährig am 25. Jahrestag des Todes seiner ersten Frau Selma. Er wurde von seinem in Potsdam lebenden, sich in einer Brauerlehre befindlichen Sohn Theodor tot aufgefunden. Seine dritte Frau war nicht anwesend, sie lebte damals in Loschwitz bei Dresden (Landesarchiv Berlin, Sterberegister 1874-1985, 1908, Nr. 703). Eine Todesanzeige in der Berliner Presse konnte ich nicht ausfindig machen – was aber angesichts der höchst lückenhaften Digitalisierung der dortigen Zeitungen nicht viel heißt. Die hier abgedruckte Anzeige einer holländischen Zeitung nannte lediglich drei trauernde Familienmitglieder, seinen Sohn, seinen Bruder, seinen Schwager.

Auch in der Fachpresse war der Widerhall auf den Tod „des bekannten Technologen“ (Der Böhmische Bierbrauer, 36, 1909, 15) gering. Das war eigentlich typisch für die eher diskrete Gruppe der Ingenieure, der Tüftler und Erfinder; nicht aber für selbststolze Brauer. Es blieben dürre Zeilen: „Am 20. Dezember 1908 ist in Berlin der durch seine brautechnischen Patente bekannte Herr Valentin Lapp plötzlich verschieden. Lapp war bis vor einigen Jahren Brauereidirektor in Bamberg und zuletzt in Leipzig und begründete sodann ein Geschäft in Berlin zur Verwertung seiner zahlreichen Erfindungen“ (Gambrinus 36, 1909, 113). Paradoxerweise wurde jedoch noch kurz vor Kriegsbeginn ein letzter Artikel veröffentlicht: Es ging um ein alkoholfreies Malzgetränk, Bierwürze mit Kohlensäure imprägniert, unter kontinuierlich hohem Druck gekühlt, dann gefiltert, nochmals mit Kohlensäure gesättigt, schließlich abgefüllt (Val[entin] Lapp, Verfahren zur Herstellung eines alkoholfreien gehopften Malzgetränkes mittels flüssiger Kohlensäure, Neueste Erfindungen und Erfahrungen 41, 1914, 412). Der Vorhang fiel mit einem weiteren geschmacklich verbesserten „alkoholfreien Bier“.

Uwe Spiekermann, 13. September 2025

Spätzle – Werden und Wandel einer Regionalspeise

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimath besitzen.“ Dies Eingangszitat von Theodor Fontanes (1819-1898) Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Berlin 1862, VI) ist ein Schlüssel für die Erkundung der damals durchbrechenden Moderne, auch der heutigen Zeit. Lange zuvor waren die engen Bande der ständischen Gesellschaft zerbrochen, stellten sich Fragen nach Herkunft, nach landsmannschaftlicher und nationaler Identität. Der heute fast vergessene schwäbische Freiheitsdichter Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) wetterte bereits 1775 gegen den schneekalten Weltmann, den Kosmopoliten: „Was Vaterland? Haha, ha, ha! / Mir ist, weil ich erfahrner bin, / Die ganze Welt mein Vaterland, / Wo für mich Brot und Ehre ist, / Da ist mein Vaterland!“ (Sämmtliche Gedichte, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1825, 26) Für Schubart war Heimat dagegen Urgrund, Herzblut, der Ort des ersten Odems, der tränkenden Mutter. Fontane unterminierte derart festen Boden: Heimat ist nicht, sondern sie entsteht erst in der Interaktion mit Fremdem. Dadurch aber wandelt sie sich, wird brüchig, fluid, ist bedroht, wird verloren, muss bewahrt und gerettet werden. Dem jagen wir nach, erbauen uns eine Welt mit Heimatbezug. Doch das sind zumeist Substitute – so wie das Pressglas und die Furniermöbel von Fontanes bürgerlichen Zeitgenossen. Machen wir uns also, wie Fontane, auf die Reise, blicken wir in die Ferne. Nehmen wir eine regional scheinbar eindeutig zuschreibbare Speise in den Blick, die Spätzle.

Drei Aspekte sind dabei stets im Auge zu behalten: Erstens sind schwäbische Spätzle (resp. Knöpfle) seit 2012 eine von der EU normierte regionale Spezialität mit geschützter geographischer Angabe. Demnach handelt es sich „um eine Eierteigware aus Frischei mit Hausmachercharakter, unregelmäßiger Form und raurer, poriger Oberfläche, bei welcher der zähe Teig direkt in kochendes Wasser/Wasserdampf eingebracht wird“ (Amtsblatt der Europäischen Union v. 1. Juli 2011, C 191, 20-23, hier 20). Solche Spätzle müssen aus Weizen- oder Dinkelmehl bestehen und Frischei enthalten, als Frischware mindestens acht Eier pro Kilogramm Mehl resp. Grieß, als Trockenware lediglich zwei. Die EU-Verordnung dient der Vermarktung und der Marktsicherung. Die historische Herleitung ist dürr, vielfach fraglich, ja fehlerhaft. Die Spätzleherstellung wird bis ins frühe 18. Jahrhundert, bis 1725, zurückgeführt (so schon Spätzle, in: Deutschlands kulinarisches Erbe. Traditionelle regionale Lebensmittel und Agrarerzeugnisse, Cadolzburg 1998, 168-169, hier 168), doch nähere Angaben fehlen, bleiben vage – auch wenn die Zuschreibung weniger abenteuerlich ist als bei anderen „regionalen Spezialitäten“ dieses Landes, etwa dem Baumkuchen. Allerdings ist sicher, dass die häusliche Spätzleherstellung im 19. und frühen 20. Jahrhundert den EU-Regularien häufig nicht entsprach. Die Schwaben waren keine Eierprotzer, Spätzle eine Mehl-, keine Eierspeise.

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Relative Nennungen des Wortfeldes „Spätzle“ im Gesamtkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache 1700-1999 (DWDS.de)

Zweitens erlaubt der Wortfundus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache historisch spannende, zugleich aber irritierende Einsichten. Das Wort „Spätzle“ findet man seit den späten 1770er Jahren, doch im folgenden Jahrhundert nahm seine Häufigkeit nicht sonderlich zu. Erst seit den 1890er Jahren stieg die Trefferzahl. Der relative Höhepunkt der „Spätzle“-Nennungen lag jedoch in der Zwischenkriegszeit, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus. Die Relativzahlen verringerten sich in der langen Nachkriegszeit deutlich, auch wenn „Spätzle“ bis zur Jahrtausendwende immer noch häufiger benutzt wurde als im langen 19. Jahrhundert. Gewiss, der Wortfundus ist begrenzt und einseitig, lässt nur grobe Rückschlüsse auf die Alltagssprache zu. Zudem war das Wortfeld breiter. Wichtige Rezeptbegriffe fehlen, etwa „Spatzen“ oder „Wasserspatzen“. Zudem nannte man „Spätzle“ insbesondere in Baden, dem Elsass und dem bayerischen Schwaben auch „Knöpfle“, ein scheckiger Begriff, der leider auch als Eigenname so häufig verwandt wurde, dass Verlaufskurven nicht aussagefähig wären. Halten wir aber fest, dass „Spätzle“ im 20. Jahrhundert offenbar weit häufiger verwendet wurde als während der guten, alten Zeit der heutzutage vielbeschworenen schwäbischen Spätzlekultur im 19. Jahrhundert.

Der deutlich engere Wortfundus der Zeitungsnennungen setzt erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein: „Spätzle“ fristeten darin bis in die 1980er Jahre ein eher marginales Dasein. Dann aber findet man das Wort immer häufiger. Das kann auf eine Revitalisierung der Speise hinweisen, dürfte aber eher an der Selbst- und Fremdbezeichnung der Schwaben, der Südwestdeutschen liegen. Die immens angestiegene Zahl der Buchtitel mit „Spätzle“-Bezug legt jedenfalls nahe, dass die symbolische Bedeutung des Begriffs die der Speisenbezeichnung längst in den Schatten gestellt hat. Die PR-Maßnahmen der baden-württembergischen Regierungen und die vielfach beklagten „Spätzle-Connections“ in Politik, Wirtschaft und Fußball weisen zudem auf Bedeutungen fern der Mehlspeise.

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Relative Nennungen des Wortfeldes „Spätzle“ im Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache nach 1945 (DWDS.de)

Drittens ist es für unsere kleine Reise zum Werden und Wandel der Spätzle unabdingbar, über Stellung und Bedeutung regionaler Küchen insgesamt nachzudenken (vgl., auch für weitere Literatur, Uwe Spiekermann, Deutsche Küche – eine Fiktion. Regionale Verzehrsunterschiede im 20. Jahrhundert, in: Kurt Gedrich und Ulrich Oltersdorf (Hg.), Ernährung und Raum, Karlsruhe 2002, 47-73; ders. Europäische Küchen. Eine Bestandsaufnahme, in: Wulf Köpke und Bernd Schmelz (Hg.), Das gemeinsame Haus Europa, München 1999, 801-817). Insbesondere Tübinger Volkskundler (resp. Kulturanthropologen) haben hierzu grundlegende Vorarbeiten geleistet.

Utz Jeggle (1941-2009) verwies auf die Grundkriterien einer gelebten regionalen Ernährungskultur: Für sie sei charakteristisch, dass die Nahrungsmittel überwiegend selbst produziert werden, die Zubereitung wenig aufwendig ist, auffällig viele Wiederholungen bestehen, zudem eine gewisse zeitliche Rhythmik nachweisbar ist. Ferner gruppiert sich das Essen immer auch um den Verzehr von Fleisch, der wenigen Tagen und bestimmten sozialen Gruppen vorbehalten ist (Essen in Südwestdeutschland. Kostproben der schwäbischen Küche, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 82, 1986, 167-186, hier 172). Diese Kriterien bildeten in Schwaben und anderswo ein gelebtes Ensemble, einen inneren Zusammenhang, geprägt durch und eingebettet in die wirtschaftliche und soziale Lage. Einzelne Punkte herauszubrechen, einzelne Speisen hervorzuheben, verkenne demnach die Grundkriterien einer regionalen Küche: „Die Verfügbarkeit über einzelne Mosaiksteine des traditionellen Systems ist also ein untrügliches Zeichen für dessen Auflösung“ (Ebd., 178). So gedacht, fand Jeggle bei der Auswertung von Preisausschreiben zur schwäbischen Küche „keine Einheit und keine klaren Grenzlinien“ (Ebd., 171) mehr. Vor vier Jahrzehnten bereits wies er die schwäbische Küche in das Reich des nicht mehr Praktizierten: „Es gibt kein regionales Repertoire mehr, es gibt keine statistisch relevanten Häufigkeiten von Speisen an einzelnen Wochentagen, es gibt keine Regelmässigkeiten in den Relationen gebraten/gekocht, kalt/warm, süss/salzig“ (Ebd. 182). Wer über Einzelspeisen wie Spätzle redet, hat offenbar die regionale Ernährungskultur schon verloren.

Konrad Köstlin wollte es beim Läuten des Todesglöckchens nicht bewenden lassen, verwies stattdessen – schon mit Bezug auf das Fontane-Zitat – auf die Vielgestaltigkeit von regionalen Speisen, regionaler Küche. Letztere habe zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Ebenen, „eine weitgehend nicht thematisierte, aber verwirklichte Küche des Alltags, die bei aller Nivellierung auch regionale Einschübe zeigt, und eine nach außen gerichtete, vor allem in den Situationen des Zelebrierens von Identität realisierte Küche; in ihr firmieren die ‚typischen Gerichte‘ als regionale Kultspeisen“ (Heimat geht durch den Magen. Oder: Das Maultaschensyndrom – Soul-Food in der Moderne, Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg 4, 1991, 147-164, hier 153). Eine nicht mehr gelebte regionale Ernährungskultur kann demnach symbolisch weiterexistieren, ja an Bedeutung gewinnen. Dazu müssen Einzelbestandteile, insbesondere Speisen, verständlich nach innen und außen kommunizierbar sein: Wer von Spätzlen redet, muss also von Besonderheiten der schwäbischen Küche nicht reden. Die symbolische Küchenkultur ist geglättet, durch diese Verallgemeinerung jedoch anschlussfähig. Sie diene als materiell fiktive, gleichwohl vorhandene „Stimmungsheimat“ (Ebd., 156). Sie entwickele zugleich eine eigene Realität, eine teils gewählte Einheit, ermögliche Identität. Diese zweite Realität ignoriert wesentliche Elemente der von Max Weber (1864-1920) beschworenen Entzauberung der Welt. Stattdessen verzaubert sie die Welt neuerlich, macht sie erträglich, bietet Orientierung und (virtuelle) Bewahrung.

Derartige philosophisch-ästhetische Überlegungen verweisen auf eine kompensatorische Aufgabe von Alltagskultur und Kulturwissenschaften, der strikt zu widersprechen ist. Eine sich selbst reflektierende und kritische Wissenschaft bedarf allerdings einer Rückbindung an wirtschaftliche und soziale Lebensrealitäten und Konfigurationen, an die Deutungskulturen und Empfindungen der Verstorbenen. Andernfalls analysiert man nicht, sondern wabert verdoppelnd umher – so schon in der damaligen Diskussion Martin Scharfe (Die groben Unterschiede. Not und Sinnesorganisation: Zur historisch-gesellschaftlichen Relativität des Genießens beim Essen, in Utz Jeggle u.a. (Hg.), Tübinger Beiträge zur Volkskultur, Tübingen 1986, 13-28). Er antizipierte damit die heutige Realität eines ästhetischen Kapitalismus und einer Bereicherungsökonomie, in der Einzelbestandteile regionaler Ernährungskultur systematisch hervorgehoben, ästhetisiert und vermarktet werden. Es geht eben nicht voranging um Identität(en) und die damit immer einhergehende Ausgrenzung anderer, sondern es geht um die Kommerzialisierung und Instrumentalisierung regionaler Besonderheiten und um die stete Umdeutung historischer Sachverhalte. Mit derartigem Gepäck im Rucksack können wir uns auf die Reise machen; wohl wissend dass „Spätzle“ viel mehr waren als eine ehedem in Schwaben häufig und gern gegessene Alltagsspeise.

Eigen- und Fremdbilder der Schwaben im 19. Jahrhundert

Auf die Reise hatten sich einst auch die sieben Schwaben gemacht, deren Streiche seit dem 16. Jahrhundert bekannt waren und erzählt wurden. Sie prägten die Wahrnehmung eines „Volksstammes“ und dessen Sitten und Eigenarten (Albrecht Keller, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors, Freiburg i.Br. 1907). Hervorzuheben ist hier die Figur des Knöpfleschwaben, der die enge Verbindung von Land und Speise unterstrich. Im frühen 19. Jahrhundert wurden die sieben Schwaben revitalisiert, nicht zuletzt durch die Aufnahme der Geschichte in die Märchensammlungen der Gebrüder Grimm. Schwaben griffen dies auf, variierten und glätteten die „Sage“, machten sie zeitgemäß. Das gilt für Ludwig Aurbacher (1784-1847) und sein breit gelesenes „Volksbüchlein“ (1827/29) oder das Badische Sagenbuch (1846) von August Schnelzer (1809-1853): „Knöpfleschwab war ein Mann, der verstand, gute Knöpfle oder Spätzle zu kochen, das ist im bayerischen Deutsch Knödel, und im sächsischen Deutsch Klöse“ (Das Mährchen von den sieben Schwaben, Wochenblatt fuer die Aemter Rastatt, Ettlingen und Gernsbach 1846, Nr. 57 v. 18. Juli, 5-7, hier 5). Zahllose „Volksbücher“ folgten, Stuttgarter Verlagshäuser köchelten diese und andere Schwabengeschichten stetig weiter. Es ging um einen bildungsbürgerlichen Geschichtsrahmen für eine Kulturnation, in der die Stammeseigenschaften der Bevölkerung Wert für das Ganze hatten: „Deutsche sind wir, wir woll’n Spätzle mit sauerem Kraut!“ (Düsseldorfer Journal und Kreis-Blatt 1848, Nr. 273 v. 15. Oktober, 3)

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Die sieben Schwaben stärken sich mit Spätzlen (Geschichte von den sieben Schwaben, Leipzig 1838, 47)

Wir können auf unserer kleinen Reise nicht länger verweilen, Eindrücke müssen genügen. Doch das Schwabenbild veränderte sich im frühen 19. Jahrhundert, verlor Elemente seiner für die frühe Neuzeit charakteristischen Ambivalenz. In Schubarts Schwabenlied ist die virile Tradition noch präsent: „Die Männer dorten haben / Noch deutsches Knochenmark“ (Christian Friedrich Daniel Schubart’s Gedichte, hg. v. Ludwig Schubart, T. 2, Frankfurt a.M. 1802, 350-351, hier 350). Das erinnerte an die zahllosen Kämpfe in den Grenzgebieten, in denen Schwaben fochten und starben: „Kennt ihr das Land im deutschen Süden, / so oft bewährt im Kampf und Streit“ hieß es in J.G. Fischers Schwabenlied, das seither Männergesangsvereine, Wehrmachtssoldaten und die Fischerchöre inbrünstig anstimmten. Schubart verglich mehrfach die deutschen Stämme, hob ihre Charakteristika hervor: „Doch übertrifft sie alle weit / Der gute Schwab‘ an – Herzlichkeit“ (Deutscher Provinzialwerth, in: Schubart, 1802, 253).

„Schwaben“, eine räumlich unklare, in Württemberg, Baden, Hohenzollern, Bayern und anderen Regionen angesiedelte und bis in die Stämme des Mittelalters zurückzuführende Kategorie (Hermann Bausinger, Kulturelle Raumstruktur und Kommunikation in Baden-Württemberg, Stuttgart 1996, insb. 58), mutierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Raum des Bürgersinns, zufriedener Selbstbezüglichkeit und einer immer wieder besungenen Küche: „Spargele, Margele, / Spätzle und Salat; / Schwabeland, lustig’s Land, / Ulm, du schöne Stadt! / Mädle nett, und Bier und Wei – / s ist prächtig gau und stau! / Wer uns des net glauba will, / Der ka’s ja bleibe lau“ (Ulmer Spatzenlied, Lindauer Tagblatt für Stadt und Land 1861, Nr. 174 v. 25. April, 717).

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Schwäbische Populärkultur des 19. Jahrhunderts im Druck (Gustav Seuffer und Richard Weitbrecht (Hg.), S Schobaland in Lied und Wort, Ulm 1886, III (l.); Friedrich Greiner, A Sträußle für Di!, Schwäb. Hall 1897, 3)

Der Schwabe, einst deutscher Recke, gewann dadurch Hänselqualität, wurde seicht, kitschig, häuslich, geschwätzig – und die Schwarzwaldmythologie des 20. Jahrhunderts sollte erst noch kommen. Der Schwabe, das zeigten ja die Streiche, war ein wenig einfältig, doch gemütlich, war naiv und tölpelhaft, Ausgeburt des Provinziellen. Doch er war zugleich sinnenfroh und feierlustig: „Was hent die Schwaba am liebste, / A Liedle und a Schätzle, / A Weible und a Spätzle“ (Nürnberger Abendzeitung 1863, Nr. 214 v. 4. August, 3). Derartige Fremd- und Selbstzuschreibungen waren nicht folgenlos – zumal nicht für regionale Kost. Der zeitgleiche Aufstieg der organischen Chemie war nämlich prononciert materialistisch, sah deutungsmächtig eine enge Beziehung zwischen Nahrung und Kulturstand. Sage mir, was Du isst, und ich sage Dir, wo Du auf der „Stufenleiter der Civilisation“ stehst (Eduard Reich, Die Nahrungs- und Genussmittelkunde […], Bd. 1, Göttingen 1860, 22).

