Aufbruch in die Konsumgesellschaft. Das deutsche Kaiserreich als Experimentierfeld moderner Konsummodelle

„Das Buch der Geschichte findet mannigfaltige Auslegung“ (Heinrich Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung, in: Ders., Historisch-kritische Gesamt­ausgabe der Werke, Bd. 10, Hamburg 1993, 301-302, hier 301). Diese Sentenz Heinrich Heines charakterisiert trefflich die unterschiedli­chen Haltungen der historischen Forschung, wenn es denn gilt, Anfänge und Durch­setzung der sog. „Konsumgesellschaft“ zu bestimmen. In der internationalen Kon­sumforschung werden ihre Anfänge zumeist ins England des späten 18. Jahrhunderts verlegt. Carole Shammas, Margit Schulte-Beerbühl, Neil McKendrick, John Brewer und insbesondere Maxine Berg haben die Konturen dieser bürgerlich geprägten, aber auch auf die große Mehrzahl der sog. Unterschicht ausstrahlenden „Consumer So­ciety“ präzise gezeichnet. Jan de Vries hat in seinen zahlreichen, unlängst bis in die Gegenwart fortgesetzten Studien zur „industrious revolution“ zugleich ein Modell vor­gestellt, mit dem Haushaltsökonomik, Marktproduktion und die familiären Kon­sum­bedürfnisse dynamisch gekoppelt wurden (Jan de Vries, The Industrious Revolution. Consumer Behaviour and the Household Economy, 1650 to the Present, New York 2008). Bedürfniswandel und Konsummög­lich­­keiten waren demnach entscheidend für den Take-off in eine Welt industrieller Pro­duktion, in deren Mittelpunkt mit der Textilproduktion der damals wichtigste gewerb­liche Konsumgüterbereich stand.

Die deutsche Konsumgeschichtsforschung hat deutlich andere Akzente gesetzt. Sie zeichnet sich einerseits durch eine wahrlich überraschende Selbstbezüglichkeit aus. Christian Kleinschmidts schmales Bändchen „Konsumgesellschaft“ verzichtet prak­tisch auf die Rezeption der internationalen Forschung und nimmt selbst große Teile der deutschen kulturanthropologischen und auch historischen Forschung schlicht nicht zur Kenntnis (Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008). Auch das von Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp vorgelegte Handbuch „Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990“ kon­zent­riert sich – bei allen Verdiensten – vornehmlich auf eine Zusammenschau der bishe­rigen deutschen Forschung (Heinz-Gerhardt Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. und New York 2009). Ist damit die hiesige Konsumgeschichte erstens durch Rezeptionsdefizite gekennzeichnet, so zeichnet sie sich zweitens durch eine starke Fokussierung auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts aus (vgl. auch Frank Trentmann, The Long History of Contemporary Consumer Society. Chronologies, Practices, and Politics in Modern Europe, Archiv für Sozialgeschichte 49, 2009, 107-128). Auch kritisch rückfra­gende Studien, wie etwa die von Michael Wildt oder Arne Andersen, basieren para­doxerweise auf dem Narrativ des Wirtschaftswunders, des Andockens des verlo­ren­en Sohnes (West-)Deutschlands an die dominante Entwicklung des westlichen Konsummodells. Es handelt sich um einen eigenartigen Nachhall der Sonderwegs­these: Das ökonomisch arme, relativ spät industriell entwickelte Deutsche Reich habe zwar Vorformen einer modernen Konsumgesellschaft entwickelt, sei aber durch die Kriegs- und Krisenerfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschei­dend zurück­geworfen worden. Erst der materielle Wohlstand der Nachkriegszeit habe dann zu einer irreversiblen, in sich aber problematischen Adaption der Konsummo­derne ge­führt.

Diese These wird besonders prononciert von dem Technikhistoriker Wolf­gang König vertreten. In seiner die Forschungsliteratur nur ansatzweise und einseitig rezipierenden „Kleinen Geschichte der Konsumgesellschaft“ heißt es pointiert: „Die Konsumgesellschaft ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts“ (Wolfgang König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2008, 9). In den USA könne man seit den 1920er, in Westdeutschland erst seit den 1960er Jahren von einer Konsumgesellschaft sprechen. König gibt zahlreiche, sich teils widersprechende, teils tautologische Kriterien für diese Periodisierung; doch diese lassen sich überprüfen: „In der Konsumgesellschaft konsumiert ein überwiegender Teil der Bevölkerung deutlich über die Grundbedürf­nisse hinaus. Dabei stehen neuartige, kulturell geprägte Konsumformen im Mittel­punkt, wie der ubiquitäre und omnitemporale Verzehr industriell hergestellter Le­bensmittel, die Bekleidung mit modischer Massenkonfektion, das Wohnen in techni­sierten Haushalten, eine dramatisch gestiegene Mobilität und eine medial gestaltete Freizeit“ (Ebd., 28). Zudem solle „die Mehrheit der Bevölkerung an neuen Konsumformen teilha­ben, der Konsum eine herausragende kulturelle, soziale und ökonomische Be­deutung haben und der Konsument zur soziokulturellen Leitfigur geworden sein“ (Ebd., 9-10).

Ich möchte diese Definitionen nutzen, um eine andere Periodisierung zu diskutieren: Nach meiner Auffassung war das Kaiserreich eine Kon­sumgesellschaft – wenngleich eine sehr spezifisch geprägte. Sie war charakterisiert von mindestens drei miteinander ringenden und sich parallel institutionalisierenden Kon­summodellen, die in unterschiedlichen Konstellationen auch die ersten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts bestimmten. Zuvor gilt es sich jedoch genauer der Frage zu widmen, ob das Kaiserreich eine Konsumgesellschaft war.

Die Erfahrung des Wandels: Kommerzialisierung als Alltagserfahrung

Beginnen möchte ich mit einigen sog. Doppelbildern, die sämtlich aus der im rela­tiv rückständigen München erscheinenden Karikaturzeitschrift „Fliegende Blätter“ stammen (zur historischen Einordnung s. Uwe Spiekermann, Gesunde Ernährung im Spiegel von Karikaturen der Jahrhundertwende. Das Beispiel der „Fliegenden Blätter“, in: Gesunde Ernährung zwischen Natur- und Kulturwissenschaft, hg. v. d. Dr. Rainer Wild-Stiftung, Münster 1999, 61-82). Die liberal-konservativen Zeichner begleiteten Neuerungen jedweder Art mit bitter-melancholischem Spott und einer sentimentalen Sympathie für die im Niedergang begriffene Kultur des ländlichen Bayerns. Sie waren daher sensible Beobachter, die Wahrnehmungen ihrer Klientel, mittelständische Städter und solvente Landbewohner, in ihren Bildern verdichteten.

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Das Ende der Gemütlichkeit oder Die Herrschaft von Geld und Rationalität (Fliegende Blätter 88, 1888, 178, 179)

Geld und Rechenhaftigkeit veränderten demnach schon in den 1880er Jahren den ländlichen Raum. Moderne Transportmittel und gepflasterte Straßen er­schlossen den Städtern die Schönheiten der Heimat, veränderten so aber auch deren Kern. Die ge­rade Linie wurde dominant, Gaslicht und Telegraphenleitungen koppelten Stadt und Land enger aneinander, das Hotel brachte Geld und diente dem temporären Aufenthalt der Fremden.

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Das Ende der Gemütlichkeit oder Die Herrschaft von Geld und Rationalität (Fliegende Blätter 88, 1888, 178, 179)

Die Veränderungen begannen in der Stadt, doch diese kannte keine Grenzen mehr und wurde zum dominanten Typus für die Umgestaltung des Umlandes und der tradierten Welt. Vergleicht man die Bildinhalte, so fallen neben dem jeweils aktualisierten Stand der Transport- und Kommunikationstechnik vor allem zwei Un­terschiede auf: Zum einen die Ubiquität der modernen Reklame, zum andern aber – achten Sie auf die „Naturheil-Anstalt“ – eine zunehmend reflexive Modernisierung, die durch die Bekämpfung der Modernisierungsfolgen zusätzliche Dynamik gewann.

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Modernisierung und Kommerzialisierung oder Die moderne Stadt (Fliegende Blätter 116, 1902, 102, 103)

Folgen wir den Zeichnern in die Mitte der Stadt, so erscheint diese als dynamischer Ort des Konsums und der funktionalen Vergesellschaftung. Die Verdichtung war un­mittelbar erfahrbar, die kollektiven Transporttechnologien reichten kaum mehr aus. Sin­nenmächtig fanden sich allüberall Werbebotschaften, Markenartikel kündeten von den hochwertigen Produkten der im Hintergrund rauchschwangeren Industrie, deren Internationalität „Kodak“ dokumentiert. Umrahmt von Magazinen und Bazaren, stand im Mittelpunkt raumgreifend der moderne Menschenfänger, das Warenhaus. Er offerierte nicht nur Waren, sondern lenkte die Menschen auf den Preis der Güter als deren verlässlichen Wertmaßstab. Wer hier nicht mithalten konnte, dem winkte „Credit“.

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Tempo und Verlorenheit oder Der überbürdende Formwandel des Alltags (Fliegende Blätter 121, 1904, 266, 267)

Die Konsummoderne erscheint in diesen Quellen als hereinbrechende Macht, der die Menschen nachhasteten, die sie zugleich aber kaum bestimmen konnten. Die Automobilisten, ihrerseits Konsumpioniere, erscheinen wie apokalyptische Reiter, de­nen man sich nicht mehr entziehen konnte. Die fremde Formsprache des Ju­gendstils, die hier Intellekt und Kommerz symbolisierte, übermächtigte das biedermeierliche Idyll ebenso wie die im Hintergrund erscheinenden Versprechen „billig“ und „reell“ die Aushandlungsprozesse der scheinbar vergangenen Welt.

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Verfahren oder Die Konsummoderne als Sackgasse (Fliegende Blätter 131, 1909, 70)

Die Zeichner der „Fliegenden Blätter“ konzentrieren sich auf den „Clash of Cultures“ einer gemütlichen und historisch gewachsenen bäuerlich-bürgerlichen Gesellschaft der Ähnlichen und einer funktional differenzierten Konsummoderne, in der Menschen kaum mehr miteinander sprachen, sondern über symbolisch generalisierte Kommuni­kationsmedien miteinander interagierten. Die Künstler empfanden dies als eine verfah­rene Situation, doch sie wussten, dass ihr Spott die dominanten Entwicklungen nicht wirklich bremsen konnte.

Was wir in diesen und hunderten anderer Karikaturen wiederfinden, ist die Vorstel­lung einer Zeitenwende, in deren Mittelpunkt die Errungenschaften des industriellen Zeitalters standen, deren Nutzung und Konsum immer größeren Gruppen der Gesell­schaft möglich wurde – und zu dem es keine realistische Alternative zu geben schien. Augenzwinkernd fügte man sich ins Unvermeidliche, wohl wissend, dass die Aus­handlungen des Alltags die Überbürdungen des neuen kommerziellen Zeitalters noch menschennah abschleifen würden. Hier gab es keine Debatten über die Konsumgesellschaft, denn sie war schon lange vor Ende des Kaiserreichs eine sinnbetörende und alltagsdurchdringende Realität.

Konturen der Konsumgesellschaft: Strukturveränderungen und Pro­duktinnovationen

Derartige Quellen mögen Einblicke in die Denkweisen der Zeitgenossen erlauben, doch Evidenz und Repräsentativität sind ihnen kaum abzuringen. Ich möchte deshalb in einem zweiten Schritt in sechs Punkten empirisch begründete Argumente für die Annahme aufzuzeigen, dass das Kaiserreich eine Konsumgesellschaft war.

Erstens finden wir während des Kaiserreichs ein weder zuvor noch danach wieder erreichtes quantitatives Wachstum der „Basis der Konsumgesellschaft“, also des Ein­zelhandels (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850.1914, München 1999). 1875 gab es im Warenhandel 480.000 Betriebe, 1907 waren es dagegen mehr als 1,1 Millionen. Ihre Branchenverteilung spiegelte ansatzweise die Konsum­strukturen, knapp die Hälfte war im Gebrauchsgüterbereich tätig. 1914 entfiel ein Laden auf 61 Einwohner, jeder einunddreißigste Deutsche arbeitete im Warenhandel. Wichtiger aber war ein qualitativer Wandel. Der kleine spezialisierte Laden wurde zunehmend von sog. neuen Betriebsformen ergänzt, die jeweils spezielle Zielgruppen besaßen und eine erhebliche Sogwirkung zur Modernisierung und Ökonomisierung des Han­dels entfalteten. Magazine, Bazare und Kaufhäuser machten den Anfang, veränder­ten den Absatz von Kleidung und Gebrauchsgütern fundamental.

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Vorboten des Kommenden: Modemagazin Landsberger, Berlin, ca. 1860 (Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, 336)

Konsumgenossenschaften verbesserten die Konsummöglichkeiten der Arbeiter und der unteren Mittelschicht. Wanderlager und Wanderauktionen veräußerten gewerbli­che Güter in Stadt und Land, setzten den Kleinhandel unter gehörigen Preisdruck. Die deutschen Versandgeschäfte waren die größten Kontinentaleuropas und ver­sorgten nicht zuletzt den ländlichen Raum mit den Novitäten modernen Konsums. Massenfilialbetriebe drangen sowohl im Lebens- als auch im Gebrauchsgüterhandel vor, während die bis heute völlig unterschätzten Abzahlungsgeschäfte Arbeitern und kleinen Angestellten den Kauf von Gebrauchsgütern, vorrangig Möbeln und Konfektionswaren, erlaubten.

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Abzahlungsgeschäft in München (Neueste Nachrichten und Münchner Anzeiger 1887, Nr. 83 v. 27. März, 10)

Verkaufsautomaten veränderten nicht nur den Dienstleistungssektor, sondern ein­zelne Branchen des Handels. Die deutschen Warenhäuser schließlich erreichten rasch das Niveau ihrer französischen Vorbilder und dienten nach 1900 als weltweites Vor­bild für die Präsentation neuer Konsumwelten.

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Lichthof des Berliner Warenhauses Wertheim (Alphons Schneegans, Geschäftshäuser für Kleinhandel, Großhandel und Kontore, in: Ders. und Paul Kick, Gebäude für die Zwecke des Wohnens, des Handels und Verkehrs, Leipzig 1923, 3-119, hier 40)

Zweitens kreierte die Werbung während des Kaiserreichs neues Produktwissen und neue Konsumträume. Das rasche Wachstum der Tagespresse erlaubte den tagtäglichen Einsatz informierender Anzeigen, die zahlreichen illustrierten Wochenblätter konzent­rierten sich zunehmend auf Reklame mit Bildelementen. Der rechtlich abgesicherte Markenartikel wurde vornehmlich über Plakate und Emailleschilder beworben, die Werbegraphik des frühen 20. Jahrhunderts veränderte den Kaufappell nachhaltig.

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Neuer Realismus: Die Prägnanz der Plakatwerbung (Fliegende Blätter 104, 1896, 231)

Sie wurden durch Werbeabteilungen in Industrie und Handel unterfüttert, schon vor dem Ersten Weltkrieg entstanden zahlreiche Dienstleistungsberufe in der Werbebran­che. Die Straßen erhielten durch Litfaßsäulen, Plakatwände und Fassadenmalerei einen neuen kommerziellen Anstrich, wichtiger noch wurde die permanente Ausstel­lung der Konsumgüter in den Schaufenstern des Einzelhandels. Und auch die Waren selbst wurden anders präsentiert, gezielt gestaltete und vielfach farbige Verpackungen erweiterten die Palette der Kaufanreize.

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Mode und Schaufenster oder Der Malstrom des Konsums (Fliegende Blätter 91, 1889, 209)

Drittens war die Freizeitgestaltung vielfach noch klassen- und milieugebunden, bür­gerliche, katholische und sozialdemokratische Vereine und Institutionen waren streng voneinander getrennt. Trotz Temperenzbewegung nahmen Kneipen und Gaststätten jedoch einen immensen Aufschwung. Im Kaiserreich kamen mit dem Restaurant und Aus­flugslokalen neue Konsumorte der Mittelschichten auf, Animierkneipen, Music-Halls und Tanzcafés fanden nach Alter und Klasse segmentierte Kundschaft. Jahr­märkte veränderten ihre Gestalt, der Übergang zum preiswerten Vergnügen der Kir­mes war fließend. Ein gänzliches neues, zukunftsweisendes Vergnügen boten seit Mitte der 1890er Jahre die Kinos. Um 1910 gab es in Deutschland ca. 1.000 stationäre Lichtspieltheater mit täglich 1,5 Millionen Besuchern. Nicht nur männliche Erwachsene, sondern auch Kinder, Jugendliche und Frauen wurden angesprochen.

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Kinos als neue Form des Theaters in Berlin (Berliner Leben 15, 1912, Nr. 6, s.p.)

Viertes war die Konsumgesellschaft des Kaiserreichs durch eine Vielzahl neuartiger Gebrauchsgüter geprägt, die teils erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Sätti­gungsgrenzen stießen. Das Automobil, das Grammophon, elektrische Haushaltsge­räte, Telefone und vieles andere mehr blieben Beziehern höherer Einkommen vorbe­halten, doch im Alltag waren sie präsent und schufen neue Konsumwünsche.

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Konfektionsware für Frauen (Der Bazar 39, 1893, nach 100)

Die Konfektionsindustrie legte Jahr für Jahr neue modische Waren vor, Bedarfswe­ckung durch Veralterung, nicht Gebrauchswertverlust prägte auch den Konsum des neuen Mittelstandes. Neue Konservierungs- und Verarbeitungstechniken veränderten die tägliche Kost, die durch Kolonialprodukte und ihre Substitute zunehmend geprägt wurde. Neue Lebensstilprodukte warben für ein gesundes Leben, eine immense Zahl von Diät- und Aufbaupräparaten verwies auf die zunehmende Kommerzialisie­rung auch der Körper.

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Gewerbliche Herstellung der Konsumgüter (Fliegende Blätter 123, 1905, 265)

Fünftens drangen diese neuen Produkte zunehmend auch auf das Land vor. Die Zahl der landwirtschaftlichen Subsistenzbetriebe lag unter einer Million, Kolonialprodukte und gediegene Gebrauchsgüter bildeten Renommierprodukte gerade der Bauern.

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Dorfladen im ländlichen Umfeld Bremens, ca. 1885 (Brigitta Seidel, MarkenWaren. Maggi, Odol, Persil & Co. erobern den ländlichen Haushalt, Husum 2002, 34)

Die Sortimente der Dorfläden verbreiterten sich während des Kaiserreich auf weit über das Doppelte, die Zahl der Hausierer lag vor dem Ersten Weltkrieg über der Zahl der Beschäftigten der Chemieindustrie, Versandgeschäfte erlaubten den Kauf modischer Artikel, der Eisenbahntransport erleichterte den Einkauf in der nächstge­legenen grö­ßeren Stadt. Die Werbung drang nicht ohne Grund zunehmend auf das Land vor, auch wenn die Heimatschutzbewegung vielfach erfolgreichen Widerstand gegen diese kommerzielle Landnahme organisierte.

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Abglanz des Möglichen – Ländlicher Konsum in der Karikatur (Fliegende Blätter 122, 1905, 192)

Betrachtet man sechstens schließlich makro- und mikroökonomische Daten, so stieg der reale durchschnittliche Jahresverdienst von Arbeitnehmern von 1871 bis 1913 um ca. 80 Prozent. Dies wurde zumeist in eine bessere Ernährung umgesetzt, insbesondere den Kon­sum von Fleisch umgesetzt. Zugleich aber vergrößerte sich die freie Spitze der Haushaltsbudgets nachhaltig. Man mag darüber streiten, ob 10 Prozent disponibles Ein­kommen bei Arbeitern ausreichten, um im modernen Sinne zu „konsumieren“ – doch es reichte für Alltagsfreuden und kleine Anschaffungen, die zwei Generationen zuvor noch un­denkbar gewesen wären.

Fasst man diese, zugegeben, kursorischen Bemerkungen zusammen, so konsumierte aller Enge zum Trotz die Mehrzahl der Bevölkerung über die Grundbedürf­nisse hin­aus. Auch die anderen Kriterien Königs werden im Wesentlichen erfüllt, einzig das Wohnen in technisierten Haushalten ließ noch auf sich warten, auch wenn die Ver­besserungen der Gas- und Wasserversorgung sowie der Abfallentsorgung vielfach bemerkenswert waren. Das Kaiserreich war demnach eine Konsumgesellschaft.

Die innere Gebrochenheit der deutschen Konsumgesellschaft

Konsum und Konsument im zeitgenössischen Diskurs

Und doch: Diese Aussage ist zu relativieren. Denn die Vorstellung einer deutschen „Konsumgesellschaft“ ist schon deshalb schwierig, da die ver­meintlich stählerne Nation vielfältig zerklüftet war. Das Kaiserreich war eine Klas­sengesell­schaft in Stadt und zunehmend auch auf dem Lande, regionale und soziale Unterschiede beein­flussten den Konsum tiefgreifend.

Die Länder wiesen beträchtliches Eigengewicht auf, so dass die Vorstellung eines einheitlichen nationalen Marktes vielfach in die Irre führt. Selbst Markenartikel, wie Maggis Suppen, waren Mitte der 1890er Jahre im nördlichen Deutschland vielfach nicht erhältlich. Die Stadt-Land-Unterschiede waren bedeutsam, auch wenn sich der Konsum einzelner Produkte und Warengattungen langsam anglich. Kategorien wie Geschlecht bildeten Demarkationslinien des Alltags, auch wenn die modernen Wa­renhäuser und das breite Netzwerk neuer Läden Frauen neue Räume und Aufgaben zuwiesen.

Diesen Unterschieden zum Trotz wurde in der Ökonomie seit dem 18. Jahrhundert intensiv um allgemeine Aussagen zur Konsumtion und auch zum Konsumenten ge­rungen. Im deutschen Fall war dies immer auch eine Suche nach einem neuen Gan­zen, nach der inneren Gesetzmäßigkeit der durch Arbeitsteilung in Frage gestellten bürgerlichen Gesellschaft. Die Lehren der westlichen Ökonomie und des Industrialis­mus wurden mit gehöriger Skepsis wahrgenommen. Schon Friedrich Schiller (1859-1805) betonte: Das an­tike Menschenideal „machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Le­ben im Ganzen sich bildet. Der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes Bruch­stück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Har­monie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts“ (Friedrich v. Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung (1795), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, 3. Aufl. München 1962, 584).

Ökonomik war daher Suche nach Ausgleich, nach Harmonie von Produktion und Kon­sumtion. Trotz der bekannten Smithschen Sentenz vom Konsum als Ziel aller Pro­duktion galt dieser jedoch lange Zeit als nachgeordnet und potenzieller Störfak­tor. Karl von Rotteck (1775-1840) bezeichnete ihn etwa als Wert­zerstörung, als „Reichthumsver­minderung“ (Carl v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 4: Oekonomi­sche Politik, Stuttgart 1835, 215). Wie viele andere Staatswissenschaftler hob er jedoch zwei Punkte hervor: Zum einen war die Konsumtion nur deshalb weniger wichtig, weil gemäß dem Sayschen Theorem sich die Produktion stets ihre Nachfrage schaffe, so dass man hierfür keine Sorge tragen müsse. Zum anderen war die „Privat-Verzeh­rung“ (Ebd., 238) nicht Gegenstand der Staatswissenschaft, da für sie das Prinzip grundsätzli­cher Freiheit galt.

Damit war der Konsum immer auch Ausdruck der Moral und der Sittlichkeit der Kon­sumenten, war demnach gebunden an wandelbare normative Ideale. Bei Johann Schön (1802-1839) hieß es prägnant: „Ideal ist die Consumtion, welche hinsichtlich ihrer Quantität durch das Maaß des Ertrages, hinsichtlich ihrer Qualität durch das vernünftige Be­dürfnis und durch die wirthschaftliche Vorsicht sich bestimmt“ (Neue Untersuchungen der Nationalökonomie und der natürlichen Volkswirthschaftsordnung, von Schön, Morgenblatt für gebildete Leser 31, 1837, 425-428, hier 427). Wenn der Londoner Historiker Frank Trentmann in den letzten Jahren vielfach her­vorgehoben hat, dass der „Konsument“ Ausdruck einer historischen Rollenidentität ist, die von der Entstehung einer modernen Konsumgesellschaft deutlich zu trennen ist, so ist diese These richtig und falsch zugleich (Frank Trentmann, Synapses of Consumer Politics: The Genealogy of the Consumer, o.O. 2003 (Ms.)., 2). Es ist richtig, dass es im Deutschen Reich, anders als etwa im spätviktorianischen England, nur bescheidene Anfänge ei­ner Kon­sumentenidentität gab. Abgesehen von den Konsumgenossenschaften und dann den bürgerlichen Käuferligen artikulierten sich moderne Konsumenten erst im Rahmen der verschiede­nen Teuerungsdebatten des frühen 20. Jahrhunderts, auch wenn deren expressive Handgreiflichkeit vielfach noch in der moralischen Ökonomie der vor- und frühindus­triellen Zeit gründete (Christoph Nonn, Verbraucherprotest und Parteisystem im Wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996). Doch zugleich macht eine auch nur oberflächige Analyse etwa der Außenhandelsdebatten schnell deutlich, dass der Konsument spätestens seit den 1870er Jahren Fluchtpunkt so zentraler Debatten, wie der um Freihandel oder Schutzzoll war.

Gilt dies, so muss erklärt werden, warum der „Konsument“ in der zeitgenössi­schen ökonomischen Diskussion nur ein Schattendasein führte. Hier wurde er vorrangig als Widerpart zum Produzenten verstanden (vgl. etwa Karl Marlo [d.i. Karl Georg Winkelblech], Untersuchungen über die Organisation der Arbeit oder System der Weltökonomie, 2. vollst. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1885, insb. 294-295). Er erzwang „die Waren resp. Leistungen nach Bedarf und möglichst bequem, mannigfaltig, brauchbar und preis­wert zu erhal­ten“; doch schon in dieser Passage aus dem Schönbergschen Handbuch der politi­schen Ökono­mie klang die Malaise einer derartigen Orientierung am Verbraucher an, biete sie doch „keine Garantie mehr für die Güte, die Qualität, die Preiswürdigkeit der Waren. Der Konsument muß selbst prüfen und ist, wenn er dies nicht thut oder nicht kann, der Gefahr der Benachteiligung ausgesetzt“ (G[ustav] v. Schönberg (Hg.): Handbuch der Politischen Oekonomie, 4. Aufl., Bd. 2, Halbbd. 1, Tübingen 1896, 662 (auch für das vorherige Zitat)). Daher sei für den Konsu­menten zu denken, hätten Produzenten und Händler für seine Belange Sorge zu tra­gen. Das Rollenwesen des Konsumenten musste daher aus den Handlungsidealen an­derer Akteure herausgelesen werden. Dann aber war er durchweg präsent.