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Hanswurstiade: Schwaben als Repräsentanten ihrer Spätzlekost (Münchener Bilderbogen 21, 1868, 504)

Dieser Gleichtakt von Land und Leuten, von Speisen und Charakter war fiktiv, wollte (und will) Einheit schaffen in der Moderne – einer Zeit, die durch Wahl und Unterschiede gekennzeichnet ist. Die damals entstehende Ernährungswissenschaft verwies zwar auf die Nahrungsstoffe als verbindendes Element der Natur, verstand Speisen aber als Ausdruck der offenkundigen Unterschiede der Menschen untereinander. Der populäre Sachschriftsteller und liberaler Politiker Otto Ule (1820-1876) gab dem beredten Ausdruck: „Wir sind einmal aus Stoffen geformt, wir können uns dem Boden, dem wir angehören, nicht entziehen; seine stofflichen Einflüsse dringen mit jedem Bissen, den wir genießen, unerbittlich durch Darm und Blutgefäße in alle Organe, in alle Nerven ein“ (Die Chemie der Küche, Halle a.d.S. 1865, 245).

Was aber bedeutete das für die Schwaben? Ihre vermeintliche Hauptmahlzeit Spätzle erschien in Rezepten, in Geschichte(n), bald in den Gasthöfen und Restaurants. Doch um was handelte es sich? Reisende berichteten Widersprüchliches: Spätzle seien zubereitet aus „Mehl und Wasser“ (Der Beobachter 1840, Nr. 2 v. 3. Januar, 8) – also etwas gänzlich anderes als die EU-Spezialität heutiger Zeiten. Dagegen fühlte der österreichische Publizist und Schachkomponist Hieronymus Lorm (1821-1902), der sein späteres Schicksal mit dem Lorm-Alphabet für Taubblinde allgemeinfördernd milderte, nach einem Besuch in einem Göppinger Wirtshaus Dankbarkeit, „denn ich habe im ‚Apostel‘ die ersten ‚Spätzle‘ gegessen, ein schwäbische Mehlspeise, deren Erwähnung mitten in der Poesie des Naturgenusses Niemand zu prosaisch finden wird, der sie jemals gekostet hat […], denn sie erhebt sich an Wohlgeschmack 1200 Fuß über die Fläche der bairischen Dampfnudeln und wenn sie ihre ausgekochte Vollendung erreicht hat, kann sie – ich bekenne es mit einem patriotischen Seufzer – selbst unsern österreichischen ‚Schmarn‘ und hätte er auch in Gaden das Licht der Welt erblick, dahin bringen, Zucker auf sein Haupt zu streuen. Man mag Europa in seinen vorzüglichsten Nationalspeisen durchgeschmeckt haben und man wird an ‚Spätzle‘ noch immer etwas finden, das sich nicht beschreiben, sondern blos essen läßt, etwas Gemüthliches, Urgermanisches und doch recht Dorfgeschichtliches, […]“ (Schwäbische Fahrten, Unterhaltungen am häuslichen Herd 2, 1856/57, 340-343, hier 341).

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Werbung für Carl Millöckers Volksoper „Die sieben Schwaben“ (Hamburgischer Correspondent 1888, Nr. 128 v. 8. Mai, 6 (o. l.); Schwäbischer Merkur 1887, Nr. 274 v. 18. November, 2006)

An letzteres knüpfte dann auch Carl Millöckers (1842-1899) 1887 uraufgeführte Volksoper „Die sieben Schwaben“ an. Der Wiener Erfolgskomponist nutzte die Streiche und Märchen, wob zudem ein wenig Faustkolorit ein (Die sieben Schwaben, Münchner Neueste Nachrichten 1888, Nr. 21 v. 14. Januar, 4): Hervorgehoben wurde jedoch vorrangig die Liebesaffäre des Famulus und Trompeters Spätzle mit der Magd Hannele; sowie die Ränke der Stuttgarter Stadtwache, der „sieben Schwaben“ – all das mit gebührender Präsenz des schwäbischen Dialektes. Der Erfolg war beträchtlich, unterstrich die Vorstellung der wackeren, ein wenig schlichten Schwaben. Man meinte fast, die Zeit sei stehen geblieben: Ein „Product und Bild echt schwäbischen Lebens. Das ist immer wieder frisch und saftig wie Sauerkraut und ‚Spätzle‘, das Leibessen des Schwaben, das wöchentlich zwei Mal selbst auf den gebildetsten Tisch kommt; und wie dieses ‚schwäbische Kraut,‘ so lebt der ‚Allgäuer und Knöpfles-Schwab‘ fort ins späteste Geschlecht“ (Briefe über Schwaben und Franken. (Beschluß.), Zeitung für die elegante Welt 38, 1838, 229-230, hier 230). Dieses Schwabenbild war wirkmächtig, war nicht nur Fremdbild, sondern formte auch das Selbstbild: „Am Tag, da spoist me Spätzle, bei Nacht, da küßt me ‘s Schätzle“ (Der Nebelspalter 16, 1890, Nr. 40, 2). So stellten sich Schwaben zunehmend auch nach außen hin dar.

Wer dem nicht entsprach, wurde marginalisiert, konnte auch ausreisen; so wie etwa eine halbe Million badische und württembergische Staatsbürger seit der Mitte des 19. Jahrhundert. Selbst Kritik perlte daran häufig ab: Beredtes Beispiel dafür war der 1894 von der Berliner Karikaturzeitschrift Kladderadatsch als „Spätzle“ bezeichnete Stuttgarter Diplomat Alfred von Kiderlen-Waechter (1852-1912). Lanciert aus dem Umfeld des geschassten Reichskanzlers Otto von Bismarck wurde die nicht nach modernen Complianceregeln durchgeführte Personal- und dann Pressepolitik des Auswärtigen Amtes kritisiert (Kladderadatsch 47, 1894, 3, 6, 36, 80, 206). Damals ein Skandal, der zu einem Ehrenduell und Festungshaft für den verantwortlichen Redakteur führte. Kiderlen-Wächter – Spätzle war von 1910 bis zu seinem Tode zum Stolz vieler Württemberger Leiter des Auswärtigen Amtes.

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„Spätzle“ – Ausdruck für Affären in der Reichspolitik und auf dem Bänkle im Ländle (Hamburger Fremdenblatt 1911, Nr. 183 v. 6. August, 17 (l.); Lippischer Hausfreund 1900, Nr. 31, 4)

Spätzlerezepte innerhalb und außerhalb Schwabens

Will man mehr über Spätzle und Spätzlekonsum erfahren, so steht man vor Quellenproblemen. Alltagskost wurde gegessen, die große Mehrzahl der Bevölkerung schrieb nicht über ihr Leben. Seriöse Berichte über Verzehrsgewohnheiten setzten erst in der Mitte des Jahrhunderts ein, sozialstatistische Daten und Haushaltsrechnungen erst im späten 19. Jahrhundert. Auch Tages- und Wochenzeitschriften enthalten nur Annotate, dort publizierte Reiseberichte sind oberflächlich. Spätzle wurden erwähnt, als Alltagsspeise benannt, nicht aber näher beschrieben. Kochbücher können dies ansatzweise durchbrechen, doch gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass es sich um normative Quellen handelt. Rezepte berichten vom Sollen, nicht vom Tun. Die Kochbuchliteratur des 19. Jahrhundert kann gewisse regionale Küchenmuster widerspiegeln, entwickelte sich jedoch vielfach zum Rezeptcontainer. Es ging um ein Küchenarsenal für gehobene und für bürgerliche Haushalte, um die Sammlung interessanter und praktikabler Rezepte mit repräsentativer Absicht, nicht aber um die Widerspiegelung realer Küchen. Die Ernährung der bäuerlichen Bevölkerung fand kaum Widerhall, Arbeiterkochbücher zielten auf paternalistische Optimierung, nicht auf die Nachzeichnung einer von Enge geprägten Küchenpraxis.

Die Kochbücher des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts enthielten vielfach keine Spätzlegerichte, wohl aber zahlreiche andere Mehlspeisen ([Friedrike Luise Löffler], Oekonomisches Handbuch für Frauenzimmer, Bd. 1, Stuttgart 1791). Das lag nicht an der fehlenden Alltagspraxis, eher an deren Stellung als einfaches Mahl von Bauern und Bürgern. Entsprechend wiesen frühe Rezepte nur wenige, teils keine Eier auf. Auch in der Folgejahrzehnten waren Spätzle nur eine von vielen Mehlspeisen. Sie wurden allerdings nicht gebacken oder gebraten, sondern der Teig mittels Brett und Messer in kochendes Wasser geschnitten und anschließend verfeinert. Festzuhalten ist, dass öffentliche Feiern im Schwabenlande noch keineswegs von Spätzlen geprägt waren. Als 1845 in Tübingen ein neues Universitätsgebäude eingeweiht wurde, trugen die Speisen fast durchweg französische Namen, fehlten zugleich Mehlspeisen (Der Beobachter 1845, Nr. 311 v. 11. April, 1246). Kritik an der „Verwelschung“ der schwäbischen, insbesondere der Stuttgarter Speisen war Mitte des Jahrhunderts weit verbreitet (Intelligenz-Blatt für die Kreise Euskirchen, Rheinbach und Ahrweiler 1845, Nr. 66 v. 16. August, 4).

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Variable Rezeptnahmen ([Margaretha Spörlin], Oberrheinisches Kochbuch […], T. 1, 3. verb. Aufl., Mülhausen 1819, 51)

Zu dieser Zeit waren Spätzle jedoch integraler Bestandteil süddeutscher Kochbücher. Allerdings war ihr Eiergehalt nun recht hoch, erreichte teils gar die heutigen EU-Mindeststandards. Spätzlebretter kamen weiter vor, doch ebenso andere Haushaltsgeräte wie Spätzletrichter oder -pressen. Der Aufwand war dennoch hoch; und so blieb es auch bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus (Magdalena Trieb, Neues Praktisches Kochbuch […], 3. verm. u. verb. Aufl., Karlsruhe 1860, 84).

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Eierspätzle resp. Trichternudeln ([Friederike Luise Löffler], Neues Kochbuch, 5. verb. u. verm. Aufl., Stuttgart 1840, 134 (l.); Neues practisches Badisches Kochbuch, 3. verb. Aufl., Karlsruhe 1845, 103)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Menge der zugesetzten Eier tendenziell ab, auch in der herrschaftlichen Küche wurden höchstens 3 Eier pro Pfund Mehl zugesetzt (Rudolf Karg, Herrschaftliche Back- und Speisenküche, Berlin 1902, 330). Zugleich wurden die Rezepte teils explizit mit Regionalzuschreibungen versehen – ein Teil der reichsweiten Fixierung auf scheinbar typische landsmannschaftliche Gerichte, Teil auch des damaligen Regionalismus in Malerei und Schriftkultur. Nun kam in den Rezepten auch das Spätzlebrett wieder zu Ehren. Parallel aber wurde auch für Spätzlepressen geworben, um sich die Arbeit zu erleichtern oder fehlende Geschicklichkeit auszugleichen (Fried[erike] Luise Löffler, Neues elsäßisches Kochbuch, Straßburg s.a. [1906], 19). Kochbücher waren ja Rezept- und Werbebücher.

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Benennung des Regionalen: Schwäbische Spätzle (Emma Rohr, Süddeutsches Kochbuch, 3. Aufl., Mannheim 1888, 83)

Seit dem späten 19. Jahrhundert stieg zudem die Zahl der Varianten: Neben Wasser- und Milchspätzlen standen die schon früher teils präsentierten Spätzlesuppen, zudem häufig geröstete und mit Käse zubereitete Speisen (Luise Schäfer, Neues Kochbuch für die bürgerliche und die feine Küche, Stuttgart s.a. [1900], 19). Der Rhythmus der Alltagskost hatte sich verändert, Stetigkeit und Einfachheit wurden von vielen Bürgern für ihre eigene Küche abgelehnt, zumal sie parallel in der Gaststätte Festessen mit Spätzlen zelebrierten.

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Standardrezepte der Spätzle (Schwäbische Kochrecepte zur Bereitung einfacher, bürgerlicher Kost, Stuttgart 1905, 53)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Standardrezept der Spätzle ausgereift: Ein Pfund Mehl, Salz und Wasser, 2 bis 3 Eier, auf einem Brett abgeschabt, anschließend mit Butter und Bröseln verfeinert, dann frisch aufgetragen. Größere Variationen finden sich seit der Jahrhundertwende allerdings in den nun erst regelmäßig gedruckten Spätzle-Rezepten in Haushaltszeitschriften, Illustrierten und Tageszeitungen. Sie verbreiteten küchentechnisches Wissen vorrangig außerhalb des Südwestens, propagierten diese „Art Klöße“ aufgrund ihrer „lockeren, leicht verdaulichen Beschaffenheit“, machten mit Schwaben und Schaben vertraut (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1895, Nr. 2137 v. 23. Dezember, 6). Die regionale Herkunft wurde konsequent benannt, wirkte lockend auf wagefrohe Köchinnen auf der Suche nach einem neuen Geschmack: Nicht schnöde Spätzle gab es da, sondern Württemberger Spätzle, süddeutsche Spätzle, Schwäbisch Spätzle oder Spätzle (schwäbisch) (Praktischer Rathgeber für Land- und Hauswirthschaft 1898, Nr. 4, 29-30; Düsseldorfer Sonntagsblatt 1908, Nr. 24 v. 14. Juni, 191; Schwerter Zeitung 1909, Nr. 252 v. 27. Oktober, Unterhaltungsbeil., 4).

Zugleich wurden den Leserinnen auch Rezepte fern des Standards angeboten: Das galt für Kartoffelspätzle oder aber Varianten mit weniger Eiern und Milch anstelle des Wassers (Nelly Karsten, Kartoffel-Gerichte, Praktischer Ratgeber. Wochenblatt für Land- und Hauswirtschaft, Gewerbe und Handel 1906, Nr. 13 v. 26. März, 52-53, hier 53; Bazar 59, 1913, Nr. 18, 2). Auch das Schaben der Schwäbinnen wurde küchennah ersetzt, etwa durch Teigausstechen mit dem Stiel eines Blechlöffels oder dem Einsatz des in Westfalen gängigen Durchschlags (Hannoverscher Courier 1913, Nr. 30787 v. 19. Oktober, 19; Für die Frauen [Hörder Volksblatt] 1914, Nr. 11 v. 17. März, 4). Ähnliche Tendenzen finden sich auch in Spätzle-Rezepten in der deutschsprachigen US-Presse, in denen die Mehlspeise als „Nudel der Süddeutschen“ galt und als „echte schwäbische Spätzle“ reüssierte (Sonntagspost [Chicago] 1910, Nr. 18 v. 1. Mai, 13; ebd. 1911, Nr. 22 v. 28. Mai, 13). In der Ferne entstanden zudem neue Variationen, etwa ein Mischgericht aus gerösteter Leber mit Spätzlen (Ebd. 1913, Nr. 43 v. 26. Oktober, 13). Die Rezepte in Kochbüchern, Zeitschriften und Zeitschriften trugen zur Verbreitung der Spätzle auch über die Grenzen Schwabens wesentlich bei. Doch wir sollten stets bedenken, dass all diese Rezepte aus der weit breiteren schwäbischen Mehlspeisenküche ein Element herausnahmen, das sie dann verbraucher- und marktnah umgestalteten und neu arrangierten.

Spätzle als schwäbisches Gericht – in Schwaben

Das Wort Spätzle lässt sich seit dem 16. Jahrhundert nachweisen, allerdings in der Bedeutung eines Schmutzwortes (Josua Maaler, Die Teütsch spraache, Tiguri [Zürich] 1561, Doppelseite 378). Als Mehlspeise tauchten sie im 18. Jahrhundert auf, jedoch als Alltagsspeise bei „Unbemittelten“: „Montags Nudele, Dienstags Hotzele (gebackenes Obst), Mittwochs Knöpfle (eine Art von Pudding), Donnerstags Spätzle (Mehlklümpe), Freytags gedämpfte Grundbirn (gekochte Kartoffeln), Samstags Pfannkuchen, Sonntags Brätle und Salätle“ (Tischzettel in Schwaben, Der Wanderer 1814, Nr. v. 4. August, 850-851). Derartige Zuschreibungen spiegelten noch die repetitive Stetigkeit einer ländlich-kleinstädtischen Gesellschaft, die Ausdruck gesuchter Sicherheit in einem Umfeld regelmäßiger Nahrungskrisen war – durch Missernten und auch Preissteigerungen. Dennoch darf man sie nicht als Widerspiegelungen eines just so erfolgten Ernährungsalltags missverstehen. Die Mehlspeisenküche spiegelte saisonale Verfügbarkeit wider, Getreide war ein haltbares Nahrungsmittel, wichtig vor allem im Winter. Der bürgerliche Blick der Schriftkultur gab ahnende Eindrücke von einer fremden, nicht gelebten, sondern beobachteten Alltagskost: „Bekanntlich machen in unserem Haushalt die Mehlklöse, Spätzle oder Mehlknöpflen eine Hauptspeise aus, welche in vielen Gegenden auf dem Tische des Landmanns fast täglich erscheint“ (Der Ortenauer Bote 1853, Nr. 103 v. 30. Dezember, 846). Bekanntlich, fast… Bei derartigen, später immer wieder als wahre Abbilder des Alltags zitierten Speisefolgen vermischten sich regelmäßig Sage, An- und Wahrgenommenes: Wenn der Knöpfleschwabe als ein täglich fünf Mahlzeiten verspeisender Landsmann geschildert wird – „fünfmal Suppe, und zwei Mal dazu Knöpfle oder Spätzle“ (Sagen und Mährchen, Morgenblatt für gebildete Stände 1832, 526), so spiegelte das nicht zuletzt Vorstellungen einer Stabilität des Landes, der bürgerlichen Gesellschaft, der Rollen einzelner Stände.

Doch Stadt und Land waren, trotz deutlich anderer Rechtsbedingungen, im Südwesten eng verwoben. Klein- und Mittelstädte dominierten. Der Ackerbürger, der Handwerker, auch viele Arbeitsmännern, sie bewirtschafteten häufig noch ein meist gepachtetes Stück Land. Entsprechend waren Spätzle auch „ein gewöhnlich‘ Essen“ der Kleinbürger (Berthold Auerbach, Florian und Creszent. Eine Dorfgeschichte. (Fortsetzung.), Oesterreichisches Volksblatt für Verstand, Herz und gute Laune 31, 1849, 661-663, hier 662). Und es wurde in Gaststätten angeboten, wo die Fremden es kosteten: „Hausmannskost – geräuchertes Fleisch, Mehlspeisen (Krazzette, im Osten Knöpfle oder Spätzle in Fleischbrühe oder ‚gebraten‘), treffliche Kartoffeln, Kalbsbraten“ ([Carl Borromäus Alois], Der Schwarzwald, der Odenwald, Bodensee und die Rheinebene. Handbuch für Reisende, Heidelberg 1858, XIX).

Gaststätten boten heimische Gerichte an – auch wenn es sich um Sonntagsspeisen handelte, umrahmt mit Fleisch und selten Fisch. Sie waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch häufig Raststätten für (Post-)Kutschenreisende (materialreich: Friedrich Rauers, Kulturgeschichte der Gaststätte, T. 1, 2. Aufl., Berlin 1942, 448-488). Im Ort gab es vornehmlich Schenken, in denen Speisen nur als Beikost gereicht wurden. Unsere heutige Gastronomie, also abgegrenzte Orte des Essens und Trinkens gegen Entgelt, entwickelten sich in deutschen Landen deutlich später als in Westeuropa, verbanden noch lange Bewirtung und Herberge. Ein spürbarer Aufschwung setzte erst in den 1860er Jahren ein, ein sich in den Anzeigenteilen der Zeitungen niederschlagender Wettbewerb um den Kunden erst im Folgejahrzehnt – natürlich gefördert von der Konkurrenz kapitalkräftiger Brauereien.