Er diente vielfach als „Prügelknabe“ (Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Ergänzungsbd. 2: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Freiburg i.Br. 1903, 497) von Wissenschaft und Öffent­lichkeit, als Projekti­onsfläche der inneren Debatten über die liberale Wirt­schaftsordnung und den Übergang von der Agrar- zur Industriege­sellschaft. Der „Konsument“ war meist ein­gebettet in moralische Debatten über Lu­xus und Spar­samkeit, war Gegenstand steti­ger Aufklärungs- und Erziehungsbestre­bungen: Es galt, „daß die sittliche Erziehung des Konsumenten darauf ausgehen muß, ihn mit den Herstel­lungskosten der Ge­genstände vertraut zu machen, ihm ei­nen Begriff von den Kosten volkswirtschaftli­cher Produktion beizubringen, damit er nicht einfach planlos nach dem Billigsten greift“ (G[ottfried] Traub, Ethik und Kapitalismus. Grundzüge einer Sozialethik, 2. verb. u. verm. Aufl. Heilbronn 1909, 138). Öko­nomen und Sozialwissenschaft­ler, die nach der Jahrhundertwende auf den Konsumenten setzten, um Kritik an der korpo­ratistischen Wirtschaftsstruktur und seiner „Bevormundungs­tendenz“ (Karl Oldenberg, Die Konsumtion, in: Grundriss der Sozialökonomik, Abt. II, Tübingen 1914, 103-164, hier 120) im Konsumgü­termarkt zu üben, oder aber auf seinem Wollen und Streben die Grundlagen einer genossenschaftlich organisierten „sozialen Tauschgemein­schaft“ (zur allgemeinen Diskussion vgl. etwa Oskar August Rosenqvist, Die Konsumgenossenschaft, ihr föderativer Ausbau und dessen Theorie. (Der Föderalismus), Basel 1906) zu gründen, standen allerdings in einer fast hun­dert-jährigen Tradition.

Fasst man diese Debatten abstrakter, so handelte es sich beim deutschen Narrativ des Konsumenten um eine Form der „economic citizenship“ (Gunnar Trumbull, National Varieties of Consumerism, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/I, 77-93) im Sinne Gunnar Trum­bulls. Der Konsument galt als integraler und funktionaler Teil der Wirtschaft, der dann in den Vordergrund trat, wenn Märkte versagten; dies galt bei mangelnder Transpa­renz der Qualität, bei ungleichen Machtverhältnissen und beschränktem Wett­bewerb. Institutionelle Phantasie, also marktbezogene Regelmechanismen, schienen erforderlich, um dem mit Blick auf den Konsumenten zu begegnen. Die Interessen des Rol­lenwesens „Konsument“ wurden im Konsumgütermarkt des späten Kaiserreichs ab­seits der un­sichtbaren Hand des Marktes vornehmlich von wissenschaftlichen und ökonomischen Akteuren vertreten (Uwe Spiekermann, From Neighbour to Consumer. The Transformation of Retailer-Consumer Relationships in Twentieth-Century Germany, in: Frank Trentmann (Hg.), The Making of the Consumer. Knowledge, Power and Identity in the Modern World, Oxford und New York 2006, 147-174, hier 147-148). Wir haben es nicht mit sich selbst bewussten und artikulierenden „Konsumenten“ zu tun, wohl aber mit einem virtuellen Konsu­menten, dessen Inte­ressen von der Wirtschaft und den Sachwaltern des Funktions­wissens, also die wis­senschaftlichen und bedingt technischen Eliten, antizipierend nachgebildet wurden. Entsprechend galt vielfach: „die ‚Jury‘ – das Publikum“ (Werner Sombart, Der moderne Kapitalis­mus, Bd. 2: Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Leipzig 1902, 424). Je nach Konsummodell wurde der Konsument ganz unterschiedlich definiert. Mindestens drei rangen während des Kaiserreichs um Anerkennung und Domi­nanz: Ich unterscheide zwischen (wirtschafts-)liberalen, mittel­ständischen und konsumgenossenschaftlichen Konsummodellen.

Aufstieg zur Mitte: Das (wirtschafts-)liberale Konsummodell

Die Vertreter der deutschen Manchesterschule, hier sind Namen wie John-Prince Smith (1809-1874), Max Wirth (1822-1900), Julius Faucher (1820-1878), Heinrich Bernhard Oppenheim (1819-1880) oder Eugen Rich­ter (1838-1906) zu nennen, entwickelten ihre Konzepte vornehmlich in der Fortschreibung der britischen Klassiker, aber auch zahlreicher französischen Wirtschaftstheoretiker.

16_Der Welt-Spiegel_1906_03_15_p4_Gartenlaube_1863_p269_Politiker_Eigen-Richter_Linksliberalismus_Manchestertum

Eugen Richter (l.) und Julius Faucher als Vertreter des „entschiedenen“ Liberalismus (Der Welt-Spiegel 1906, Ausg. v. 15. März, 4 (l.); Gartenlaube 1863, 269)

Schon Jean-Baptiste Say (1767-1832) hatte die menschlichen Bedürfnisse mit einem Thermometer verglichen, das zwar eine untere Grenze habe, nicht aber einen Mittel- oder End­punkt. Bedürfnisse seien nicht statisch, es galt vielmehr, sie zu entwickeln, sie zu heben. „Je mehr aber die Bedürfnisse überhand nehmen, desto glücklicher befindet sich die Gesellschaft; denn die Bedürfnisse nehmen nur überhand mit den Mitteln zu ihrer Befriedigung“ (Max Wirth, Grundzüge der National-Oekonomie, Bd. 1, 2., vollst. umgearb., verm. u. verb. Aufl., Köln 1860, 424). Produktion und Konsumtion bedingen sich, doch es wird „desto mehr producirt, je mehr die Bedürfnisse in die breitesten Schichten steigen“ (auch für das folgende Zitat Ebd., 425). Folgt man dem Nationalökonom Max Wirth, Vorstand des Congresses Deutscher Volks­wirthe, so war die Konsumtion mit einer Pyramide vergleichbar, die Armut und Be­dürfnislosig­keit, aber auch Reichtum und Verschwendung widerspiegele: Sie galt es tenden­ziell in eine Säule zu transformieren: „Während aber auf der einen Seite die unters­ten Schichten der menschlichen Pyramide hinsichtlich der Zahl ihrer Bedürf­nisse ge­hoben werden sollen, weil sie dadurch auch ihre Production vermehren, so muß die Tendenz der wirthschaftlichen Bewegung doch wieder dahin gehen, die übertriebe­nen Bedürfnisse zu vermindern, die obersten Spitzen der Pyramide den mittleren zu nähern, weil die Befriedigung übertriebener Bedürfnisse (Luxus) in der Regel durch irreproductive Consumtion geschieht, durch welche das Capital, die Pro­duction somit, vermindert und der allgemeine Zustand der Gesellschaft verschlech­tert wird.“ Luxus sei zu verdammen, da er nicht mit der generellen Leistungsfähigkeit der Wirtschaft einhergehe und dem Ökonomie-Prinzip entspreche. Grundsätzlich aber seien die Be­dürfnisse zu einer „unendlichen Ausdehnung fähig“ (Ebd., 440), so dass der verdammens­werte Luxus von heute sehr wohl die rationale Konsumweise von morgen sein könne. Die Orientierung auf das mittlere Segment der Gesellschaft sei nicht nur Aus­druck des staatsbürgerlichen Ideals von Menschen gleichen Besitzes und Bildung, sondern hier sei der „Umfang des Marktes“ (Ebd., 1860, 427) am größten, seien Kostendegressionen also am besten möglich. Konsum hatte aber nicht nur Economies of Scale, sondern ansatzweise auch Eco­nomies of Speed zu beachten, denn er sollte im Einklang mit Jahreszeiten und Pro­duktionsrhythmen erfolgen. Der Konsument sollte zudem in möglichst großen Mengen ein­kaufen und hierbei auf möglichst dauerhafte, gediegene Ware setzen. Das liberale Konsummodell deutete den Konsumenten als ein Kulturprodukt, das die Besonder­heiten des regionalen und nationalen Marktes mit dessen allgemein geltenden Geset­zen handelnd in Bezug setzte. Es gründete auf Freiheit vom Staate, seien doch die Konsu­menten selbst in der Lage, eine angemessene „Ordnung“ zu gewährleisten. Sie zie­lten nämlich auf das „allgemeine Wohl“ (Ebd., 438), dessen Definition aber ihnen selbst überlassen bleiben müsse.

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Die Gediegenheit des bürgerlichen liberalen Konsummodells: Einkaufsstraße im wieder aufgebauten Hamburg Ende der 1840er Jahre (Hamburgs Neubau, Hamburg o.J. [1846/47], Bl. 17)

Entsprechend finden wir selbst in einem der prägnantesten Texte des deutschen Manchesterliberalismus, John Prince-Smiths Artikel über die sogenannte Arbeiter­frage von 1874, nicht nur eine entschiedene Abfuhr konservativer und marxistischer Menschheitsbeglücker, sondern auch ein Konsumideal für die breite Mehrzahl der Bevölkerung. Gegen das eherne Lohngesetz Ferdinand Lasalles (1825-1864) setzte Prince-Smith das sog. „goldene Gesetz“, nach dem sich „das Leben der Wirthschaftswelt auf ein Gesetz steter Fort­entwicklung zum Besseren gestellt ist“ (John Prince-Smith, Die sogenannte Arbeiterfrage, Vierteljahrsschrift für Volkswirthschaft und Kulturgeschichte 4, 1874, 192-207 (auch die folgenden Zitate)). Technische und institutionelle Innovationen würden die Produkte verbessern und verbilligen. Diese Kapitalvergrößerung erlaube höhere Löhne und höhere Lebensansprüche insbesondere der Arbeiter: „Das aufwachsende Geschlecht gewöhnt sich an geräumigere und sauberere Wohnungen, bequemere Möbel, vollständigeren Hausrath, reichlichere Nahrung, bessere Kleidung, auch an gewisse Geistesgenüsse und eine anständigere Geselligkeit.“ Mögliche Verschlechte­rungen würden nicht einfach hingenommen, sondern begünstigen rationale Anstrengungen, um dem Rückfall Widerstand entgegen zu setzen. Ein hohes Konsumniveau sei Ziel des modernen Wirtschaftens – und der Bruch hin zu dieser neuen Dynamik sei mit der wirtschaftlichen Freiheit seit 1815, seit 1848, seit der Gründung des Norddeutschen Bundes verbunden. Der Aufstieg zu immer anspruchsvollerem Konsum erfolge ge­setzmäßig, vorausgesetzt, die unteren Schichten brächten die moralische Kraft auf, ihre Beiträge zur Produktion und ihre konsumtiven Handlungen in die rechte Balance zu bringen.

Es waren derartige Annahmen, die Abgeordnete wie Theodor Barth (1849-1909), Ludwig Bamberger (1823-1889) und insbesondere Eugen Richter spätestens seit den 1870er Jahren zu beredeten Vertretern von Verbraucherinteressen werden ließen – wenngleich im Ord­nungsrahmen des liberalen Konsummodells. Für sie war das Kaiserreich eine Kon­sumgesellschaft auf dem Wege – hin zu einer sich immer wieder veränderten Mitte; man müsse nur Produzenten und Konsumenten ihre Freiheit(en) lassen.

Ordnung und Qualität: Das mittelständische Konsummodell

Doch gerade die „Mitte“ der Gesellschaft vertrat mehrheitlich andere Vorstellungen. Schon die begrenzte Liberalisierung der deutschen Gesellschaft, insbesondere aber der Be­deutungsverlust der Korporationen und auch des Staates, hatte nach Ansicht vie­ler mittelständischer Geschäftsleute zu „anarchistischen Verhältnissen“ geführt. Seit den 1860er Jahren führte jede neue Betriebsform zu Klagen über Niedergang und Verfall der schaffenden Stände, zum Konkurs der kleinen Händler, die doch das ei­gentliche Rückgrat von Staat, Nation und Alltagskonsum bildeten. Seit den späten 1870er Jahren wurden zahllose mittelständische Interessenverbände gegrün­det und nahmen mit teils beträchtlichem Erfolg Einfluss auf politische Ent­scheidun­gen. Sie führten den Staat zurück in den Ring, indem sie eine Parteinahme für ihr Recht forderten, Schutz gegen das von den Liberalen so harmlos verbrämte „Groß­kapital“. Doch hier zählte nicht der Erfolg dieser Staatshilfe, auch nicht die fak­tisch viel wichtigere Selbsthilfe dieser Gruppe kleiner selbstständiger Gewerbetrei­bender. Im Rahmen unserer Fragestellungen rückt das Konsummodell dieser mittel­ständischen Gruppen in den Mittelpunkt, deren Vertreter doch die Mehrzahl der deutschen Kon­sumenten tagtäglich versorgten.

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Modische Gediegenheit für eine Solide Kundschaft: Das Kaufhaus Gustav Cords (Schneegans, 1923, 63)

Der Ausgangspunkt lag dabei nicht in Vorstellungen abstrakten Bedürfnisse und einer gleichsam me­chanisch ablaufenden Geschichte. An ihre Stelle trat eine organische Auffassung der Gesellschaft, ein moralisch geprägtes Subsidiaritätsrecht und ein Geschichtsmodell, das Niedergangsszenarien tendenziell begünstigte. Die Wirtschaft wurde als eine Art geschlossene Volkswirtschaft verstanden, in der die Industrie mögliche Werte schaffte, die Groß- und Einzelhandel mit angemessenem Nutzen realisierten. Die ei­gentliche Leistung der nachgelagerten Stufen bestand im Wissen der selbständigen Händler um die richtige Behandlung und Vermarktung der Ware, die ihnen durch ihre ge­nauen Kenntnisse der Konsumenten und ihrer Bedürfnisse möglich war. Nicht der günstigste Preis sei anzustreben, sondern ein Mix aus gutem Service, hoher Qualität und einem ange­mes­senem Preis. Konsumenten und Händler, Händler und Großhändler, Großhändler und Fabrikanten – sie alle kannten sich und vertrauten einander, „Treu und Glaube“ durch­drang das Geschäftsleben, „Jedem das Seine“ gilt als Imperativ. Dies schloss hohe, sozial angemessene Löhne und wechselseitigen Respekt mit ein. Diese „Inte­ressen­gemeinschaft zwischen Geschäftsmann und Kundschaft“ (Der rechte Weg, Deutsche Rabattsparvereins-Zeitung 5, 1908, 97-98, hier 98) sei jedoch be­droht, wenn das „Großkapital“ die gewachsenen Beziehungen untergrub, das Publi­kum zur „Bil­ligkeitssucht“ erzog und es mit unlauteren Mitteln und überbürdender Reklame in die eigenen Läden expedierte.

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Kommerzialisierung als Bruch mit mittelständischen Werten (Fliegende Blätter 84, 1886, 60)

Die Folgen derartiger Kommerzialisierung seien verderblich: sinkende Qualität der Waren, sin­kende Löhne der Be­diensteten, sinkende Einkommen der Stützen des Staates, eine schwindende Zahl selbständiger Existenzen, ein Niedergang der Staats­finanzen. Der Staat habe daher aus wohlverstandenem Selbstschutz die Pflicht, die Zernierung des Wirtschaftslebens ge­gen Kommerz und Kollektiv zu verteidigen – und dies hatte zumeist auch eine antisemitische Schlagseite.

Das mittelständische Konsummodell betonte nicht allein, dass im Erwerbsleben „alles Hand in Hand“ (J. Rosenbaum, Filialtreiberei und Masse-Bazare, deren Auswüchse und Folgen, Bamberg 1895, 19), sondern auch, dass es einen jeweils opportunen Konsum des Einzelnen gäbe. Dessen Konturen sollten am besten von den Fachhändlern als Konsumexperten abgesteckt werden. Dadurch seien sowohl heterogene Konsumstile als auch eine geordnete stabile monarchische Ordnung möglich. Obwohl das Modell die Einbindung des Einzelnen in klar umrissene Lebenszuschnitte betonte, war es doch mit Wachstum und moderatem sozialen und konsumtiven Wandel kompati­bel.

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Rationalisierung in vorgegebenen Sozialbezügen – Einkaufszentrale der Berliner Edeka, 1907 (Edeka. 75 Jahre immer in Aktion, Hamburg 1982, 12)

Das mittelständische Konsummodell setzte die sozialen Strukturen statisch, zielte daher nicht auf einen sich hebenden mittleren, sondern auf einen standesspezifischen Konsum. Obwohl politisch vor­nehmlich defensiv zur Verteidigung der Besitzstände des nur wenige Dekaden zuvor auf breiter Front entstandenen Facheinzelhandels und des Handwerks genutzt, war dieses Mo­dell reflektiverer Rücksichtnahme das für die politisch Verantwortlichen wohl attrak­tivste Konsummodell. Nicht materiell definierbare, sich in Preisen und Kaufakten nie­derschlagende Bedürfnisse standen dabei im Mittelpunkt, sondern das Ideal einer Ge­meinschaft, in der jeder seinen Platz und seine Funktion hatte.

Aufstieg von unten: Das konsumgenossenschaf­tliche Konsummodell

Diesen Platz mussten sich andere erst erstreiten, das Wirtschaftsbürgertum, die Arbeiterschaft. Die Vertreter mittelständischer Konsummodelle kämpften mit Verve gegen die neuen Betriebsformen des Handels, die für sie vielfach Vertreter einer gelben bzw. roten Internationale bildeten. Als Repräsentant des Umsturzes galten die Konsumgenos­senschaften, deren Herkunft aus der liberalen Idee der Selbsthilfe seit den späten 1880er Jahren kaum mehr bedacht wurde (Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenos­senschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags, Stuttgart 1995, 150-189, insb. 151-155).

Abhängig von der Fremdversorgung der Krämer, wandten sich die ersten, vornehm­lich aus der bürgerlichen Mittelschicht und der Facharbeiterschaft stammenden Ge­nossenschafter handelnd gegen die Überteuerung und schlechte Qualität der Grund­nahrungsmittel und einfacher Konsumgüter. Sie bündelten ihren Einkauf, kauften so billiger und verteilten die wenigen Waren in unansehnlichen Verteilstellen. Man wandte sich gegen die Gewinnabsicht des Kleinhandels, teilte nicht dessen Ge­schäftsgebaren und die darin inkorporierten paternalistischen Elemente. Von der organisierten Arbeiterschaft rigide abgelehnt, von der auf Kredit-, Agrar- und Produktionsgenossenschaften fixierten liberalen Spitze des Genossenschaftsverbandes weit­gehend negiert, gelang es den Konsumgenossenschaften in den ersten drei Dekaden ihres Bestehens nicht, mehr als regionale Bedeutung zu gewinnen.

Erste Vorstellun­gen einer auf genossenschaftlicher Basis gründenden Konsumgesellschaft, wurden seit den 1860er Jahren etwa vom Stuttgarter Konsumvereinsgründer Eduard Pfeiffer (1835-1921) entwickelt. Seine Vorstellung eines auf gemeinsamer Produktion und Distribu­tion gründenden nicht kapitalistischen Konsummodells war noch vielfach liberalen Wirtschaftsideen verpflichtet, da die Kooperation der Konsumenten eine naturwüchsige Lösung der sozialen Frage und eine Integration der Arbeiter in die moderne Konsumgesellschaft erlauben würde. Dies änderte sich erst, nachdem die Konsumgenossenschaften seit Mitte der 1880er Jahre zunehmend von Arbeitern als Mittel zur Verbesserung ihres Lebens­standards und Lebens genutzt wurden. Gestützt auf die seit 1889 mögliche beschränkte Haft­pflicht verän­derte sich erst die soziale Zusammensetzung, dann auch die Leitung und Zielsetzung der „Arbeiterkonsumgenossenschaften“. Sie forcierten die Eigenproduk­tion und bün­delten seit 1894 wachsende Teile ihres Großhandels in der Großein­kaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine.

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Die Hamburger Großeinkaufsgesellschaft als Symbol eines konsumtiven Gegenmodells (Postkarte 1904)

In nur 15 Jahren verfünffachte sich die Konsumgenossen­schaftsbewegung, die seit 1901 mehr als 630.000 Mitglieder hatte – und der 1930 dann mehr ein Fünftel aller Haushalte angehören sollte. Diese Genos­sen wollten nicht für den freien Markt pro­duzieren, sondern einen bekannten Massenbedarf de­cken. Der Ausbau der rasch wachsenden Bewegung erforderte planen­des, auf einem eigenständigen Konsummo­dell basierendes Handeln. Der Generalsek­retär Heinrich Kaufmann (1864-1928), vor allem aber der Philosoph und Genossenschaftslehrer Franz Staudinger (1849-1921) entwarfen seit der Jahr­hundertwende ein heute weitgehend vergessenes Ge­genmo­dell zur bestehenden „Profitwirtschaft“ des Kaiserreichs.

Ziel war „die Herstellung einer Gemeinschaft, in die die arbeitsteilig produzierenden Menschen miteinander so verbunden sind, daß sie sich und ihre zugehörigen Bedürfniskreise durch ihre Tätigkeit geordnet voneinander versorgen können, ohne dadurch in Dienstbarkeit voneinander und in vernichtende Konkurrenzkämpfe miteinander zu geraten“ (Franz Staudinger, Die geregelte Tauschgemeinschaft als soziales Ziel, Konsumgenossenschaftli­che Rundschau 14, 1917, 173-175, hier 173). Die Errungenschaften der modernen Zeit sollten in eine neue, höhere Form des Miteinanders transformiert werden. Der Mensch wurde als ein vernunftbe­gabtes Wesen verstanden, das seine materiellen Bedürfnisse erkennen konnte und demnach die Produktion organisieren könne. Die Konsumgenossenschaftsbewegung bildete hierfür die institutionelle Infrastruktur. Sie bot eine Alternative, um sich vom Kleinhändler und der Profitwirtschaft abzuwenden. Dazu konnte man nicht bei der günstigen Beschaffung und Verteilung von Waren sowie der Investition eines Teils der Überschüsse stehen blieben. Man musste vielmehr aus der distributiven Selbst­beschränkung ausbrechen, um Waren billiger und zugleich qualitativ hochwertiger anbieten zu können. Dazu bedurfte es der Disziplin der Mitglieder, die aus freien Stü­cken Teile der betrieblichen Ersparnisse in neue Anlagen investieren wollten. Idee und Opferbereitschaft bedingten einander. Ebenso wie der Einkauf erst in regionalen, dann nationalen, schließlich internationalen Großeinkaufsorganisationen gebündelt werden sollte, sollte die Eigenproduktion mit der lokalen und regionalen Produktion von frischen Gütern, etwa Brot, Milch oder Fleisch, beginnen.

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Das Ganze im Einzelkonsum sehen: Konsumgenossenschaftliche Eigenmarken (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 8, 1911, Nr. 7, I)

Dann aber galt es, die Größenvorteile zentraler Gebrauchsgüterherstellung zu nut­zen. Den Anfang sollten verarbeitete Lebensmittel machen, dann Haushaltswaren und Einrichtungsgegens­tände hinzutreten. Im nächsten Schritt sollte die landwirt­schaftliche Produktion über­nommen, dann Dienstleistungen und Infrastrukturaufbau integriert werden. Die Kon­sumgenossenschaft wurde als „Genossenschaft schlecht­hin“ definiert, die „Güter be­ziehen, Eigenproduktion treiben, Sparkassen einrichten, Wohnungen bauen, […] Schulen, Bibliotheken, Krankenhäuser usw. ins Leben ru­fen“ (Franz Staudinger, Die Konsumgenossenschaft, Leipzig 1908, 113) könne. Diese Infrastruktur ermöglichte den Genossen die Bildung von individuellen Ei­gentum, schuf relative Sicherheit, erlaubte so ein reflektive Anhebung der Bedürf­nisse. Diese galt es nicht in Konkurrenz zu anderen durchzusetzen, sondern koope­rativ, in Diskussionen ohne Machtgefälle. Wird hier die Friedensmission der Konsum­genossenschaften deutlich, so zeigte sie sich auch im Wettbewerb mit der „Profit­wirt­schaft“, die sie langfristig ersetzen wollte. Gute Ware, geringe Preise und ein überlegenes Ideal sollten „eine neue Kulturepoche“ (Martin Krolik, [Diskussionsbeitrag], Jahrbuch des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine 9,1, 1911, 648-650, hier 648) der Menschheit ermöglichen.

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Zigarren aus fairer, selbstbestimmter Produktion für den Arbeiter – Konsumgenossenschaftliche Aufklärung (Konsumgenossenschaftliche Rundschau 8, 1911, Nr. 34, XVI)

Man nahm den Kampf auf, kämpfte aber nicht mit den Mitteln des Gegners. Ange­sichts der heutigen Mikrosegmentierung der Märkte mag man über den Idealismus dieser neukantianischen Konzeption kritteln, doch bis 1918 bündelten die Konsumge­nossen­schaften fast drei Millionen Haushalte – und angesichts der vierstelligen Zahl von Pro­dukten lässt sich im Kaiserreich zumindest mehr als ein Abglanz eines konsumti­ven Bedarfsdeckungsmodells nachweisen.

Das Kaiserreich als Experimentierfeld moderner Konsummodelle – ein vorläufiges Fazit

Die drei vorgestellten Konsummodelle machen deutlich, warum mein so hoffnungsfroh vorgetragenes Zwischenergebnis, das Kaiserreich sei eine Konsumgesellschaft gewesen, zu differenzieren ist. Das Kaiserreich war vielmehr da­durch charakterisiert, dass sehr unterschiedliche, einander gar feindlich gegenüber­stehende Konsummodelle parallel erdacht, diskutiert und praktisch umgesetzt wur­den. Sie enthielten sämtlich Versatzstücke der nach dem zweiten Weltkrieg bzw. seit den 1960er Jahren realisierten „Konsumgesellschaft“. Sie ist als Resultante dieser Mo­delle zu verstehen, ging folgerichtig auch nicht im Vorbild der USA auf. Weitere gingen in sie ein, so etwa schon während des Kaiserreichs gedachte und in nuce vorhandenen rassistisch-völkische und lebensreformerisch-ökologische Konsummodelle. Doch sie alle folgten anderen Imperativen, denen ihrer Zeit. Sie alle sind jedoch auch heute noch präsent, wenngleich als Palimpsest eingeschrieben, nicht aber klar voneinander getrennt.