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Gaststättenstandard: Wild mit Spätzlen und Bier (Neues Tagblatt 1874, Nr. 262a v. 8. November, 2265 (l.); ebd. 1881, Nr. 188 v. 14. August, 5)

Bier, Wein und Versprechungen von Gediegenheit und Gemütlichkeit prägten die Anzeigen. Sie stellten anfangs gängige Speisen in den Mittelpunkt, einen gehobenen Sonntagsstandard. Entsprechend dominierten Fleischspeisen, doch die wurden erst mit Beilagen zum Wahlmahl. Spätzle traten an der Seite von Wild auf, also einer tradierten Herrenspeise. Das adelte das Angebot, begrenzte es aber auch. Spätzle waren vielfach saisonale Marker, abhängig von den Jagdzeiten und der dadurch bedingten Verfügbarkeit frischen Wildprets.

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Spätzle als Marker auch badischer Gemütlichkeit (Links: Karlsruher Tagblatt 1880, Nr. 99 v. 11. April, 834 (o.); ebd. 1885, Nr. 333 v. 6. Dezember, 4097; rechts: ebd. 1884, Nr. 254 v. 16. September, 2729 (o.); ebd., Nr. 247 v. 8. September, 2635)

Gaststätten-Spätzle finden sich in Württemberg und Baden in den 1880er Jahren als Speise des gesetzten Bürgertums, einer zahlungskräftigen Klientel aus lokalen Notablen und durchreisenden Fremden. Sie bildeten ein Vorzeigestück des Eigenen, gedachtes Zentrum einer seit langem als regionaltypisch präsentierten Küche. Die Einheimischen aßen dies als Ausdruck ihrer selbst, die Geschäftsreisenden und Touristen aus Notwendigkeit und Abenteuerlust. Zugleich aber wurde das regionale Angebot auch als Teil einer internationalen Küche präsentiert, zeitgemäß mit französischem Einschlag. Spätzle war „unser“, zugleich aber Ausdruck der wachsenden Fülle einer prosperierenden Gesellschaft, die das Eigene im Kontext erweiterter Angebote bewusst wählte.

14_Neues Tagblatt_1892_12_04_Nr285_p05_Gaststaette_Spaetzle_Sieben-Schwaben

Soul-Food für den Schwaben (Neues Tagblatt 1892, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5)

Spätestens seit den 1890er Jahren etablierten sich Standardspeisen mit Spätzlen: Rehbraten und Rehragout erforderten sie gleichsam, dann auch vermehrt (Feld-)Hasen. Parallel nahmen viele Gaststätten wettbewerbsgetrieben tradierte Vorstellungen von den Schwaben auf, vermarkteten diese leutselig. Dass dabei der heimische Wein oder der in Gaststätten und Restaurants noch seltene Most vielfach durch (vornehmlich bayerische) Export- und Bockbiere ersetzt wurde, wurde offenbar als Erweiterung wahrgenommen, nicht aber als Abkehr vom typisch Schwäbischen. Das Aufkommen konkurrenzfähiger heimischer Biere, begünstigt durch eine zunehmend standardisierte Produktionstechnik, ermöglichte dann auch neue Offerten, in der „lokal“ gebrautes Bier den schwäbischen Grundtenor wieder unterstrich.

15_Neues Tagblatt_1886_10_31_Nr255_p05_ebd_1885_08_11_Nr185_p08_Gaststaette_Restaurant_Spaetzle_Beilage_Kloesse_Bratkartoffeln_Makkaroni

Spätzle als austauschbare Sättigungsbeilage (Neues Tagblatt 1886, Nr. 255 v. 31. Oktober, 5 (l.); ebd. 1885, Nr. 185 v. 11. August, 8)

Und doch, die Anzeigen belegen auch, dass in der Gaststätten- und Restaurantküche Spätzle nicht wirklich im Mittelpunkt standen. Sie waren keine Hauptspeisen, sondern Beilagen des kräftigen Fleischzentrums. Als solche konnten sie auch ausgetauscht werden. In den 1880er Jahren boten Kartoffeln eine Alternative, teils als Klöße, teils als Bratkartoffeln. Auch Nudeln und Makkaroni finden sich immer häufiger. Spätzle waren zwar Heimatspeise, Ausdruck von Zugehörigkeit und Eigenart – doch als nährende Speise konnten sie ersetzt werden, wenn das Ambiente der Gaststätten selbst das Schwäbische, das Gemütliche, das Heimische widerspiegelte.

16_Neues Tagblatt_1885_07_28_Nr173_p08_ebd_1899_11_11_Nr265_p05_Gaststaette_Spaetzle_Bajuvarisierung_Bockwuerstchen_Stotz_Bassgeige

Deutsche Gemütlichkeit mit bayerischen und schwäbischen Ingredienzien (Neues Tagblatt 1885, Nr. 173 v. 28. Juli, 8 (l.); Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1899, Nr. 265 v. 11. November, 5)

Gemütlichkeit wurde schon am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend arrangiert, trat als Sentiment vor die Speisen. Regionales wurde offeriert, doch es musste nicht immer das Schwäbische sein. Zunehmend finden sich in den Anzeigen auch „bayerische“ Speisen, die den beliebten Münchener Standardbieren aus Großproduktion folgten. Spätzle mit Reh und Hasen waren Teil eines Erlebnisses, einer Feierkultur, die zunehmend mit Musik und Humor umrahmt wurde. Die Fremdbilder des Schwaben wurden in der Mitte des Schwabenlandes reproduziert, der fremden Welt zugleich Einlass geboten. Schließlich gab es auch übergeordnete Identitätsanker, etwa der süddeutschen Küche und des deutschen Vaterlandes.

17_Neues Tagblatt_1895_12_23_p7_ebd_1900_6_2_p6_Generalanzeiger Stuttgart_1898_1_4_p7_Restaurant_Spaetzle_Internationale-Kueche_Regionale-Kueche

Spätzle als Teil eines Angebotes internationaler Spezialitäten (Neues Tagblatt 1895, Nr. 301 v. 23. Dezember, 7 (l.), Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1898, Nr. 2 v. 4. Januar, 7; ebd. 1900, Nr. 127 v. 2. Juni, 6 (r.))

Spätestens seit der Jahrhundertwende wurden Spätzle – in Schwaben – aber auch als Teil der internationalen Küche vermarktet. Das Regionale gewann Flair und Ausstrahlung. Spätzle ließen sich durchaus mit Wiener Küche und burgundischem Boeuf Braisé kombinieren, wurden exportfähige Weltspeise. Außer Haus essen wurde zur kulinarischen Reise, in der vielleicht der Herr den Rehschlegel mit Spätzlen wählte, die Dame dagegen beim Roastbraten à la Russe eine Geschmacksexkursion unternahm, die beim nächsten Kränzchen beredt erörtert werden konnte.

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Vegetarisch, schwäbisch und auch zum Mitnehmen (Neues Tagblatt 1892, Nr. 251 v. 26. Oktober, 8 (l.); ebd. 1893, Nr. 20 v. 25. Januar, 7)

Wie sehen bei unserer Reise in den Angeboten der Gaststätten zeittypische Entwicklungen der damaligen Konsumgesellschaften. Märkte wurden ausdifferenziert, Sortimente breiter und tiefer. Spätzle hatten in diesem kommerziellen Spiel eine erdende Rolle, waren Entrée in ästhetisierte Welten, die weit über die schwäbische Alb hinauswiesen. Auch vegetarische Restaurants waren Teil davon, mochten sie auch eher weltumspannend auftreten, in der natürlichen Pflanzenkost auch Schwäbisches präsentieren: Eine Menschheitsvision, verankert in jeweils heimischer Erde, doch ohne die Fleischeslust am Sonntag. Auch Traditionalisten wurden bedient. Dafür entstanden explizit regionale Heimatgaststätten, in denen schwäbische Kost echt und authentisch aufgetragen wurde, erwartbar wie die Trias Vorsuppe, Hauptspeise und Nachtisch. Wir Durchreisenden würden vielleicht gewisse Unterschiede zur ländlich-kleinbürgerlichen Kost bemerken, die innerregionalen Unterschiede des Südwestens betonen, uns am Fassadenklamauk stoßen. Denn in der Gaststättenkultur des 19. Jahrhunderts finden wir schon eine Virtuosität beim Umgang mit Regionalem, Nationalem und Internationalem, die in der Forschung gemeinhin erst der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben wird.

Spätzle als schwäbisches Gericht – im Deutschen Reich

Nehmen wir stattdessen Hut und Recken und beäugen auch die weitere Bühne. Der Schwabe galt ja Mitte des 19. Jahrhunderts nicht umsonst als naives, schlichtes und geschwätziges Gemüt. Die schwäbische Küche, so missmutige Zeitgenossen, könne mit ihren Eigenarten und Defiziten gar keine anderen Menschen hervorbringen. Wie anders doch die anderen deutschen Küchen: „Was sind die Mehlspeisen anderer Völker gegen unsere österreichischen Mehlspeisen, was sind schwäbische Spätzle gegen unsere Greiszweckeln! Der Schwab muß 40 Jahre Spätzle essen bis er gescheidt wird, wenn er schon ein gescheidter Schwab ist, unsere Grieszweckeln schwaben ihn weg“ (M.G. Saphir, Ueber den Status quo der österreichischen Mehlspeisen, Der liberale Alpenbote 1854, Nr. 144 v. 2. Dezember, 1-3, hier 3). Selbst aus dem rückständigen Bayern kam Despektierliches, denn auch dort beanspruchte man die Suprematie der Mehlspeisenküche: „Ein bayerischer Knödel ist das Haupt der starken Knödelfamilie. Er blickt mit Gleichgiltigkeit auf das schwäbische Knöpfle, auf die Spätzle des Schwarzwaldes, sie sind ihm zu winzig; er sieht mit Verachtung auf die steinharten norddeutschen Klöse; mit Geringschätzung auf die österreichischen Knödel, weil ihm dieser zu batzig ist“ (Oberbayerische Wirthshausgenüsse. (Fortsetzung.), Der Grenzbote 1872, Nr. 34 v. 25. August, 297-301, hier 299). Entsprechend geringschätzig wurden die Spätzle in der Ferne bezeichnet. Unverstanden sprach man von ihnen als „Mehlklöschen von der kleinsten Art“, als „Mehlklümpchen“ (Ludwig Aurbacher, Ein Volksbüchlein, hg. v. Joseph Sarreiter, Leipzig 1878, 213; Rosenthal-Bonin, Das Mittagsschläfchen, Der Bazar 2, 1876, 93-94, hier 93). Schmähgesänge, elende – fast so wie schwäbische Verdammungen des westfälischen Pumpernickels oder guter Dicke Bohnen.

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Heimat für die einen, Exotik für die anderen – Schwäbisches in Hamburg (Hamburger Echo 1900, Nr. 198 v. 26. August, 4 (l.): ebd. 1911, Nr. 274 v. 22. November, 8)

Und doch waren Spätzle auch in der Ferne Bannerträger schwäbischer Gemütlichkeit, schmackhafter Gerichte. In Hamburg gab es spätestens seit der Jahrhundertwende vielfältige Gelegenheiten in Gaststätten und Restaurants schwäbisch zu essen. Wein und Bier waren häufig die Entrées in der Fremde, Weinrestaurants und Bierhallen lockten mit regionalem Angebot. Speisen flankierten den gewinnträchtigeren Ausschank der Getränke. Dort präsentierte man andere Speisekombinationen: Spätzle mit Eisbein oder Sauerbraten – das war im Südwesten nicht gängig, auf Hamburger Kunden zugeschnitten; doch es wirkte auch zurück.

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Deutsche Küche als Amalgam regionaler „Nationalgerichte“ (Aachener Anzeiger 1903, Nr. 257 v. 1. November, 7)

Restaurateure koppelten die Einzelelemente des Regionalen. „Deutsche Küche“ entstand als Gemenge zahlreicher regionaler Spezialitäten. Himmel und Erde, Königsberger Klopse, Reibekuchen – da konnten Spätzle kaum fehlen. Der bürgerliche Restaurantbesucher wurde als Kenner von Vielfalt, als entdeckungsfreudiger Deutscher adressiert. Das vermeintlich Beste wurde wählbar, jeden Tag eine neue regionale Spezialität.

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Spätzle als gewöhnungsbedürftige Speise in Westfalen (Dortmunder Lustige Blätter 1901, Nr. 31, 5)

Spätzle wurden so Teil einer hybriden, vielgestaltigen deutschen Küche, deren Vielfalt zu einer Stärke umgedeutet wurde. Die deutsche Küche war eben bunt, kein Einerlei mit festen Regeln – so wie die Haute Cuisine in der Spitzengastronomie, in führenden Hotels auch des Deutschen Reiches. Leben und leben lassen, ein wenig Frohsinn, fünfe gerade sein lassen, so stellte sich Gemütlichkeit ein. All das war nicht immer erfolgreich, denn mit den Gerichten der anderen Regionen fremdelten viele Bürger. Doch im Widerspruch zu engstirnigem Nationalismus gab man sich kulinarisch offen, wusste um die Vielfalt eigener, teils auch ausländischer Küche. Das war wichtig für eine Wirtschaftsnation, deren Exportraten anzogen, die erst nach Großbritannien, dann nach den USA Vizeexportweltmeister war.

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Wurst und Spätzle – Kulturpluralismus in einer Kölner Stehbierhalle (Kölner Local-Anzeiger 1902, Nr. 340 v. 14. Dezember, 13)

In den Groß- und Mittelstädten – noch nicht in den Kleinstädten, gar auf dem Lande – gab es also schon während des Kaiserreichs ein recht plurales Speisen- und Küchenangebot, bei dem die Spätzle als Teil eines schmackhaften Ganzen galten. Sie traten an die Seite von Schweinebraten, umkränzten auch die so vielfältigen deutschen Würste. Hier müssen wir aber schon wieder weiterwandern, denn Spätzle etablierten sich nicht allein im Deutschen Reich als Sinnbild des Schwabens und seiner Küche.

Spätzle als Heimatsanker für Auslandsschwaben und Auslandsdeutsche

Schwabentum wurde nicht nur in der Literatur, bei Sängerfesten und in Gaststätten zelebriert. Seit 1818 wurden auf dem Cannstatter Wasen ein Volksfest gefeiert. Wie das Münchner Oktoberfest entwickelte es sich von einer landwirtschaftlichen Ausstellung und Messe zu einem Volksfest mit Rennsport, Zirkus, Schaustellerei, Musik und – natürlich Spätzlen. Berichterstatter verwiesen auf „vergnügungssüchtige Residenzler, Männer und Frauen aus der Provinz mit verschollenen Gewändern und eigentlich unmöglichen Toiletten […die] bei einer colossalen Kneiperei, bei Sauerkraut und ‚Spätzle‘, Blutwurst, Schweinefleisch, neuem Bier und neuem Wein […] sich den Magen in geahnter Weise“ verdarben (Das Kannstatter Volksfest, Rhein- und Ruhrzeitung 1876, Nr. 227 v. 28. September, 1).

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Schwäbische Festkultur in den USA (Puck [deutsche Ausgabe] 5, 1880/81, 830 (l.); Echo [Cleveland] 1912, Nr. 18 v. 28. August, 4)

Feste dieser Art gab es nicht nur nordöstlich von Stuttgart. 1861 fand das erste Cannstatter Volksfest in New York statt, Philadelphia folgte 1873, Chicago 1878. Schwäbische Migranten feierten dort ein Stelldichein, gedachten ihrer Heimat, pflegten ihre Sprache, labten sich an Wein und Spätzle, zunehmend auch an amerikanischen Spezialitäten. Ihnen ging es um Stolz auf die Herkunft, um Stolz auch auf das bessere, das demokratische Umfeld, was 48er und die noch starken schwäbischen Sozialisten mit geschaffen hatten.

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Migrantische Parallelgesellschaft mit schwäbischen Delikatessen (Washington Journal 1896, Nr. 42 v. 17. Oktober, 4 (l.); ebd., 1902, Ausg. v. 13. September, 8)

Unterhalb der Festkultur gab es in den USA, zumindest in den Metropolen und im Mittleren Westen, ein dichtes Netzwerk schwäbischer Vereine, bei dem auch Badener mitmachen durften: Schwäbische Frauenvereine luden zum Kegeln, zum Picknick mit den Nationalgerichten „Spätzle und Sauerkraut und Zwiebelkuchen“, versprachen Geschenke für alle trachttragenden Kinder (Abendpost [Chicago] 1908, Nr. 156 v. 30. Juni, 7). Sie waren vielfach verwoben mit Vereinen und Einzelpersonen, vielfach wurden Nahrungsmittel und Wein importiert (Neues Tagblatt […] 1907, Nr. 207 v. 4. September, 3). Essen und ein „extra feines Tröpfle“ materialisierten Heimat, eine bessere gar, denn bei den Feiern, so das Versprechen, werde es „noch lustiger hergehen, als an der Kirbe im alten Schwabenländle.“ (ebd. 1901, Nr. 257 v. 29. Oktober, 2). Selbstbewusstsein gepaart mit Heimatliebe – Spätzle konnten mehr sein als Alltagsspeise in einer bedrückenden Enge.

Stärker traditionalistisch, gewiss auch widersprüchlicher war der Heimatbezug in der Weltdiaspora der Schwaben, die im Deutschen Reich kurzerhand als Teil „deutschen Lebens“ wahrgenommen wurden. Am Schwarzen Meer, bei den im 18. Jahrhundert angeworbenen Odessa-Deutschen, freuten sich deutsche Besucher über den „Kreis von biederen Bauersleuten, deren Kinder uns mit blanken Blauaugen und Blondköpfen entgegenspringen […] und an einen gastlichen Tisch, auf die Flädlesuppe und die Spätzle so wenig fehlen wie der Krug roten Landweins“ (Alfred Geiser, Von der Schelde zum Schwarzen Meer, Westfälische Zeitung 1908, Nr. 119 v. 21. Mai, 7). Völkisch gesinnte Besucher, wie der hier zitierte Geschäftsführer des Alldeutschen Verbandes, sahen in den Spätzlen ein Bekenntnis zum Deutschen Volk, sahen nicht die vielfach anderen Identitäten der Auslandsdeutschen. Der Schriftsteller Otto Schmelzer fand bei den Wolgadeutschen dagegen eher ein am Kochtopf erkennbares Festhalten der Gruppenidentität. Die „alten Leibgerichte der Heimat“ hatten sich schon längst von denen der Heimat entfernt, denn Spätzle, Strudel und Schupfnudeln standen hier neben Krummbierstampf, Kartoffelbrei, Sauerkraut und Schweinefleisch (Deutsches Kolonistenleben in Rußland, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 58 v. 9. März, 3). Deutsch-schwäbische Küche war in derartigen Siedlungskolonien weniger Bekenntnis, denn ein Mittel der Abgrenzung zur Hauptgesellschaft. In den deutschen Kolonien war das ähnlich, doch hier standen Spätzle, auch bayerisches Kraut, für eine überlegende, höherwertige Küche (Ein Landsmann in Westafrika, Neues Tagblatt 1883, Nr. 13 v. 18. Januar, 3). Nationale Feste, wie der Sedantag, Kaisergeburtstag, aber auch der Geburtstag des schwäbischen Königs und des badischen Großherzogs, wurden ebenfalls mit heimatlichen Speisen unterfüttert (Die Feier des Kgl. Geburtstagsfestes in Cannes, Neues Tagblatt 1881, Nr. 58 v. 11. März, 2; Königs Geburtstag in Tsingtau, Neues Tagblatt […] 1907, Nr. 70 v. 23. März, 3). Teils dienten Spätzle in der Ferne jedoch einfach als Willkommensgruß an Landsleute, sei es bei Festen, sei es bei Besuchen (Schwaben in Brasilien 1908, Nr. 88 v. 14. April, 6).