Enden möchte ich mit einigen vielleicht weiterführenden Thesen: Erstens zeigt sich an den unterschiedlichen Konsummodellen des Kaiserreichs wieder einmal ein fruchtbarer Kontrast zwi­schen einer empirisch und einer stärker diskursiv ausgerichteten Methodologie. Das Kaiserreich war mehr als eine fragmentierte Konsumgesellschaft, denn parallel zu dessen Auf- und Ausbau, entwickelten Theoretiker und Praktiker, Journalisten und Wissen­schaftler ihre Modelle einer anders ausgerichteten, in sich stimmig konstruierten konsumtiven Zukunft. Die Entwicklungsdynamik des Kaiserreichs erlaubte intellektu­elle Experimente, sie führte zu systematischen Rückfragen und vielfältigen prakti­schen Verbesserungen. Zugleich aber beeinflussten die Konsummodelle nur Teile der konsumtiven Wirklichkeit, an der sie sich – gleichermaßen hoffend und verzweifelnd – abarbeiteten.

Zweitens erfordert die Diskussion über abstrakte Begriffe wie „Konsum“, „Konsumtion“, „Konsument“ und „Konsumgesellschaft“ Brückenkonzepte, um fruchtbar zu wer­den und nicht – wie vielfach üblich – die Modelle und Selbstverständlichkeiten unse­rer Gegenwart auf eine vielfach anders gelagerte historische Epoche zu projizieren. „Konsummodelle“, also normative zeitgenössische Deutungen und Leitbilder, können dabei eine wichtige Rolle spielen – nicht zuletzt, um die im planierenden Begriff der „Konsumge­sellschaft“ kaum angelegten Unterschiede analysieren zu können.

Drittens war die Konsumgesellschaft des Kaiserreichs von normativen Vorgaben des rechten „Konsums“ durchdrungen und band, je nach Verhalten, den Konsumenten in höchst unterschiedliche Zukunftsszenarien ein. Es ging nicht um einen hybriden Konsumen­ten, sondern um einen stimmig handelnden Menschen, der um die gesellschaftlichen Folgen seines Konsums wusste und um den deshalb zu werben war. Die seit langem wieder aufkommende „Moralisierung“ von Märkten findet hier ihre Vorläufer – und es ist eine offene Frage, ob die Konsummodelle des Kaiserreichs nicht doch moderner waren als wir dies gemeinhin denken.

Viertens erlaubt Konsumgeschichte die kritische Selbstvergewisserung des Men­schen in einer kommerzialisierten Gesellschaft. Der Verweis auf experimentelle histo­rische Zeiten und heterogene Konsummodelle ermöglicht, die vielfältigen Brechun­gen des Gegenwartskonsums genauer zu analysieren und zugleich Alternativen hierzu zu entwickeln. Gerade die deutsche Geschichte mit ihren vielfältigen und widersprüchlichen Kon­summodellen bietet hierfür ein reichhaltiges und analytisch fruchtbares Arsenal – auch wenn man dafür zeitlich weiter zurückgreifen muss, als uns die manche deutschen Historiker suggerieren.

Uwe Spiekermann, 16. August 2024

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem am 22. Dezember 2009 im Forum Neuzeit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gehaltenen Vortrag. Die Vortragfassung wurde beibehalten, die Quellenbelege wurden auf ein Minimum beschränkt.

Wer macht den Preis? Die Preisbindung in den USA und Deutschland im 20. Jahrhundert

Der „Westen“ ist eine Wertegemeinschaft – so hallt es durch die Gazetten und Regierungsverlautbarungen. Im wirtschaftlichen Bereich zeigen sich dagegen auch nach dem universellen Sieg des Kapitalismus 1989/90 deutliche Unterschiede, die man zudem gerne pflegt. Insbesondere der Umgang mit Kartellen trennt demnach „die kooperative Wirtschafts­kul­tur Mitteleuropas von der Wettbewerbsphilosophie der angelsächsischen Welt.“ [1] Dabei mag man an wirtschaftliche Konzentration denken, an die während der gegenwärtigen Hochinflationsphase häufig genannten Energieversorger oder Handelskonzerne. Doch im 20. Jahrhundert war die am häufigsten genutzte Kartellform alltagsnah und preisbestimmend. Die sog. vertikale Preisbindung ist allerdings schon begrifflich vielen Verbrauchern kaum mehr bekannt. Paradoxerweise wurde sie in der Deutschland, dem vermeintlichen Land der Kartelle, vor fast fünfzig Jahren in fast allen Branchen aufgehoben. In den USA, diesem vermeintlichen Land unternehmerischer Freiheit und effizienter Kartellbekämpfung, revidierte der US-Supreme Court dagegen im Juni 2007 das zuvor geltende Verbot der Preisbindung. [2] Dies steht quer zu gängigen Polarisierungen kooperativer und liberaler Marktwirtschaften innerhalb des Westens. [3] Gewiss, das war nicht das letzte Wort. Doch seither wabert in den USA, innerhalb der OECD und teils auch in der Bundes­republik eine Debatte um ein Rechtsinsti­tut, das Mitte der 1970er Jahre diesseits und jenseits des Atlantiks unprätentiös zu Grabe getragen worden war. [4]

Diese ansatzweise spiegelverkehrten Verhältnisse möchte ich nutzen, um am Beispiel der Preisbindung die gängige Gegenüberstellung eines wirtschaftsliberalen angelsächsischen Modells freier Wirtschaft, privaten Wettbewerbs und effizienter Anti-Trust-Politik ei­nerseits, und eines in der Tradition des deutschen Korporatismus stehenden „sozia­len Systems der Produktion“ [5] anderseits zu analysieren. Valide histori­sche Arbeiten sind rar, das Thema ist fest in der Hand von Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern, Interessenvertreter und Journalisten. [6] Mit zehntausenden von Beiträgen ist die Preisbindung allerdings nicht nur die am intensivsten diskutierte Wettbewerbseinschrän­kung, sondern ihre historische Analyse erlaubt auch ver­gleichende Rückfragen an Marktakteure, Politik und Öffentlichkeit in den USA und Deutschland sowie die wirtschaftliche Verfassung des Westens.

Preisbindung – Definition und Bedeutung

Im Gegensatz zur hier nicht behandelten Preisbindung der ersten Hand [7] er­streckt sich die vertikale Preisbindung auf Preisvereinbarungen über mehrere Stufen. Es handelt sich um ver­tragliche Vereinbarungen zwischen Lieferanten und Beliefer­ten, zumeist zwischen Herstellern, Groß- und Einzelhändlern. Die Bindung des Preises legt Ver­kaufspreise direkt fest: An die Stelle von Angebot und Nachfrage tritt ein privatrechtlicher Vertrag. Damit wird die Dispositions­freiheit aller Beteiligten rechtlich verbindlich eingeschränkt. Der Preisbildungspro­zess, also die Essenz jeder Wirtschaft, wird im Kern berührt, zumal der Konsument kein Vertragspartner ist.

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Anteil preisgebundener Artikel am Einzelhandelsgesamtumsatz 1954-1961 (Hans Glatz, Praxis und Theorie der Preisbindung in Deutschland, Freiburg i.Br. 1974, 137)

Einschlägige Preisbindungen national verkaufter Markenartikel waren weit ver­breitet. In der späten Weimarer Republik schätzte man ihren Umfang auf fast ein Fünftel des Einzelhandelsum­satzes, ein Neuntel desselben entfiel auf Markenpro­dukte. [8] Ähnliche Größenordnungen finden sich auch in der Bundesrepublik. Preisgebundene Markenware umgriff ca. ein Viertel des Einzelhandelsumsatzes, ein Achtel bis ein Neuntel des Gesamtumsatzes entfiel dabei auf die vertikale Preisbin­dung.

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Angemeldete preisgebundene Waren in der Bundesrepublik Deutschland, 1958-1967 (Glatz, 1974, 146)

Ähnliche Verhältnisse gab es auch in den USA. Von Ende der 1930er bis Anfang der 1950er Jahren entfielen auf preisgebundene Ware ca. 15% des Einzelhandelsum­satzes, bis 1975 sank der Anteil auf ca. 4%. [10] Die Zahl der preisgebundenen Waren lag erheb­lich höher, gab es doch schon Anfang der 1930er Jahre etwa eine halbe Million Markenartikel. [11] Die Branchenstrukturen waren beiderseits des Atlantiks ähnlich: Droge­rieartikel, Kos­metika, die wieder zugelassenen Alkoho­lika, Autos und Haushaltsgeräte sowie hoch­wertige Gebrauchsgüter. [12] Insgesamt set­zten in den USA Ende der 1930er Jahre ca. 1.600 Mar­kenartikel­produzenten die Preisbindung systematisch ein. [13] Das bedeutete mehr als 60 Mil­lionen Einzelverträge. Die vermeintlich unsichtbare Hand des Marktes gewann hierin Gestalt.

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Gebundene Preis als Grundlage der Vermarktung auf beiden Seiten des Atlantiks (Electric Light and Power 5, 1927, Nr. 9, 73 (l.); Essener Anzeiger 1938, Nr. 153 v. 8. Juni, 16)

Warum dieser große Aufwand? Ökonomisch ging es um niedrigere Transaktions-, also Marktnutzungskosten. Dau­ernde Preisverhandlungen verursachen nämlich Verhandlungs-, regel­mäßige Preisvergleiche Informationskosten. Die Preisfindung wird durch gebundene Preise er­leichtert, kostenorien­tierte Verfahren und Spannendenken treten an die Stelle einer stetigen Kalkula­tion. [14] Dem stehen allerdings beträchtliche Überwa­chungs- und Durchsetzungskosten entgegen – und daher sind auch Preisbindungen immer wieder zu überprüfen.

Doch die Frage nach dem Warum zielt weiter: Gegner der Preisbindung ver­stehen den Zusammenschluss in der Regel als eine Verschwörung, als ein Kartell gegen Dritte. [15] Hersteller und Händler kooperieren demnach zu Lasten des Kon­sumenten, setzen höhere Preise als ein unreguliertes Marktgeschehen. Die Hersteller können mittels hoher Mar­gen den Bedeutungsgewinn preisbrechender Händler bremsen. Mittle­re Händler können ihrerseits die Preisbindung forcieren, um großbetriebliche Konkur­renz zu bekämpfen. Schließlich können die Verträge von Marktführern auch genutzt werden, um Konkurrenten vom Marktzugang auszuschließen. Folgt man diesen An­sätzen, so ist die Preisbindung verwerflich und bedarf der rechtsverbindlichen Ein­schränkung durch den Staat.

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Preisbindung als Stabilisierungspolitik zugunsten der Verbraucher während des New Deal (Washington Post 1933, Ausg. v. 30. Juli, 6)

Doch es gibt auch wettbewerbsrechtliche und volkswirtschaftliche Gründe für die Preisbindung. Das Trittbrettfahrer­problem kann so gelöst werden. Erfolgreiche Mar­kenartikel oder Innovationen erfordern meist hohe Investitionen, die Preisbrecher nicht zu leisten haben, wenn sie bestehende Preise unterbieten. Dem setzt die Preisbindung einen Riegel vor. Sie schließt den Wettbewerb zwischen Händlern aus, erhält aber den zwischen Herstellern. Zudem können derartige ver­tikale Verträge das Agency-Problem zwischen Hersteller und Händler lösen. Hohe Grundmargen bieten demnach einen Anreiz für systematische Verkaufs­anstrengungen, die bessere Kenntnis der Kunden durch den Handel kann somit im Sinne der Hersteller genutzt werden. Schließlich betonen die Verfechter der Preisbindung, dass der vielbeschworene Preis nur einer von vielen Wettbewerbselementen ist. Sie stehe nicht für Preis-, sondern für Qualitäts- und Servicewettbewerb, von denen die Konsumenten ebenso profitieren.

Diese Argumente finden sich schon sämtlich, wenngleich in einer anderen Begrifflich­keit, in den öffentlichen und fachwissenschaftlichen Debatten vor dem Ersten Welt­krieg. [16] Die unterschiedlichen Bewertungskonjunktu­ren der Preisbindung während des 20. Jahrhunderts resultieren demnach nicht aus neuen Argumenten, sondern aus unterschiedlichen Macht- und Akteurskonstellatio­nen.

Eckpunkte der deutschen und der US-amerikanischen Preisbindungs­geschichte

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Eckpunkte der deutschen Geschichte der vertikalen Preisbindung

In Deutschland kam die Preisbindung abseits des Buchhandels vorrangig in den 1890er Jahren auf und ist da­mit Teil und Ausdruck des deutschen Produkti­onsre­gimes. Sie wurde durch den 1903 gegründeten Markenver­band systematisch an­gewendet und gegen vielfachen, teils erfolgrei­chen Widerstand der Einzelhändler weitflächig durchgesetzt. Gegen Außenseiter, die zu niedrige­ren Preisen verkaufen woll­ten, wurde mittels Vertragsrecht und dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb vorgegangen, seit 1911 galt sog. „Schleudern“ gerichtsnotorisch als sittenwidrig. [17]

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Konflikte um die Preissetzung (Bergheimer Zeitung 1907, Nr. 52 v. 29. Juni, 4)

Die Kartellverord­nung von 1923 bot nur indirekte Kontrollmöglichkeiten, Beschränkungs- oder gar Verbotsforde­rungen des Reichswirtschaftsrates liefen trotz „unangemes­sen hohen Nutzensätzen“ [18] zu Las­ten der Verbraucher ins Leere. Während der Welt­wirt­schaftskrise wurde die Preisbindung für Markenwa­ren ge­setzlich an­erkannt und geregelt, da sie einen einfachen Hebel für die Preissenkungspolitik der Präsidialkabi­nette bildete. [19] Zur Zeit des Nationalsozialismus war sie ein wichtiges Lenkungsinstrument und unterfüt­terte die Preisstopppolitik seit 1936 im Rahmen korporativer Kooperation – das Preisbindungsgesetz von 1940 bündelte die Regelungen. [20] Von den angelsächsischen Siegern, vorrangig den US-Amerikanern, im Rahmen der Dekartelli­sierungspolitik abgeschafft, wurde die Preisbindung dann seit 1952 nicht mehr juristisch verfolgt, schließ­lich im Kartellge­setz 1957 wie­der rechtlich anerkannt – wenngleich unter Missbrauchsvorbehalt ge­stellt. Doch die Anerkennung ging einher mit langsamem Bedeutungsverlust, ehe schließlich 1974 ein grundsätzliches Verbot erfolgte. Die Europäische Union schloss sich diesem Vorgehen 1999 an. Trotz steter Kritik gab es also bis vor fünfzig Jahren eine auch von den Amerikanern nicht aufgebrochene deutsche Kartelltradition.

07_Uwe-Spiekermann_Preisbindung_Kartelle_Markenartikel_Wettbewerbspolitik_USA

Eckpunkte der US-amerikanischen Geschichte der vertikalen Preisbindung

Die amerikanische Entwicklung weist überraschende Übereinstimmungen auf. Die Preisbindung begann hier früher, die Ausbildung eines nationalen Marktes für Mar­kenartikel bereitete ihr seit den 1870er Jahren den Weg. [21] 1889 wurde das Rechtsin­stitut erstmals als eine Wettbewerbsein­schränkung bewertet, doch „Price Standardi­zation“ war um 1900 weit verbreitet, um insbesondere Mindestverkaufspreise fest­zulegen. Seitdem begann ein von Gerichten ausgehendes langsames Zurückdrängen der nunmehr „Price Maintenance“ genann­ten Praxis. [22] Erst im Buchhandel, dann auch im Gebrauchsgüterhandel, wurde das Vertragsrecht eingeschränkt. [23] 1911 schließ­lich erklärte der US-Supreme Court die Preisbindung unter Bezugnahme auf den 1890 erlassenen Sherman Act für ungesetzlich. [24] Die folgende Politisierung des Themas ergab kein neues billigendes US-Gesetz, allerdings stärkten damalige Ge­richtsentscheidungen das Recht der Produzenten, sich seine Lieferanten aussuchen zu können. [25]

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Der Kampf gegen die Preisbindung als Teil der Rooseveltschen Anti-Trust-Politik (Los Angeles Times 1904, Ausg. v. 8. November, A4)

Trotz der an sich klaren Rechtslage bestand die Preisbindung faktisch vielfach weiter. [26] 1925 setzte das Justizministerium ihre Verfolgung aus – während der Prohibiti­onsära klafften Rechts­norm und Marktwirklichkeit vielfach auseinander. Nationale Gesetze scheiterten neuerlich, doch 1931 erließ Kalifornien als erster Bun­desstaat ein sog. „Fair Trade Gesetz“, um mittels Preisbindung den mittelständischen Einzelhandel zu schützen. [27] Bis 1938 gab es analoge Regelungen in 45 Bundesstaaten. Sie wurden durch den 1937 erlassenen nationalen Miller-Tydings Act schließlich gegen den Widerstand vieler Bundesgerichte legalisiert. [28] Als der Supreme Court 1951 [29] die in den Geset­zen meist enthaltene sog. non-signer-Klausel für ungesetzlich erklärte, also die Geltung eines zwischen zwei Partnern abgeschlossenen Vertrages auch für alle anderen Händler dieser Ware, wurde der Kongress 1952 erneut tätig und legali­sierte im Mc­Guire Act diese Praxis für alle Fair Trade-Bundesstaaten. [30] Gleichwohl begann nun eine langsame Erosion der Preisbindung, die durch Gerichtshöfe, staatli­che Anti-Trust-Behörden und insbesondere die Hersteller selbst forciert wurde. [31] Eine freiere Preissetzung sollte auch gegen die nicht unbeträchtliche Inflation helfen.

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Inflation als Argument für eine ungebundene Preissetzung (Los Angeles Times 1957, Ausg. v. 8. Januar, 85)

Der Consu­mer Goods Pricing Act von 1975 hob die Gesetze von 1937 und 1952 wieder auf, das Verbot von 1911 galt demnach wieder. [32] Gleichwohl behielt das Rechtsinsti­tut eine gewisse Bedeutung, da insbesondere republikanische Administratio­nen auf eine systematische Verfolgung verzichteten. [33]

Festzuhalten ist, dass es in diesem wichtigen Sektor in den USA definitiv kein Laissez Faire gegeben hat. [34] Freier Wettbewerb mochte ein Ideal gewesen sein, die Interventionen erfolgten vorrangig unter mittelstandspolitischen Vorzeichen.

 

 

Akteure und Machtkonstellationen – Ein transatlantischer Vergleich

Die meisten Ökonomen standen der Preisbindung bis in die 1960er Jahre kritisch, ja ablehnend gegenüber, seither aber werden wettbewerbsfördernde Effekte verstärkt hervorgehoben. Angesichts der intellektuell ausgereizten und handlungs­irre­levanten Diskussion um das Pro und Contra der Preisbindung kommt den Akteuren eine besondere Bedeutung zu. Immer wieder wurde betont, „daß der Kampf um die Preisbindung langsam in die Sphäre des Emo­tionellen hinübergleitet, wo man weniger nach Tatsachen als nach Empfindungen urteilt.“ [35] In modernen Me­diengesellschaften sind diejenigen erfolgreich, die ihre Interes­sen koordinieren und verdichten können, zugleich aber Narrative schaffen, die andere Akteure neutralisieren und/oder für bestimmte Forderungen einnehmen.

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Der gebundene Preis als Teil des Markenversprechens (Frankfurter Illustrierte 1959, Nr. 20, 38)

Die Markenartikelproduzenten waren in Deutschland die wichtigsten Lobbyisten der Preisbindung. Ihre Argumente konzentrierten sich auf Berechenbarkeit und eine spezifisch deutsche Produktqualität. Der federführende Markenverband betrieb Lobbyarbeit insbesondere gegen­über Exekutive und Legislative, die wichtigsten Bran­chenverbände flankierten diese Maß­nahmen. Zugleich bündelte der Markenverband juristische Kompetenz und stritt für seine Mitglieder vor Gericht, um die er­forderliche Lückenlosigkeit der Preisbindung zu gewährleisten. Marktordnung war aus ihrer Sicht Dienst an der Nation, am Volk, am Kunden und er­laubte zugleich deutsche Export­erfolge. Bis in die 1960er Jahre hinein verstanden sich die Produzenten als zentrale Steuerungsin­stanz der Wirtschaft, der Handel war nachgelagert, der Konsument unstet, aber lenkbar. Dieser „Herr im Markt“-Standpunkt wurde erst in den 1960er Jahren auf­gebrochen, als die Preisbin­dung in immer mehr Branchen kollabierte und die Preis­setzungsmacht endgültig an den Handel überging.

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Erosion gebundener Preise: Preissenkung von Markenwaschmitteln 1966 (Der Spiegel 20, 1966, Nr. 26, 36)

In den USA bestand demgegenüber ein stärker kooperatives Verhältnis von Markenartikelproduzenten und Vertretern des mittelständischen Einzelhandels. Die 1912 als Reaktion auf das Verbot gegründete „American Fair Trade League“ zielte auf eine gemeinsame Interessenver­tretung, um Öffentlichkeit und Kongress von der Systemkompatibilität der Preisbin­dung zu über­zeugen. [36] Dabei kombinierten die Produzenten ökonomi­sche und moralische Argu­mente. Filialbetriebe, Versandgeschäfte und Warenhäuser attackierten demnach die durch Fleiß und hohe Werbekosten etablierten nationalen Marken, agierten offenbar „unfair“ gegenüber den Produzenten der amerikanischen Produktwelt. Diese wehrten sich gegen Tritt­brettfahrertum und nutzten die Preisbin­dung als wettbewerbskonfor­mes Mittel, um die Händler für ihre Produkte einzunehmen. Sie wurde als Freiheits­recht verstanden, denn niemand könne doch einen Her­steller zwingen, seine Ware an jedweden zu verkaufen. [37] Diese Argumenta­tion innerhalb der bestehenden libera­len Wettbewerbsordnung erlaubte zugleich eine deutlich pragmatischere Haltung ge­genüber der Preisbindung. Die hohen Kosten für deren Kontrolle und Durchsetzung wurden stets berücksichtigt. Entsprechend nahm ihre Bedeutung in den späten 1930er und 1940er Jahren zu, als der klare Rechts­rahmen breit akzeptiert wurde.

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Werbung für die Preisbindung in den USA (Practical Guide to Fair Trade Laws, o.O. o.J. [1948], 34)

Als aber die Rechts- und Überwachungskosten An­fang der 1950er Jahre mit dem Aufkommen der Discounter und verstärktem Druck von Konsumentenorganisationen wuchsen, verabschiedeten sich vor allem Marktfüh­rer von der Preisbindung. General Electric strengte allein 1957 mehr als 3.000 Gerichtsverfahren an. [38] Zugleich setzten die Produzenten vermehrt auf möglichst große Verkaufsmengen, um günstig anbieten zu können. Die Marktführer setzten dann auf eine in­for­melle Preisführerschaft, der sich zumindest die Mehrzahl der Wettbewerber an­schloss. [39] Insgesamt waren die Produzenten anfangs die wichtigsten Propagandisten der Preisbindung, reagierten in den USA jedoch auch schnell auf die Erosion des Systems. Die Führungsposition ging jedoch, in den USA früher als in Deutschland, zunehmend an die mittelständischen Händlern über.

Die Händler vertraten entsprechend gegensätzliche Einstellungen zur Preisbindung. In beiden Staaten waren mittel­ständische Branchenvereine wichtige Verfechter, auch wenn in Deutschland keine die Bedeutung der 1898 gegründeten „National Associa­tion of Retail Drugists“ erreichte, die in den 1930er Jahren die Fair Trade-Gesetzge­bung fe­derführend beeinflusste. Sie stritt einerseits gegen die „unfaire“ Bedrohung durch die moderne preisbrechende Konkurrenz, deren Unter-Preis-Verkauf als Bruch mit soliden kaufmännischen Regeln galt und denen sie eine einseitige Kommerziali­sierung der Konsumenten vorwarf. [40]

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Unfair und unverantwortlich – Preisbrechende Konkurrenz im Spiegel der Fair-Trade-Kontroversen 1931 (Bean, 1996, 29)

Für diese Händler ging es um einen gerech­ten Preis, der ihren Service und ihr Enga­gement für die Nachbarschaft würdigte. Die neuen Betriebsformen bekämpften demgegenüber die Preisbindung dies- und jenseits des Atlan­tiks, doch dabei agierten sie durchaus flexibel. Die deutschen Konsumgenossenschaf­ten gaben ihre Kostenvorteile lange über Rückvergütungen an ihre Mitglieder weiter, sie, Filialisten und Einkaufsgenossenschaften setzten zudem sys­t­ematisch auf Handelsmar­ken. Die amerikanischen Kettenläden akzeptierten schließlich die Dis­positionseinschränkungen der Fair-Trade-Gesetze, da sie während der Depression zu strategisch sinnvollen Preiskämpfen nicht mehr in der Lage waren und sie von den neuen Regeln betriebswirtschaftlich profitierten. [41]

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Eingeschränkter Preiswettbewerb (Los Angeles Times 1939, Ausg. v. 8. September, 17)

Dieser Waffenstillstand endete je­doch mit der Etablierung einer Käufermarktes in den späten 1940er Jahren bzw. Mitte der 1950er Jahre. Hauptakteure waren die Dis­counter, mittlere Fachhändler, die preisgebundene Waren im Rahmen der Groß­han­delsra­batte verkauften. [42]

 

 

 

 

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Preisbrecher: Anzeige eines US-Discounters (Resale, 1952, 296)

In den USA nutzten sie die relativ geringen Strafmaße der Gerichte und die teils beträchtliche Dauer der Gerichtsverfahren. Sie stellten sich als ur-amerikanische Pionierunternehmer dar, die veraltetes Recht der Depressionszeit in Frage stellten und insbesondere Konsumenten der unteren Mittelschicht die neue Welt materiellen Wohlstandes erschlossen. [43]

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Preisbrecher: Abkehr von Preisbindungen durch den mittelständischen Discounter Uhren-Weiss (Der Spiegel 12, 1958, Nr. 32, 26)

Zeitversetzt fand ein Transfer nach Deutschland statt. Eine erste Discounter­welle sorgte hier seit 1957 für Aufregung, auch wenn man sich über „orientalische Basarmethoden“ [44] mokierte. Die Dynamik die­ser Geschäfte endete nach wenigen Jahren (die Lebensmitteldiscounter folgten mit gewissem Abstand), doch bis dahin misch­ten sie den fest­gezurrten Markt immer wieder folgenreich auf. Sie erzwangen insbesondere langwierige, im Aus­gang vielfach offene Prozesse mit den Herstel­lern. [45] Offensiv unterminierten sie die Lückenlosigkeit der Preisbindungs­systeme, die gewährleistet sein musste, um vom Kartellamt anerkannt zu werden. Zugleich verwiesen sie auf gängige, an sich aber unlautere Praktiken des Beziehungshandels vorrangig hochwertiger Gebrauchsgüter. All dies führte zu einem Imagewandel der Preisbindung: Sie wurde in Deutschland und den USA als Mittel im Existenzkampf der kleinen Händler verstanden. Sie verteidigten keine Wirtschafts­prinzipien, sondern Lebenszuschnitte und setzten hierbei auf die Solidarität ihrer Kunden.

Die Konsumenten dienten bis in die 1950er Jahre vornehmlich als Refe­renzpunkt für den Interessenkampf. In den USA votierten anfangs nur wenige Haus­frauenorga­nisationen gegen die Preisbindung, die Mehrzahl stand fest an der Seite der kleinen und mittleren Händler. Dies galt auch für die Citizen Consumer der New Deal-Ära. Diese fast durchweg von Frauen getragene Mobilisierung wandte sich zwar gegen steigende Lebenshaltungskosten, stand dem Geschäftsgebaren der Filialisten aber meist ablehnend gegenüber. [46] Auch die afro-amerikanische Bürgerrechtsbewe­gung unterstützte unabhängige Händler und machte Front gegen die Filialisten. Erst der Über­gang zum sog. Purchaser Consumer in der Nachkriegszeit bewirkte einen nach­halti­gen Stimmungswandel, auch wenn die Kartellgefahr aus Konsumentensicht vor­nehmlich von Produzenten ausging. [47]

17_New York Times_1949_12_15_pB7_USA_Anti-Trust_Kartelle_Preisbindung_Fair-Trade

Die Kontinuität halbherziger Antitrust-Politik (New York Times 1949, Ausg. v. 15. Dezember, 87)

1951/52 gab es erstmals umfassende Leserbriefdebatten, in denen „Fair Trade“ als unfair gedeutet wurde. [48] Die Konsumentenorganisationen griffen dieses auf und gehörten seither zu den schärfs­ten Kritikern der Preisbindung. [49] Das galt analog auch in Deutschland, wobei sie in den Konsumgenossenschaften einen Vorläufer hatten.

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Die verteuernde Wirkung fester Handelsspannen (Der Spiegel 12, 1958, Nr. 4, 28)

Die Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Verbraucherverbände bewertete die Preis­bindung als Ausdruck man­geln­der Verbraucheraufklärung, Resultante aus einseitiger Werbung, „Erinnerung­ballast“ an die geordnete Volksgemeinschaft, antikapitalisti­schen Ressentiments und man­gelnder Schulbildung. [50] Doch anders als in den USA unterstützte die Mehr­zahl der deut­schen Kon­sumenten die Preisbindung bis zum Verbot. Markttransparenz und Qualitätsgarantie standen dabei im Vordergrund, [51] Verfügbar­keit und überall glei­cher, lang­fristig kon­stanter Preis waren weitere Pluspunkte. Günstige Preise wa­ren wichtig, doch Sicherheit wurde auch in der Konsumsphäre hoch geschätzt.

Dennoch waren es ganz wesentlich die Konsumenten, die seit Mitte der 1950er Jahre zu einer schleichenden Ero­sion der Preisbindung beitrugen. Handeln und Reden waren widersprüchlich. Das Jahrzehnt zwi­schen 1955 und 1965 war eine Hochzeit des Grauen Mark­tes, des sog. Direkt-Ein­kaufs. 1960 betrug er ei­n Achtel des Einzelhandels­umsat­zes. Beziehungen erlaubten die Abschöpfung oder aber Minde­rung der festen Handelsspannen. „Arm kauft teuer, reich kauft billig“ war ein Schlag­wort jener Zeit, in der Stamm­kunden bevorzugt wurden und wieder­holt ganze Ämter und auch Lan­desministe­rien aufflo­gen, weil kollektiv Elekt­rowaren um 20-25 % billiger bezo­gen wurden. [52] Die US-Her­steller hatten diese Gefahr der „Buying Clubs“ durch ihre freiwilligen Rückzüge antizipiert, sodass die Preisreduk­tionen dort gradliniger erfolgten. Insgesamt waren die Konsumenten also dreifach präsent: Als positiver Referenzpunkt aller anderen Akteure, als verbale Unterstützer der Preisbindung und als deren reale, gleichwohl kreative Zerstörer.

In der institutionalisierten politischen Sphäre bestanden größere Unterschiede. Die Politisierung der Preisbindung begann in den USA schon vor dem Ersten Welt­krieg. Nach dem Scheitern in Washington konzentrierten sich die kleineren Händler er­folgreich auf die bundesstaatliche Ebene.

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Komplexe Rechtslage: Fair-Trade-Regelungen in den US-Bundesstaaten nach 1940 (Guide, [1948], 10)

Diese Strategie führte zu einer Re-Politisierung der Preisbin­dungsfrage auch auf nati­onaler Ebene. Im Gegensatz zu Deutschland gab es jedoch einen klaren par­teiübergreifenden Konsens, fanden die Gesetze von 1937, 1952 und 1975 doch je­weils qualifizierte Mehrheiten. Im Mittelpunkt stand dabei der Kongress, der vielfach adressierte US-Präsident wurde erst 1975 aktiv, als das Preisbindungsverbot ein probates Mittel zur Inflationsbekämpfung zu sein schien. Innerhalb der Administration gab es mit der 1914 gegründeten Federal Commission of Trade und dem Justizmi­nisterium allerdings kontinuierliche Kritiker der Preisbindung. Sie verkörperten die Anti-Trust-Politik der USA, unterstützten zugleich die Imperative des Supreme Courts.

In Deutschland gab es anfangs keine entsprechende Anti-Kartell-Politik, im Gegen­teil: Die Preisbindung wurde durch die Exekutive genutzt, um allgemeine wirtschafts- und dann auch rüstungspolitische Ziele zu erreichen. In der Nachkriegszeit unter­stützten sowohl Bundeskanzler Konrad Adenauer als auch der pseudoliberale Wirtschaftsminister Ludwig Erhard das Rechtsin­stitut. Da die Regierungsparteien diese Linie nicht durchweg deckten und einige we­nige Ordo- und Wirtschaftsliberale dieses politische Kartell nicht akzeptieren wollten, gewann auch das Parlament wieder an Bedeutung.

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Politisierung der Preisbindung im Bundestagswahlkampf 1957 (Der Spiegel 11, 1957, Nr. 20, 57)

Letztlich profilierte sich die Sozialdemo­kratie schon deutlich vor Godesberg als marktwirtschaftliche Partei, forderte auch in den 1960er Jahren vielfach das Ende der Preisbindung und setzte sie aus Gründen der Inflationsbekämpfung auch letztlich durch. Gerichte besaßen in Deutschland eine geringere Bedeutung. Auch das Bundeskartellamt agierte vornämlich als zahnlo­ser Tiger und schlechtes Gewissen der Regierenden.

Die Besatzungszeit mit ihrer Dekartellisierungspolitik stellte entsprechend nur eine Episode dar. Die Verbote von 1947 erfolgten vor allem durch libe­rale Kritiker der Fair-Trade-Gesetze, die im Ausland nun vermeintliche amerikanische Werte hochhielten. Gegen diese Amerikanisierung verwahrten sich die deutschen Eliten erfolgreich. Der Joosten-Entwurf des Kartellgesetzes von 1949 enthielt noch ein Verbot. Doch Hersteller und Fachhänd­ler drängten – auch mit Verweis auf die US-Regelungen – das Wirtschaftsministerium zu einer Reetablierung des früheren Preis­rechtes. Sie er­folgte 1952, nachdem das Wirtschaftsministerium wieder und wieder bei der Dekar­tellisierungsbehörde vorstellig geworden war, um die gängige Praxis der Preisbindung zu legalisieren. [53] Mit dem sog. Will­ner-Brief verpflichteten sich die Alliierten im November 1952 künftig keine Verfahren mehr anzustren­gen. [54] Obwohl Preisbin­dungen formal verboten blieben [55], kehrte die Preisbindung nun auf breiter Front zurück.

Standen in Deutschland vor allem die Regierungen hinter den Preisbindungen, waren es in den USA vornehmlich die Parlamente. Beide betteten sie jeweils in mehr­heitsfähige Konzepte von Marktordnung und fairem Wettbewerb. Auch die Verbote folgten weniger der Wettbewerbsrhetorik, sondern vielmehr Klientelpolitiken nun zugunsten von Gewerkschaften und Verbraucherschützern sowie dem überge­ordneten Ziel der Inflationsbekämpfung.

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Inflationsgefahren und Stabilisierungseffekte durch das Ende der Preisbindung (Markenartikel 35, 1973, 341)

Preisbindung in den USA und Deutschland – Ein vorläufiges Fazit

Die Geschichte der Preisbindung spiegelt Grundprobleme moderner marktwirtschaftlich verfasster und funktional ausdifferenzierter Konsumgesellschaften wider. Die vermeintlich klaren Unterschiede zwischen den USA und Deutschland verschwimmen, werden graduell. Die Maßnahmen selbst erfolgten gemäß nationaler, teils regionaler Problemlagen, während ein transatlantischer Transfer von Institutionen und Argumenten unterblieb. [56] Um Werte ging es hierbei nicht, mochte man den Gegensatz zu den administrierten Preisen des „Ostens“ auch stetig beschwören.

Die Geschichte der Preisbindung im 20. Jahrhundert spiegelt erstens den Kampf um Marktideale und Konsummodelle. Ihre Hauptbefürworter – Hersteller und mittelständi­sche Händler – versuchten, eine Absatzkette zu stabilisieren, in der jeder Marktteilneh­mer seinen Platz und sein gerechtes Entgelt hatte; auch die Konsumenten. Ihre Gegner orientierten sich dagegen vorrangig an Idealen niedriger Preise, verstanden mög­lichst viele günstige Produkte als Fluchtpunkt des Wohlstandsversprechens moderner Konsumgesellschaften. Beiden lagen tendenziell eindimensionale Modelle von Bedürfnissen und wirtschaftlichen Abläufen zugrunde, die von der Großen Depression in Frage gestellt und auch in der goldenden Ära des Nachkriegskapitalismus nicht wirklich reetabliert werden konnten. Zunehmend diversifizierter Bedürfnisse und An­sprüche an Service, Qualität und auch den Preis verbreiterten die Palette von Pro­dukten und Einzelhandelsformen und veränderten die Machtverhältnisse zwischen Herstellern und Händlern fundamental. Neue, flexiblere Rechtsinstitute, etwa die un­verbindliche Preisempfehlung, aber auch eine im Einzelfall durchaus sinnvolle Preis­bindung trugen dem Rechnung.

Die Geschichte der Preisbindung verdeutlicht zweitens die langfristigen Pfadabhängigkeiten und Binnenlogiken der Wirtschaftsordnungen in den USA und Deutschland. Innerhalb Deutschlands steht sie für die relative Kontinuität des kooperativen deutschen Wirt­schaftssys­tems, das mit den gän­gigen Kategorien Markt- und Planwirtschaft und ins­beson­dere mit dem Flaggenwort „soziale Markt­wirtschaft“ kaum angemessen gefasst wer­den kann. Die hiesige patriarchalische Marktwirtschaft hatte in Teilbereichen auch über die 1960er Jahre hinaus Bestand, bei der Preisbindung erfolgte der Bruch erst während der Weltwirtschaftskrise 1973/74. In den USA verwies sie auf die Kontinu­ität regulierender privatwirtschaftlicher und staatlicher Interventionen, die vielfach interessengebunden waren und nur selten den Idealen von freiem Wettbewerb und einer effizienten Anti-Trust-Politik folgten. [57] An diese pragmatische Regulierungsgeschichte knüp­fen die USA seit 2007 wieder an.

Die Geschichte der Preisbindung verdeutlicht drittens, dass die Wirtschaftskulturen Deutschlands und der USA sich keineswegs so scharf entgegenstanden, wie dies einfache Modelle behaupten. Die vom Umfang und Zeitverlauf frappierend ähnli­che Nutzung der Preisbindung mochte anderen Zwecken dienen, mochte in den USA im­mer stärker auf Individualrechte und ein faires, effizientes Marktgeschehen zie­len. Doch der sich in der Dekartellisierungspolitik niederschlagende Anspruch eines deutlich anders struktu­rierten US-Systems lässt sich für dieses Segment der Wirtschaftsverfassungen sicher nicht halten. Mit Blick auf zahlreiche Maßnahmen im Felde der Mittelstandsförderung lässt sich jeden­falls mehr als eine „entfernte Verwandschaft“ konstatieren. [58]

Die Diskrepanz zwischen Modell und empirisch rekonstruierbarer Realität verdeut­licht viertens schließlich die immense Bedeutung, die Narrative des Marktes und seiner Ak­teure besitzen. Die Schutzrhetorik der Preisbindung ließ mittelständische Einzelhänd­ler für Politiken plädieren, die vorrangig ihren Konkurrenten nutzten. Die einseitig gesetzten Preise verzögerten die Anpassungsleistungen der deutschen Konsumgüter­hersteller angesichts von Marktsättigung und wachsender Internationalisierung. Und die Rhetorik der freien Welt und freier Märkte führt bis heute nicht nur Fachleute in die Irre.

Uwe Spiekermann, 20. Mai 2023

 

Anmerkungen, Literatur und Quellenbelege

Es handelt sich um die durchgesehene und überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich am 16. Dezember 2009 an der Universität Bielefeld gehalten habe.

[1] Werner Abelshauser, Ein Grund zum Feiern: Der Kampf gegen die Kartellbrüder hat sich gelohnt. Vor 50 Jahren trat das Kartellgesetz in Kraft, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2007, Nr. 51 v. 23. Dezember, 36-37, hier 36.
[2] Zu den unmittelbaren Auswirkungen vgl. Joseph Pereira, Price-Fixing Makes Comeback After Supreme Court Ruling, Wall Street Journal 2008, Ausg. v. 18. August. Zu den damit einhergehenden Rechts- und Wettbewerbsfragen s. Florian Toncar, Die Rule of Reason-Analyse vertikaler Mindestpreisbindungen im US-Kartellrecht, Baden-Baden 2012; Fabian Hübener, Vertikale Mindestpreisbindungen im US- und EU-Recht. Die Auswirkungen des Leegins-Urteils des U.S. Supreme Court, Baden-Baden 2016.
[3] Peter A. Hall und David Soskice, Varieties of Capitalism. The Institutional Foundation of Comparative Adavantage, Oxford 2001; Volker R. Berghahn und Sigurt Vitulis (Hg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt a.M. und New York 2006; Martin Schröder, Varianten des Kapitalismus, Wiesbaden 2014.
[4] Vgl. Resale Price Maintenance 2008, hg. v. d. OECD, Paris 2009; Dieter Ahlert, Vertikale Preis- und Markenpflege im Kreuzfeuer des Kartellrechts, Wiesbaden 2012; Mareike Walter, Die Preisbindung der zweiten Hand, Tübingen 2017; Pat Treacy, Maintaining price competition in e-commerce markets, European Competition Law Reviews 39, 2018, 470-473; Christiana Bauer, Staatliche Maßnahmen zur Erhaltung einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung, Baden-Baden 2020; Christian Peter, Kulturgut Buch. Die Legitimation des kartellrechtlichen Preisbindungsprivilegs von Büchern, Berlin und Heideberg 2022.
[5] Vgl. etwa Werner Abelshauser, Markt und Staat. Deutsche Wirtschaftspolitik im ‚langen 20. Jahrhundert’, in: Reinhard Spree (Hg.), Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, München 2001, 117-140; Ders., Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung, Berlin 2003; Ders., Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, München 2004, v. a. 22-44.
[6] Einen Überblick zur Rechtsgeschichte bieten Jonathan J. Bean, Beyond the Broker State. Federal Politics Toward Small Business, 1936-1961, Chapel Hill und London 1996, insb. 67-88 sowie Matthias Epple, Die Wurzeln der vertikalen Preisbindung in Deutschland, Baden-Baden 2014. Zum Kontext vgl. Meg Jacobs, Pocketbook Politics. Economic Citizenship in Twentieth-Century America, Princeton und Oxford 2005, 30-38; Laura Phillips Sawyer, American Fair Trade. Proprietary Capitalism, Corporatism, and the ‘New Competition,’ 1890-1940, Oxford 2018. Für die Bundesrepublik vgl. Sebastian Teupe, Die Schaffung eines Marktes. Preispolitik, Wettbewerb und Fernsehgerätehandel in der BRD und den USA, 1945-1985, Berlin und Boston 2016.
[7] Sie umgreift „horizontale Preisvereinbarungen zwischen Unternehmern der gleichen Wirtschaftsstufe (Kartelle) oder obrigkeitlich festgelegte Preise“ (Burkhardt Röper, Die vertikale Preisbindung bei Markenartikeln. Untersuchungen über Preisbildungs- und Preisbindungsvorgänge in der Wirklichkeit, Tübingen 1955, 6).
[8] Gutachten des Vorl. Reichswirtschaftsrats zu der Frage der Verhütung unwirtschaftlicher Preisbindungen (1930), in: Arthur Hüssener, Der Preisschutz für Markenartikel und die Ausführungsverordnung über Aufhebung und Untersagung von Preisbindungen vom 30. August 1930, Berlin 1931, 12-25, hier 15; Die Preisbindung der Markenartikel, Konsumgenossenschaftliche Praxis 19, 1930, 375-376.
[9] Vgl. etwa Die Umsatzanteile preisgebundener, preisempfohlener und frei kalkulierter Waren im Berliner Facheinzelhandel, FfH-Mitteilungen 7, 1966, Nr. 3, 1-4.
[10] Bean, 1996, 75; Finis to Fair Trade, Wall Street Journal 1975, Ausg. v. 17. März, 10.
[11] Clair Wilcox, Brand Names, Quality, and Price, Annals of the American Academy of Political and Social Science 173, 1934, 80-85, hier 80.
[12] Diese Warenstruktur blieb stabil, vgl. Eileen Shanahan, No Defender of ‚Fair Trade’ Are Found at Repeal Hearing, New York Times 1975, Ausg. v. 19. Februar, 72.
[13] L. Louise Luchsinger und Patrick M. Dunne, Fair Trade Laws – How Fair? What Lessons can be drawn that would guide us in the future?, Journal of Marketing 42, 1978, 50-53, hier 52.
[14] Bei diesem marktorientierten Verfahren wird der Preis auf Grundlage des Markgeschehens (Konkurrenzpreise, Nutzenpreise sowie Qualitäts- und Imagedifferenzen) abgeleitet und dann mittels einer Rückrechnung auf den relativen Markterfolg überprüft.
[15] Vgl. hierzu instruktiv Barak Y. Orbach, Antitrust Vertical Myopia: The Allure of High Prices, Arizona Law Review 50, 2008, 261-287, insb. 267-276.
[16] Vgl. für die USA Both Sides. A Debate. Price Maintenance, The Independent 78, 1914, 139; Price Maintenance, Werner’s Readings and Recitations 54, 1915, 33. Vgl. auch den Überblick bei H.R. Tosdal, Price Maintenance, American Economic Review 8, 1918, 28-47, 283-305. Zu den deutschen Diskussionen s. Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels ins Deutschland, 1850-1914, München 1999, 534-549.
[17] Diese Festsetzung blieb der Rechtsprechung vorbehalten, vgl. Fromut Völp, Preisbindung für Markenartikel, Münster 1961, 30-32.
[18] Preisbindung, 1930, 375.
[19] Vgl. hierzu Herbert Kuessner, Die Preisbildung und ihr Recht, Jur. Diss. Breslau 1933 bzw. Paul Zondler, Die Preisbindung der zweiten Hand, Zürich 1938. Die Nutzung erfolgte in den zwei Markenwarenverordnungen von 1931, die Preissenkungen von je 10 % vorsahen.
[20] Zur Rechtslage vgl. Hans Klinger, Die Preisbindung der zweiten Hand, Der Markenartikel 6, 1939, 229-238; W. Schütz, Neuregelung der Preisbindungen, Der deutsche Volkswirt 15, 1940/41, 656-660. Zum Kontext vgl. André Steiner, Von der Preisüberwachung zur staatlichen Preisbildung. Verbraucherpreispolitik und ihre Konsequenzen für den Lebensstandard unter dem Nationalsozialismus in der Vorkriegszeit, in: Ders. (Hg.), Preispolitik und Lebensstandard. Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln, Weimar und Wien 2006, 23-85.
[21] James Angell McLaughlin, Fair Trade Acts, University of Pennsylvania Law Review 86, 1938, 803-822, hier 803; Ralph Starr Butler, Marketing Methods, New York 1917, 294.
[22] Zur Rechtsprechung vor 1911 vgl. Charles L. Miller, The Maintenance of Uniform Resale Prices, University of Pennsylvania Review and American Law Register 63, 1914, 22-34, hier 25-30; Edward H. Levi, The Parke, Davis-Colgate Doctrine: The Ban on Resale Price Maintenance, Supreme Court Review 1960, 258-326, v. a. 266-273.
[23] Zum Buchhandel vgl. H[arry] R. Tosdal, Price Maintenance, American Economic Review 8, 1918, 28-47, 283-305, hier 32-33.
[24] Die Bedeutung dieser Gerichtsentscheidung wird mit Bezug auf den Hartmann Case von 1907 bei McLaughlin, 1938, 804-806, relativiert. Der Dr. Miles Case ist auch deshalb einschlägig, weil das später darin zumeist gedeutete per se Verbot der Preisbindung in den mehr als 400 Seiten umfassenden Prozessdokumenten so nicht ausgesprochen wurde.
[25] Vgl. zur Argumentation der Befürworter einer Preisbindung Speeches on Maintenance of Resale Prices delivered before the Second Annual Meeting of the Chamber of Commerce of the United States, Washington 1914. Eine umfassende Darstellung des Problems enthalten Ralph Starr Butler, Marketing Methods, New York 1917, insb. 293-321 sowie Claudius Temple Murchison, Resale Price Maintenance, New York 1919. Vgl. auch F[rank] W. Taussig, Price Maintenance, American Economic Review 6, 1916, Suppl., 170-209 (inkl. Disk.).
[26] Kritik an der Haltung des Supreme Courts bündelt William H. Spencer, Recent Cases on Price Maintenance, Journal of Political Economy 30, 1922, 189-200.
[27] Vgl. California Branded Goods Price Law Test Proposed, Wall Street Journal 1931, Nr. v. 26.10.,11 sowie im Kontext der kalifornischen Rechtsprechung seit 1909 E[wald] T. Grether, Fair Trade Legislation Restricting Price Cutting, Journal of Marketing 1, 1937, 344-354, hier 348.
[28] Einen detaillierten Überblick erlaubt Stanley A. Weigel, The Fair Trade Acts, Chicago 1938. Kritiker sprachen später von einem „Ermächtigungsgesetz“ der Drogisten (Joseph Harden, Umwälzungen im amerikanischen Einzelhandel. Abschlagsfirmen gewinnen Boden, Der Volkswirt 9, 1955, Nr. 29, 19-20, hier 19).
[29] Vgl. The Schwegmann Case and Fair Trade: An Obituary?, Yale Law Journal 61, 1952, 381-404. Zu dessen relativ geringen Auswirkungen s. Legislative und Judicial Developments in Marketing, Journal of Marketing 16, 1951, 91-96, hier 93-94. Die früheren Fair Trade-kritischen Urteile in Florida und Michigan behandelt Richard D. Rohr, Regulation of Business, Michigan Law Review 51, 1953, 452-455, hier 453.
[30] Zur damaligen Situation s. die umfassende Darstellung in Minimum Resale Prices. Hearings before a Subcommittee of the Committee on Interstate and Foreign Commerce. House of Representatives, Eighty-Second Congress, Second Session on H.R. 5767, Washington 1952.
[31] Vgl. Robert L. Hubbard, Protecting Consumers Post-Leegin, Antitrust 22, 2007, Nr. 1, 41-44, hier 43.
[32] The Repeal of the Fair Trade Laws. Impact on Product Distribution, New York 1976.
[33] Gleichwohl bewertet David W. Boyd, From “Mom and Pop” to Wal-Mart: The Impact of the Consumer Goods Pricing Act of 1975 on the Retail Sector in the United States, Journal of Economic Issues 31, 1997, 223-232, dieses Gesetz als Einschnitt in der US-Wirtschaftspolitik.
[34] So auch explizit National Planning, Los Angeles Times 1934, Ausg. v. 22. September, A4.
[35] Kurt Junekerstorff, Die Preise werden weiter manipuliert. Gefahren für den freien Wettbewerb? – USA-Debatte über Fair Trade, Die Zeit 1961, Nr. 41 v. 6. Oktober.
[36] Vgl. Thomas K. McCraw, Prophets of Regulation, Cambridge und London 1984, 101-103.
[37] William H. Spencer, Recent Cases on Price Maintenance, Journal of Political Economy 30, 1922, 189-200, insb. 200.
[38] Stewart Munro Lee, Problems of Resale Price Maintenance, Journal of Marketing 23, 1959, 274-281, hier 280, 275.
[39] So etwa die Argumentation in „Preisführerschaft“ oder Kartelle, Die Zeit 1953, Nr. 18 v. 30. April.
[40] Vgl. McLaughlin, 1939, insb. 815-818. Die Branchenverbände übten systematischen Druck auch auf die Produzenten aus, beispielhaft war etwa die Anlage von „weißen Listen“ mit Händlern, die Fair Trade unterstützten (M.P. McNair, Fair Trade and the Retailer, Journal of Marketing 2, 1938, 295-300, hier 296).
[41] Vgl. dazu Chain Stores. Chain-Store Leaders and Loss Leaders, Washington 1932.
[42] Vgl. hierzu detailliert Herbert Gross, Die Preisbindung im Handel. Neue Eindrücke aus Nordamerika und Westeuropa, Düsseldorf 1957.
[43] Fair Trade Laws and Discount Selling, Harvard Law Review 64, 1951, 1327-1338.
[44] Adolf Jürgens, Nicht um jeden Preis. So sieht ein Fachhändler die Situation des Mittelstandes, Die Zeit 1964, Nr. 51 v. 18. Dezember. Vgl. Deutsche Einzelhändler errichten „Discount Houses“, Der Verbraucher 11, 1957, 262-263.
[45] Einen guten Überblick vermitteln Ulf Cloppenburg, Die deutschen Diskonthäuser, Stwiss. Diss. Basel, Köln 1965; Manfred Epp, Vertikale Preisbindung und Diskontprinzip, RStwiss. Diss. Würzburg 1966.
[46] Vgl. hierzu Lizabeth Cohen, A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2004, insb. 31-41.
[47] Dieser wurde immer wieder von Ökonomen adressiert, vgl. Hugh E. Agnew, Fair Trade and the Consumer, Journal of Marketing 2, 1938, 301-302.
[48] Die umfassendste Debatte fand von Februar bis Mai 1952 in der Washington Post statt.
[49] Zur Intensivierung der Konsumentenpolitik vgl. Warren J. Bilkey, Governement and the Consumer Interest, American Economic Review 47, 1957, 556-568. Zur Argumentation s. Un-Fair Trade. Efforts To Impose a National System of Resale Price Maintenance Under the Guise of So-Called “Fair Trade”, ed. by the National Association of Consumer Organizations, Washington 1959.
[50] Cornel C. Bock, Die Meinungsbildung für die Preisbindung und das Urteil der Verbraucher, Verbraucher-Politische Korrespondenz 10, 1963, Nr. 9, 9-11, hier 11.
[51] Verbraucher zur Preisbindung. Der Markenartikel im Alltag der Bevölkerung, Allensbach 1964. Vgl. auch Ergebnisse der Kölner Verbraucherstudie 1960, Verbraucher-Politische Korrespondenz 7, 1960, Nr. 34, 3-10; Preisbindung und Ordnungsfunktion des Markenartikels. Ein Gutachten des Instituts für Demoskopie, Allensbach, Der Markenartikel 23, 1961, 261-264, 267-268, 270-271; Die Preisbindung im Urteil der Verbraucher. Eine Untersuchung der Forschungsstelle für den Handel e.V., Berlin, Der Markenartikel 29, 1967, 423-424.
[52] Vgl. Wolfgang v. Holt, Rabattkartell und Preisbindung, Der Volkswirt 12, 1958, 2040, 2042; Werner Peiner, Für und wider die Preisbindung, ebd., 1959-1962.
[53] Zur Einordnung der Unternehmer-Positionen vgl. allgemein Hartmut Berghoff, Entrepreneurship under ‚Cooperative Capitalism’: The German Case, in: Youssef Cassis und Ionanna Pepelasis Minoglou (Hg.), Country Studies in Entrepreneurship, Houndmills und New York 2006, 98-128.
[54] Willner war Leiter der alliierten Decartellisation and Industrial Deconcentration Group. Vgl. Albrecht Spengler, Zur Rechtsverbindlichkeit der Markenartikel-Preisbindung nach wiedererlangter Souveränität, Der Markenartikel 17, 1955, 394-399.
[55] Vgl. etwa Bundeswirtschaftsministerium an Markenverband: Absatzbindungen sind verboten, Der Verbraucher 11, 1957, 69-70.
[56] Zu Konzepten des Vergleichs vgl. Hartmut Kaelble, Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: H-Soz-u-Kult, 08.02.2005, http://hsozukult.geschichte.hu-ber¬lin.de/fo-rum/id=574&type=artikel.
[57] Vgl. etwa Hugh Rockoff, Drastic measures. A history of wage and price controls in the United States, Cambridge et al. 1984; Thomas E. Kauper, The Antitrust “Revolution” and Small Business. On “The Turnpike to Efficiencyville”, in: Paul D. Carrington und Trina Jones (Hg.), Law and Class in America. Trends since the Cold War. New York und London 2006. 120-142.
[58] Vgl. das anregende, nicht aber immer überzeugende Buch von Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, München und Wien 2005.