Hinzu kamen Treffen der süddeutschen Vereine in der k. u. k.-Monarchie und in den deutschen Landen. Dort nutzten Schwaben die vorhandene und von ihnen teils mit aufgebaute gastronomische Infrastruktur, um sich fern der Heimat um Heimatspeisen herum zu versammeln (Stuttgart in Wien, Neues Tagblatt 1879, Nr. 174 v. 29. Juli, 2). Bei all dieser Spätzleseligkeit darf man jedoch zweierlei nicht vergessen: Zum einen blieben die heimischen Gerichte vielfach ein letztes Residual einer längst verlorenen Heimat. In der Türkei waren die dortigen Siedler vielfach angepasst, trugen dortige Kleidung, banden Spätzle und anderes an die noch gefeierten religiösen Feste (Ella Triebnigg, Die schwäbische Türkei, Schwäbischer Merkur 1910, Nr. 269 v. 11. August, 1). Zum andern dürften die freudig gereichten und verzehrten Spätzle nicht denen der damaligen Heimat entsprochen haben. So einfach das Grundrezept auch sein mochte, so waren die Zutaten doch andere, dürfte auch die Verfeinerung neue Wege gefunden haben. Die Auslandsschwaben besaßen eine interpretative Freiheit über die eigene Herkunftsküche, die im Schwabenland so nicht wahrgenommen wurde, die aber darauf verwies, dass schon um die Jahrhundertwende der Regionalismus der schwäbischen Küche auch verengende Wirkungen hatte. Das galt zumal vor dem Hintergrund des damaligen Maschinenzeitalters, von dem auch die Spätzleherstellung nicht unberührt blieb.

Teigwaren, Nudeln und gewerblich produzierte Spätzle

Spätzle waren im 19. Jahrhundert eine vorrangig häuslich gekochte Mehlspeise. Sie wurden allerdings auch gewerblich hergestellt, insbesondere in den noch nicht allzu zahlreichen Gaststätten. Bäcker und Melber lieferten einschlägige Ware für Feiern oder den Gebrauch im bürgerlichen Umfeld. Auch wenn sie vielfach noch in zünftigem Umfeld arbeiteten, ihre Sortimente also nicht einfach ausweiten konnten, handelte es sich doch teils schon um marktnah agierende Handwerker und Händler. Die von ihnen seit den 1830er Jahren begonnene Herstellung von Makkaroni zeigt sie als teils innovationsfähig, teils innovationswillig. Das galt trotz eines im Vergleich zu Preußen und vielen Mittelstaaten eher rückständigen Gewerberechtes. In Württemberg und Baden wurde Gewerbefreiheit erst mit den Gewerbeordnungen von 1862 gewährt.

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Angst vor der Gewerbefreiheit: Ein Schuster backt plötzlich Brötchen, vielleicht bald auch Nudeln (Fliegende Blätter 36, 1862, 128)

Größere Quantitäten versandfähiger Nudeln wurden zu dieser Zeit eher in den nördlicheren deutschen Staaten produziert. Dort gab es nicht nur veritable Gewerbefreiheit, dort gab es auch leistungsfähige Metallverarbeitung und Maschinenbau. Vorbild waren auch hier die italienischen Makkaroni, die im Süden und Südwesten seit Anfang des 19. Jahrhunderts von italienischen Händlern insbesondere auf Jahrmärkten, teils aber auch schon in Feinkosthandlungen verkauft wurden. In Karlsruhe wurden heimisch produzierte Hohlnudeln 1840 in einer Ausstellung des Gewerbevereins präsentiert, wenngleich hessische Firmen offenbar leistungsfähiger waren (Allgemeine Polytechnische Zeitung und Handlungs-Zeitung 1840, 199). Im Norden war die lokale Nachfrage allerdings geringer, so dass die Unternehmen größere Märkte anvisieren mussten, um erfolgreich zu sein. Ab Mitte des Jahrhunderts entwickelten sich Firmen wie Wittekop aus Braunschweig und Teichmann aus Erfurt zu leistungsfähigen, maschinell fabrizierenden Anbietern für regionale, teils auch überregionale Märkte. Allerdings machte die Rohware Probleme, denn der aus Sizilien und dann auch der Schwarzmeerregion nach Neapel und Genua importierte Hartweizen wurde in deutschen Landen kaum verwandt. Den heimischen Weichweizennudeln fehlte jedoch Festigkeit und Haltbarkeit.

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Lokale Ergänzungen der heimischen Mehlspeisen (Schwäbischer Merkur 1848, Nr. 67 v. 8. März, 297)

Das wandelte sich erst seit den 1860er Jahren. Einerseits nahm im Gefolge der zunehmend leistungsfähigeren Hochmüllerei der Maschineneinsatz zu, so dass heimische Nudeln deutlich billiger angeboten werden konnten als italienische Ware. Parallel importierten die deutschen Hersteller nun erstens zunehmend Hartweizen. „Deutsche“ Makkaroni wurden eine zunehmend ansprechendere Ware, die als Beilage auch in südwestdeutschen Gaststätten Eingang fand. Im Rheinland begann zweitens der Kölner Stärkefabrikant Carl August Guilleaume (1820-1894) ab 1877 seinen Makkaroni Weizenstärke zuzusetzen, so dass ihr Nährwert den des italienischen Vorbildes weit übertraf. Der erhoffte Erfolg blieb allerdings aus, denn das Produkt war dunkel, sah wenig ansprechend aus. Drittens begannen Teigwarenfabriken seit den frühen 1880er Jahren neuartige Eier-Makkaroni herzustellen. Das entsprach nicht mehr dem italienischen Vorbild, doch es war eine erfolgreiche Adaption süddeutscher Geschmacksvorlieben. Nahrhafter und preiswerter als italienische Importware standen deutsche Eier-Makkaroni für den vermeintlich überlegenen Intellekt deutscher Wissenschaftler und Unternehmer. Sie etablierten sich erst in bürgerlichen Kreisen, nach der Jahrhundertwende auch innerhalb der Arbeiterschaft.

Makkaroni waren Marktalternativen zu den schwäbischen Spätzlen, wenngleich von Puristen strikt diskreditiert. Fabrikware anstelle des hingebungsvollen Teigschlagens und Schabens? Standardisierte Angebote als Billigersatz der vielgestaltigen und nuancenreichen Formen der heimischen Küche? Und doch, spätestens seit den 1880er Jahren finden sich erste Anzeigen gewerblich produzierter Spätzle, genauer von Eier-Spätzlen. Es waren vorrangig südwestdeutsche Unternehmer, die Chancen auf eine weitere Enthäuslichung des Spätzlekonsums witterten. Anfangs zielten sie jedoch noch nicht auf eine tellerfüllende Hauptmahlzeit. Stattdessen boten sie ab den 1890er Jahren Eier-Spätzle als kleine Suppennudeln an. Anders als die wachsende Palette der Convenienceprodukte, als frühe Suppenpräparate, als Würzen, Back– und Fleischpulver stand in der Werbung nicht die Arbeitsersparnis im Vordergrund. Stattdessen lobten die Anbieter die bessere Verdaulichkeit, den höheren Nährwert und die verlässliche Qualität der neuen Sternnudeln.

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Frühe Angebote von gewerblich produzierten Spätzlen als Suppeneinlagen (Karlsruher Tagblatt 1888, Nr. 163 v. 16. Juni, 2268 (l.); ebd. 1890, Nr. 130 v. 13. Mai, 2021 (r. u.); Riesaer Volksblatt 1892, Nr. 68 v. 7. Mai, 270)

Das Geschäft mit den Spätzlen wurde seit den 1890er Jahren zunehmend auch von größeren Firmen aufgenommen. Am bekanntesten dürften wohl die Angebote der Heilbronner Firma C.H. Knorr gewesen sein. Carl Heinrich Theodor Knorr (1800-1875) hatte 1838 eine Spezereiwarenhandlung und eine Zichorienfabrik gegründet, sattelte nach Fehlschlägen auf den Großhandel von Landesprodukten um und begann in den 1870er Jahren mit der Produktion von Suppenpräparaten. Seine Söhne verbreiterten das Sortiment um Müllereiprodukte sowie ab 1892 um eine Teigwarenproduktion. Neben verschiedenen Makkaronisorten waren auch Eierspätzle von Beginn an Teil der wachsenden Sortimente. C.H. Knorr war reichsweit präsent und verbreitete die Spätzle-Produkte auch international.

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Export der Spätzle: Spätzle-Suppennudeln von Knorr aus Heilbronn (Wittener Tageblatt 1893, Nr. 294 v. 15. Dezember, 4 (l.); Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 12 v. 12. Januar, 3; Wittener Tageblatt 1913, Nr. 302 v. 3. November, 6)

Mittelfristig wichtiger waren jedoch kochfertige Spätzle. Wie die Makkaroni mussten sie nur noch in Wasser erhitzt werden: ein billiges, nahrhaftes und leicht zu verfeinerndes Nahrungsmittel. Von einem Durchbruch mit rasch steigenden Konsumdaten lässt sich allerdings nicht reden. Das belegt das Teigwarengeschäft des 1864 gegründeten Stuttgarter Spar- und Consumverein, der mit seinen 1890 mehr als 7000, 1900 mehr als 18.000 Mitglieder ein bestimmender Faktor im Einzelhandel der württembergischen Landeshauptstadt war. Aus der 1878 gegründeten Bäckerei wurde 1901 ein gesondertes Teigwarengeschäft ausgegliedert (Denkschrift zum Vierzigjährigen Bestehen des Spar- und Consum-Vereins Stuttgart, Stuttgart 1905, 16). Fabriziert wurden Eiernudeln, Hartweizenmakkaroni und verschiedene Suppennudeln. Die Genossenschaftler bauten ihr Angebot stetig aus, ab 1907 boten sie auch kochfertige Eier-Spätzle an. Erfolgreich, so die Selbstbewertung: 1913 wurden 1425 kg, 1914 1635 kg dieser Fabrikware abgesetzt (Spar- und Consum-Verein Stuttgart. Jahres-Bericht, Stuttgart 1914, 11; ebd., Stuttgart 1915, 16). Doch es wäre verfehlt, allein auf die Neuware zu blicken: Nicht Eier-Spätzle verdrängten die heimisch hergestellten Mehlspeisen, diese gerieten durch alternative Angebote vielmehr indirekt unter Druck. Der Stuttgarter Konsumverein verkaufte 1900 14.208 kg Makkaroni und 8.460 kg Nudeln, 1913 dann 40.585 kg resp. 44.188 kg (Ebd., Stuttgart 1901, 19; ebd., Stuttgart 1914, 11). Gewerbliche Fertigwaren traten langsam aber stetig an die Stelle tradierter Mehlspeisen. Die Eier-Spätzle wurden zwar gekauft, doch konnten sie im unmittelbaren Vergleich mit selbstgemachten Spätzlen noch nicht überzeugen.

Abseits des Südwestens war das anders, zumindest wenn man der höheren Anzeigenfrequenz Glauben schenken kann. Spätzle waren dort eine Nudel wie andere, eine Alternative zu Kartoffeln, eine Variante bei den Teigwaren. Blicken wir nach Wiesbaden, damals Hauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Dort begann die Firma C. Weiner 1878 mit der Produktion von nicht gefärbten Hausmachernudeln aus frischen Eiern (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr. 124 v. 14. März, 8). Kurz nach der Jahrhundertwende erweiterte der mittlerweile von Helene Weiner geführte Betrieb das Geschäft, ließ dazu ein eigenes Markenzeichen eintragen (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 76 v. 1. April, 39). Seit 1904 kündeten zahlreiche Anzeigen von neuartigen „Wiesbadener Spätzle“.

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Gewerbliche Nachbildung nördlich des Schwabenlandes (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr., 389 v. 21. August, 20)

Die „nahrhafte und schmackhafte Speise“ (Wiesbadener Tagblatt 1904, Nr. 2 v. 2. Januar) wurde jedoch nicht als Ersatz für häuslich hergestellte Teigwaren angepriesen, sondern erstens als Beilage, zweitens als Substitut für die allseits verwandten Makkaroni. Weiners Manufaktur offerierte „selbstgemachte“ Gewerbeware. Das Sortiment zielte nicht nur auf Einzelhaushalte, vielmehr umwarb Helene Weiner gezielt Gaststätten. Ihre Spätzle konnten rasch erwärmt werden, waren daher einfacher handhabbar als frisch in den Gaststätten geschabte Spätzle. Die Werbung zeigte zugleich, dass gängige Regionalspeisen sich verändern konnten, ohne dass sich die Speisenbezeichnungen änderten.

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Gewerbliche Spätzle in Haushalt und Gaststätten (Wiesbadener General-Anzeiger 1902, Nr. 272 v. 21. November, 6 (l.); Wiesbadener Tagblatt 1905, Nr. 510 v. 31. Oktober, Abendausg., 8)

Auch hier sind Rückwirkungen auf das Schwabenland zu bedenken. Was in Wiesbaden erfolgreich möglich war, war auch in der Stammregion der Spätzle nicht ausgeschlossen. Die offenkundige Zurückhaltung des schwäbischen Kleinhandels – Suppenspätzle und Eierspätzle fanden sich vorrangig in größeren Einzelhandelsbetrieben – wurde durch die damals allseits präsenten Versandgeschäfte gebrochen. Solcher Marktdruck wurde im vermeintlichen Land der Tüftler aufgegriffen und durch regionale Fabrikware substituiert.

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Marktdruck von außerhalb: Eiernudeln per Versandgeschäft (Neues Tagblatt und Generalanzeiger für Stuttgart und Württemberg 1910, Nr. 63 v. 17. März, 11)

Haushaltsgeräte für die Spätzlebereitung

Welch ein Hin und Her. Bei der kurzen Rast fallen einem Rainer Maria Rilkes Zeilen ein: „Denn, wen ängstigsts nicht: wo ist ein Bleiben, / wo ein endlich Sein in alledem?“ (Gedichte 1910 bis 1926, hg. v. Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Leipzig 1996, 177) Diese Haltung entsprach dem Fin de siècle-Gefühl der Jahrhundertwende, dürfte für die Bevölkerungsmehrheit aber kaum prägend gewesen sein. Das späte Kaiserreich war schließlich immer auch eine optimistische Zeit, eine des Fortschritts, der Reallohnverbesserungen, der sicheren Alltagskost. Der deutsche Platz an der Sonne war überspitzer Ausdruck einer Zeit, die von alltäglichen Verbesserungen geprägt war, in der Erfindungen vielfach noch Freude hervorriefen, nicht aber Ängste und Ethikkommissionen. Das galt auch für die Küchentechnik, mit der die Fron der tradierten Hausarbeit überwunden werden konnte, vielleicht auch würde. Während heutige Spätzlebrettenthusiasten das Messer noch (virtuell) auf Holz schwingen, war das im 19. Jahrhundert anders. Schwäbische Frauen sollten, ja mussten durchaus gute, schmackhafte Spätzle kochen können – doch schon die Rezepte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verwiesen auf andere Hilfsmittel, auf Haushaltsgeräte. In den Eisenwaren- und Haushaltsgerätegeschäften der Zeit finden sich durchaus Spätzlemaschinen. Knöpflepressen wurden früh auf Ausstellungen präsentiert (Zur Schwarzwälder Industrieausstellung, Der Landbote 1858, Nr. 108 v. 11. September, 424-426, hier 425). Die Zahl der vor der Jahrhundertwende patentierten Maschinen blieb allerdings gering.

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Urbaner Haushaltskomfort: Spätzlemaschinen (Karlsruher Tagblatt 1869, Nr. 163 v. 17. Juni, 1254 (l.); Der Landbote 1904, Nr. 146 v. 13. Dezember, 4)

Das Spätzlebrett war damals noch gängig, denn es war billig, ein im bäuerlichen und handwerklichen Haushalt einfach selbst herzustellendes Hilfsmittel. Das änderte sich mit der 1904 von der Stuttgart Firma R. v. Hünersdorff Nachfolger präsentierten Spätzle-Mühle. Sie war Teil einer zunehmend auch die Hauswirtschaft betreffenden Innovationskultur, wie man zeitgleich etwa an der Einführung der badischen Kochkiste sehen konnte, die schließlich in das Leitprodukt des arbeitssparenden Selbstkochers „Heinzelmännchen“ mündete. Damals nahm die Zahl patentierter Spätzlemühlen rasch zu, so von Marie Keck aus Mannheim, Otto Maier aus Sulzbach, Emil Triebel und Erhard Schlenker aus Schwenningen und eben von Hünersdorff, der sich zudem ein Warenzeichen sicherte (Deutscher Reichsanzeiger 1905, Nr. 297 v. 18. Dezember, 12; ebd. 1912, Nr. 27 v. 29. Januar, 15; ebd. 1914, Nr. 34 v. 9. Februar, 18; ebd. 1904, Nr. 135 v. 10. Juni, 11), dennoch aber später in Patenthändel verwickelt war (Schwäbischer Merkur 1911, Nr. 558 v. 29. November, 2. S. n. 8).

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Innovative Haushaltstechnik zur Stütze und dem Export des schwäbischen Nationalgerichtes (Schwäbischer Merkur 1904, Nr. 563 v. 2. Dezember, nach 4)

Hünersdorff war ein gutes Beispiel für die vom Handel ausgehende Innovationskraft, denn die 1893 vom Kaufmann Carl Lang gegründete Firma kooperierte mit dem lokalen Metallverarbeiter und Auftragsfertiger Wilhelm Grünenwald sowie einer größeren Zahl von Entwicklern und Erfindern. Eine Schnellbuttermaschine setzte sich rasch im Ländle und auch reichsweit durch, weitere Küchenhelfer wie der ein amerikanischer Quirltopf und eine Blitzrührschüssel folgten (Deutscher Reichsanzeiger 1899, Nr. 288 v. 6. Dezember, n. 20; Fliegende Blätter 123, 1905, Nr. 3146; Beibl. 8, 4). Auch durch die Spätzle-Mühle sollte die Küchenarbeit schneller und einfacher werden: „Jedes Kind kann in 5 Minuten mehr und schönere Spätzle einlegen als seither die gewandteste Köchin in ¾ Stunden.“

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Zeitersparnis als Verkaufsargument: Werbung für Hünersdorffs Spätzle-Mühle in Haushalt und Großküche (Schwäbischer Merkur 1907, Nr. 589 v. 16. Dezember, 2. S. n. 8 (l.); ebd. 1910, Nr. 555 v. 29. November, 2. S. n. 8)

Hünersdorff stand für Massenproduktion, dafür rührte er die Werbetrommel. Die Stuttgarter Firma verkaufte vor Ort, vorwiegend aber per Versandgeschäft. In lokalen und überregionalen Zeitungen finden sich meist vierseitige mit Abbildungen versehene Beilagen, Anzeigen ebenso in Kalendern, Frauenzeitschriften und Kochbüchern. 1910 waren mehr als hunderttausend Spätzle-Mühlen verkauft. Die Firma unterstützte und förderte auch die Spätzleherstellung abseits des Südwestens (General-Anzeiger für Dortmund und die Provinz Westfalen 1905, Nr. 302 v. 2. November, 3; Kölnische Zeitung 1907, Nr. 1231 v. 26. November, 2).

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Spätzlemühlen per Versand: Werbung in der Reichshauptstadt (Haus Hof Garten 45, 1905, 433)

Ebenso wichtig wie der Versand war die Kooperation mit den großen Warenhäusern im Südwesten. Diese ermöglichten Großabsatz, zugleich aber günstige Preise. Während die Spätzle-Mühlen per Versand 3 bis 6 M kosteten, konnte man die einfachste Version bei Hermann Tietz zeitgleich für 2,65 M, im Angebot auch für 2,45 M erstehen (Badische Presse 1907, Nr. 132 v. 20. März, 12; ebd., Nr. 196 v. 29. April, 8). Gebrüder Knopf bot später die Hünersdorffsche Mühle auch preiswerter an (Der Volksfreund 1912, Nr. 54 v. 4. März, 8). Hermann Tietz hatte derweil eigene Spätzlemaschinen im Angebot, die für nur 1,95 M zu haben waren (Badische Presse 1909, Nr. 247 v. 1. Juni, 8), einige Jahre später gar mit Brett für 1,85 M (Badische Presse 1912, Nr. 124 v. 14. März, 12). Auch Knopf senkte die Preise weiter, verkaufte die Hünersdorffsche Spätzle-Mühle im Ausverkauf für nur 1,95 M (Der Volksfreund 1912, Nr. 102 v. 2. Mai, 8). 1914 waren die günstigsten Mühlen im Tietzschen Ausverkauf für lediglich 1,60 M zu haben (Badische Presse 1914, Nr. 252 v. 3. Juni, 5). Zum Vergleich: Ein Spätzlebrett mit Griff kostete damals 18 Pfg. (Karlsruher Tagblatt 1912, Nr. 133 v. 14. Mai, 4).

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Warenhäuser als Vertriebsplattformen: Spätzlebretter und -messer bei Hermann Tietz, Karlsruhe (Badische Presse 1908, Nr. 264 v. 10. Juni, 8)

Gewiss, der Preis blieb ein Argument für das Brett, gegen die Mühle – und nicht nur Sparsamkeit, sondern auch Fragen der Textur, der Form und des Geschmacks sprachen nach Ansicht vieler für die bewährte Brett-Messer-Technik. Doch angesichts derartig niedriger Preise, angesichts der Hünersdorffschen Absatzzahlen, neuartiger Passiermaschinen und Angeboten weiterer Anbieter waren Spätzlemühlen bereits vor dem Ersten Weltkrieg allgemein verbreitet. Das galt für die Städte, das galt auch für die häusliche Praxis jenseits von Schwaben.

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Haushaltstechnik für unterschiedliche Nudeln fern von Schwaben: Passiermaschine der Wiener Firma Johann Schmetz und eine Spätzlemühle des Ravensburger Versandgeschäftes Maier Landauer (Das Buch für Alle 41, 1906, n. 564 (l.); Der Volksfreund 1912, Nr. 283 v. 3. Dezember, 15)

Der Erste Weltkrieg als Bruch

Der Erste Weltkrieg bildete einen drastischen Bruch mit der tradierten Ernährungskultur. Die zunehmend schwierigere Nahrungsmittelversorgung traf allerdings vorrangig die städtischen Verbraucher. Die völkerrechtswidrige Seeblockade der Alliierten führte zu einer Übersterblichkeit von mehr als 400.000 Menschen und zu einer massiven Abmagerung der Bevölkerung. Die Sorge um die tägliche Kost war allgegenwärtig (naja, sicher nicht bei den Etappengelagen des Kronprinzen), Essen wurde zugleich ein Sehnsuchtsraum. Das war zu Beginn des Weltenbrandes noch nicht absehbar, erwartete man auf deutscher Seite doch nicht nur den Sieg, sondern auch einen nur kurzen Krieg. Die deutschen Armeen waren zwar regional organisiert, für eine regionale Kost der Kampftruppen war jedoch keine wirkliche Vorsorge getroffen. Schon während der Mobilisierungsphase vermissten die Soldaten daher vielfach ihre angestammten Speisen, die „Mehlspeisen, als da sind Spätzle, Nudel u.a. mehr“ (Badische Soldaten in Westfalen, Badischer Beobachter 1914, Nr. 283 v. 15. Oktober, 2). Vor lauter Erbsen, Graupen und Speck hatten Frontsoldaten, so hieß es, schon am Jahresende fast vergessen, „was Kässpätzle oder Rohklöße für himmlische Genüsse sind“ (W. Scheuermann, Kleine Kriegsbilder, Karlsruher Tagblatt 1914, Nr. 335 v. 3. Dezember, 7). Gängige Liebesgaben konnten diesen Mangel nicht ausgleichen, zumal die meisten Soldaten nicht kochen konnten. Was blieb, war „eine große Sehnsucht nach Dampfnudeln und Spätzle“ (Badische Landeszeitung 1915, Nr. 350 v. 30. Juli, Abendbl., 3). Die symbolische Bedeutung der Heimatspeisen nahm zu, Ehrungen verwundeter Soldaten wurden anfangs regelmäßig von gewaltigen „Portionen von köstlich duftendem Goulasch m. Spätzle“ umkränzt (Vorarlberger Volksfreund 1915, Nr. 17 v. 9. Februar, 4). Nach fast einem Jahr Massenschlachten konnte man daher fast erwartungsgemäß eine Anekdote um Kaiserin Auguste Viktoria (1858-1921) lesen, nach der diese in einem Lazarett Schwaben besucht habe, denen sie dann huldvoll Eierspätzle sandte: “Herrlich haben sie geschmeckt! So lange hatten wir keine mehr gegessen. Ich machte nach dem Schmaus ein Gedicht: ‚Die kaiserlichen Spätzle‘, und ließ es der Kaiserin übergeben“ (Die Kaiserin und die Schwaben im Lazarett, Wiesbadener Zeitung 1915, Nr. 293 v. 12. Juni, 5). Entsprechende Nahrungsgaben der Untertanen Ihrer Majestät erfolgten während des gesamten Weltkrieges, teils in der schwäbischen Heimat, durch schwäbische Vereine teils aber auch im gesamten Reich (Stuttgarter Neues Tagblatt 1918, Nr. 248 v. 18. Mai, 2).

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Einfach mit regionalen Einsprengseln: Kriegsküchenzettel vor den Hungerwintern (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 448 v. 4. September, 2)

Der symbolische Wert der Spätzle nahm während des Krieges zu – und das nicht nur auf Seiten der Soldaten. Sie malten sich aus, dass die Versorgung in der Heimat noch so sei wie früher. Ein schwäbischer Soldat fragte poemend seinen Neffen: „Doch hast Du auch unterdessen / Deine Suppe stets gegessen, / Das Gemüse und die Spätzle, / Hintendrein noch gute Plätzle“ (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 458 v. 10. September, 5). Mit gewissem Befremden nahm man zuvor Mehlsendungen emigrierter US-Schwaben zur Kenntnis, damit ihre früheren Landsleute auch weiterhin Spätzle essen konnten (Schwäbischer Merkur 1915, Nr. 250 v. 1. Juni, 14). Die globale Spätzlegemeinschaft war offenbar gefährdet. Feindschaft zeigte sich auch an kleinen Ereignissen: Wie roh etwa die Franzosen, die einem deutschen Kriegsgefangenen zehn Jahre Gefängnis aufbürdeten, weil dieser einen kleinen Posten Mehl gestohlen hatte, „um sich am Weihnachtstage Spätzle zu bereiten“ (Der Volksfreund 1922, Nr. 115 v. 18. Mai, 3).

Während die symbolische Bedeutung der Heimatkost, der Spätzle, während des Krieges wuchs, verschwand das schwäbische Nationalgericht zunehmend vom Tisch der städtischen, teils auch der ländlichen Verbraucher. Weizen und Dinkel bildeten dessen Hauptbestandteil, und Getreide war 1914 das nach den Kartoffeln wichtigste Nahrungsmittel. Während Teile der deutschen Roggenernten vor dem Krieg noch exportiert wurden, lag der Einfuhrüberschuss beim Weizen damals bei über 40 Prozent (Paul Eltzbacher (Hg.), Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan, Braunschweig 1915, 34-35). Um die Getreidevorräte zu strecken, wurden Ende Oktober 1914 dem K-Brot Kartoffeln zugemengt, zudem die Ausmahlung erhöht. Ein höherer Roggenkonsum sollte die Grundversorgung sichern. Ab dem 5. Januar 1915 musste Weizenmehl mindestens 30 Prozent Roggenmehl beigemischt werden, nur noch 10 Prozent des Weizenmehls blieb als Auszugsmehl „weiß“ (Christian Weiß, Die Versorgung der Stadt Nürnberg mit Getreide, Mehl und Brot im Weltkriege, Bd. 1, Nürnberg 1918, 13). Am 25. Januar 1915 begann schließlich die Brot- und Mehlrationierung. Es galt, „sein kleines Ich und seine eigenen Vorteile und Profitchen in dem großen Gefühl der Volkszusammengehörigkeit untergehen“ zu lassen (Stuttgarter Neues Tagblatt 1915, Nr. 44 v. 26. Januar, 2). Das traf die „allzu sorglos in ihren seitherigen Konsumgewohnheiten dahinlebende“ städtische Bevölkerung hart ([Sigmund Schott], Der Verbrauch von Brot, Mehl und mehlhaltigen Speisen in 416 Mannheimer Familien, in: Beiträge zur Statistik der Stadt Mannheim 1915, Sdrnr. 3, 21-35, hier 21). Die Masse der Backwaren wurde nämlich fertig gekauft. In Mannheim lag damals die Relation zwischen dem Kauf von Backmehl und Brot, Brötchen und Brezeln bei eins zu sieben. Gewerblich hergestellte Teigwaren umfassten bereits ein Drittel der eingekauften Mehlmengen und waren vor allem als Sonntagsgericht beliebt (Ebd., 27, 34).

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Fehlende Eier 1918 (Lustige Blätter 33, 1918, Nr. 43, 1)

Die Getreidebewirtschaftung verschlechterte die Qualität und die Menge möglicher Spätzle. Parallel explodierten trotz offizieller Höchstsätze die Eierpreise. Die Ware verschwand vom Markt, graue Märkte und Hamstern waren die Folge. Kommunale Vorkaufsrechte folgten, am 12. August 1916 setzte die Eierrationierung ein. Dadurch konnte eine Grundversorgung sichergestellt werden, nicht aber der weitere Rückgang des stark saisonalen Eierangebotes. Abseits der Zeit von März bis Juli fehlten Eier fast gänzlich – und damit auch Spätzle. Schon 1915 galt eine eiserne Sparpflicht – und erste Kriegskochbücher verzichteten auf Spätzlerezepte zugunsten solcher von Haferflocken, Maisgries und Quark (Rezepte für kriegsgemäßes Kochen, hg. v. Nationalen Frauendienst Tübingen, Tübingen 1915).

Es war allseits klar, dass man zumindest in den Städten auf „Spätzle, Nudeln und Makkaroni […] verzichten“ musste ([Frau] Philipp, Zweckmäßige Ernährung während der Kriegszeit, Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 42 v. 19. Februar, 5). Spöttisch-verachtend hieß es über die Traditionalistinnen am Herd: „Können denn die Frauen nichts kochen wie Spätzle, Dampfnudeln und Mehlklöße? Und wenn die Frauen so ganz unfähig sind, sich den Verhältnissen anzupassen, so mögen die Männer ein Machtwort sprechen. Keine Mehlspeisen mehr auf den Tisch, bevor die Friedensglocken läuten!“ (Badische Presse 1915, Nr. 122 v. 13. März, 4) Es galt anderes anders zu kochen und hauszuhalten. Als Anfang 1916 die tägliche Mehlmenge auf 200 Gramm reduziert wurde, standen viele Haushalte am Ende der vierwöchigen Markenperioden ohne Mehlspeisen da, da sie Zugeteiltes nicht einteilen konnten (Donatus Weber (Hg.), Pforzheim im Weltkrieg, seine Söhne und Helden, Pforzheim 1915-1920, 258-259). Selbst an Hochfesten fehlten seither die tradierten Mehlspeisen (Feldkirchner Anzeiger 1916, Nr. 203 v. 23. Dezember, 2). Insoweit war es folgerichtig, dass im März 1917 auch die aus Aluminium gefertigten Spätzlemaschinen und Spätzleseiher beschlagnahmt und eingezogen wurden (Wiesbadener Zeitung 1917, Nr. 110 v. 1. März, 4).

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Mit dem Charme des preiswerten Ersatzgerichts: Rezept und Küchenzettel nördlich des Schwabenlandes (Mayener Volkszeitung 1916, Nr. 169 v. 25. Juli, 3 (l.); Dortmunder Zeitung 1922, Nr. 5 v. 5. Januar, 3)

An die Stelle der tradierten Speisen traten Substitute: „Die eiserne Zeit, in der wir leben, zwingt zu ernstem Nachdenken über Dinge, die man bisher gewohnheitsmäßig hinnahm“ (Oberschwäbisches Kriegskochbuch, Riedlingen 1915, 3). Die anfangs des Krieges herausgegeben Kriegskochbücher wurden entsprechend ergänzt: Mehl war nicht mehr länger ein Getreideprodukt, sondern auch Kartoffelwalzmehl, Reis- und Kartoffelstärkemehl, gar Bananenmehl. Wichtiger aber war das Beimengen: „Auch unser Nationalgericht brauchen wir in der Kriegszeit nicht zu missen, wenn man einen Teil gekochte, geriebene Kartoffeln unter den Teig mengt, und zwar zu 250 Gramm Mehl, Wasser, Salz, 1 Ei, 150 Gramm Kartoffeln. Letztere werden erst dem fertiggeschlagenen Teig zuzugeben“ (Vier Wochenspeisezettel. Nachtrag zum Kriegskochbuch, hg. v. d. Stadtverwaltung Stuttgart, Stuttgart s.a. [1915], 22). „Spätzle“ entstanden nun auch aus Kartoffelbrei, dem man ein Ei und soviel Mehl beigab, dass der Teig hielt (Prager Abendblatt 1915, Nr. 158 v. 12. Juli, 5). Auch andere Spätzlegerichte änderten sich: Kartoffeln wurden Grundstoffe der Spätzlesuppe, sauren Spätzlen wurden übrig gebliebene Erdfrüchte beigemengt und der Dialekt – „Kartoffelspätzlein“ – ummäntelte bitter die Enge (Betty Roß, Kriegsküche, Lorch s.a. [1916], 11, 24, 36). In vielen Kriegsbüchern wurde bis Kriegsende von Eierzugaben geredet – ein Ei auf ein Pfund Mehl (Luise Hainlen, Schwäbisches Kriegskochbuch, 7. Aufl., Stuttgart 1918, 47). Doch ab 1917 tauchten in vielen dieser Hilfsbücher Spätzle nicht mehr auf, wohl aber „Kartoffelnudeln“ (Kriegsküche 1917. Von den Haushaltslehrerinnen des Schulkreises Schopfheim, Waldshut 1917, 38). Sie wurden ergänzt durch Empfehlung für „Spätzle ohne Eier“ aus einem glatt und luftig geschlagenen Wasser-Mehl-Teig (Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus 20, 1916/17, H. 124 [H. 20], 25). Gedörrte Apfel- und Birnenschnitzen oder aber selbst gesuchte Pilze traten an deren Seite, schon war die Mahlzeit, die Hauptmahlzeit fertig (Schwäbische Kronik 1917, Nr. 497 v. 23. Oktober, 10; Bonner Zeitung 1918, Nr. 42 v. 11. Februar, 3).

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Ei-Ersatz zur Herstellung tradierter Mehlspeisen (Stuttgarter Neues Tagblatt 1916, Nr. 246 v. 17. Mai, 5 (l.); ebd., Nr. 131 v. 13. März, 10)

Spätzle wurden schon ab 1915 ein Ersatzmittel. Zum einen finden wir sie als billige Beilage in Küchenzetteln auch abseits des Südwestens. Dort sollten die Mehlrationen verstärkt zum Selbstbacken und -kochen verwandt werden, um dadurch Fleisch- und Fettwaren zu substituieren (Mülheimer Volkszeitung 1916, Nr. 218 v. 20. 7, 1). Häusliche Spätzle wurden so auch im Norden gängiger. Allerdings in anderer Zusammensetzung, denn das vorhandene Mehl wurde zunehmend mit Kartoffelstärkemehl gestreckt (Wittener Tageblatt 1916, Nr. 162 v. 16. Juni, 5). Parallel gab es Werbung für zahllose Ei-Ersatzprodukte. Hunderte wurden auf den Markt geworfen, die Mehrzahl wegen falscher Anpreisungen ab 1917 immer wieder verboten. Doch hoffnungsfroh und hungrig griffen die Verbraucher zu. Mehlspeisenimitate boten ebenfalls die seit 1915 zunehmend etablierten Volksküchen (Pforzheimer Anzeiger 1915, Nr. 194 v. 21. August, 10; Vorarlberger Landes-Zeitung 1916, Nr. 297 v. 29. Dezember, 2).

Kriegsrecht und Pflichtgefühl, Niedergeschlagenheit und die Einsicht in eine strukturell verfahrene Versorgungslage hielten den Unmut bis Anfang 1917 in überschaubaren Grenzen, führten eher zu Selbsthilfe und Rechtsbruch. Spätzle mutierten zu einem Symbol des verlorenen Friedens: „Ach wenn es nur etwas mehr Weißmehl gäbe, denn feldgrau sind nicht nur unsere Krieger, sondern es werdens durch Zuschuß von Brotmehl auch unsere Spätzle!“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1915, Nr. 239 v. 15. Oktober, 3) Kritik an der Obrigkeit begleitete die Rationierungswirtschaft, denn diese dekretierte, konfrontierte die Versorgten mit Entscheidungen, ohne dass der Verbraucher „doch sein ‚Wörtle‘ reden“ durfte (Der Krieg und die schwäbische Kost, Ostdeutsche Rundschau 1916, Nr. 24 v. 30. Januar, 9-10, hier 9). Offizielle Ratschläge wurden selbst in der zensierten Presse mit Kopfschütteln entgegengenommen: „Die paar Gramm Weizenmehl, die jedem zugeteilt sind, reichen kaum dazu aus, alle acht Wochen einmal Spätzle oder Knöpfle auf den Tisch zu bringen“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1916, Nr. 113 v. 16. Mai, 2). Ab 1916 wurde die Mehl- und Spätzleversorgung auch im Württembergischen Landtag kritisiert, denn offenkundig berücksichtige sie nicht die Küchengewohnheiten im Ländle (Schwäbische Kronik 1916, Nr. 356 v. 2. August, 3-4). Partikularistische und antipreußische Gefühle machten sich Luft, da „gar keine Rücksicht auf die süddeutsche Eigenart im Kochen genommen“ (Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger 1918, Nr. 51 v. 1. März, 2) werde. Verdruss und Renitenz waren die Folge.

Das galt auch für die unmittelbaren Nachkriegsjahre, zog sich die Rationierung doch teils bis 1923 hin. Die weiterhin veröffentlichten Küchenratschläge trafen vermehrt auf Kritik: „Ja, der Hausfrauenbund soll mir doch einmal Spätzle ohne Eier vormachen, ich habe seit 6 Wochen kein Ei mehr bekommen! Und ich bitte den Hausfrauenbund, zu verraten, wie man Spätzle ohne Eier macht“ (Badische Presse 1919, Nr. 426 v. 13. September, 5). Das taten die Hausfrauen schon seit längerem, wiederholten es wieder und wieder. Spätzle ohne Eier konnten mit Mehl, Wasser und Salz gelingen, gab man ein wenig Natron hinzu (Münchner Neueste Nachrichten 1922, Nr. 251 v. 17. Juni, 23). Doch es war nicht allein der einfache Bürger, der nach der Monarchie nun auch die Republik kritisierte. In dem Beleidigungsprozess zwischen Finanzminister Mathias Erzberger (1875-1921) und dem deutschnationalen Spitzenpolitiker Karl Helfferich (1872-1924) wurde letzterer zwar symbolisch verurteilt, konnte den früheren Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission aber moralisch brandmarken: Frau Erzberger hatte 1918 ihre Beziehungen spielen lassen, um Weizenmehl zu erhalten und jubelte dann freudig: „Seit längerer Zeit konnte unser schwäbisches Nationalgericht (Spätzle) auf den Tisch kommen“ (Hannoverscher Kurier 1920, Nr. 34881 v. 16. Februar, 2). Herr Erzberger wurde ein Jahr nach dem Prozess von Freikorpsangehörigen ermordet.