Schaufenster und Schaufensterwerbung im langen 19. Jahrhundert

Werbung ist in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Thema der internationalen Sozial­ und Wirtschaftsgeschichte geworden. [1] Neue, publikumswirksame Themen konnten so erschlossen werden und zugleich begann man, sich mit den Konturen der modernen Konsumgesellschaft auseinanderzusetzen. Doch die wachsende Zahl einschlägiger Publikationen kann nicht verdecken, dass es gerade in Deutschland an Grundlagenforschung mangelt. Werbung kann angemessen nur im Kontext von Konsum, Kleinhandel und Konsumgüterproduktion verstanden werden – und hier sind valide Studien dünn gesät. [2] Noch weniger wissen wir über die neu entstehende Objektwelt des 19. Jahrhunderts. Welche Waren beworben und gekauft wurden, an welchen Orten man sie erstand und in welchem Rahmen man sie sah – solche einfachen Fragen sind für die deutschen Lande kaum zu beantworten. Wir sollten sie uns jedoch stellen, hat doch nicht nur der Pariser Anthropologe Bruno Latour auf die grundlegende Bedeutung solcher Objekte für das Verständnis der Moderne hingewiesen. [3]

Eine der zentralen Innovationen der frühen Konsumgesellschaft war das Schaufenster. Dahinter wurden die Waren präsentiert und so ein Kunstraum des Käuflichen geschaffen. Doch wie so viele andere Objekte wirkte es erst in einem Gesamtensemble: „Schaufenster wurden zu den urbanen Attraktionen, sie bildeten die Anziehungspunkte der Straße, wirkten wie Magneten, die die Menschenströme in ihren Bann zogen.“ Die Schaulust des Publikums und der Zeigestolz der Händler und Produzenten trafen sich an einem gemeinsamen Ort. Hier fand die Ware zu sich selbst: „Losgelöst aus der Sphäre unmittelbaren Konsums, erschien die Ware dort im verglasten Kunstraum als Objekt, das nicht mehr wegen seines Gebrauchs- und Tauschwertes, sondern scheinbar nur um seiner selbst willen interessierte: Das Objekt will nicht benutzt und nicht gekauft, sondern betrachtet und bestaunt werden. Das Schaufenster ermöglicht die ästhetische Epiphanie der Ware.“ [4] Das Schaufenster verwandelte die schnell wachsenden Städte in Stätten von Zeichen und Bedeutungen und stand damit am Beginn eines modernen Lebensstils, unseres Lebensstils.

Derartig allgemeine Charakterisierungen findet man häufig, selten aber klare Entwicklungslinien, Periodisierungen oder gar Versuche, diese empirisch zu belegen. [5] Darum wird es im Folgenden gehen. Grundsätzlich lassen sich vier Entwicklungsstadien des Schaufensters und der Schaufensterwerbung in deutschen Städten des 19. Jahrhunderts nachzeichnen, die auch den folgenden Beitrag untergliedern: War das Schaufenster erstens bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts lediglich Repräsentationsmittel weniger Luxuswarengeschäfte, so setzte es sich zweitens bis in die 1870er Jahre in den Großstädten des Deutschen Reiches allgemein durch. Danach veränderten sich drittens sowohl das Schaufenster als auch die Dekorationsweise grundlegend. „Glaspaläste“ und „Schaufensterkunst“ fanden um die Jahrhundertwende ihren Höhe- und Wendepunkt. Denn seitdem weitete sich viertens die Werbesphäre in den Laden hinein und wurde zum Vorbild der allgemeinen Warenpräsentation. All dies hatte eine hohe Bedeutung nicht nur für die Geschichte von Werbung, sondern auch für Wirtschaft und Gesellschaft des Deutschen Reiches.

Das Schaufenster vor dem Durchbruch zur Konsumgesellschaft

Das Schaufenster ist ohne einen Laden nicht denkbar. Doch der Laden, dessen Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht, hatte anfangs keine Schaufenster. [6] Seine Vorform bildete die Bude, ein fester Marktstand, der Verkäufer und Waren vor den Unbilden der Witterung schützte. Die Vorderseite bestand zumeist aus zwei hölzernen Läden, von denen der eine hoch­ und der andere heruntergeklappt wurde: Zwei Läden machten einen Laden. Dergestalt besaßen die Budenhändler einen Verkaufstisch, auf dem ein Teil der Ware ausgelegt werden konnte, sowie Käufer und Verkäufer einen begrenzten Schutz gegen Sonne und vor allem Regen. Der einfache Holzladen verband den freien Zugang zur Ware am Tage und angemessene Sicherheit des Nachts.

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Kaufladen in der frühen Neuzeit (Vorwärts! Magazin für Kaufleute NF 3, 1862, 87)

Sein Prinzip wurde auch beibehalten, als sich der Verkauf mehr und mehr in Häuser verlagerte. Hier konnten die Händler größere Warenmengen lagern, konnten Handwerker Produktion und Verkauf miteinander verbinden. Der Käufer aber blieb noch außerhalb, er betrachtete das Angebot vom öffentlichen Raum der Straße. Dieses Prinzip blieb in deutschen Landen – anders als in Frankreich, Großbritannien und Österreich – bis ins späte 18. Jahrhundert bestehen. Die seit dem 16. Jahrhundert grundsätzlich vorhandenen Butzenscheibenfenster dienten der Beleuchtung des Innenraums, nicht der Schaustellung der Ware. [7] Für kommerzielle Zwecke waren sie zu klein und ermöglichten nur einen verzerrten Blick auch auf dicht hinter der Scheibe aufgestellte Produkte. Das galt ebenso für Schiebefenster und aushängbare Fenster. Auch als 1688 vom Franzosen Louis Lucas de Néhou (?-1728) entwickelte Verfahren für die Herstellung gewalzten Gussglases blieb für den Kleinhandel im deutschen Sprachraum recht folgenlos. Allerdings erlaubten die bis zu 2 x 1,20 Meter großen Coulage-­Scheiben, anders als die mundgeblasenen und stets auch welligen Fensterscheiben, einen ziemlich klaren und kaum verzerrten Blick auf die Waren.

Die lange Dauer zwischen der Erfindung und der allgemeinen Verwendung dieser ersten Schaufensterscheiben resultierte denn auch nicht allein aus dem hohen Preis, schließlich wurden Spiegelscheiben schnell ein markantes Kennzeichen adeliger Repräsentationsarchitektur. Vielmehr benötigten die gehobenen Verkaufsläden des späten 17. Jahrhunderts, die Schaufenster durchaus hätten bezahlen können, noch keine öffentliche Warenschaustellung. Die Ansprüche des Adels waren exklusiv, sie wurden direkt geäußert und direkt befriedigt. Die Situation änderte sich erst mit dem Aufkommen einer zahlungskräftigen bürgerlichen Klientel. Sie schuf eine neue politische, zugleich aber auch kommerzielle Öffentlichkeit. Entsprechend waren es britische und französische Luxuswarengeschäfte, die zuerst Gussglasscheiben einsetzen. In Deutschland lassen sich entsprechende Läden zwar 1725 in Würzburg oder auch 1740 in Augsburg nachweisen, doch blieben diese seltene Ausnahmen. [8] Allgemeinere Verbreitung fanden Gussglasscheiben erst im frühen 19. Jahrhundert. [9]

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Verglaste Außenwände einer Kunst- und Musikalienhandlung in Hamburg um 1835 (W[ilhelm] Melhop, Alt-Hamburgische Bauweise, 2. neubearb. Aufl., Hamburg 1925, 322)

Dennoch machte die Schaustellung der Ware in deutschen Städten auch im 18. Jahrhundert Fortschritte. Innerhalb des Ladens kamen Schautische auf, die im Verkaufsraum standen. Besonders größere Läden mit Flügeltüren lockten so die Käufer in die Läden. Die Tische, auf denen stets wertvollere Waren ausgelegt wurden, übernahmen die Funktion des unteren Klappladens. Sie standen meist inmitten des Raumes, wiesen so zurück auf ihre präsentistische Funktion. Die Kunst der Warendarbietung entstand innerhalb des Verkaufsraumes. Die Ladenfassaden wurden dagegen noch durch Firmenschilder beherrscht, auf deren Reiz- und Informationskraft die meisten Händler vertrauten. [10] Die Ware lockte erst im Inneren des Ladens. Die Luxuswarengeschäfte schufen zwar Räume für den Konsum bürgerlicher Schichten, doch grenzten sie zugleich die kaum zahlungsfähige Mehrheit der Bevölkerung aus. Die Verkaufsräume betrat nur derjenige, der sich die teuren Textilien, Einrichtungsgegenstande und Apparate leisten konnte. Dem entsprach ein informeller Kaufzwang.

Die Durchsetzung des Schaufensters in deutschen Städten (ca. 1835 bis 1870)

Entscheidend für die wachsende Bedeutung des Schaufensters sollte der quantitative Aufschwung des Kleinhandels werden. Dieser lag in den 1830er Jahren, steht in seiner Bedeutung kam hinter der so einseitig gedeuteten „Industrialisierung“. [11] Diese wird fast durchweg verengt auf die Veränderungen im Produktionssektor. Die vielfaltigen Überlappungen zwischen Produktion und Absatz, die damals überproportional wachsende Zahl leistungsfähiger Handelsbetriebe und der Zwang, die im Produktionssektor arbeitenden Personen auch versorgen zu müssen, werden von bequem zusammengeschriebenen Handbüchern in der Regel nicht beachtet. Angesichts eines vielerorts noch gebundenen Gewerberechtes verortet man den nachhaltigen Aufschwung des Kleinhandels – und damit eine Konsumgesellschaft – erst in die 1870er, teils gar erst in die 1890er Jahre. [12] Das hängt eng mit der irreführenden Vorstellung einer „Warenhausgesellschaft“ zusammen. Erst diese scheinbar neuartigen Läden hätten, so die gängige These, die für Absatz, Werbung und Schaufenstergestaltung entscheidenden Maßstäbe gesetzt. [13] Blickt man jedoch auf lange vorher einsetzenden Veränderungen im Kleinhandel, so muss man dies revidieren: „Sollte je der Handel besser in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung aufgearbeitet werden, wird wohl auch die Geschichte der Werbung in ihrer Anlaufphase neu periodisiert werden müssen.“ [14] Und zugleich erscheint die deutsche Stadt schon deutlich früher als Ort der Warenpräsentation und des demonstrativen Einkaufens.

Seit den späten 1830er Jahren nahm der Absatz von Konsumgütern in Läden mittlerer und kleinerer Händler in deutschen Landen stark zu. Wurden in Preußen beispielsweise 1837 21.782 Kaufleute mit offenen Verkaufsstellen gezählt, so hatte sich deren Zahl bis 1858 auf 48.625 erhöht. Relativ zum Bevölkerungswachstum nahm die Zahl dieser Gruppe binnen 21 Jahren um 76,4 % zu, während die Bedeutung der größtenteils ohne Läden agierenden Krämer, Höker und Trödler relativ schwand und absolut nur um 10,1 % (von 89.149 auf 98.158) zunahm. [15] Die Ladenhändler arbeiteten vorwiegend in Städten. Trotz gewerberechtlicher Beschränkungen ergänzten sie mehr und mehr das traditionelle, durch Wochen- und Jahrmärkte, Hausierer und Höker, den Handwerkshandel und Krämer geprägte Versorgungssystem, und an immer mehr Orten entwickelte sich der Laden zur dominanten Form des Kleinhandels. Die neuen Läden waren seit dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts immer häufiger mit Schaufenstern versehen. Diese entwickelte sich denn auch bis zur Reichsgründung zum wichtigsten Werbemittel eines zunehmend wettbewerbsorientierten Kleinhandels.

Wegweisend – gleichermaßen für die Produktion wie für den Absatz – war dabei das Textilgewerbe. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es beispielsweise in Berlin üblich, Kleidung entweder selbst zu nähen oder aber als Maßanfertigung vom Schneider anfertigen zu lassen. Zwar gab es seit Beginn des 18. Jahrhunderts Schneider, Händler und Verleger, die auch fertige Kleidung verkauften, doch trotz deren wachsender Bedeutung war der Handel mit gebrauchten Kleidern noch lange bedeutender. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich dies folgenreich. Die zunehmende Zahl alleinstehender (und kaufkräftiger) Männer, der wachsende Fremdenverkehr Berlins und die steigende Bedeutung der Mode, die einen schnelleren Wechsel der Garderobe erforderte, waren Grundlagen für den Aufstieg des Magazins. Hierunter ist ein Kleinhandelsgeschäft zu verstehen, welches Waren von Heimarbeitern, Handwerkern oder auch in eigenen Werkstätten produzieren ließ, dessen Hauptgeschäft aber der Verkauf bildete. Wurden anfangs vor allem Hosen, Westen und Röcke angeboten, so wurde das Sortiment seit den 1820er Jahren auch um Schlafröcke, dann um Joppen und Mäntel, Hemden und Kragen erweitert.

Das wachsende Angebot führte zu wachsender Spezialisierung: Neben Wäsche- und Leinwandhandlungen traten seit den 1830er Jahren gesonderte Herrengarderobemagazine. Adressbuchdaten verdeutlichen den tiefgreifenden Wandel: Gab es in Berlin 1830 erst 54 Wäsche- und Leinwandhandlungen, so waren es 1838 schon 116, 1847 dann 158. 1838 wurden erstmals auch zwanzig Herrengarderobemagazine aufgelistet, deren Zahl bis 1847 auf 66 stieg. [16] Berlin war Vorreiter, keine Ausnahme: In Hamburg stieg die Zahl der Kleiderhandlungen zwischen 1800 und 1822 von zehn auf 39, die der Modewarenhandlungen von 19 auf 31, und die der Manufakturwarengeschäfte gar von zehn auf 91. [17] In den wenigen Großstädten machten diese Geschäfte Schaufenster zum Alltagsphänomen. Schon 1830 glaubte die Hamburger Polizeibehörde gegen die Unsitte einschreiten zu müssen, die ausgestellte Ware mit tiefgezogenen Markisen gegen die Sonnenstrahlung zu schützen. [18]

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Schaufenster in Hamburg (Alter Jungfernstieg) 1846/47 (Hamburgs Neubau. Sammlung sämmtlicher Façaden der Gebäude an den neubebauten Strassen, Charles Fuchs, Hamburg 1846/47 (ND Hannover 1985), Bl. 39)

Die Magazine standen nicht allein für eine neue Betriebsform des Kleinhandels. Sie zeichneten sich auch durch neuartige Werbung aus. Die Hamburger Innenstadt war 1842 durch einen Brand fast vollständig zerstört worden, und die wieder aufgebauten Straßenzüge wurden 1846/47 in einer umfangreichen Lithographieserie festgehalten. Die obige Abbildung zeigt Fassaden gleich zweier Magazine. Beide verfügten über Schaufenster, in beiden fand sich wohldrapierte Ware. Diese Magazine bilden keine Ausnahmen im Straßenbild. Sie waren umrahmt von den Schaufenstern anderer Fachgeschäfte, die allesamt gewerblich gefertigte Waren anboten. Ähnliches galt auch für die Nebenstraßen der Innenstadt.

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Schaufenster in Hamburg (Bohnenstraße) 1846/47 (Hamburgs Neubau, Bl. 17)

Läden mit Schaufenstern dominierten. Gewiss, sie waren fast durchweg kleiner als in den Hauptstraßen, zudem handelte es sich zumeist um preiswertere Sprossenfenster. Die vor 1842 vielfach genutzten Erkerfenster, die sog. „Ausbauer“, fehlten hier; ihr Bau war nach dem Großen Brand verboten worden. [19] Doch nicht allein Textilwarengeschäfte stellten ihre Waren sinnfällig aus. Schuhe, Lederwaren und sogar Fleischwaren wurden in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte im gläsernen Ambiente präsentiert. Bemerkenswert war zudem die Kombination gewerblicher Tätigkeiten (Schuhmacher, Handschuhfabrik) mit einem schaufensterbewehrten Ladengeschäft. Auch in der Frühindustrialisierung war Güterproduktion kein Wert an sich, sondern bekam ihren Sinn erst durch den Absatz. Die Hamburger Lithographieserie enthielt Abbildungen von insgesamt 218 Läden der Innenstadt. Schaufenster fehlten fast nirgends, einzelne Läden präsentierten ihre Waren gar hinter vier großen Spiegelscheiben. Vereinzelt fanden sich schon Beleuchtungseinrichtungen; flackerndes Licht lud in Hamburg schon vor der Jahrhundertmitte zum abendlichen Schaufensterbummel. [20]

In der preußischen Hauptstadt Berlin entstanden seit den späten 1830er Jahren nicht allein deutlich mehr Magazine als in der Hansestadt Hamburg. Hier entstanden auch erste Großbetriebe des Kleinhandels, auch wenn deren Schaufenster noch nicht besonders hervorragten. Das 1836 gegründete „Modewaaren-Lager“ von Herrmann Gerson beschäftigte 1852 schon acht Aufseher/innen und 120-140 Arbeiterinnen in zwei Geschäftshäusern, 150 Meister mit ca. 1.500 Gesellen als Zulieferer und ca. 100 Personen im zweistöckigen Verkaufslokal. Doch das von 120 Gasflammen beleuchtete Magazin lockte seine Kundschaft mit nur zwei jeweils fünf Fuß breiten Spiegelscheiben. Hier zeigte sich noch deutlich die Tradition des Luxuswarengeschäftes, welches für eine feste und wohlsituierte Klientel Ware anbot. [21] Auch das 1839 entstandene Manufakturwarengeschäft Rudolph Hertzog, später größtes deutsches Kaufhaus und als Versandgeschäft in Europa führend, verfügte nur über durchschnittliche Schauflächen und konzentrierte sich stattdessen auf eine großzügige Annoncenreklame.

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Landsbergers Magazin in Berlin 1860 (Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, 336)

Andere Magazine aber nutzen das neue Werbemedium des Schaufensters konsequent. Eindringlicher Beleg hierfür war das Garderobe-Magazin von Louis Landsberger. Nicht mehr zwei, nicht mehr vier, sondern zehn großformatige Spiegelscheiben schmückten den Geschäftsbau mit seinen zwei Verkaufsetagen. Die Schaufenster umrundeten den Laden, dokumentieren in ihrer Massiertheit Größe und Umfang des Angebotes. Wachsende Verkaufsflächen gingen einher mit wachsenden Schaufensterfronten. Als Kundenmagnet wirkte zusätzlich die Beleuchtung mit 316 Gasflammen, die das Magazin abends zum Blickfang werden ließ. Doch auch Landsberger bildete nur die Spitze eines breiten Ensembles. [22] Folgen wir doch einmal einem Stadtführer des Jahres 1861: „Unsere wohlgenährten Altvordern, die nur für den realen Genuß waren, kannten nicht den Schimmer der Spiegelscheiben und der Bronze, nicht die Farbenpracht, nicht den Zauber des Luxus und den Reiz der Künste. Desto besser verstehen wir uns auf solche Vorzüge. Den Unterschied zwischen Sonst und Jetzt sieht man nirgend auffälliger als an den Verkaufsläden. […] Betrachten wir jetzt jene Läden, […] wo die Waaren, von hübschen Händen geordnet, das Auge bezaubern! […] Sehen Sie dort, meine Damen, die strahlenden Fenster, die man mit Jakona und Organdis drapirt hat, mit Long-Shawls, wofür Sie ihr Lächeln verkaufen, mit venetianischen Spitzen, die Sie um ihre Liebe eintauschen! Sehen Sie hier, Dandies aus der Provinz, die prächtigen Piquéwesten! Steigen Sie hinunter in jene unterirdische Behausung: der Bärenschinken ist servirt und der Cliquot auf Eis gestellt. Hier die glänzenden Hüte à ressort, die zierlichen Ancreuhren, die Velourdecken, die riesigen Spiegel in Goldrahmen; dort kunstvolle Bronzewaaren, werthvolle Oelgemälde, Buffets mit Marmorplatten, prachtvolle Tafelservice; Blumenbouquets in schöneren Farben als die Gaben der Flora Cypris; hier die schönen wissenschaftlichen Sammelwerke in Prachtbänden, Zahn‘s Ornamente aus Pompeji, der Reliquienschein von Brügge in wundervollen Photographien. Welche Fülle von Pracht, Annehmlichkeit und Schönheit für den bevorzugten Sterblichen, der mit Sinn für die Genüsse des Lebens und mit reichlicher Rente gesegnet ist!“ [23]

Ein Schaufensterbummel war in Berlin also schon lange vor der Reichsgründung möglich und reizvoll. Der Reiseführer konzentrierte sich allerdings auf teurere, exklusive Produkte, die innerhalb der Klassengesellschaft der Hauptstadt für die meisten Bewohner unerschwinglich blieben. Und doch begannen in den 1860er Jahren auch Geschäfte mit einfacherem Angebot, vielfach auch Kolonialwaren- und Feinkostläden, mit der Um- und Neugestaltung ihrer Fassaden. Dabei gingen viele Kleinhandler Kompromisse ein: „Sehr oft werden gewöhnliche Fenster zur Schaustellung benutzt und wäre dann der einzige Unterschied, dass größere Scheiben in Anwendung kommen. Dass solche Anlage nur den einfachsten Forderungen entspricht, liegt auf der Hand; die Schaustellung ist hierbei sehr beeinträchtigt und ist gewöhnlich die zu hohe Lage der Fenster störend. Große Ausbreitung der Waren gestattet aber ein Fenster nicht und daher dürfte ein solches nur in Anwendung kommen, wo es darauf ankommt anzuzeigen, was für ein Geschäft sich an dem betreffenden Ort befindet.“ [24]

Die Schaufenster derartiger kleiner und mittlerer Geschäfte sind natürlich kaum mit denen der Großbetriebe zu vergleichen. Doch festzuhalten ist, dass auch etablierte Läden sich um An- und Umbauten zumindest bemühten. Zugleich wurde es in den 1860er Jahren üblich, neue Läden bereits beim Bau mit Schaufenstern auszustatten. Schaufenster wurden integraler Bestandteil des Kaufladens: „Die Schaufenster zum Ausstellen der Waaren müssen möglichst breit angelegt sein, und bedient man sich jetzt allgemein zur Unterstützung der oberen Geschosse der eisernen Säulen und Träger statt der in Stein ausgeführten Pfeiler und Bogen, weil dadurch an Raum gewonnen wird. Man ordnet dann recht oft die oberen Geschosse ganz unbekümmert von den unteren mit anderen Axen an, weil man die Axentheilung der unteren Geschosse doch kaum erkennt, indem bei der geringen Dimension des Eisens letzteres fast verschwindet und nur eine Glasflache sichtbar ist.“ [25]

Die hier schon diskutierte Verwendung von Stahl und Glas schuf ganz neue Möglichkeiten der Fassadengestaltung. Seit Anfang der 1870er Jahre wurden zunehmend auch zweigeschossige Schaufensteranlagen gebaut. [26] Ladenlokale mit Schaufenstern, die von der Mehrzahl der kleineren und mittleren Händler ja gemietet wurden, gehörten seitdem mehr und mehr zur üblichen Ausstattung größerer Geschäfts- und Wohnhäuser. Verlässliche Zahlen fehlen, so dass nicht überprüft werden kann, ob es 1880 in Berlin wirklich „3000 wirkungsvolle Schaufenster“ [27] gegeben hat, wie ein Zeitgenosse behauptete. Zweifellos aber waren in Berlin Schaufenster im Handel mit Gütern des gehobenen und periodischen Bedarfs schon vor der Reichsgründung 1871 üblich. Zwar hinkte der Kleinhandel mit Lebensmitteln dieser Entwicklung noch hinterher, doch der Delikatessen- und Kolonialwarenvertrieb erfolgte schon vielfach in Läden mit gläsernen Fronten. [28]

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Fassade des Karlshofes in Aachen 1869 (Deutsche Bauzeitung 3, 1869, 496)

Das neue Objekt des Schaufensters hatte sich zu dieser Zeit auch schon in der Provinz des Reichs fest etabliert. Die Abbildung zeigt ein „charakteristisches Beispiel der Facadenbildung von Privatbauten“ im Rheinland: Vier großformatige Schaufenster sprechen dagegen, die Durchsetzung eindringlicher Schaufenster erst in die 1890er Jahre zu datieren und mit der Entstehung der Warenhäuser zu verknüpfen. Im Gegenteil begann in Deutschland nach der allgemeinen Etablierung bereits in den 1870er Jahren eine Differenzierung der Schaufenster nach Größe, Anzahl und immer stärker nach der Dekoration. Sie entsprach nicht allein dem herrschenden Geschmack und Baustil, sondern war auch ein wichtiges Unterscheidungselement in einer gleichermaßen von Produktion und Distribution geprägten Wettbewerbsgesellschaft. Die deutschen Großstädte waren schon vor der Jahrhundertwende Stätten bürgerlichen Konsums geworden, und in den Schaufenstern lockten die Verheißungen einer Welt zunehmenden Wohlstands und allgemeinen Fortschritts.

Universalisierung und Differenzierung des Schaufensters in der Wettbewerbsgesellschaft (ca. 1870 bis 1900)

Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 war nicht allein eine politische Zäsur. Sie führte auch im Felde des Gewerberechts zu einer umfassenden Liberalisierung. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit gab es in den meisten deutschen Ländern zwar schon zuvor, doch nun setzten sich diese Prinzipien endgültig durch. Die Verstädterung nahm zu, mündete in den qualitativen Prozess umfassender Urbanisierung. Die Zusammenballung großer Menschenmassen und hoher Kaufkraft ermöglichte dem Kleinhandel ein sich beschleunigendes Wachstum. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung wurde strikter, und schon während der 1873 einsetzenden Depression zeigte sich, dass eine wachsende Güterproduktion von liquidem Kapital, vor allem aber von gesichertem Absatz abhängig war. Absatz konnte jedoch nur durch ein leistungsfähiges Kleinhandelssystem gewährleistet werden, welches um die Käufer warb, welches etablierte und neue Waren an die Kunden verkaufte. Der Aufbruch in den Wettbewerb forderte vom Kleinhandel neue Lösungen nicht allein für die grundlegende Versorgungsaufgabe, sondern insbesondere für den Vertrieb der wachsenden Zahl bisher unbekannter gewerblich produzierter Produkte. Dazu bedurfte es einer Modernisierung des Betriebes, neuer Betriebsformen und einer veränderten Außendarstellung. Dem Kunden musste die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Ladens sinnenträchtig vor Augen geführt werden. [29]

Der Wettbewerb im Kleinhandel war nicht allein ein Wettbewerb der Waren, sondern auch ein Wettbewerb um das knappe Gut öffentlicher Aufmerksamkeit. Das Schaufenster nahm gerade angesichts der schnell wachsenden Bedeutung reiner Laufkundschaft einen zentralen Platz für eine erfolgreiche Arbeit vor allem im Gebrauchsgüterhandel ein. Und es war zugleich angemessenes Werbemedium einer Gesellschaft, in der die Präsentation von Warenqualität wichtiger war als die Qualität selbst. Um die Gesamtentwicklung angemessen beurteilen zu können, gilt es verschiedene, gleichwohl miteinander vernetzte Einzelentwicklungen voneinander zu scheiden:

Die Variationsbreite der Schaufensterwerbung nahm insgesamt zu. Neben die gediegene und warenzentrierte Werbung der Mehrzahl der Fachgeschäfte trat eine grelle, lärmende Reklame auch der Fassadenfronten. Das zeigt sich besonders am Beispiel der neuen Betriebsform der Bazare, die sich seit den späten 1860er Jahre aus den Magazinen entwickelten. Auch die Bazare bildeten anfangs prächtige, mit großem Prunk ausgestattete Geschäfte, doch verzichteten sie in der Regel auf eigene Güterproduktion. Sie waren durchweg mit ausladenden Schaufenstern versehen. Während der Depressionszeit entstand unter gleichem Namen jedoch auch eine Gruppe sogenannter Pfennigbazare (zumeist 50-Pfennig-Bazare), die geringerwertige Waren zu niedrigen fest umrissenen Preisen verkaufte und zugleich hohem Reklameaufwand betrieb. Der Begriff des „Bazars“ bekam dadurch einen negativen Grundton, der im seit den späten 1870er Jahren verwandten und vielfach antisemitisch grundierten Begriff der „Ramschbazare“ gespiegelt wurde. Diese in der Regel nicht allzu großen Läden nutzten Schaufenster und Gesamtfassade zu teils greller Anpreisung. Auch die ebenfalls in den 1860er Jahren aufkommenden Wanderlager sowie die Ende der 1870er Jahre entstandenen Abzahlungsbazare setzten auf eine vielfach als marktschreierisch gedeutete Reklame und provozierten damit schon früh Diskussionen über die kommerzielle „Verunstaltung“ der Innenstädte. [30]

Während sich die Bazare in der klassenspezifisch gegliederten Kleinhandelswelt des Kaiserreichs eher an Käufer aus der Mittel- und oberen Unterschicht wendeten, konzentrierten sich die aus den Magazinen entstehenden Kaufhäuser tendenziell auf die mittleren und oberen Klassen der Gesellschaft. Auch sie verzichteten zumeist auf eigene Güterproduktion, konzentrierten sich auf den Vertrieb von Waren. Doch schon aufgrund ihrer Größe besaßen sie meist eine nicht unbeträchtliche Nachfragemacht, die ihnen indirekten Einfluss auf die Lieferanten sicherte. Ihre Schaufenstergestaltung war zumeist gediegen, zurückhaltend und sachlich. Die Kaufhäuser waren jedoch zugleich Vorreiter einer allgemeinen Vergrößerung der Schaufensterflächen. Grundlage dafür boten zum einen Verbesserungen der Glasgusstechnik. Das Spiegelglas wurde glatter und durchsichtiger. Zugleich wurde es technisch möglich, größere Einzelscheiben zu produzieren. Wichtiger aber war, dass die Kaufhäuser schon in den 1870er und 1880er Jahren die neuen Möglichkeiten der Baustoffe Eisen und Stahl für eine immer prächtigere Schaufensterfront nutzten. [31] Nun entstanden rein funktionale Geschäftsbauten, die nur noch in Ausnahmefällen zu Wohnzwecken genutzt wurden. Citybildung und Schaufensterentwicklung waren eng miteinander verzahnt.

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Fassade des Geschäftshauses Rosipal in München 1884 (Zeitschrift für Baukunde 7, 1884, Bl. 9)

Die Abbildung zeigt eine 1884 neugestaltete Fassade des Münchener Kaufhauses Rosipal. Innerhalb des Geschäftes wurden rund um einen Lichthof auf drei Etagen Manufaktur-, Mode- und Schnittwaren verkauft, während sich die Verwaltung im dritten Stock befand. Dekorierte Schaufenster gab es in den ersten beiden Stockwerken, doch auch die großen Fenster im zweiten und dritten Stock dienten zu Werbezwecken.

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Obergeschosse des Berliner Kaufhauses Ascher & Münchow (1886/87) (Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 4, 1891, Tafel 27)

Das 1887 fertiggestellte Berliner Kaufhaus Ascher & Münchow zählte in den beiden Untergeschossen elf großformatige und aufwändig dekorierte Schaufenster. Dies allein genügte nicht, denn auch im zweiten Stock nutzte man insgesamt zwölf der schmaleren Fenster zur Präsentation damals moderner Einrichtungsgegenstände (die Abbildung zeigt davon nur vier). Die Fenster im dritten und vierten Stock wurden schließlich für Reklamebeschriftungen genutzt, um dadurch die Käufer in der Leipziger Straße schon von weitem auf das Angebot aufmerksam zu machen. Die Glasflächen der Kaufhäuser wuchsen schon in den 1880er Jahren bis an die Spitze der Geschäftsgebäude, folgten dabei auch der wachsenden Monumentalität damaliger Geschäftsstraßen und Prachtboulevards. Das Prinzip gläserner Fronten wurde dann in den späten 1890er Jahren von den neu entstehenden Warenhäusern auf die Spitze getrieben. [32] Von den Kaufhäusern unterschieden sie sich durch ihr breites Angebot vermeintlich nicht zusammengehöriger Waren. Ihre Architektur war durch neue Innenraumkonzepte, die konsequente Nutzung von Lichthöfen und eine stark auf vertikale Pfeilerkonstruktionen ausgerichtete Fassadengestaltung originell und innovativ, doch in der Gestaltung der Schaufensterpartien befanden sie sich sowohl in der Tradition deutscher Kaufhäuser als auch der wesentlich prächtigeren französischen Grands magasins. [33] Das 1897 von Alfred Messel (1853-1909) erbaute Warenhaus Wertheim und das 1899/1900 errichtete, ebenfalls in Berlins Leipziger Straße gelegene Warenhaus Hermann Tietz mit seinen zwei riesigen, jeweils 460 m2 umfassenden Schaufenstern, waren gewiss die bekanntesten Vertreter dieses Typus.

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Der Kaiser-Bazar als Schaufenster (Das Buch für Alle 27, 1892, 221)

Noch konsequenter allerdings war das um 1900 entstandene Mannheimer Warenhaus Kander: Stärker als bei seinen Berliner Vorbildern verzichtete man bei diesem Glaspalast auf eine schmückende Fassadengestaltung oder auch nur auf eine abrundende Dachkonstruktion. Die Eisen-Glas-Architektur hatte hier einen seltenen Höhepunkt erreicht, das Warenhaus erschien transparent, öffnete sich allseitig den neugierigen Blicken der Kundschaft. Ästhetische, architektonische und brandschutztechnische Erwägungen führten jedoch dazu, dass diese nur noch an Monumentalität zu überbietende Steigerung der Schaufensterfronten an einen Wendepunkt geriet. [34] In der Fabrikarchitektur wurde diese Bauweise allerdings – gemäß den Fabrikbauten von Steiff (Giengen, 1903) oder Fagus (Alfeld, 1911) – zum Vorreiter des Neuen Bauens.

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Das Warenhaus Kander in Mannheim 1900 (Kilian, 1994, 336)

Doch bevor wir auf die hieraus resultierenden Konsequenzen eingehen, müssen wir uns fragen, ob sich das Schaufenster auch abseits herausragender Einzelbetriebe universell durchsetzte. Im zweiten Teil wurde betont, dass in den 1860er Jahren im Gebrauchsgüterhandel auch mittlere und kleinere Betriebe Schaufenster neu einrichteten oder sich Verkaufslokale mieteten, die üblicherweise mit Glasfronten versehen waren. Auch im Handel mit Kolonialwaren und Delikatessen war dies nachweisbar. Doch es ist nicht möglich, diese Entwicklung präzise zu quantifizieren. Allerdings betonte der liberale Politiker und Genossenschafter Eugen Richter (1838-1906) schon 1867 eindringlich, dass Konsumgenossenschaftsläden eine ähnlich hochwertige Ausstattung wie konkurrierende Kolonialwarenläden haben sollten, um zugleich aber festzuschreiben: „Der Ausstellung von Waaren in den Schaufenstern zur Anlockung der Kunden enthalten sich dagegen alle Konsumvereine nach dem Muster der englischen Vereine grundsätzlich.“ [35] Auf Fotografien des letzten Jahrhunderts findet man seit den 1860er Jahren vielfach geschlossene Schaufensterfronten, die spätestens seit den 1880er Jahren stets auch die sesshaften Lebensmittelhändler umgriffen. [36] Lediglich die Konsumgenossenschaften grenzten sich zumindest bis zur Jahrhundertwende selbstbewusst aus, verfügten sie doch über einen festen Stamm eingetragener Mitglieder. [37]

Doch zugleich muss an ihr privatwirtschaftliches Pendant erinnert werden. Massenfilialbetriebe entstanden im Genuss- und Lebensmittelsektor vornehmlich seit den 1870er Jahren. Ihr Erfolgsrezept gründete nicht allein auf zentralem Einkauf und zentraler Verwaltung. Die Einzelfilialen besaßen vielmehr zunehmend einheitliche Außenfronten, deren Blickfang immer ein oder mehrere große Schaufenster bildeten. Zwar lag der eigentliche Aufschwung dieser neuen Betriebsform in den 1890er Jahren, doch entstanden die großen Ketten – Kaiser‘s Kaffeegeschäft verfügte 1900 schon über 667 Filialen – meist aus einfachen Kleinhandelsbetrieben. [38] Es scheint daher mehr als plausibel, dass das Wissen um die Werbekraft eines anziehenden Schaufensters auch im Kolonialwarenkleinhandel schon lange vor der Jahrhundertwende fest verankert war und allgemein praktiziert wurde.

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Filiale von Kaiser’s Kaffee-Geschäft 1904/05 (1880-1980. 100 Jahre Kaiser’s, hg. v. Kaiser’s Kaffee-Geschäft AG, Viersen 1980, s.p.)

Diese Universalisierung des Schaufensters zum zentralen Werbemittel des gesamten ladengebundenen Kleinhandels ging einher mit veränderten Präsentationsformen der Ware selbst. Schon in den Hamburger Schaufenstern wurde möglichst viel Ware gestapelt. Hiermit, so die allgemeine Überzeugung, könne die Leistungsfähigkeit des Geschäftes am besten dokumentiert werden. Doch massierte Warenpräsenz hatte nur begrenzte Lockkraft. Daher begann man spätestens seit den frühen 1870er Jahren damit, ungewöhnliche und spektakuläre Phantasiefenster einzurichten. [39]

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Phantasiefenster eines Fleischwarengeschäftes (Fliegende Blätter 115, 1901, Nr. 2927, 7)

Doch die Kritik an überladenen und ohne Sachbezug eingerichteten Schaufenstern ließ nicht lange auf sich warten, zumal in den Manufaktur-, Konditorei- oder Fleischwarenbranchen. Besonders die Dekoration toten Fleisches erregte Anstoß, auch wenn sie offenbar noch um die Jahrhundertwende weit verbreitet war [40].

Die schon in den 1870er Jahren offenbare Kritik deckte sich kaum mit dem in der bisherigen Forschung gezeichneten Bild der Schaufensterwerbung. [41] Der Übergang vom Phantasiefenster zu sachlichen Stapelfenstern wird gemeinhin mit den Elitendiskursen der Jahrhundertwende verbunden. Doch lange vor programmatischen Aussagen wie „Das neue Fenster will sachlich sein“ [42] war ein Großteil der Schaufenster schon „sachlich“ gestaltet. Städtische Schaufensterfronten wurden zum allgemeinen Präsentationsort moderner Waren. Die zunehmende Spezialisierung des Kleinhandels ließ die Schaufenster zugleich Ausdruck und Träger eines warenzentrierten Angebotes werden: „Beredter als Zeitungsannoncen ladet es zum Kauf ein, denn es zeigt die Waare selbst und erinnert dadurch den Kauflustigen nicht selten erst an Bedürfnisse, deren er ohne die Mahnung des Schaufensters nicht gedacht hatte“ [43].

Die städtischen Schaufenster präsentierten die Errungenschaften des technischen Fortschritts einfach und kaum verschnörkelt: „Durch riesengrosse Spiegelscheiben, […] fällt jetzt das Auge allenthalben auf bunteste Pracht und Fülle und ein Weg besonders durch die Hauptgeschäftsstrassen Berlins gleicht einem Spaziergang durch eine kleine internationale Ausstellung. Da giebt jeder Kaufmann mit grösstem Aufwand ein möglichst charakteristisches Bild seiner Branche und taucht es zum Ueberfluss noch in ein ganzes Meer hellfluthenden Lichtes.“ [44] Die Schaufensterdekoration wurde schon früh als kommerzielle Kunst verstanden, die der Unterhaltung einer wachsenden Zahl shoppender Käufer und Käuferinnen diente: „Die Perspective eine Ladens bei Abendbeleuchtung durch die Fenster betrachtet ist eins der herrlichsten Schauspiele, welches die große Stadt bietet, und wenn das Marmorlager, wo Werke der Sculptur aufgestellt sind, den höheren Kunstsinn noch starker anzieht und inniger erfreut, als die den Werken der Manufacturisten gewidmeten Verkaufshallen, so sind diese Werke doch der Mehrzahl nach, der Kunstsphäre nahe gehoben durch den Geist, welcher heutigen Tages auch im Handwerk sich regt, und die Betrachtung derselben ist folglich ein Genuß, der durch den Namen: Kunstgenuß nicht zu schmeichelhaft benannt ist.“ [45]

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Abendbeleuchtung vor einem Eingang des Kaufhauses Rudolph Hertzog (Der Bär 20, 1894, 441)

Vor diesem Hintergrund scheint es nicht nur angesichts mangelnder Detailforschung unangemessen, dem Kleinhandel vor der Jahrhundertwende Unmaß und mangelnden Kunstsinn zuzuschreiben. Symmetrisch aufgebaute Stapelfenster waren jedenfalls schon lange vor der Jahrhundertwende Gemeingut des Kleinhandels. Warenzentrierung war innerhalb der Schaufenster üblich und keine Ausnahme. Diese Entwicklung fand ihr Pendant in einer wachsenden Zahl von Waren, die im Schaufenster mit Preisauszeichnungen versehen wurden. Schon die Schaufenster der Magazine besaßen dadurch hohen Informationswert. [46] Diese Preistransparenz war aber nicht nur Ausdruck lauterer Geschäftspraxis. Vielmehr waren es gerade die neuen Betriebsformen des Pfennig-Bazars und des Wanderlagers, die geringe Preise seit den 1870er Jahren bewusst als Werbe- und Wettbewerbsmittel einsetzten. Sie schufen Preisdruck für die Konkurrenz, der in den 1890er Jahren durch Warenhäuser und Partiewarengeschäfte nochmals verstärkt wurde. Die Rechenhaftigkeit des Kunden wurde durch die immer häufigere Preisauszeichnung gerade in mittleren und kleineren Läden unterstützt: „Wenn wir in Berlin durch die Strassen gehen und vor einem Schaufenster eine ausserordentliche grosse Fülle sehen, so will ich darauf wetten, dass in dieser Auslage die Waaren mit Preisen versehen sind. Die Preisbezeichnung veranlasst eine Menge Leute, des Studiums halber stehen zu bleiben, auch solche, die im Augenblick gar nicht auf einem Kaufwege sind. Dieses Studium kostet dem Kaufmann nichts, aber es bringt ihm Vortheil; denn nachher heisst es zu Haus: ‚Da und da habe ich das und das zu dem Preise gesehen!‘ womit sich eine neue Kundschaft anbahnt. Um die misstrauischen und ängstlichen Käufer zu beruhigen, giebt es aber kein Mittel, als ihnen an allen Waaren, drinnen wie draussen, die lesbare Preisbezeichnung entgegenzuleuchten zu lassen. Das giebt auch demjenigen, der sich wegen Mangels an Sachkenntnis schwach fühlt, die angenehme Gewissheit, dass man ihm nicht mehr abnimmt, als den getriebenen Kunden.“ [47]

Die nachhaltigen Veränderungen der Dekoration der Schaufenster spiegelten sich aber auch im Entstehen eines neuen Berufszweiges – des teils noch semiprofessionellen Dekorateurs [48] – und einem immer bedeutenderen Angebot von Dekorationsmitteln. Gestelle, Ständer, Etageren, Attrappen, Borde, Spiegel, Plakate und vieles mehr wurde speziell für die Ausstattung von Schaufenstern gefertigt. Ein Lehrbuch listete 1895 allein 103 deutsche Firmen auf, die sich auf diese Produkte spezialisiert hatten. [49] Dazu kamen Anfang der 1890er Jahre mechanische Figuren, die jedoch ebenso wie der Automatenhandel nur geringe Bedeutung gewannen. [50] Auch die Verwendung mechanischer Klopfer, die an der Ladenfassade angebracht wurden, war eine Modeerscheinung, die sich nicht durchsetzen konnte. Wesentlich wichtiger waren dagegen Rollständer und Büstenfiguren, die eine lebensnahe Präsentation von Textilien ermöglichten. Wachspuppen kamen erst nach der Jahrhundertwende auf, hatten dann jedoch durchschlagenden Erfolg bei der Dekoration der größeren Geschäfte. [51] Alle diese Mittel halfen, die Schaufenster insgesamt attraktiver zu machen. Die hohen Kosten ließen die Unterschiede zwischen den Ladenfronten zugleich aber augenfälliger werden.

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Hilfsmittel zur Schaufensterdekoration (Kölner Local-Anzeiger 1904, Nr. 332 v. 1. Dezember, 6)

Auch wenn schon vor der Jahrhundertwende das Schaufenster in deutschen Groß- und Mittelstädten Allgemeingut war, so darf nicht vergessen werden, dass die Warenpräsentation technisch keineswegs ausgefeilt war. Für die Kleinhändler bedurfte es großer Anstrengungen, um den Kunden das Erlebnis eines gelungenen Schaufensterbummels zu ermöglichen. Die Glitzerwelt der Waren musste schließlich von der Straße aus betrachtet werden. Daher galt es Vorkehrungen zu treffen, um das Schaufenster bei allen Witterungsverhältnissen attraktiv zu machen.

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Wachstumsgewerbe Ladenbau (Kladderadatsch 28, 1875, Nr. 19, Beibl. 1, 1; ebd., Nr. 22/23, Beibl. 2, 2)

Augenfälligstes Hilfsmittel der meisten Läden war die Markise. Sie bestand in der Regel aus Leinwand und war meist mit Seitenblenden versehen. [52] Die Markise bot im Sommer Schutz vor Hitze, verringerte die Sonnenblendung und schützte zumindest vor leichtem Regen. Sie diente außerdem der Temperaturregulierung innerhalb des Ladens, denn gerade während des Sommers war Lüftung ein wichtiges Problem. Markisen nötigten zugleich dazu, nahe an das Geschäft heranzutreten, da sie den Blick von weitem beeinträchtigten. [53] Auch Rollläden behinderten insbesondere an Sonn- und Feiertagen den freien Blick auf Schaufenster und Waren. Doch die in Deutschland gebräuchlichen Holz-, später dann Stahlrollläden markierten zumeist mittlere und kleinere Geschäfte. Größere ließen dagegen ihre Schaufenster durchweg offen, da hochwertige Scheiben auch gegen Einbruch guten Schutz boten. Lediglich Kunsthändler und Juweliere griffen zu zusätzlichen beweglichen Gittern, so dass die Ware immerhin noch zu betrachten war. [54] Zu beachten ist allerdings, dass die Schaufenster bis zur Jahrhundertwende in den meisten Städten während der Hauptgottesdienstzeiten verhängt bzw. verschlossen werden mussten. Lokal blieben entsprechende Regelungen teilweise bis zum Ende des Kaiserreiches bestehen. [55]

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Eisverhangene Schaufenster selbst im Frühling (Fliegende Blätter 88, 1888, Beibl., 5)

Ein besonderes Problem bildeten außerdem Hitze und Kälte. Die Schaufenster bestanden in der Regel aus festen, schwer zu lüftenden Holzkästen. Kleine Lüftungslöcher halfen da wenig. Regelmäßig entstand Schwitzwasser, so dass ohne Gegenmaßnahmen die Fenster im Sommer beschlagen, im Winter dagegen gefroren waren. Im Laufe der Jahrzehnte wurden immer neue Hilfsmittel ersonnen, doch keines hatte einen nachhaltigen Effekt. Da offene Gasflammen im Fensterkasten eine hohe Brandgefahr bargen, wurden die Glasscheiben in der Regel alle paar Tage mit Glyzerin oder starken Chemikalien bestrichen. Trotzdem aber stand der Kunde häufig vor Schaufenstern, die nur teilweise einzusehen waren. [56]

Ein weiteres Naturhindernis bildete die Dunkelheit. Schaufenster mussten beleuchtet werden, um auch abends zu gefallen. Aufgrund der bis in die 1890er Jahre kaum beschränkten Ladenöffnungszeiten wurden viele Schaufenster anfangs von innen mit Kerzen und Petroleumleuchten, später dann mit Gasbrennern beleuchtet. Brandgefahr bestand stets, außerdem ließ das offene Feuer die Scheiben beschlagen. Gerade leistungsfähigere Geschäfte setzten daher schon frühzeitig auf die Außenbeleuchtung der Schaufenster. Dadurch konnten die Schaufenster jedoch schlechter ausgeleuchtet werden, außerdem blendeten die Lichter häufig. Gas- und Petroleumlicht schien gelblich, so dass sich die Farben der ausgestellten Waren grundlegend änderten. Seit den späten 1880er Jahren kamen dann elektrische Bogenlampen auf, in den späten 1890er Jahren auch das Gasglühlicht. Beide leuchteten weiß, doch verliehen sie den Waren einen kreidigen Charakter. Schon aus diesem Grunde waren kräftige Farben notwendig, erschien die Farbgestaltung der Schaufenster teilweise unnatürlich. [57] So bedeutsam die mit dem Schaufenster verbundenen Innovationen waren, so muss das Einkaufserlebnis der damaligen Zeit doch auch unter diesen Aspekten betrachtet werden, um nicht voreilig Vorstellungen unserer Zeit in die Vergangenheit zu projizieren. Kommerzielle Traumwelten stießen auch damals immer an die Grenzen natürlicher Gegebenheiten.

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Das Warenhaus Hermann Tietz (Berlin, Leipziger Straße) in nächtlichem Glanz (Die Woche 12, 1910, 373)

Diese Einschränkungen sind wichtig, um nicht der Apologie der urbanen Konsumgesellschaft zu verfallen. Die gläsernen Schaufenster zogen gewiss immer größere Kreise der Bevölkerung in ihren Bann. Doch trotz der steigenden Realeinkünfte waren die Barrieren von Klasse und Einkommen weniger durchlässig als die transparenten Scheiben der Läden.

Schaufenster und Läden als kommerzielle Ensembles (seit ca. 1900)

Die Entwicklung des Schaufensters war um die Jahrhundertwende an einer quantitativen Grenze angelangt. Neue Impulse, wie sie seit der Reichsgründung stets von neuen Betriebsformen des Kleinhandels erfolgt waren, blieben aus. Gewiss, spätestens seit den 1890er Jahren verbreiteten sich Schaufenster nicht nur in Mittelstädten, sondern waren auch immer häufiger in Kleinstädten anzutreffen. [58] Auch die kleineren Geschäfte der urbanen Außenbezirke glaubten nicht mehr auf gläserne Fronten verzichten zu können. Dennoch schritt die Entwicklung des Schaufensters weiter voran. Denn die Universalisierung des Schaufensters in den deutschen Großstädten um die Jahrhundertwende bewirkte einen qualitativen Sprung: Die Prinzipien der Schaufenstergestaltung griffen seither über in den Verkaufsraum, die „Schaufenster-Qualität der Dinge“ [59] erfüllte den gesamten Laden, prägte Ausstattung und Personal.