Hinweise fern der Allgemeingültigkeit: Empirische Untersuchungen

Nun müssen wir auf unserer Reise neuerlich innehalten. Was wissen wir denn nun über die Spätzlekost der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Leute im 19. Jahrhundert? Zuschreibungen fanden wir zur Genüge, doch was wurde „real“ gegessen? Auch nur kurzes Nachdenken stellt die Ubiquität der Spätzle nicht nur während des Weltkrieges, sondern auch zuvor infrage. Die häuslichen Konservierungsmöglichkeiten waren begrenzt, die saisonale Abhängigkeit hoch. Getreide war haltbar, Mehl daher auch im Winter und Frühjahr verfügbar. Und die Eier? Hennen beendeten ihre Legetätigkeit damals gemeinhin im Herbst. Ab September und Oktober waren frische Eier daher selten, im November und Dezember sehr selten. Erst Anfang des Jahres nahm dann die Legetätigkeit der Hühner langsam wieder zu, „Eierschwemmen“ von März bis Mai folgten. Gewiss, es gab tradierte Konservierungsformen, etwas das Einlegen der Eier in Kalk. Bruch war die häufige Folge, ebenso ein dumpfer Geschmack. Leinöl war ein Alternative, doch solche Eier hielten nur einige Monate. Erst seit den 1880er Jahren bot Wasserglas eine bessere „chemische“ Alternative. Wann aber wurden denn die Spätzle bereitet, wenn die vor unseren Augen immer wieder hervorgehobene Frische nur selten zu gewährleisten war? Hinter „Spätzle“ verbargen sich demnach häufig Wasser-, nicht Eierspätzle.

Blicken wir nun auf zeitgenössische Erhebungen der württembergischen Ernährungsweisen. Im Königreich wurden statistische Oberamtsberichte mehrfach zu Staatskunden verdichtet, die der Ernährung langsam wachsende Bedeutung beimaßen, ohne aber mehr als Hinweise zu liefern. Was hieß denn: „Die Lebensweises des Volks ist im Allgemeinen einfach, Nahrung, Kleidung und Wohnung beschränken sich auf das nothwendige Bedürfniß, das freilich von dem Einen mehr, von dem Andern weniger befriedigt wird“? (Johann Daniel Georg v. Memminger, Beschreibung von Württemberg, Stuttgart und Tübingen 1841, 343) Auch Anfang der 1860er Jahre schrieb man nicht von einer schwäbischen Küche, sondern präsentierte unterschiedlich akzentuierte Ernährungsweisen der Ober- und Niederschwaben, auf der Alb, im Schwarzwald und in Franken. Mehlspeisen bildeten mit Ausnahme des Schwarzwaldes eine Konstante der Alltagskost, Spätzle wurden aber nur für Niederschwaben vermerkt (Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung von Land, Volk und Staat, Stuttgart 1863, 370). Mitte des 19. Jahrhunderts gab es also beträchtliche Verzehrsunterschiede innerhalb des Landes, die teils auf die unterschiedliche Nahrungsmittelproduktion, teils aber auch auf das unterschiedliche Wohlstandsniveau zurückgeführt wurden. Im Anfang der 1880er Jahre herausgegebenen Nachfolgewerk grenzten die Beamten die schwäbische Ernährung zwar von der der „vermeintlich hungerleidenden, schlechttrinkenden Mittel- und Norddeutschen“ ab, unterschieden nun jedoch sechs Landesteile, deren relative Einheit sich in unterschiedlichen Nahrungsweisen niederschlage. Die ausführlicheren Teilberichte verwiesen nun durchweg auf Spätzle resp. Knöpfle, hoben aber zugleich deutliche Veränderungen bei Mahlzeiten und Getränken hervor. Fleisch wurde überall häufiger verzehrt, ebenso Kaffee und seine Substitute, die Marktanbindung hatte deutlich zugenommen. Spätzle und Knöpfle standen dabei jedoch nicht für sich, sondern als summarische Platzhalter für Mehlspeisen insgesamt. Die Einzelberichte enthielten vornehmlich moralische Bewertungen über die Kommerzialisierung des Landes, über die wachsenden sozialen Unterschiede. Das Beschriebene wurde gleich bewertet, Kategorien wie einfach und sparsam nutzte man ohne Definition (Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung von Land, Volk und Staat, Bd. 2, T. 1, Stuttgart 1884, 113-116).

42_Ueber Land und Meer_40_1878_p692_Illustrirte Welt_26_1878_p012_Dorf_Schwaben_Sonntag_Geselligkeit

Trügerische Idylle: Sonntag in Württemberger Kleinstädten (Über Land und Meer 40, 1878, 692 (l.); Illustrirte Welt 26, 1878, 12)

Statistische Untersuchungen hatten vorrangig die Aufgabe, Not- und Problemlagen zu erkunden, staatliches Handeln grundzulegen, die seit den 1870er Jahren reichsweit steigende Zahl von Analysen der Lage auf dem Lande unterstrich dies. Lokale Einzeluntersuchungen dominierten, subjektive Eindrücke mutierten vielfach zu allgemeinen Aussagen. Dann hieß es rasch: „Die Nahrung besteht bei 80 pCt. der Bevölkerung das ganze Jahr in Suppen, Kaffee, Kartoffeln, Milch und Mehlspeisen und Brot. […Spätzle] werden aus Mehl mit Zugabe von Eiern bereitet und bilden das ganze Jahr zu allen Zeiten eine Hauptspeise, die selten auf dem Tische fehlt“ (Aufnahme über die allgemeine Lage der Landwirthschaft der Gemeinde Bisingen und des Bezirks Hechingen, in: Ermittelungen über die allgemeine Lage der Landwirthschaft in Preussen, T. 1, Berlin 1890, 617-648, hier 643). Anderseits finden sich detaillierte Beschreibungen einzelner Haushalte. Demnach bestanden Spätzle im späten 19. Jahrhundert auf dem Lande aus Wasser, 1-2 Eiern und einem Pfund Mehl. Der Teig wurde geschlagen, weggestellt, am Mittag dann „durch einen groblöcherigen Model in reichlich kochendes, gesalzenes Wasser geschlagen. […] Man brachte sie sofort aus dem Wasser auf den Tisch, bald mit Brot-, bald mit Zwiebelschnitze, das einemal mit, das anderemal ohne geriebenen Käse oder Grünzieger. Sauerkraut, Bohnen oder Obst waren beliebt dazu“ (Susanne Müller, Die Hausfrau auf dem Lande, 3. Aufl., Stuttgart 1896, 101). Spätzle waren demnach Hauptmahlzeit, keine Beilage wie in der fleischlastigen Gaststättenküche. Ähnliche Aussagen enthalten die zahlreichen Enqueten der badischen Fabrikinspektion (Uwe Spiekermann, Die Ernährung städtischer Arbeiter in Baden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert […], Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32, 1996, 453-483, hier 468-470). Spätzle waren eine werktägliche Hauptspeise, allerdings traten bei Heimarbeitern Kartoffeln, Nudeln und natürlich andere Mehlspeisen gleichrangig an ihre Seite (Karl Bittmann, Hausindustrie und Heimarbeit im Großherzogtum Baden zu Anfang des XX Jahrhunderts, Karlsruhe 1907, 235, 843). Das Land wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg kommerzialisiert, der „Einfluß der neuen, alles nivellierenden Zeit“ am Kaffeekonsum, am Milchverkauf, an der verschwindenden Tracht festgemacht (Hans Seufert, Arbeits- und Lebensverhältnisse der Frauen in der Landwirtschaft in Württemberg, Baden, Elsass-Lothringen und Rheinpfalz, Jena 1914, 64). All das sind Hinweise, nicht aber präzise Analysen. Und die zahlreichen Haushaltsrechnungen dieser Zeit enthielten nur allgemeine Kategorien, um die soziale Lage vornehmlich der Arbeiter zu erkunden. Einzelne Speisen wurden bestenfalls erwähnt, nicht aber genauer untersucht.

Das gilt selbst für die eindringliche Studie der Nationalökonomin Maria Bidlingmaier (1882-1917). Ihre 1914 durchgeführte Untersuchung zweier nördlich von Heilbronn gelegener Dörfer unterstrich die allerdings noch sehr unterschiedlich ausgeprägte Kommerzialisierung der ländlichen Ernährung. Sie war durch eine regelmäßige Speisefolge und eine Vielzahl von Mehlspeisen geprägt, ebenso aber durch Kartoffeln und die vordringenden gewerblich produzierten Nudeln. Im Bidlingmaiers stärker kommerzialisierter Heimatstadt Lauffen forderte „der Bauer die berühmten Spätzle […] ein paarmal wöchentlich“, zugleich aber war dies im arbeitsreichen Sommer oftmals nicht möglich, „weil die Herstellung der meisten Mehlspeisen zeitraubend ist“ (Die Bäuerin in zwei Gemeinden Württembergs, Stuttgart und Leipzig 1918, 89, 98). Entsprechend waren Haushaltsmaschinen vor dem Ersten Weltkrieg bereits Allgemeingut, besaßen von den 113 Haushalten doch 26 Nudel- und 5 Spätzlemaschinen (Ebd., 98). Ende der 1920er Jahre durchgeführte Betriebsuntersuchungen einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Agrarökonomen Adolf Münzinger (1876-1962) belegten dann einerseits die kontinuierliche Präsenz von Spätzlegerichten auf dem Lande, unterstrichen aber zugleich deren langsames Wegbrechen. In den Monatsspeisezetteln tauchten in sechs der Betriebe Spätzle ein bis viermal auf, während sie in zwei Betrieben nicht erwähnt wurden (Adolf Münzinger, Der Arbeitsertrag der bäuerlichen Familienwirtschaft, 2 Bde., Berlin 1929, Bd. 1, 54, 121-122, 192-193, 261-264, 343-344, 422; Bd. 2, 479-480, 629). Hinzu kamen grundlegende Veränderungen des Spätzlemehls: Nicht nur ging der Getreideanbau in Württemberg insgesamt deutlich zurück, so dass die Abhängigkeit von Importen zunahm. Zugleich verlor der Dinkel seine bis in frühe 20. Jahrhundert dominante Stellung an Weizen (Eugen Arnold, Der Menggetreidebau in Württemberg und Hohenzollern, Landwirtschaftliche Jahrbücher 93, 1944, 350-400, hier 369). In einzelnen Regionen hatte sich dieser schon weit früher als Standardmehl durchgesetzt, so etwa auf der Alb, wo vor der Aufnahme des Weizenanbaus in den 1870er Jahren Roggen, „Korn“ und „Einkürn“ angebaut und verspätzelt wurden ([Schwester] M. Alfreda, National- und Hausmannsgerichte auf der Schwäbischen Alb, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 43-45, hier 44). Parallel waren Eier durch neuartige Konservierungsmittel, verstärkte Auslandszufuhren von Kühlware und deutsche Bemühungen um sog. „Frischeier“ häufiger und in teils besserer Qualität zu erhalten. Beide Entwicklungen veränderten die Zusammensetzung der schwäbischen Nationalspeise, nicht aber die dafür verwandten Begriffe.

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Vom Dinkel zum Weizen. Getreideanbau in Württemberg 1900 und 1938 (Arnold, 1944, 369)

Folgeuntersuchungen in den 1930er und 1940er Jahren spiegelten dann gleichermaßen eine relativ ärmliche ländliche Ernährung und die Optimierungsvorstellungen der Wissenschaftler. Dem Lamento des niedergehenden Bauerntums und der zerbröselnden Küchentraditionen folgten einerseits Bekenntnisse zur wendenden Agrarpolitik des NS-Regimes (Alberta, 1934, 45) oder aber Bildungsforderungen angesichts der „Unwissenheit und Unvernunft der Landbevölkerung“ (Hans Weisser, Die Ernährungsverhältnisse der ländlichen Bevölkerung, dargestellt unter Zugrundelegung der Verhältnisse in der Gemeinde Gültstein des Oberamtes Herrenberg, Med. Diss. Tübingen, Ochsenfurt 1934, 22). Experten optimierten, veränderten damit Alltagsroutinen. Spätzle waren weiterhin werktägliche Alltagsspeisen, doch dem Vordringen von Makkaroni, Kartoffeln, Brot und Kuchen konnten sie kaum mehr Einhalt gebieten (Ebd., 14, 18). Dies bestätigten auch weitere Untersuchungen (Georg Clemm, Der Lebensstandard der Bauersfamilie im Kreise Künzelsau (Wttbg.), Landw. Diss. Tübingen 1941, 10).

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Materieller Niederschlag einer recht einheitlichen süddeutschen Küche: Aggregierte Haushaltsrechnungsdaten 1927/28 und 1937 (Spiekermann, 1997, 254)

Der Wandel der regionalen Ernährungsweisen und der reale Bedeutungsverlust des Spätzleessens auf dem Lande ist daher unstrittig. Man darf zugleich aber nicht übersehen, dass Mehlspeisen und insbesondere Teigwaren in der Zwischenkriegszeit nicht nur die schwäbische, sondern insgesamt die süddeutsche Küche von der anderer Regionen deutlich abhob. Mehr noch: Durch den überdurchschnittlich zunehmenden Konsum gewerblicher produzierter Teigwaren konnten die Mengenverluste bei Spätzlen und anderen häuslich hergestellten Speisen wahrscheinlich überkompensiert werden: Der Süden wurde in der Zwischenkriegszeit teigwarenlastiger, denn gewerbliche Teigware setzte sich hier schneller durch als im Norden und insbesondere im Osten des Reiches (Uwe Spiekermann, Regionale Verzehrsunterschiede als Problem der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räume und Strukturen im Deutschen Reich 1900-1940, in: Hans Jürgen Teuteberg u.a. (Hg.), Essen und kulturelle Identität, Berlin 1997, 247-282, hier 250).

Nationales Vordringen, neuartige Konsumformen im Südwesten: Spätzle in der Zwischenkriegszeit

Der Bruch des Ersten Weltkriegs unterminierte erstens viele zuvor übliche Konsumgewohnheiten. Ein wachsendes und sich weiter ausdifferenzierendes gewerbliches Angebot bot häusliche und außerhäusliche Alternativen, auf die man vermehrt zugriff, obwohl wieder verfügbares Mehl und Eier auch eine Revitalisierung der häuslichen Mehlspeisenküche ermöglicht hätten. Die vor dem Weltkrieg breit propagierten Vorstellungen einer Rationalisierung der Hausarbeit wurden nun modisch und vermehrt umgesetzt. Wir können dies nicht im Detail nachzeichnen, zu lang wäre die Reise. Thesenhafte Verdichtungen müssen genügen.

45_Stuttgarter Neues Tagblatt_1930_09_06_Nr418_p04_ebd_11_08_Nr524_p20_Gaststaette_Spaetzle_Wild_Regionale-Kueche

Schwäbische Speisen wie erwartet (Stuttgarter Neues Tagblatt 1930, Nr. 418 v. 6. September, 4 (l.); ebd. 1930, Nr. 524 v. 8. November, 20)

Zum einen reetablierte sich die schwäbische Gastronomie nach der Stabilisierung 1924 rasch. Spätzle mit Reh und Hasen waren vielfach unverzichtbar, wollte man pfundig essen, wollte man die Region erfahren, sich ins alte Recht setzen. Zugleich aber gelang es vielen Gaststätten, diesen Traditionalismus mit neuen Elementen aufzufüllen. Jazz, Wein und Spätzle konnten zusammenfinden, denn gerade in der Angestelltenschaft erschien das Alte morsch und verbesserungswürdig. Das im 19. Jahrhundert entstandene und gelebte Schwabenbild wurde selbst vom Mundartdichter und späteren NS-Propagandisten August Lämmle (1876-1962) in Frage gestellt (Schwäbische Kronik 1926, Nr. 78 v. 15. Februar, 5). Spätzle gehörten dazu, gewiss, blieben unverzichtbar. Doch angesichts der wachsenden industriellen Stärke des Südwestens im Maschinenbau, der Elektrotechnik und auch im Exporthandel war mehr Offenheit Teil des gastronomischen Geschäfts. Das bedeutete auch ein breiteres Angebot regionaler Spezialitäten – durchaus zu Lasten der Spätzle. Insbesondere Maultaschen drangen vor, denn sie waren variantenreicher und besser zu verfeinern, bedienten die Klaviatur vom einfachen Mahl bis zur feinen Spezialität (Stuttgarter Neues Tagblatt 1925, Nr. 508 v. 31. Oktober, 8). Generell wurde die „schwäbische Küche“ in den Gaststätten vielgestaltiger, erlaubten Fisch- und insbesondere Lammgerichte neue Nuancierungen (Schwäbischer Merkur 1928, Nr. 162 v. 5. April, 18). Spätzle wurden dagegen sowohl in der Restaurantküche als auch in großen gastronomischen Betrieben vornehmlich als Beilage eingesetzt, gerieten dadurch aber in eine Kipplage. Prototypisch etwa die Anzeige des Karlsruher Speiserestaurants Friedrichshof: Auf dessen Karte waren Spätzle nur noch eine von 19 frei wählbaren Beilagen, die mit preiswerten Eierspeisen oder mit 17 verschiedenen Fleischgerichten kombiniert werden konnten (Der Führer 1931, Nr. 272 v. 5. Dezember, 11). Eierspätzle? Oder doch lieber Pommes frites, Kroketten oder einen kleinen Salat? Das Angebot wurde umkränzt vom doppelt lockenden Slogan: „Wer seine Frau lieb hat – erspart ihr die Arbeit…“ Und versprach zugleich „Mittagessen wie zu Friedenszeiten“.

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Jazz, Schwarzwald und Spätzle (D’r Alt Offenburger 1925, Nr. 1379 v. 27. Dezember, 3)

Die südwestdeutschen Gaststätten waren allerdings recht zögerlich beim Angebot anderer deutscher Regionalspeisen. Norddeutsche, gar ostdeutsche Gerichte finden sich fast nur in der Spezialitätenküche gehobener Restaurants. Das Zusammenwachsen der Regionalspeisen erfolgte eher in den Metropolen, im Norden und Westen der Republik. Immer wieder wurde damals die Beharrungskraft des schwäbischen Magens erörtert (Ludwig Finckh, Schwäbische Familiengeschichte, Schwäbischer Merkur 1929, Ausg. v. 11. Oktober, 9). Doch offenkundigem Traditionalismus zum Trotz waren auch Schwaben bereit, auf Reisen zu kosten: „Ist die erste neue Gewöhnung überwunden, dann rutscht das landesübliche Essen von selbst herunter, und es schmeckt auch“ (Das Essen unterwegs, Hörder Volksblatt 1925, Nr. 197 v. 24. August, 6).

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Vordringen der süddeutschen Küche, inklusive Spätzle, in Westdeutschland (Dortmunder Zeitung 1924, Nr. 520 v. 5. November, 10 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1935, Nr. 477 v. 17. Oktober, 10)

Gleichwohl war die schwäbische Küche innerhalb Deutschlands ein Exportgut – wenngleich die bayerische Küche dabei eilends voranschritt (C. Heinrich, Berlin—Kosmopolis, Berliner Börsen-Zeitung 1929, Nr. 73 v. 13. Februar, 5). Schwäbischer Erfolg hing dabei nicht nur mit den Speisen, sondern auch mit schwäbischer Gruppenidentität zusammen: „Wenn sie stark genug sind, bilden sie in einer Stadt einen schwäbischen Verein oder sind Stammgäste im Restaurant ‚Schwabia‘, wo es Spätzle und andere Spezialitäten bei ungezwungener schwäbischer Unterhaltung gibt“ (Aldinger, Schwaben im Strom der neuen Zeit, Stuttgarter Neues Tagblatt 1925, Nr. 304 v. 4. Juli, 1-2, hier 2). Herkunft schuf auswärtige Märkte: „Und wenn man die Kartoffeln vor mich stellt, / Gäb ich für Spätzle eine halbe Welt“ (Jedermann, Heimweh, Württemberger Zeitung 1929, Nr. 222 v. 21. September, 15).

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Heimattreffen in der Fremde (Generalanzeiger für Bonn und Umgegend 1920, Nr. 10775 v. 31. Juni, 8)

Schwäbische Spätzle waren in der Ferne – und dann auch im Südwesten – häufig auch gewerblich hergestellte Eierteigwaren. Teigwaren hatten aufgrund ihres günstigen Preises sowohl während des Weltkrieges als auch in der Nachkriegszeit an Akzeptanz gewonnen. Das war nicht zuletzt ein Erfolg der schwäbischen Anbieter, in deren Werbung es übertreibend hieß: „Die Eiernudel, oder besser die Eierteigwaren schlechthin […] ist nun im Laufe der Jahrzehnte vom schwäbischen Volksgericht zum unentbehrlichen deutschen Volksnahrungsmittel geworden“ (Die Eierteigwarenindustrie im Remstal, Schwäbischer Merkur 1928, Nr. 196 v. 27. April, Sonderbeilage, 11-12, hier 12). Großunternehmen wie Wilhelm Hensel (Drei Glocken) oder Birkel konzentrierten sich vornehmlich auf innerdeutschen Export, nur ein Siebtel der Produktion wurde in Baden oder Württemberg verkauft (Riebele und Hörnle, Wirtschafts-Zeitung 2, 1947, Nr. 9, 1).

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Das Schwabenmädchen repräsentiert Nudeln und Makkaroni, keine Spätzle (Stuttgarter Neues Tagblatt 1932, Nr. 579 v. 10. Dezember, 27)

Anfangs handelte es sich vornehmlich um Eiernudeln, inklusive der nun schon wohlbekannten Suppenspätzle (Neuzeitliche Nudelbereitung, Bonner Zeitung 1929, Nr. 344 v. 16. Dezember, 3). Aber in den späten 1920er Jahren finden sich auch zunehmend Fertigspätzle als Standardware in großen Warenhäusern und Feinkostgeschäften (Berliner Volks-Zeitung 1927, Nr. 232 v. 17. Juni, 4).

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Spätzle als anonyme Handelsware im Warenhaus (Der Volksfreund 1928, Nr. 174 v. 27. Juli, 11)

In Warenhäusern und Fachgeschäften wurden nun auch wieder neuartige Spätzlepressen, -mühlen und -maschinen angeboten. Anfangs handelte es sich vielfach um einfache Aufsätze, die halfen, die durch die Metallsammlungen des Krieges gerissenen Lücken zu schließen.

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Einfach drücken – Eine billige, bereits vor dem Weltkrieg eingeführte Spätzlepresse (Stuttgarter Neues Tagblatt 1920, Nr. 536 v. 10. November, 4)

Doch das Angebot stieg beträchtlich, blieb zugleich billig. Es gab nun keine dominante Marke mehr, der Preisdruck begünstigte Handelsmarken, teils anonym, teils vom Fachhandel selbst beworben. Die Stuttgarter Firma Tritschler bot etwa „Fix-Fix“ für Spätzle „so gut wie von Hand“ an (Schwäbischer Merkur 1931, Nr. 103 v. 5. Mai, 4). Die häusliche Spätzleherstellung erfolgte in den Städten zunehmend mechanisiert. Derartige Haushaltstechnik stabilisierte die Präsenz einer langsam seltener werdenden Speise.

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Spielende Leichtigkeit beim Eintauchen ins Salzwasser: Neue Maschinen für ein altes Gericht (Gemeindeblatt Lustenau 1930, Nr. 39 v. 28. September, 586 (l.); Vobachs Frauenzeitung 35, 1932, H. 5, 31)

Nationalgerichte während des Nationalsozialismus – Spätzle als Ausdruck völkischer Identität

Die Zeit der Weimarer Republik haben wir rasch durchschritten, trotz einer großen und wachsenden Zahl von Quellen. Bei der NS-Zeit müssen wir etwas länger verweilen. Auch wenn die Bedeutung der Spätzle in der ländlichen Alltagskost weiter abnahm, stieg nämlich ihre Bedeutung in der Öffentlichkeit, bei Festen und in der Gemeinschaftsverpflegung neuerlich an. Der Grund war einfach, denn Spätzle drangen spätestens während der Weltwirtschaftskrise als billige und sättigende Hauptmahlzeit vor. Wie schon während des Kriegs veränderte sich parallel allerdings die Qualität der Mehlspeise. Außenwirtschaftliche und agrarpolitische Überlegungen führten 1930 zu einem neuerlichen Beimischungszwang von 30 Prozent Roggen zum Weizenmehl. Stärker noch als im Ersten Weltkrieg rief dies Proteste von Verbrauchern und auch gewerblichen Produzenten hervor: „Es sei für den Fachmann einfach unverständlich, wie man aus einem solchen Mehlgemisch unsere guten bayerischen Nudeln aller Art, schwäbische Spätzle, überhaupt gute und bekömmliche Mehlspeisen […] herstellen solle“ (Beimischungszwang von Roggen- zum Weizenmehl, Coburger Zeitung 1930, Nr. 83 v. 3. April, 3). Fertigspätzle dürften davon profitiert haben, denn der Abstand zur häuslichen Ware schwand.

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Spätzle als billiges Hauptgericht während der Weltwirtschaftskrise (Vobachs Frauenzeitung 35, 1932, H. 5, 31 (l.); Westfälischer Beobachter 1934, Nr. 61 v. 13. März, 10)

Während der NS-Zeit wurden billige Spätzle bis zum Kriegsende als Hauptmahlzeit bei Großereignissen eingesetzt. Die neuen Machthaber knüpften einerseits an das bäuerliche Erbe an, das manche im Rahmen einer völkischen Bauerntumsideologie durch ein Zurückdrängen der Moderne wiedergewinnen wollten: „Diese selben Bäuerinnen hatten und haben heute noch keinen Glauben an das ‚Künstliche‘ und ‚Käufliche‘!“ (Frieda Offinger, Gedanken und Anregungen aus der bäuerlichen Ernährung für den ländlichen Kochunterricht, Zeitschrift für Volksernährung 9, 1934, 243-245, hier 244). Zugleich aber profitierten Spätzle von ihrer Stellung als symbolisch wichtigster Speise der schwäbischen Küche. Regionalgerichte galten als Ausdruck eines vielgestaltigen Volkes, zugleich als Garant für die Kreativität und Schollengebundenheit der germanischen Rasse. Regionalspeisen und regionale Ernährung wurden Thema einer völkischen Volkskunde und der umfassend geförderten Ernährungswissenschaft. Ihnen sollte weitestgehende Beachtung geschenkt werden, sie müssten auch weiterhin bestehen bleiben (J. Schwanke, Von der Diät zur richtigen Volksernährung, Solinger Tageblatt 1936, Nr. 3 v. 4. Januar, 13) – so das Ziel etwa der Ende 1935 gegründeten Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung – Vorgängerin der heutigen Gesellschaft für Ernährung. Spätzle waren Ausdruck von Blut und Boden der Schwaben.

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Ein Volk, viele Stämme, noch mehr Regionalspeisen (Bürener Zeitung 1934, Nr. 60 v. 13. März, 7)

Dieses völkische Denken prägte auch Großveranstaltungen des NS-Regimes. Beim Deutschen Turnfest im Juli 1933 in Stuttgart bildeten Spätzle die Grundverpflegung. Die Schwaben fanden so „Geschmack am eigenen Geschmack“ (Utz Jeggle, Eßgewohnheit und Familienordnung. Was beim Essen alles mitgegessen wird, Zeitschrift für Volkskunde 84, 1988, 189-205, hier 195), während viele Besucher stöhnten: „Immer Spätzle und Spätzle. Schwierigkeiten macht es schon, wenn man sich eine Knackwurst mit Kartoffelsalat kaufen will“ (Hamburger Tageblatt 1933, Nr. 173 v. 27. Juli, 13). Doch schon bald mehrten sich in der gleichgeschalteten Presse Verweise auf wachsende Akzeptanz etwa durch Besuchergruppen der Kraft-durch-Freude-Organisation: „Spätzle, das Leibgericht der Schwaben, gibt’s allerwegen. Manchem mundete es nicht recht, anderen dagegen wieder besser“ (Mit „Kraft durch Freude“ in Heidelberg, Siegerländer National-Zeitung 1934, Nr. 183 v. 7. August, 15). Andere begrüßten die Alternative zur Kartoffel: „Spätzle gab’s. Was ist denn das? wird sicher mancher fragen. Spätzle ist etwas ganz besonderes. So etwas muß man gegessen haben“ (Eine Woche am Bodensee, Bünder Generalanzeiger 1934, Nr. 171 v. 25. Juli, 5).

Die Präsentation der vielfältigen „Nationalgerichte“ ließen das Deutsche Reich zu einer kulinarischen Erlebniswelt werden, in dem es überall Gutes gab, in dem das Eigene aber dennoch das Beste sein durfte. Das war touristisch wichtig („Nationalgericht“ gesucht!, Buersche Zeitung 1934, Nr. 218 v. 12. August, 9). Und es war Teil einer wahren Durchdringung der Volksgemeinschaft, sollten Deutsche einander doch kennen und schätzen lernen (Meyer-Scharten, Bürgergespräche, Schwäbischer Merkur 1936, Nr. 148 v. 28. Juni, 3). Doch verordnen ließ sich das nicht, Ferienkinder mussten sich an die Spätzle gewöhnen, Schwaben vermissten in der Heide dagegen ihre Spätzle (National-Zeitung 1936, Nr. 69 v. 21. März, 6; Hamburger Fremdenblatt 1935, Nr. 247 v. 6. September, 5). Für das NS-Regime spiegelte all das deutsche Eigenart und deutschen Individualismus, zugleich aber auch Empfindsamkeit angesichts des Rückbezugs auf Mutter, Kindheit und Heimat (H. Kaeser-Zander, Landkarte der Leibgerichte, Bürer Zeitung 1934, Nr. 60 v. 13. März, 7).

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Selbstbewusste Präsentation der schwäbischer Spätzleesser (Schwäbischer Merkur 1937, Nr. 36 v. 29. August, 5 (l.); Stuttgarter Neues Tagblatt 1937, Nr. 402 v. 28. August, 17)

All das sollten auch die Eintopfessen fördern, die am 1. September 1933, dem Erntedankfest, einsetzten. Dabei handelte es sich um gemeinsame Opferessen, bei dem die vermeintlich eingesparten Kosten anschließend an das Winterhilfswerk gespendet werden sollten, ja mussten. Eintöpfe und NS-Gesellschaft waren bunt, denn jede Region hatte andere Traditionen, tischte offiziell anderes auf.

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Eintopfessen im Innenhof des Heidelberger Marstalls: Linsen mit Spätzle und Speck (Heidelberger Neueste Nachrichten 1936, Nr. 239 v. 12. Oktober, 3)

In Baden galten Spätzle als das erste Eintopfgericht, es folgte Gaisburger Marsch (Heimatliche Eintopf-Essen, Durlacher Tagblatt 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 3; Hamburger Tageblatt 1934, Nr. 3 v. 4. Januar, 10). Wieder und wieder weitete sich das öffentlich propagierte Eintopfangebot, etwa auf Heilbronner Böckinger Feldgeschrei oder Kartoffelschnitz mit Spätzlen („Der Knöpflesschwab“ zum Eintopfsonntag, Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 579 v. 11. Dezember, 4). Eintopfessen wurden aber nicht nur öffentlich, sondern zumeist privat, auch in Gaststätten durchgeführt. Die Zutaten dieser staatlich verordneten und häufig nicht praktizierten Zwangsessen fand sich in den Angeboten des Handels, darunter vermehrt auch Fertigspätzle. Offenbar wurde nicht nur das Verständnis für regionale Ernährungsweisen geweckt, für das gemeinsame Essen aus einer Schüssel wie im Bauernhaus Anfang des 19. Jahrhunderts.

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Spätzleangebot für Eintöpfe wie Gaisburger Marsch – Hermann Tietz war zuvor zu Union „arisiert“ worden (Badische Presse 1938, Nr. 310 v. 10. November, 16)

Parallel machten all diese Gerichte auch in der Gemeinschaftsverpflegung Karriere, deren Bedeutung insbesondere mit der forcierten Aufrüstung massiv zunahm (Theod[or] Diesch, Nationalgerichte für die Großküche, Zeitschrift für Volksernährung 11, 1936, 187-188). Einfache regionale Gerichte, billige, ab und an auch rein pflanzliche Gerichte waren ein wichtiges Element der Verbrauchslenkung und praktizierter Sparsamkeit in der Küche. Dafür diente auch der Rundfunk, in dem für die heimischen Spätzle geworben wurde: „Frankfurter Werscht und Stuttgarter Spätzle!“ „Spätzle und Knöpfle“, „Bayerische Knödel – Schwäbische Spätzle“, „Knödel oder Spätzle“, „Was ist besser als Spätzle?“ waren Titel von NS-Kochsendungen, die eine Revitalisierung der Kernspeise der schwäbischen Küche propagierten (Mittelbadischer Kurier 1935, Nr. 43 v. 20. Februar, 4; ebd., Nr. 190 v. 17. August, 7; Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 94 v. 3. April, 8; Der Albtalbote 1937, Nr. 25 v. 30. Januar, 5; Durlacher Tagblatt 1939, Nr. 46 v. 23. Februar, 6). Auch die Auslandsschwaben stimmten hierbei ein – und Spätzle wurde im Ausland nun vielfach als deutscher Kulturmarker aufgeladen („Spätzle“ im Urwald Brasiliens, General-Anzeiger für Bonn und Umgegend 1934, Nr. 15675 v. 27. Oktober, 11). Schließlich war Stuttgart damals die Stadt der Auslandsdeutschen und die Spätzlekultur im Ausland wurde auch als Teil einer deutschen Irredenta verstanden.

Der Zweite Weltkrieg oder weiteres Abebben regionalen Ernährungskultur

Während des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Alltagsernährung neuerlich – auch wenn die Machthaber bestrebt waren, die Rationierung an die regionalen Verzehrsgewohnheiten anzupassen: Dennoch hieß es warnend-vorbereitend: „Der landesübliche Speisezettel beginnt, in seinen entscheidenden Stücken keine Gültigkeit mehr zu haben; der neue Speisezettel ist nicht landesüblich oder landsmannschaftlich bedingt, er empfängt mehr und mehr Form und Inhalt von den dem ganzen deutschen Reichsgebiet gegebenen Verbrauchsmöglichkeiten“ (Wandel in der Ernährungsweise, Die Rundschau 37, 1940, 150-152, hier 150). In Württemberg bedeutete dies mehr Kartoffeln, mehr fertige und hausgemachte Teigwaren, auch Spätzle als fleischloses Hauptgericht. Die Rationierung von Mehl und Eier, Milch und Fett begann schon kurz vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939. Die verfügbaren Mengen sanken, erlaubten aber weiterhin eine Mehlspeisenküche (ebd., 151-152).

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Regional, einfach und schollengebunden: Schwäbischer Kriegsküchenzettel in der ersten Kriegsphase (Stuttgarter Neues Tagblatt 1940, Nr. 309 v. 9. November, 16)

Verglichen mit dem Ersten Weltkrieg war der Übergang in die Rationierungswirtschaft relativ moderat. Seit 1936 hatten Küchenzettel eine einfache „schwäbische“ Kost mit wenig Fleisch und mehr Fisch, mit Haferflocken, Quark, viel Gemüse und kaum Genussmitteln propagiert. Daran knüpfte man an, nutzte Spätzle als fleischloses Hauptgericht bzw. als geröstete Restespeise nach einem Fleisch-Spätzle-Mittagsmahl. Neben Kartoffelspätzlen traten insbesondere Krautspätzle ohne Eier (Auch im Kriege gut gekocht, Das kleine Volksblatt 1944, Nr. v. 13. August, 9). Eier durften schon ab dem 1. Januar 1940 nicht mehr für die Produktion von Teigwaren verwandt werden (Zur Teigwaren-Marktordnung, Leipziger Fachzeitung für Bäcker und Konditoren 52, 1940, 137-138). Eierspätzle konnten daher nurmehr häuslich, in Gaststätten oder in der Gemeinschaftsverpflegung zubereitet werden.

Die Kriegsplaner hatten für diesen Fall allerdings vorgesorgt, denn mit den in Stuttgart entwickelten Magermilchaustauschstoff Milei gab es seit Ende 1938 ein Eiersatzmittel, das während des Krieges Milliarden von Eiern substituierte. Bis zur totalen Niederlage waren „Spätzle“ daher verfügbar – wenngleich mit deutlich veränderter Textur. Auch in der Alltagspropaganda bediente man sich immer wieder der Spätzle als „Soulfood“, als virtuellem Schmierstoff des Durchhaltens: „Es gibt ‚Spätzle‘ zu Abend, die so geraten sind, wie es nicht anders sein kann in einer Stadt in Schwaben“ (Unter dem höchsten Kirchturm der Erde, Hamburger Fremdenblatt 1944, Nr. 111 v. 22. April, 3). Und selbst als im April 1945 die 94prozentige Ausmahlung des Weizenmehls dekretiert wurde, versicherten die Zeitungen beruhigend: Auch „Spätzle, Nockeln, Knödel und Klöße […] lassen sich aus diesem Weizenmehl herstellen“ (Schwerter Zeitung 1945, Nr. 76 v. 7. April, 2).

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Spätzle bis zur totalen Niederlage – dank des Ei-Austauschstoffes Milei (Der oberschlesische Wanderer 1943, Nr. 217 v. 9. August, 4 (l.); Völkischer Beobachter 1945, Nr. 22 v. 26. Januar, 3)

Gebrochene Erinnerungskultur – Sehnsuchtsspeise und Heimat im Kühlregal

Wir könnten hier enden – doch angesichts der Wortzählungen in den Tageszeitungen steht uns beim letzten Stück des Weges ja noch ein weiterer Wiederaufstieg zumindest der benannten Spätzlekultur bevor. Die Alltagsernährung war in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings entbehrungsreicher als während des Weltkrieges. Nun fielen die Entnahmen aus den besetzten Gebieten weg, mit deren Hilfe die Rationierung bis Ende 1944, teils bis Anfang 1945 grundsätzlich stabilisiert wurde. Ganz spätzlelos war diese Zeit allerdings nicht. Warum sonst hätte sich die Rüstungsschmiede Luftschiffbau-Zeppelin G.m.b.H. in Friedrichshafen nun wohl auch „auf ‚Spätzle‘-Pressen spezialisiert“? (Bote vom Untersee 1945, Nr. 87 v. 30. Oktober, 3)

Während der Alltag von Hunger und den schon während der NS-Zeit gängigen grauen und schwarzen Märkten geprägt war, bemühten sich die Besatzungsmächte, durchaus zu Lasten ihrer eigenen Bürger, eine Hungerkatastrophe zu verhindern. Regionale Ernährungsweisen behielt man dabei durchaus im Blick, warum sonst hätten Badener und Württemberger 1946 über das jeweilige Mehl streiten sollen? Die Württemberger erhielten nämlich Type 1050, um „weiterhin ihre altgewohnten ‚Spätzle‘ essen können“, während den Badener hochausgemahlenes Mehl Type 1950 zugemutet wurde (Für Baden nur Schwarzmehl?, Badische Volksstimme 1946, Nr. 21 v. 21. September, 4; Was wir nicht verstehen, ebd., Nr. 30 v. 21. November, 3 [Zitat]). Spätzle waren seltene Ausnahme, ein Abklatsch des früheren Gaststättenmahles. Nun dominierten Nährmittel, wurde gegen den Hunger gar Mais ausgegeben. Spätzle gewannen dadurch im brüchigen Nachkriegsfrieden eine neuerliche Aufladung als Erinnerung und Sehnsuchtsraum. Die Speise als solche trat zurück, deren Herkunft, deren Einbindung in vergangenes Leben. So konnte ein Vater vom Vorkriegs-Freiburg erzählen, vom dortigen Überfluss an Schmalzküchle, Krapfen und Spätzle – und „dann sagen die Kinder oft ungläubigen Blicks: Ja, Papa, hat es das wirklich einmal gegeben?“ (Das gabs einmal, Südkurier 1948, Nr. 33 v. 30. April, 3). Ähnliches bei den Flüchtlingen, den Vertriebenen, nun den deutschen. „Ostflüchtlinge“ wurden im Remstal in der „Väter Heimat“ begrüßt, Sauerkraut mit Kesselfleisch und Spätzle als Festessen gereicht (Adam Heller, Empfang der Heimkehrer, Südwestdeutsche Volkszeitung, 1946 v. 2. Oktober, 4). Spätzle waren rar, zugleich aber auch Teil erster Festessen (Eustachius Deindemüller, Karlsruher Gschwätzgebabbel, Badische Neueste Nachrichten 1947, Nr. 117 v. 4. Oktober, 3).