Den Hintergrund dieses Umschwungs bildete ein generelles qualitatives Wachstum des deutschen Kleinhandels, das spätestens zu Beginn der 1890er Jahre bestimmend wurde. Der intensivierte Wettbewerb führte zu geringeren Handelsspannen, steigerte zugleich aber die allgemeinen Kosten des Geschäftes. Daran hatte das Schaufenster einen wichtigen Anteil: „Enorme Summen verschlingt das moderne Schaufenster. Man macht sich im allgemeinen gar keine Vorstellung davon, wieviel verschiedene Dinge, von der riesigen Spiegelscheibe bis hin zu den kaum beachteten Warenständern benötigt werden, und wieviel Hände sich regen müssen, damit ein leidliches Schaufenster zustande kommt. Bloß die Einrichtung eines solchen kommt durchschnittlich für kleinere Maßstäbe von 150 Mk. bis auf 200 Mk. und für größere auf 1000 Mk., ja mehr zu stehen. Dazu kommen die Löhne für die Arrangeure.“ [60]

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Markenartikelwerbung als Alternative zur Eigendekoration (Über Land und Meer 103, 1910, 96)

Da schon zu Beginn der 1890er Jahre die Schaufensterdekoration auch in mittleren Geschäften durchschnittlich alle zwei Wochen neu gestaltet wurde [61], erhöhten sich die Fixkosten. Umsatzsteigerungen wurden betriebswirtschaftlich notwendig, um diese Kosten degressiv gestalten zu können. Parallel erhöhten sich die fachlichen Anforderungen an die Schaufenstergestaltung. Moden traten an die Stelle von Jahreszeiten und die Dekorationswarenindustrie bot immer neue, stets aber kostspielige Produkte an. Markenartikelanbieter nutzten dies, machten sich dadurch zumal bei Drogerieartikeln und Lebensmitteln unentbehrlich. Größere Betriebe konnten für die Dekoration eigenes Personal einstellen, der Dekorateur trat hier an die Stelle des dekorierenden Kleinhändlers bzw. Handlungsgehilfen. Lehrbücher und die Fachpresse des Kleinhandels boten zugleich einen immer größeren Wissensfundus, um Schaufenster ansprechend und im Einklang mit dem herrschenden Geschmack zu gestalten. [62] Doch diese Aufgaben ließen sich nicht einfach beschränken. Der Kunde sollte ja nicht allein zum Geschäft gelockt werden, um dort die gefällige Auslage zu betrachten. Er sollte den Laden betreten und dort kaufen. Dazu aber musste ihm mit fortschreitender Dekorationstechnik auch im Inneren des Geschäftes ein Ambiente geboten werden, welches gegenüber dem des Schaufensters zumindest nicht abfiel. Das Äußere des Ladens wurde zum Modell für die Neugestaltung des Inneren. Grundlage hierfür waren abermals neue Bautechniken. Die Kaufhäuser besaßen zwar schon frühzeitig große Verkaufsflächen; Rudolph Hertzog offerierte 1878 schon auf 3.710 m2 und das Berliner Kaufhaus Heinrich Jordan brachte es 1893 auf stolze 8.000 m2. [63] Doch erst die Verwendung von Stahlbeton ermöglichte den Bau weiter Verkaufshallen.

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Heizanlage inmitten des Ladens der Bremer Firma Oehlckers & Rabe (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Zwischenwände konnten nun beseitigt, die Zahl der Pfeiler wesentlich verringert werden. Bildeten bisher Laden- und Kassiertisch, Stellagen und Regale die Hauptmöbel auch größerer Geschäfte, so kamen nun große Verkaufs- und Präsentationstische auf, die inmitten der Räume platziert wurden. Parallel ersetzten Zentralheizungen die Öfen im Laden, wurden große Treppenhäuser, Galerien und Balkons gebaut. So konnte nicht nur die Ware von Ferne betrachtet werden, sondern auch der Kauf der Anderen geriet ins Blickfeld. [64] Für den Innenraum und die Warendarbietung stellten sich dadurch völlig neue Aufgaben, die in Rückgriff auf die bewährte Schaufenstergestaltung gelöst wurden. Bei den Warenhäusern war dieser Prozess offenkundig. [65] Doch auch und gerade mittlere und größere Kaufhäuser folgten diesem Trend und hoben damit die Schaufensterwerbung auf eine neue, umfassendere Ebene.

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Verkaufsräume der Berliner Firma H. Esders & Dyckhoff 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 23, 9)

Die Verkaufsräume der Berliner Firma Esders & Dyckhoff waren nicht nur deutlich größer und besser beleuchtet als frühere Läden. Sie enthielten auch neue Möbel, Verkaufsschränke, teils mit Glas versehen, die mitten im Raume standen. Das Regalprinzip war für größere Raume allein ungeeignet und Schautische boten nur wenigen Waren Platz. Der Laden wurde daher neu möbliert, mit Spiegeln bekränzt, dem Kunden die Ware sichtbar gemacht. Selbstbedienung aber gab es nicht. Analog zum Schaufenster konnte man die Ware zwar betrachten, doch durfte man sie nicht ohne Beisein eines Verkäufers, einer Verkäuferin berühren.

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Verkaufsräume der Berliner Firma Kersten & Tuteur 1914 (Berliner Architekturwelt 16, 1914, 148)

Auch das stetig wachsende Sortiment industriell hergestellter Produkte begünstigte die Warenpräsentation innerhalb des Ladens. Die Ausstellung neuer Hüte und Blusen in den Verkaufsräumen der Berliner Firma Kersten & Tuteur verwies nicht nur durch die Präsenz von Warenständern und Büsten auf die direkte Nähe zur Schaufensterwerbung. Schautische und Glasauslagen erlaubten vielmehr ein Art Schaufensterbummel im Laden.

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Verkaufsräume der Hallenser Firma H.C. Weddy-Pönicke 1901 (Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 25, 13)

Umfassendere Möglichkeiten der neuen Innendekoration zeigt eine Bettenpräsentation des Kaufhauses Weddy-Pönicke. Die dekorierte Ware konnte nicht nur besehen werden, sondern gewann ihre spätere räumliche Qualität zurück, wurde begehbar, erfahrbar. Wunschwelten konnten nun abseits des engen Gevierts des Schaufensters aufgebaut, deren „Natürlichkeit“ somit erhöht werden.

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Innenansicht der Kölner Firma A. Böheimer (Der Manufacturist 24, 1901, s.p.)

Diese Entwicklung der Innendekoration wurde durch Verbesserungen der Lichttechnik unterstützt. Nicht mehr Petroleumleuchten oder einfaches Gaslicht wurden verwandt, sondern die hellen elektrischen Bogenlichter, vorrangig aber das neue Gasglühlicht. Der Laden konnte so gänzlich ausgeleuchtet werden, Waren und Dekoration dadurch ihre Pracht entfalten. Zugleich verschwanden die großen Öfen aus vielen Läden. Sie wurden durch Zentralheizungen ersetzt. Damit wurde weiterer Präsentationsraum gewonnen, das Verkaufsambiente angenehmer gestaltet. Weiterhin störend waren die bautechnisch notwendigen Pfeiler, doch bei Neubauten traten an die Stelle gemauerter Stützpfeiler mehr und mehr gusseiserne Säulen oder eiserne Träger, durch die auch mittlere Geschäfte größere Freiräume gewannen. [66] Die geschmackvolle Inneneinrichtung wurde mit Farbe abgerundet. Manche Ladenbesitzer stimmten Decken, Wände und getöntes Glas farblich aufeinander ab, ließen sie teils mit einfachen Mitteln ausmalen. Der Jugendstil drang gerade in gehobenen Gebrauchsgüterläden vor. [67] Der Laden entwickelte sich nach der Jahrhundertwende zumindest im Gebrauchsgüterhandel zu einer für den Zweck des Verkaufs gestalteten Kunstwelt. Auch wenn die Mehrzahl der kleinen Läden den bedeutenden Vorbildern gerade der Warenhäuser nicht das Wasser reichen konnte, so muss man doch auch deren Veränderungen – die auf niedrigerem Niveau auch den Lebensmittelkleinhandel prägten – in ihrer Gesamtheit würdigen. Analog zum Schaufenster wurde der Laden wurde immer mehr zum reflexiv-kalkulierten Mittel des Absatzes und glich sich diesem dekorativ an.

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Innere Glasfronten des Berliner Spezialgeschäftes Kopp & Joseph (Der Welt-Spiegel 1910, Nr. 101 v. 18. Dezember, 8)

Erst dadurch wurde der urbane Schaufensterbummel zum eigentlichen Einkaufserlebnis. Bewusst wurden dabei Klassengrenzen durchbrochen, um so auch Kundenkreise anzusprechen, für die die dargebotenen Waren meist unerschwinglich waren. Neue kommerzielle Sinnhorizonte entstanden, der nun rasch um sich greifende Ladendiebstahl spiegelte dies. [68] Eine „Demokratisierung des Konsums“ war mit diesen Laden allerdings kaum verbunden, denn die Möglichkeit des Kaufs höherwertiger Gebrauchsgegenstande war für die Mehrheit der Bevölkerung trotz steigender Reallöhne, trotz Abzahlungsgeschäften und Teilzahlung nur ansatzweise gegeben. Gleichwohl bildete sich insbesondere im gehobenen Mittelstand eine neue urbane Konsumkultur aus, in der die Schaufenster gewiss noch lockten, in der jedoch der seinem Vorbild gemäß gestaltete Verkaufsraum das Ziel bildete: „Was hat ein trüber unausstehlicher Wintertag in den lichterfüllten Geschäftsstraßen der Großstadt mit den lockenden Auslagen, den tausend schönen und kostbaren Dingen noch für Schrecken? Ein Hagelschauer, nasse Füße? Man tritt in den erstbesten Laden, wohlige Wärme, helles unaufdringliches Licht, angenehme Eindrücke überall! Man fühlt sich als Besitzer weicher Teppiche, prächtiger Spiegel, schöner und komfortabler Möbel, man weiß, die geschmackvolle Anordnung der Waren ist lediglich für den Käufer da. Alle vorhandenen Annehmlichkeiten stehen zu seiner unbeschränkten Verfügung. Warum soll man da nicht eine Kleinigkeit kaufen? Man braucht vielleicht nichts. Aber was soll man schon an solchem Tage daheim, wo es nicht halb so hübsch und modern ist, wo es nichts Neues mehr zu sehen gibt; was tut man bei dem unfreundlichen Wetter auf der Straße?“ [69]

Die Ausbreitung des Schaufensterprinzips in das Innere des Ladens ermöglichte zugleich, die Front des Ladens unter stärker qualitativen Aspekten zu sehen. Dadurch begann ein Prozess wechselseitiger Abstimmung, der die Einheitlichkeit der Werbung einzelner Geschäfte wesentlich vorantrieb – neudeutsch würde man vom Corporate Design sprechen. Die Zeit der Glaspaläste endete, an ihre Stelle traten Geschäfte mit kleineren Schaufensterfronten. Mehrere Warenhausbrände verdeutlichten die geringe Hitzestabilität reiner Stahl-Eisen-Konstruktionen, so dass nun die vertikalen Pfeiler fast durchgehend mit Stein verblendet wurden. Die Zahl zwei-, insbesondere aber dreigeschossiger Schaufensteranlagen sank rasch, da derart hoch gelegene Fenster kaum beachtet wurden. [70]

Neue Möglichkeiten eröffneten sich seit der Jahrhundertwende aber auch durch die Verwendung stark gebogener Spiegelscheiben. Dadurch konnte der Weg von der Straße hinein in den Laden durch Schaufenster umrahmt werden, wobei gerade gehobene Fachgeschäfte diese Möglichkeit nutzten. [71] Zugleich aber passten sich die Schaufenster stärker den ausgestellten Waren an: „Die Art der Ware wird entscheiden, ob ein großdimensioniertes Schaufenster passend sei oder ein kleiner Ausschnitt genügt. Die Schaufenstergestaltung erfordert beim Modenhaus andere Ueberlegung bei der Warenauslage als beim Juwelierladen, wo der Wert des Stückes in der Einzigkeit besteht. Und indem man der Theorie von der bildlichen Einheit der Warenauslage zuneigte, kam man auf die Idee der Konzentration, der Isolation, der Rahmenbildung für das Schaufensterstilleben. Die Fassung des Fensters wurde zugleich die Fassung der Ware.“ [72]

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Zurückgenommene Schaufensterzeile beim Seidenhaus Maassen 1912 (Berliner Leben 16, 1913, Nr. 2, III)

Auch die Verwendung des Lichtes erlaubte neue Formen der Schaufensterwerbung. Die gleißenden Fassaden der großen Häuser führten zu vermehrter Kritik am „Helligkeitswahn“. Diesem galt es mit schwächerer, aber gezielter eingesetzter Beleuchtung zu begegnen. [73] Die Außenbeleuchtung wurde immer mehr von einer indirekten Innenbeleuchtung abgelöst. Hinter Blindglas angebracht verursachten die elektrischen Bogenlampen kaum noch Schwitzwasser, tauchten die Waren zugleich aber in einen „mystischen Zauber“ [74].

Schließlich änderte sich die Stellung der Ware innerhalb der Dekoration. Die herausragende Rolle der Einzelware, die massierte Warenstapel noch verstärken sollten, schwand angesichts eines Verkaufsambientes, das generell zum Kauf animieren wollte und nur den Rahmen für den Kauf des Einzelproduktes abgab. Während beachtliche Teile der Unterschichten an Mangelernährung litten und der Lebensstandard der großen Mehrzahl der Konsumenten durch Lebensmittelteuerungen immer wieder beeinträchtigt wurde, setzte sich in den Auslagen der großen Geschäfte die Abstraktionskraft der Reklame immer stärker durch: „Die heutige Auslage ist Reklame geworden, Reklame so sehr, daß viele Geschäfte darauf verzichten, verkäufliche Ware zu zeigen.“ [75] Das Schaufenster hatte in diesem Rahmen nur noch appellativen Charakter, war Teil einer größeren Werbemaschinerie geworden.

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Blusen in der sie adelnden Abteilung des Seidenhauses Maassen (Berliner Leben 16, 1903, Nr. 2, III)

Am Ende unseres Rückblicks steht daher nicht mehr die einzelne Ware, deren Lockkraft das Schaufenster einst einen visuellen Rahmen bot. Am Ende steht der kommerzielle Kult um die Ware selbst. Die großen Geschäfte mutierten zu Kathedralen des Konsums, die Dekorateure zu Priestern des neuen Mysteriums und die Auslagen waren ihre Altäre: „Dem Kaufmann, der seine Ware verkaufen will, kann es nicht gleichgültig sein, ob der defilierende Menschenstrom sich nur an der Atmosphäre von Glanz und Licht berauscht. Er will ihn fesseln, locken, in Hemmung versetzen; die Ware soll für ihn Bedeutung gewinnen, soll sich durchsetzen, den ganzen berauschenden Glanz vergessen machen und allein sein mit Jedermann. So allein, dass die magische Suggestion ihre Faden spinnt und der Gebannte nicht loskommt von dem Gedanken: Dich muß ich besitzen. Aber dies Mysterium der Vermählung des Käufers mit der Ware verlangt Konzentration. Es müssen alle Mittel spielen, um die Ware zu isolieren. Vor allem braucht das Fenster einen Rahmen. Endell, der größte Magier unter den Schaufensterkünstlern Berlins, hat dies Erfordernis am besten begriffen. Wo er die Möglichkeit hatte, die Fassaden seiner Läden zu gestalten, hat er breite Pfeilerflächen zwischen die Fenster gelegt und den Einbau des Fensters selbst mit so kostbarer Fassung geschmückt, daß wir die Empfindung eines Wunders haben, schon ehe wir an die Scheiben herantreten. Endell war es auch, der der Beleuchtung ihre beste Lösung gab. In der Beseitigung der äußeren Bogenlampen, die blenden statt zu bestrahlen, hatten ihm andere vorgegriffen. Die verdeckte Beleuchtung, die dem Beschauer die Lichtquelle verbirgt, um die Ware um so heller hervortreten zu lassen, war als Vermächtnis der Bühne schon in die Auslagen eingetreten. In Endells Händen aber gewann das Licht erst seinen mystischen Zauber. Mit funkelnden Flächen tieffarbiger Gläser verschloss es die Beleuchtungskasten gegen die Straße, aus denen das Licht von oben über die Ware herabrieselt. Warenzeichen gleißen, zu magischen Zeichen gewandelt, mit heißen Zügen daraus hervor. Das Ganze atmet jene Stimmung, die das Kind vor dem Vorhange empfindet, der ihm zum ersten Male die Welt der Träume erschließen soll. Was in diesem Zauberschrein dargeboten wird, ist allemal etwas Kostbares, und wären es nur Stiefel aus schwarzem Leder.“ [76]

Zur Stellung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert

Die empirische Analyse der Entwicklung von Schaufenstern und Schaufensterwerbung im 19. Jahrhundert scheint zwar eindeutig, doch ist sie je nach Perspektive unterschiedlich zu deuten. Schaufenster und Schaufensterwerbung sind in der Tat Hilfsmittel allgemeinerer Fragen: Denken wir an die kulturkritische Variante, die kritisch wendet, was eben im Zitat noch positiv klang: Erhaben stand der moderne Konsument dann vor der leistungsfähigen Schau der scheinbar nur für ihn produzierten Guter. Waren wurden göttergleich, schufen erst im Rahmen der Schaufenster, dann im Rahmen des Ladens, schließlich als symbolische Lebensbegleiter ein neues Mysterium allgegenwärtigen transzendenten Wirkens. Die Rationalität moderner Warenpräsentation kreierte demnach das irrational Rationale des modernen Konsums. Die Entzauberung der Welt fand ihr paradoxes Pendant in allgemeiner Verzauberung durch die Schaufenster, Läden und Waren.

Doch Werbung und Konsum als Ersatzreligion einer kapitalistischen Gesellschaft werden der lustvollen Seite von Kauf und Kaufen, von Schauen und Entdecken sicher nicht gerecht. In der Entwicklung des Schaufensters zeigte sich aber nicht nur Entfremdung, sondern auch das Bemühen einer Vielzahl von Menschen, die Naturkräfte zu beherrschen und in einem kleinen gläsernen Geviert eine eigene, eine menschliche Kunstwelt zu schaffen. Konsum, gar Massenkonsum war im 19. Jahrhundert vielfach auch Ausdruck der Fortschrittsfähigkeit des Menschen. Das Kaufen, Besitznehmen und Einverleiben bestätigte ihn als Herren der Welt, zumal auch der kolonalisierten. Im Schaufenster sahen selbst der Mann, die Frau mit geringem Einkommen, dass die Welt ihm doch zu Füßen liegen konnte. Das hierauf gründende Selbstbewusstsein ist uns heute abhanden gekommen, war jedoch Teil der Faszination des Schaufensters im langen 19. Jahrhundert.

Vielleicht aber sollten wir auch der Leistung der Kleinhändler gedenken, die in der historischen Forschung so häufig übergangen werden. Sie waren es schließlich, die mit viel Energie und Liebe zum Detail kommerzielle Traumwelten schufen und damit wichtige Elemente der modernen Stadt prägten. Durch eine einfache, durchsichtige Scheibe trennten sie Käufer und Ware, schufen so Ungewissheit, versahen die Produkte mit einem unbestimmten Geheimnis. Ob sie aber über sich, über ihre Repräsentationskraft Rechenschaft gegeben haben?

Wir könnten weitere Rollen einnehmen: Historiker sind vielleicht überrascht von der neuartigen Periodisierung in dieser Arbeit. Stimmt sie, dürfte eine große Zahl bisheriger Forschungen falsch fokussiert worden sein. Nicht am Ende, sondern in der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es demgemäß entscheidende Veränderungen von Kleinhandel, Schaufensterwerbung und Konsum. Damit wird das weithin akzeptierte Bild einer erst in den 1890er Jahren entstehenden Konsumgesellschaft fraglich, denn in deutschen Städten setzte sich zumindest ein bürgerlicher Konsumstil schon wesentlich früher durch. Auch die vielfach kolportierte Vorstellung einer neuen visuellen Kultur der Jahrhundertwende wäre zumindest falsch datiert. Vermehrt müsste dann nach den Trägern dieser Veränderungen gefragt werden – unabhängig davon, ob es sich um Produzenten, Händler oder Konsumenten oder aber um Läden, Schaufenster oder Produkte handelt. Menschen und Dinge gehören trotz Eigenleben zusammen. Vielleicht geriete schließlich auch das einseitig von der Produktion beherrschte Bild der „Industrialisierung“ in den Blick, nicht zuletzt um so den Städten als Handels- und Konsumzentren gerecht zu werden. Und auch für die Verortung des Deutschen Reiches als europäische Wirtschaftsmacht ergäben sich möglicherweise überraschende Perspektiven. Viele denkbare Folgerungen, die Sie weiterspinnen, denen Sie gewiss noch weitere hinzufügen können.

Uwe Spiekermann, 25. September 2022

Anmerkungen, Literatur und Quellen

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und mit weiteren Abbildungen versehene Fassung des in englischer Sprache erschienenen Artikels Display Windows and Window Displays in German Cities of the Nineteenth Century: Towards the History of a Commercial Breakthrough, in: Clemens Wischermann und Elliott Shore (Hg.), Advertising and the European City. Historical Perspectives, Aldershot et al. 2000, 139-171.