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Spätzle als Hoffnungsanker der Nachkriegszeit – Anzeige von Schüle-Hohenlohe und ein Rezept mit Milei oder Eiern (Stuttgarter Rundschau 1, 1947, H. 5, 29 (l.); Lina Trunk-Kälble, Einfach und Gut. Ein zeitgemäßes Kochbuch, Karlsruhe 1947, 47)

Über deren Qualität, deren Zusammensitzung wissen wir wenig. Den heutigen EU-Richtlinien entsprachen sie sicher nicht, denn noch 1947 hieß es ohne Ironie: „Man nehme: Mehl, Wasser und mache daraus […] Spätzle“ (Rezepte für die Küche, Das Neue Baden 1947, Nr. 20 v. 4. Juli, 5). Doch besseres war möglich, vorausgesetzt man krempelte die Ärmel hoch, vergaß die unselige NS-Zeit, verbrüderte sich mit den neuen Herrschern. Gebrochen, gewiss, denn natürlich finden sich nun wieder Geschichten von den schwäbischen Migranten in den USA, der hilfreichen Besatzungsmacht. Da las man vom altschwäbischen Brauereimillionär, dessen Tochter ihn mittäglich mit den „alten Leibspeisen“ versorgt: „Spätzle und Sauerkraut, Blut- und Leberwürste, Bohnen und Knöpfle, und der ‚Amerikaner‘ läßt sie sich schmecken“ (Schwarzwald wieder Reiseland, Badische Tagblatt 1948, Nr. 121 v. 25. Dezember, 8). Schwoab bleibt Schwoab, so die dahinterstehende Denkweise, Blut- und Bodenmystik mit Spätzlen und Blutwurst, herübergetragen in die neue Zeit, Demokratie geheißen.

Die Normalisierung der Verhältnisse erfolgte langsam, doch bekanntermaßen lag der Kapitalstock des neuen deutschen Staates höher als vor dem Weltkrieg, allen Verwüstungen, all dem Schlachten zum Trotz. Die Teigwarenindustrie des Südwestens nutzte schon ab spätestens 1946 ihre Kapazitäten wieder voll aus, auch wenn die vermeintliche Qualitätsware der Vorkriegszeit noch auf sich warten ließ: „Trotzdem erreicht der Verzehr im Südwesten in den Haushalten nicht die alte Höhe, denn mit dem bitter entbehrten Weißmehl fehlt in die Familie, wie am Stammtisch, die Hausmacherware. […] Die Kundschaft des Augenblicks ist eine Kundschaft des Mangels in den Haushalten. Wenn die Verhältnisse sich normalisieren, wird wohl der größere Teil der Haushalte für seinen Hauptverbrauch zur hausgemachten Ware, in anderen Gegenden zur Kartoffel zurückkehren“ (Riebele, 1947). Derartige Vorhersagen erfüllten sich nur zum Teil, auch wenn spätestens ab 1950 wieder Spätzlerezepte mit drei Eiern pro Pfund gedruckt wurden – und auch Hartkäse für die Käsespätzle verfügbar war (Offenburger Tageblatt 1950, Nr. 126 v. 14. September, 5).

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Lastzüge für den urbanen Haushalt, inklusive Suppen- und Fertigspätzle (Badische Neueste Nachrichten 1952, Nr. 260 v. 7. November, 6)

Während nun wieder die alte schwäbische Küche gepriesen wurde und man sich des von Weizen größtenteils ersetzten Dinkels volkskundlich erinnerte, stabilisierten sich die regionalen Besonderheiten auf allerdings niedrigerem Niveau (M. Schmidt-Thiele, So ißt man in Schwaben!, Natur und Nahrung 4, 1950, Nr. 7/8, 19-20; Gerhard Endriss, Speis und Trank in Ulm an der Donau, Alemannisches Jahrbuch 1953, 349-375, hier 350-351). 1950/51 lag der Mehl- und Nährmittelkonsum in der bäuerlichen Bevölkerung mit 57 kg pro Kopf und Jahr zwei bis dreimal höher als im Bundesgebiet, hatte sich aber gegenüber der Vorkriegszeit deutlich reduziert. Zudem variierte er zwischen den Landesteilen um den Faktor Fünf. Kartoffeln (107 kg), Brot (136), Milch (199) und Most (über 25) prägten die Kost, auch Eier (209) erreichten Werte, die nur leicht unter dem heutigen Durchschnittskonsum lagen (Angaben n. E[lfriede] Stübler und G[ertrud] Posega, Beiträge zur Ernährung in der Landwirtschaft, T. I: Der Nahrungsmittelverbrauch in 84 Betrieben Württembergs im Jahre 1950/51, Frankfurt a.M. 1954, 23-38).

Normalisierung war angesagt, Wiederaufbau, neuerliche Weinseligkeit und Spätzleglück (Karl Lerch, Spätzle-Brevier, Tübingen 1962). Das war wahrlich nicht unlauter, doch es war begleitet von irrealen Kontinuitätsvorstellungen aus pseudwissenschaftlichem Munde: „Auch wenn unsere großen Restaurants längst internationale Speisekarten haben, wenn Paprika und Oliven, Schaschlik und Fondue auch in die schwäbischen Haushalte vorgedrungen sind – im Grunde genommen hat sich die schwäbische Küche in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nur wenig verändert“ (Irmgard Hampp, Proben aus der schwäbischen Küche, in: Peter Assion (Hg.), Ländliche Kulturformen im deutschen Südwesten, Stuttgart 1971, 95-105, hier 95). Spätzle blieben Teil der Gaststätten- und Feierkultur, wurden verspeist, umrahmt von immer mehr Fleisch. Daten über die häusliche Herstellung von Spätzlen sind mir nicht bekannt, doch es ist realistisch anzunehmen, dass sie seltener wurden, ihre Hauptspeisefunktion größtenteils verloren – und all das ohne tiefgreifende Veränderungen auf der symbolischen Ebene.

Das wurde durch Unterschiede zwischen verschiedenen Bundesländern auch gestützt. Eine Sonderauswertung der Einkommens- und Vermögensstichprobe verglich 1969 die Mengeneinkäufe von NRW einerseits, Baden-Württemberg und Bayern anderseits: Im Süden kaufte man 1,8-mal mehr Teigwaren und 2,3-mal mehr Weizenmehl und -grieß (Regionale Aspekte der Aufwendungen für Nahrungs- und Genußmittel, Wirtschaft und Statistik 1972, 595-597, hier 595). Spätere, leider nicht wirklich vergleichbare Untersuchungen in den späten 1980er Jahren bezifferten die Unterschiede im Mengenverzehr von Nährmitteln zwischen West und Süd auf ca. 1:1,5 (H[elmut] Heseker u.a., Lebensmittel- und Nährstoffaufnahme Erwachsener in der Bundesrepublik Deutschland, Niederkleen s.a., 100-101). Untersuchungen Mitte der 1970er Jahren bezifferten den Teigwaren- und Mehlspeisenkonsum in Baden-Württemberg bei jährlich etwa mehr als 15 kg pro Kopf und Jahr, etwa 45 Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt (Karl Lersch, Spätzle – eine schwäbische Delikatesse, Der Verbraucher 1977, Nr. 8, 26-27, hier 27).

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Gewerbliche Spätzlenudeln, präsentiert im nostalgischen Kleiderstaat (Der Verbraucher 1977, H. 8, 27)

Spätzle als Delikatesse? Aus der Alltagskost einfachen Bauern und Kleinbürger im frühen 19. Jahrhundert war Mitte der 1970er Jahre ein gut zu vermarktendes Produkt geworden. Als käufliche Teigware, als häuslich bereitetes Resultat neuer Kennerschaft und als unverzichtbarer Bestandteil einer gleichermaßen frischen wie gesetzten Fest- und Freizeitkultur behaupteten sich die Spätzle, bauten ihre symbolische Bedeutung als schwäbische Speise nochmals auch – neben den Maultauschen, der Flädlesupp, den Schupfnudeln und anderen längst gewerblich produzierten Convenienceprodukten und Fertigwaren. Die einschlägige Vermarktung verstärkte sich mit der 1972 einsetzenden Nostalgiewelle, zielte auf den Kauf dieser Produkte, auf den Verzehr im Rahmen der Gemeinschaft. Das ging einher mit einer langfristig sinkenden Zahl erst von Verwandten, dann von Arbeitskollegen, der dadurch naheliegenden Integration in virtuelle und kommerzielle Gemeinschaften. Spätzle als Soulfood stand dabei Seit an Seit mit vielen anderen regionalen Delikatessen, die eben nicht mehr nur zuhause gekocht oder im Gasthaus verspeist wurden, sondern die in gehobener Großküchenqualität und als Fertigwaren konsumiert wurden. Es ging, wie schon vielfach zuvor, um ein Gefühl, um einen Heimatsanker. Nicht umsonst präsentierte Birkel zum hundertjährigen Jubiläum 1974 das „Nudel-Jubiläum“, eine Schallplatte mit den schönsten Schwabenliedern „neu arrangiert“.

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Einführung von „urschwäbischen“ Spätzlen bei Denner (Aldi) und „Frischeei-Spätzle“ bei Migros in der Schweiz (Thuner Tagblatt 1975, Nr. 60 v. 13. März, 15 (l.), Wir Brückenbauer 1975, Ausg. v. 14. November, 17)

Parallel begannen hierzulande, aber auch in der Schweiz, umfangreiche Marketingbemühungen, um lebensmitteltechnisch verbesserte Spätzle als Discountware zu etablieren. Einfache Nudeln waren halt schon recht fad, den so lange dominierenden Band- und Suppennudeln, den simplen Makkaroni und Spaghetti konnte daher „Hausmacherart“ urschwäbisch an die Seite gestellt werden. Das passte zum wachsenden Angebot, zum Verkaufsflächenwachstum großer Filialbetriebe und SB-Supermärkte.

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Erwärmen statt Schaben: Tüten- und Kühlwaren in der Schweiz (Brückenbauer 1995, Nr. 41 v. 11. Oktober, 42 (l.); Walliser Bote 2018, Nr. 209 v. 11. September, 7)

In deren Verkaufsensembles konnte man Waren aber nicht allein kundennah aufstellen, sondern im Rahmen vielfältiger Sonderveranstaltungen gezielt vermarkten. Frische wurde durch Kühltechnik und schonende Verarbeitung garantiert, die Tradition war vergessen bei Spätzle nach traditioneller Art. In den letzten zwei Jahrzehnten differenzierte sich auch dieses Untersegment immer mehr aus, schwand der Anteil der Trockenware, stieg der vorgekochter Kost, die schließlich als gekühltes Fertiggericht in einer Minute in eine schwäbisch-ländliche Mehlspeise umzuwandeln war.

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Fix & fertig in ca. 1 Minute: Landfreude-Fertigspätzle im Kühlregal eines Aldi-Marktes 2024 (Foto: Stefanie Waske)

Selbstverständlich blieb es nicht allein beim Billigsegment. Denn ausgehend von Naturkostläden, Reformhäusern und zunehmend auch dem Feinkostsegment entwickelte sich parallel eine Bewegung hin (oder auch zurück) zu echten Spätzle, zu Handarbeit, zum Widerstand gegen die Billigware. Regionale Speisen unterstützen vermeintliche Kennerschaft, demonstrieren auch heute noch bürgerliche Identität. Und davon will ich mich nicht völlig ausnehmen…

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Spätzlerealität 2024: Ein Blick in meinen Haushalt (Fotos: Uwe Spiekermann)

Selbstbeschreibungen heute

Wir haben unsere Reise quellennah angelegt, uns nicht abgearbeitet an den gängigen Aussagen einer „Fachliteratur“, die das Schwäbische preist und Aussagen über Spätzle und ihre Geschichte darbietet. Ich füge lediglich drei fast beliebig herausgezogenen Aussagen an:

  • „Die Rezepte und Fertigungsmethoden werden jeweils von der Mutter auf die Tochter überliefert, und keine schwäbische Hausfrau würde je die Spätzle für ihre Lieben fertig kaufen. Selbst die vielen modernen Spätzlemaschinen akzeptiert sie häufig nicht“ (Gisela Allkemper, Schwäbische Küchenschätze, Münster 1982, 48).
  • „So wie es aussieht, sind sie [schwäbische Spätzle, US] das einzige Produkt, das die Schwaben im 21. Jahrhundert noch genau so machen werden wie vor 700 Jahren“ (Josef Thaller und Bruno Hausch, Original schwäbisch, Weil der Stadt 1996, 6).
  • „Es ist nicht vermessen zu sagen, dass sich still und leise »Spätzle« zu der deutschen Nudel schlechthin entwickelt hat. Auch wenn andere Nudelsorten hergestellt und verzehrt werden, haftet ihnen wie »Spätzle« kein »Aushängeschild« an, sprich ein Oberbegriff, der typischerweise nur aus Deutschland kommt“ (Christoph Sonntag, Schwäbische populäre Irrtümer. Ein Lexikon, Berlin 2006, 205).

Ich erspare Ihnen den Kommentar, denn Sie selbst sind durch die gemeinsame Reise urteilsfähiger geworden. Derartige Aussagen charakterisieren unsere Lebenswelt genauso präzise wie Fertigspätzle aus dem Tiefkühlregal, die Spätzle- und Kartoffelpresse für 49,90 € von Manufactum und das schenkelklopfende Spätzle-Brevier von Karl Lerch, in dem ein Schwaben gefeiert wurde, in dem es den Nationalsozialismus nie gegeben hat. Wozu nachdenken, ergötzen wir uns doch lieber im Hier und Jetzt an einer fast beliebig aufladbaren Regionalspeise, erzählen uns wechselseitig Geschichte(n), deren Wahrheit ohnehin niemand kennt oder kennen will.

Heimat und neue Heimaten

Der Volkskundler Konrad Köstlin sprach einst vom „Maultaschen-Syndrom“, einer Form der Umdeutung und Neuformierung unserer Vorstellungen über die kulinarische Vergangenheit. Er tat dies ohne rechten Sinn für die treibenden Kräfte einer kapitalistischen Gesellschaft, für die kommerziell motivierten Neudefinitionen aller Bereiche „unseres“ Lebens. Am Beispiel der Spätzle kann man nachvollziehen, wie eine in ein bäuerlich-ländliches Lebens- und Arbeitsgefüge integrierte Speise herausgezogen, isoliert und symbolisch aufgeladen wurde. Aus uns kaum mehr nachvollziehbaren Lebenssituationen voller Arbeit und Armut, Lebensfreude und Verausgaben stammend, boten Spätzle einerseits einen Identitätsmarker für Menschen aus relativ rückständigen agrarischen Regionen, der ihnen kulturellen Wert in einer ganz anders urteilenden Welt zuschrieb. Anderseits wurde die innere Dynamik der spezifisch schwäbischen Mischung aus Enge und Erfindergeist, aus protestantischem Eiferertum und wachsendem wirtschaftlichen Erfolg, aus dem Verlust hunderttausender Migranten und dem adaptiven Leben im Grenzland des Südwestens durch dieses Symbol besser handhabbar. Schwaben wurde(n) so berechenbar und friedlich, ein Raum gemütlichen Schwelgens und spießbürgerlicher Begrenztheit.

Zugleich aber bot das symbolische Kapital der Spätzle neue Möglichkeiten der Marktbildung: Spätzle dienten als Sprungbrett für neue Haushaltstechnik, für neue Angebote in Gaststätten und Restaurants, für neue gewerbliche Lebensmittel. All dies veränderte den Alltagskonsum der Spätzle. Doch das minderte ihre Bedeutung nicht, im Gegenteil. Die Schwaben hielten fest an ihrer zunehmend nur noch symbolischen Tradition, beschworen eine Vergangenheit, die es so nur selten gegeben hat. Die Fremden ließen sich darauf ein, zumal sie selbst sich in ähnlichen Häutungen befanden. Der Höhepunkt des Spätzlekultes lag in den 1930er Jahren, als die nationalsozialistische Geschichtspolitik Schwaben und Spätzle in einen nicht nur kommerziellen, sondern eminent völkischen Kontext stellte – getragen vom Selbstbild der Region, vom Fremdbild der Volksgemeinschaft. Zugleich aber wurde die Tradition, wie schon im Ersten Weltkrieg, sozial geadelt. Armut und Enge mutierten zu schollengebundener Einfachheit, wurden Teil der Bereitschaft und Fähigkeit zum Opfer für Sieg und Nation. Dass dabei die Spätzle zeitweilig abhanden kamen, im Ersten Weltkrieg mangels Mehls und Eiern, im Zweiten Weltkrieg aufgrund substituierender Kartoffeln und neuer Ersatzmittel, irritierte nur wenig, denn die echten Spätzle, sie würden wiederkommen als Teil des Sieges, als Lohn zeitweiligen Verzichtes.

Schwaben entwickelte sich nach der totalen Niederlage zu einer in der Tat prosperierenden Region, in der die Spätzle Teil der Festkultur blieben. Während selbstbereitete Spätzle als Teil des gelebten Ernährungsalltags zunehmend verschwanden, gewannen sie als Teil der Festkultur, als fertiges Convenienceprodukt und als stets möglicher Gesprächsgegenstand neue Kraft – mehr als je in der historisch nachweisbaren Vergangenheit. Als integrales Element moderner Bereicherungsökonomie und als Identitätsanker in einem überdurchschnittlich von Zuwanderung geprägten Land sind Spätzle heute nicht nur im Südwesten unverzichtbar.

Heimat ist käuflich geworden, denn im Schwabenland, wie anderswo, ist deren öffentliche Kontur kommerznah reduziert. In den schwäbischen Communities in Berlin, Köln und New York zelebriert man bis heute Spätzle und (teils) Braten, trinkt Tannenzäpfle, feiert Fasnacht. Fremde können sich dabei einreihen, zeitweilig Teil einer freudig agierenden Gemeinschaft werden. Das Spätzle-Syndrom kann morgen jedoch schon wieder abgeworfen werden, hebt nur, belastet nicht. Es kann neu aufgeladen werden beim Besuch auf dem Oktoberfest um die Ecke, beim Türken oder Chinesen, in sensiblen Veganergruppen oder neuen Bowl-Gemeinschaften. Jeden Tag eine neue Heimat, Teilhabe allüberall: „Was Vaterland? Haha, ha, ha! / Mir ist, weil ich erfahrner bin, / Die ganze Welt mein Vaterland. / Wo für mich Brod und Ehre ist, / Da ist mein Vaterland!“

Uwe Spiekermann, 31. Januar 2024