[1] Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; David Ciarlo, Advertising Empire. Race and Visual Culture in Imperial Germany, Cambridge und London 2011; Pamela E. Swett (Hg.), Selling under the Swastika. Advertising and Commercial Culture in Nazi Germany, Stanford 2014; Alexander Schug, Braune Verführer. Wie sich die deutsche Werbebranche den Nationalsozialisten andiente, Berlin 2015.
[2] Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Hannes Siegrist, Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.-20. Jahrhundert), Frankfurt a.M. und New York, 1997; Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999; Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990, Frankfurt/Main und New York 2009; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009; Hartmut Berghoff und Uwe Spiekermann (Hg.), Decoding Modern Consumer Societes, New York 2012; Frank Trentmann, Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2017; Christian Kleinschmidt und Jan Logemann (Hg.), Konsum im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2021.
[3] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.
[4] Dieses und das voranstehende Zitat aus Hans-Walter Schmidt, Schaufenster des Ostens. Anmerkungen zur Konsumkultur der DDR, Deutschland-Archiv 27, 1994, 364-372, hier 364.
[5] Dieser fehlt bei Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums, hg. v. Württembergischen Kunstverein, Stuttgart 1974 bzw. Heidrun Großjohann, Die Karriere des stummen Spektakels. Zur Geschichte des Schaufensters, in: Christel Köhle-Hezinger und Gabriele Mentges (Hg.), Der neuen Welt ein neuer Rock, Stuttgart 1993, 252-256.
[6] Vgl. hierzu Johann Georg Krünitz, Kauf-Laden, in: Ders., Oekonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 36, Berlin 1786, 482-486; Margot Aschenbrenner, Buden und Läden, Biberach/Riss 1951; Gerhard Kaufmann, Alte Läden, in: Max Galli (Hg.), Vom Charme der alten Warenwelt, Dortmund 1992, 115-153.
[7] Vgl. Heinrich Sasse, Das bremische Krameramt, Bremisches Jahrbuch 33, 1931, 108-157, hier 135, Anm. 1. Zur Gesamtentwicklung vgl. H.W. Bahn, Studienbeitrag zur Entwicklungsgeschichte des Schaufensters in Deutschland, Ing. Diss. Braunschweig 1923 (Ms.).
[8] Vgl. Bahn, 1923, s.p.; Hermann Weidemann, Skizze zur Geschichte des Glases, Prometheus 24, 1913, 340-342, 358-361, 378-381, 394-395, hier 341.
[9] Vgl. [Josef Kirchner], Münchener Kaufläden von einst und jetzt, Münchener Rundschau 4, 1907, 1-5, hier 1. Die Malerische Topographie des Königreichs Bayern, München 1830, enthält allerdings schon mehrere Zeichnungen von Münchener Läden mit Schaufenstern.
[10] Vgl. Boris Röhrl, Ladenbeschriftungen des 19. Jahrhunderts. Versuch einer Systematisierung, Volkskunst 13, 1990, H. 3, 39-43.
[11] Umfassende Belege hierfür enthält Spiekermann, 1999.
[12] Vgl. demgegenüber Ulrich Lange, Krämer, Höker und Hausierer. Die Anfänge des Massenkonsums in Schleswig-Holstein, in: Werner Paravicini (Hg.), Mare Balticum, Sigmaringen 1992, 315-327 sowie (trotz anderer Fragestellung) Heidrun Homburg, Heidrun, Werbung – „eine Kunst, die gelernt sein will“. Aufbrüche in eine neue Warenwelt 1750-1850, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 11-52.
[13] Reinhardt, 1993, 271 betonte: „Bis zu den 1890er Jahren blieben die modernen, großflächigen Schaufenster jedoch vereinzelte Farbtupfer in den deutschen Städten“, während er an anderer Stelle (Dirk Reinhardt, Vom Intelligenzblatt zum Satellitenfernsehen. Stufen der Werbung als Stufen der Gesellschaft, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 44-63, hier 46) schrieb: „Die Gründerzeit hatte bereits in den 1870er Jahren durch die beginnende Umwandlung der Geschäftsfronten für eine Wandlung des großstädtischen Straßenbildes gesorgt.“ Zu beachten ist, dass diese Periodisierung nur dann sinnvoll ist, wenn das Warenhaus sehr eng als „eine großbetriebliche, kapitalistische Unternehmung für den Kleinhandel mit Waren verschiedenster, innerlich nicht zusammenhängender Art in einheitlichen Verkaufsraumen/-häusern“ definiert wird (Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im spaten Kaiserreich, Frankfurt a.M. et al. 1994, 29). Eine allgemeiner gehaltene Definition – etwa analog zu den französischen Grands magasins – hätte dagegen zur Folge, dass die deutsche Warenhausgeschichte schon während der Frühindustrialisierung einsetzen würde.
[14] Wilfried Reininghaus, Rez. v. Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 83, 1996, 239-240, hier 239.
[15] Zahlen nach C[arl] F[riedrich] W[ilhelm] Dieterici, Statistische Uebersicht der wichtigsten Gegenstände des Verkehrs und Verbrauchs im Preußischen Staate und im deutschen Zollvereine in dem Zeitraume von 1837 bis 1839, Berlin, Posen und Bromberg 1842, 399-400; Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preussischen Staat für Jahr 1858, hg. v.d. statistischen Bureau zu Berlin, Berlin, 1860, S. 322-323.
[16] Zahlen nach H[ans] Grandtke, Die Entstehung der Berliner Wäsche-Industrie im 19. Jahrhundert, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich NF 20, 1896, 587-607, hier 596.
[17] Eigene Auswertung von Hamburgisches Adress-Buch auf das Jahr 1800, Hamburg o.J.; Hamburgisches Adreßbuch für das Jahr 1822, Hamburg o.J.
[18] Polizey-Bekanntmachung, die bequemere Passage der Stra6en betreffend v. 15.05.1830, in: J[ohann] M[artin] Lappenberg (Hg.), Sammlung der Verordnungen der freyen Hanse-Stadt Hamburg seit 1814, Bd. 11, Hamburg 1832, 170-171, hier 170.
[19] Melhop, 1925, 326. Darin auch eine Reihe weiterer Abbildungen sowie Fotographien aus den 1870er Jahren.
[20] Allerdings war in Hamburg eine einfache, vergleichsweise sachliche Ausgestaltung der Schaufenster allgemein üblich, vgl. Robert Geissler, Hamburg. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Leipzig 1861, v.a. 53.
[21] Das Gerson’sche Modewaaren-Lager zu Berlin, Werderscher Markt No. 5, Zeitschrift für Bauwesen 1, 1851, Sp. 131-137; Gustav Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle/S. 1870, 646.
[22] Entsprechend betonte Elisabeth v. Stephani-Hahn, Schaufenster-Kunst, 3. verb. Aufl., Berlin 1926, 9-10, dass die ersten spezialisierten Schaufensterdekorateure schon Mitte des 19. Jahrhunderts antraten.
[23] Springer, 1861, S. 330, 332-333.
[24] Stock, Ueber Schaufenster-Anlagen, Zeitschrift für Praktische Baukunst 24, 1864, Sp. 9-20, hier 9.
[25] Ueber Kaufläden, Zeitschrift für Bauhandwerker 7, 1863, 132-136, Bl. 17, hier 133.
[26] Vgl. Geschäftshaus in Berlin, Unter den Linden Nr. 13, für den Kaufmann Kohn, Zeitschrift für praktische Baukunde 31, 1871, Sp. 151-152, Taf. 17-20.
[27] Weidemann, 1913, 341. In London wurden dagegen nur 2.000, in Paris 1.500 und in Wien 1.000 entsprechende Schaufenster gezählt.
[28] Das belegen nicht zuletzt vielfaltige Karikaturen, etwa Fliegende Blatter 37, 1862, 40.
[29] Vgl. Bischoff et al., Das Manufakturwaarengeschäft. Fabrikation und Vertrieb, 2. wohlfeile Ausgabe, Leipzig 1869, 479.
[30] Vgl. allgemein Uwe Spiekermann, Elitenkampf um die Werbung. Staat, Heimatschutz und Reklameindustrie im frühen 20. Jahrhundert, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 126-149, v.a. 127-129.
[31] Zum technischen Hintergrund vgl. J. Schuh, Der moderne Ladenbau, Süddeutsche Bauzeitung 2, 1892, 222-224, 234-235, v.a. 222.
[32] Schon das erste Warenhaus, der 1891 gegründete Kaiser-Bazar, besaß 130 Schaufenster (Vom Kaiser­Bazar in Berlin, Wiener Bauindustrie-Zeitung 8, 1891, 323-324, hier 323).
[33] Ähnlich schon A.L. Plehn, Zur Entwicklung der Warenhausfassade, Deutsche Bauhütte 8, 1917, 113-114, 125-127, 129, hier 113. Zum französischen Vorbild vgl. Christian Schramm, Deutsche Warenhausbauten. Ursprung, Typologie und Entwicklungstendenzen, Aachen 1995, S. 28-41; Siegfried Gerlach und Dieter Sawatzki, Grands magasins oder Die Geburt des Warenhauses im Paris des 19. Jahrhunderts, Dortmund 1989, v.a. 5-38.
[34] Vgl. die vorgreifende Kritik von Hugo Koch, Schaufenster und Ladenverschlüsse, in: Handbuch der Architektur, T. 3, Bd. 3, H. 1, Darmstadt 1896, 356-382, hier 357-358. Ferner Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus, Berliner Architekturwelt 3, 1901, 423-425. Positiv dagegen Leo Nacht, Moderne Schaufensteranlagen, Berliner Architekturwelt 6, 1904, 336-340, hier 337.
[35] Eugen Richter, Die Consumvereine, Berlin 1867, 95.
[36] Vgl. etwa Richard Bauer, Das alte München. Photographien 1855-1912. Gesammelt von Karl Valentin, o.O.o.J.
[37] Zu den Gründen vgl. Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 150-189, v.a. 151- 156; Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, 263-264.
[38] Den besten Überblick vermittelt Julius Hirsch, Die Filialbetriebe im Detailhandel, Bonn 1913.
[39] Uli Huber, Die Geschichte des Schaufensters, in: Eugen Johannes Maecker (Hg.), Werbende Fenster, Bd. 1, Berlin o.J., 5-20, hier 15.
[40] Hermann Kind, Die Fleischerei in Leipzig, in: Untersuchungen über die Lage des Handwerks in Deutschland, Bd. 6, Leipzig 1897, 1-178, hier 55-56. Vgl. auch die „künstlerische“ Dekoration von Schweinehälften bei Stephani-Hahn, 1926, 28 bzw. die Abbildung bei S. Thron, Der Weihnachtsmann in der Grossstadt, Die Woche 6, 1908, 2237-2242, hier 2241.
[41] So noch – aufgrund sehr einseitiger Quellennutzung – Christiane Lamberty, ‚Die Kunst im Leben des Buttergeschäfts‘. Geschmacksbildung und Reklame in Deutschland vor 1914, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1997/I, 53-78.
[42] Karl Ernst Osthaus, Das Schaufenster, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 59-69, hier 61.
[43] Bischoff et al., 1869, 472.
[44] Schaufenster-Decorationen einst und jetzt, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 16, 7.
[45] Bischoff et al., 1869, 476-477.
[46] Geissler, 1861, 53.
[47] Soll man an den Waaren die Preise deutlich mit Ziffern bezeichnen, so dass Jedermann sofort weiss, was das betreffende Stück kostet?, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 10, 5.
[48] Entsprechende Lehrinstitute entstanden allerdings schon vor der Jahrhundertwende, vgl. Decorationsschule für Frauen, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 4, 9.
[49] J. Erhart, Der Schaufenster-Dekorateur, Frankfurt a.M. 1895, 215-220.
[50] Vgl. den Ratschlag in Wie mache ich Reklame, Der Materialist 21, 1900, Nr. 40, 2. S. n. 12.
[51] Vgl. Die Anziehungskraft des Schaufensters, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 40; Stephani­ Hahn, 1926, 17.
[52] R. Goldschmidt, Kauf-, Waaren- u. Geschäftshäuser, in: Baukunde des Architekten (Deutsches Bauhandbuch.), Bd. 2, T. 5, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Berlin 1902, 49-192, hier 71.
[53] Vgl. etwa die Abbildungen der Friedrich- bzw. Leipzigerstraße, Berliner Architekturwelt 16, 1914, 193-194.
[54] Vgl. hierzu Koch, 1896, 364, 370-376; Neue Schaufenster-Rouleaux, Der Materialist 20, 1899, Nr. 40, 2; Goldschmidt, 1902, 69-71; Franz Woas, Praktische Neuerungen im Ladenbau, Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen 11, 1914, 162-164, 169-170, hier 170.
[55] Vgl. hierzu Dirk Reinhardt, Dirk, Beten oder Bummeln? Der Kampf um die Schaufensterfreiheit, in: Borscheid und Wischermann (Hg.), 1995, 116-125.
[56] Aus der Fülle der Ratgeberliteratur nur folgende Titel: Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 16, 1893, Nr. 3, 9; Gefrorene Schaufenster, ebd., Nr. 44, 8; Koch, 1896, 362; Das Beschlagen der Schaufenster, Der Materialist, Bd. 21, 1900, Nr. 1, S. 2; Das Beschlagen und Gefrieren der Schaufenster, Der Manufacturist 24, 1901, Nr. 46, 12.
[57] Vgl. Ueber Schaufenster-Beleuchtung, Ebd. 16, 1893, Nr. 17, 3; Schaufenster-Beleuchtung, Der Materialist 21, 1900, Nr. 16, 2. S. n. 12; Carl Zaar und August Leo Zaar, Geschäfts-, Kauf- und Warenhäuser, in: Handbuch der Architektur, T. 4, Halbbd. 2, H. 2, Stuttgart 1902, 2-138, hier 20-24.
[58] Vgl. hierzu Max Schröder, Das Geschäftshaus der Kleinstadt, Strelitz o.J. (1911).
[59] Georg Simmel, Berliner Gewerbe-Ausstellung, Ästhetik und Kommunikation 18, 1987/89, H. 67/68, 101-105, hier 105 (Original von 1896).
[60] Dora Feigenbaum, Die Reklame, Deutschland 7, 1905/06, 427-436, 589-602, hier 595-596.
[61] Felix Steinl, Die Reklame des kleinstädtischen Manufakturwaarenhändlers, in: Robert Exner, (Hg.), Moderne Reklame, 4. Tausend, Zittau 1892, 7-10, hier 8.
[62] Gute Beispiele aus dem Lebensmittelhandel sind Fritz Grossmann, Schmücke Dein Schaufenster, Magdeburg o.J. (1901) bzw. Gustav Teller, Die Schaufenster-Dekoration für Kolonialwaren-Handlungen und verwandte Geschäftszweige, Leipzig 1909. Zur Einordnung vgl. Spiekermann, 1999, 573-585.
[63] Angaben nach Neu- und Umbau des Geschäftshauses Heinrich Jordan, Markgrafenstrasse 105-107, Deutsche Bauzeitung 27, 1893, 317-321, hier 317; Paul Lindenberg, Berlin und das Haus Rudolph Hertzog seit 1839, in: Agenda Rudolph Hertzog Berlin 1914, Berlin o.J. (1913), 3-96, hier 95.
[64] Vgl. Erwin Paneth, Entwicklung der Reklame vom Altertum bis zur Gegenwart, München und Leipzig 1926, 161.
[65] Vgl. etwa Alfred Wiener, Das Warenhaus, Berlin 1912.
[66] Karl Ross, Neubau und Umbau von Geschäftshäusern und Kaufläden, Der Manufacturist 24, 1901, passim, hier Nr. 29, 5.
[67] Vgl. ebd., Nr. 40, 5. Zur Deckenausgestaltung s. August Endell, Ladeneinrichtungen, Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1913, 55-58, hier 58.
[68] Näheres bei Uwe Spiekermann, Theft and Thieves in German Department Stores, 1895-1930. A Discourse about Morality, Crime and Gender, in: Geoffrey Crossick und Serge Jaumain (Hg.), Cathedrals of Consumption, London und New York 1998, 139-171.
[69] Die innere Ausstattung. Vom Werke der Raumkunst für das offene Ladengeschäft, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 8, 36.
[70] B. Haas, Das Schaufenster in ästhetischer und betriebstechnischer Beziehung (Schluss.), Deutsche Bauhütte 10, 1906, 221-223. Vgl. auch die Kritik von Hans Schliepmann, Das moderne Geschäftshaus (Schluss.), Berliner Architekturwelt 4, 1902, 52-55, 57-59, v.a. 59.
[71] Vgl. Ein schmales Bremer Geschäftshaus, Deutscher Bauhütte 5, 1901, 266-267; Goldschmidt, 1902, 60; Berliner Architekturwelt 16, 1914, 68 (Anbau bei Herrmann Gerson); Woas, 1914.
[72] Kurt Pallmann, Künstlerische Ladengestaltung als Aufgabe des Architekten, Deutsche Bauhütte 18, 1914, 108-110, 113, 122-123, hier 108.
[73] Neue Wege, Der Manufacturist 36, 1913, Nr. 5, 15, 17, hier 15.
[74] Pallmann, 1914, 108.
[75] Osthaus, 1913, 60. Vgl. auch Stephani-Hahn, 1926, 10-11.
[76] Osthaus, 1913, 62-63.

Karstadt in Flammen! Der Braunschweiger Warenhausbrand 1899

Konsum ist Gewalt – und das umfasst weit mehr als den notwendig zerstörerischen Akt des Konsumierens und die verdrängende Kraft der Versorgungsketten. Konsum hat Scheidequalitäten – wer nicht erwerben, nicht zahlen kann, erfährt Ausgrenzung, weiß um Defizite seiner selbst. Konsum geht zugleich einher mit Handgreiflichkeiten, mit speziellen Formen aktiver Gewalt. Während der frühen Neuzeit richteten sich Widergesetzlichkeiten und Katzenmusiken gegen Kaufleute und die Obrigkeit, denn diese galten – zumindest in Städten – als Garanten der Alltagsversorgung, die angesichts regelmäßiger Missernten und Preissteigerungen Vorsorge zu treffen hatten. Vorstellungen des ehrlichen Kaufmanns und des gerechten Preises definierten Kipppunkte, rechtfertigten konkrete Aktionen, Plündern und Stehlen. Im Laufe des langen 19. Jahrhunderts wurde all dies mittels Markt und starkem Staat befriedet, nicht aber beendet.

Gewohnt an den großen Blick, geraten die kleinen lokalen Konflikte aus dem Blick. Reallohnsteigerungen überdecken Mangel und akute Not, die zunehmend prächtigen Einkaufsstraßen und Verkaufsstätten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen Konsum als Feld struktureller Gewalt scheinbar verschwinden. Dabei war die Zahl der Krawalle Legion, ausgelöst meist durch Preissteigerungen, Nahrungsmittelfälschungen oder Warenzurückhaltung. Dafür war zuerst der „Pöbel“ verantwortlich, darunter viele Frauen. Das Proletariat entwickelte dann stärker kollektive Kampfformen, die zahlreichen Boykotte der 1890er Jahre zeugen davon. In höheren Kreisen gewann zeitweilig das Stehlen, der „Warenhausdiebstahl“, an Bedeutung, wurde als vermeintlich weibliche Kriminalität pathologisiert und lange nicht recht ernst genommen (Uwe Spiekermann, Theft and Thieves in German Department Stores. A Discourse about Morality, Crime and Gender, in: Geoffrey Crossick und Sergé Jaumain (Hg.), The European Department Store 1850-1939, Aldershot 1998, 135-159).

Der Warenhausdiebstahl war kriminell, stand gegen die bürgerliche Rechtsordnung. Doch er war zugleich eine Übersprungshandlung, gewalttätiger Ausgleich zwischen der wachsenden Fülle der Waren und der sinnesreizenden Pracht der immer größeren Verkaufsläden. Aus Manufakturwarenhandlungen wurden Magazine, dann Kaufhäuser und Bazare, das Warenhaus bündelte all dies in Deutschland seit den 1890er Jahren. Es stand für die Verheißungen der modernen materiellen Welt, war betörend und billig zugleich. Doch es gab Gegner, mächtige zumal. Da war die Konkurrenz, die kleinen und mittleren Händler: Das Warenhaus sei materialisierte Gewalt, unterminiere die Grundlagen eines sich auf Gottesgnadentum, Religion, Militär und einem starken königstreuen Mittelstand stützenden Staates. Es verderbe Sitte und Anstand bei den Käuferinnen, aber auch der nun erst wachsenden Zahl junger Verkäuferinnen. Hier sei die Plutokratie am Werke, international aufgestellt, das Großkapital, immer auch der Jude. Die Kritik der Mittelstandsbewegung entsprach einem Gefühl der Zeit, geprägt von den Herausforderungen und Verwerfungen der ersten Globalisierung und der zweiten Industrialisierung. Entsprechend teilten auch Sozialdemokratie bzw. Konsumgenossenschaftsbewegung zentrale Punkte der schrillen und mit sprachlicher Gewalt vorgetragenen Kritik.

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Gewalt gegen die vermeintlichen Totengräber des Mittelstandes (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 12, 9)

All das führte zu staatlichen Regulierungen, zu teils massiven „Warenhaussteuern“, zugleich aber zu Modernisierungsbestrebungen im Handel (Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt/M. et al. 1994). Das Warenhaus wurde dabei zum Symbol einer ambivalenten, einer gewalttätigen Moderne. Dieser Wellenschlag war noch in den Kaufhausbrandstiftungen des frühen RAF-Terrors vernehmbar (Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin 2018, 41-89). Die Linksterroristen waren krude Antisemiten – und diese Seite der Gewalt durchzieht nicht nur das späte Kaiserreich, sondern auch die Weimarer Republik bis hin zur „Arisierung“ der großenteils von Bürgern jüdischen Glaubens geführten Warenhauskonzerne während des frühen Nationalsozialismus. Nationalsozialisten, Antisemiten und Mittelstandsbewegung wollten die Konsumgesellschaft „reinigen“ – und dabei waren Vorstellungen eines reinigenden Feuers immer wieder präsent (Paul Lerner, The Consuming Temple. Jews, Department Stores, and the Consumer Revolution in Germany, 1880-1940, Ithaca 2015, 179-211). Anders als im Rheinischen Kapitalismus gab es Brandstiftungen im Deutschen Kaiserreich jedoch nur wenige, keine davon endete in niedergebrannten Verkaufsstätten. Doch es gab zahlreiche „natürliche“ Brände, meist durch Unachtsamkeit, Verantwortungslosigkeit, durch „Unfälle“ – das Berliner Unternehmen Grinell warb 1928 mit der Zahl von 96 durch seine Wassersprinkler gelöschten Warenhausbrände (25 Jahre Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser, Berlin 1928, 142). Ein solcher fand in Braunschweig statt, im späten 19. Jahrhundert noch Hauptstadt eines selbständigen Herzogtums: Am Abend des 17. Mai 1899 hieß es: Karstadt in Flammen! Ein Einzelfall, gewiss. Zugleich aber Ausdruck der zuvor angelegten Themen und der beachtlichen Brandgefahr im späten 19. Jahrhundert.

Brände als Gefahr für die populäre Konsumkultur

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Grauen zum Konsumieren: Theaterbrand in Schwerin (Illustrirte Zeitung 78, 1882, 340)

Brände verbindet man gemeinhin mit der frühen Neuzeit, als Feuersbrünste viele in engen Mauern verdichtete Städte verwüsteten – Friedrich Schiller hat diese Gefahr in der bekanntesten deutschen Ballade wortmächtig eingefangen. Städtewachstum und Urbanisierung veränderten dies, schufen neue Viertel, breitere Straßen und damit Feuerschneisen. Die großen Stadtbrände in Hamburg 1842, vor allem aber in Chicago 1871 verwiesen jedoch auf eine andauernde Gefahr. Heizung und Beleuchtung blieben die Hauptrisiken, ebenso gewerbliche Arbeit, verbunden mit Funkenschlag und offenem Schmiedefeuer. Doch während das Gewerbe zunehmend am Stadtrand ansiedelte, entstanden mit der langsamen Transformation der Stadtmitten in Dienstleistungs- und Konsumzentren neue Gefahren. Der Brand des Brooklyn Theatres kostete 1876 fast vierhundert Menschenleben, die der Oper in Nizza 1881 knapp 200, der verheerende Wiener Ringtheaterbrand im gleichen Jahr offiziell fast 400, wahrscheinlich aber deutlich mehr (Elmar Buck, Thalia in Flammen, Theaterbrände in Geschichte und Gegenwart, Erlensee 2000). All dies war Folge eines teils kenntnisarmen, teils unbedachten und sorglosen Umgangs mit neuer Technik, mit Gas, Elektrizität, mit wenig geeigneten Baustoffen und Metallen (Aug[ust] Fölsch, Theaterbrände und die zur Verhütung derselben erforderlichen Schutz-Maßregeln, Hamburg 1878). Die Behörden reagierten mit Regulierungen, mit Zonenplänen, verschärften die bestehenden Bauordnungen. Zugleich wurden die Feuerwehren verstärkt und technisiert, mit Ausziehleitern, Pumpen und Dampfspritzen. Die meist privaten Theaterunternehmer nahm man in die Pflicht, die nun übliche Wasserversorgung half die Schäden zu begrenzen, Menschenleben zu retten. Der Kunst- und Kulturgenuss war ein Risiko, dessen war sich die Kundschaft bewusst; doch davon ließ sie sich nicht verdrießen, wähnte sie sich doch in einer Zeit des Fortschritts, der sukzessiven Gefahrenminderung.

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Der brandgefährliche Schaufensterbummel (Fliegende Blätter 90, 1889, 209)

Entsprechend wurden Gefahren der immer sinnenträchtigeren Warenpräsentationen eher gering geachtet. Schaufenster setzten seit den 1860er Jahren die Käufer in ein neues Verhältnis zur Warenwelt. Sie erlaubten eine Vorabinspektion, ohne Kaufzwang, ohne die lenkende Kraft von Händlern und Verkäufern. Diese lernten langsam ihre Angebote in Szene zu setzen; in Berlin soll es 1880 bereits „3000 wirkungsvolle Schaufenster“ (Hermann Weidemann, Skizze zur Geschichte des Glases, Prometheus 24, 1913, 341) gegeben haben. Viele nahmen daran Anstoß, sahen darin übergriffige Werbung, die spätere Außenwerbung führte zu bürgerlichem Protest gegen derartig raumgreifende Reklame. Doch die Schaufenster bildeten auch eine neuartige Feuergefahr, denn sie wurden während und auch nach dem vor 1900 großenteils um 20 Uhr einsetzenden Ladenschluss beleuchtet, ja illuminiert. Anfangs geschah dies mit Kerzen und Petroleumleuchten, dann mit Gasbrennern. Schadenfeuer war kaum zu vermeiden, teils durch direkte Entzündung, teils durch Erhitzung und folgendem Brand der Auslagen. Seit den späten 1880er Jahren kamen vermehrt elektrische Bogenlampen auf, seit den 1890er dann Gasglühlampen (Uwe Spiekermann, Display Windows and Window Displays in German Cities of the Nineteenth Century, in: Clemens Wischermann und Elliott Shore (Hg.), Advertising and the European City: Historical Perspectives, Aldershot und Burlington 2000, 139-171, hier 157). Damit beseitigte man Gefahren offenen Feuers, doch die Schalttechnik blieb äußerst anfällig, Kurzschlüsse waren an der Tagesordnung. Allein in Berlin musste die Feuerwehr von 1895 bis 1900 849 mal ausrücken, um Schaufenster und Schaukästen zu löschen (Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin 1895 bis 1900, T. 3, Berlin 1905, 294).

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Neue Verkaufsräume für die wachsende Zahl der Waren: Zukunftsvision 1895 (Fliegende Blätter 103, 1895, 2)

In den meisten Fällen gingen die Schaufensterbrände glimpflich aus, endeten mit zerstörter Auslage und verrußten Waren; eine Folge auch der Sicherungswände, die den kommerziellen Kunstraum vom eigentlichen Laden abtrennten. Dieser aber vergrößerte sich massiv durch die wachsende Zahl der Spezialgeschäfte für Manufakturwaren und Möbel, der Kaufhäuser und dann auch der in den frühen 1890er Jahren entstehenden Warenhäuser. In Berlin besaßen Wertheim, Hermann Tietz und seit 1904 auch Rudolph Hertzog mehr als 10.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, Karstadt übertraf diese Marge erstmals 1912 im neu erbauten Verkaufspalast in der Hamburger Mönckebergstraße. Für die Baupolizei betraten die Käufer gefährliches Terrain: In den Warenhäusern „bewegen sich Käufer und Kaufende namentlich in der Weihnachtszeit dicht gedrängt zwischen brennbaren, bisweilen leicht entzündlichen Waren hin und her, und die Zeit, in der des Abends die künstliche Beleuchtung erstrahlt, ist die vom Publikum bevorzugteste. Durch zwei oder mehrere Geschosse pflegt sich bei größeren, den neuzeitlichen Anforderungen entsprechenden Bauten der Verkaufsraum zu dehnen, man ersteigt mittels offener Freitreppen die sich um ausgedehnte Lichthöfe galerieartig hinziehenden oberen Geschosse, in denen ebenfalls Waren aller Art feilgehalten werden“ (O[tto] v. Ritgen, Der Schutz der Städte vor Schadenfeuer, Jena 1902, 54). Allen Vorkehrungen zum Trotz schien Einkauf als Tanz auf dem Vulkan, als Balanceakt angesichts der damit verbundenen Brandgefahren.

Braunschweig, 17. Mai 1899: Der Brand

Das galt auch für Braunschweig, einer traditionsreichen Hanse- und Handelsstadt, die um die Jahrhundertwende im raschen Wandel begriffen war. Im westlichen Ringgebiet hatten sich bereits zahlreiche aufstrebende Maschinenbauunternehmen etabliert, befördert durch die frühe Agrarindustrialisierung der Region, durch prosperierende Mühlen, Zuckerraffinerien und Konservenfabriken. Die damals etwa 120.000 Einwohner zählende Landeshauptstadt entwickelte sich zu einem industriellen Zentrum, Unternehmen des Fahrzeugbaus (Büssing, gegründet 1903) oder der optischen Industrie (Voigtländer, ab 1898 AG) verbreiterten die industrielle Basis. Karstadts 1898 in der Stephanstraße 6 neu bezogenes Geschäftshaus stand für den parallelen Aufbruch auch im Handelsgewerbe, auch in der Braunschweiger Altstadt, von der es noch 1900 hieß: „Man braucht nur durch die stillen idyllischen Straßen Braunschweigs zu wandern, um sich sogleich zu sagen, daß hier unter den Menschen noch alte gute Gemächlichkeit zu Hause ist, und daß der Drang nach Erwerb, nach Reichtum und Karriere andere Regungen noch nicht ganz unterdrückt hat“ (Heinrich Lee, Deutsche Landsmannschaften in Berlin. XIV. Braunschweiger, Berliner Tageblatt 1900, Nr. 227 v. 5. Mai, 6-7, hier 6). Karstadt stand für die Kapitalkraft auswärtiger Investoren, doch auch lokale Unternehmen veränderten tradierte Formen des Einkaufens. Adolf Frank (1889-1920) hatte an der Ecke Schuhstraße/Stephanstraße 1889 eine Kurzwarenhandlung gegründet, die er bis zur Jahrhundertwende zu einem stattlichen Magazin fortentwickelt hatte. Beide Geschäfte setzten neue Maßstäbe durch große Verkaufshäuser und tiefe Sortimente gewerblich produzierter Waren.

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Braunschweigs Altstadt auf dem Weg zum Einkaufszentrum. Das schräg gegenüber von Karstadt liegende Magazin Adolf Frank 1899 (heute Ort der New Yorker-Filiale) (Wikipedia)

Es gibt allerdings Bereiche, in denen sich die Gemächlichkeit der vermeintlich guten alten Zeit bis heute gehalten hat, oberflächlicher Modernität zum Trotz. Das Land Niedersachsen, in den 1946 auch der Freistaat Braunschweig eingegliedert wurde, hat es beispielsweise in den 75 Jahren seines Bestehens nicht vermocht, auch nur eine der dort vor der Landesgründung erschienenen Tageszeitungen zu digitalisieren (karge Ansätze finden sich allein bei der Landesbibliothek Oldenburg). Diese kulturelle Einöde wird allerdings durchbrochen von tradierten Überlieferungen. Das Stadtarchiv Braunschweig birgt Material über den Warenhausbrand im Bestand H XIV Nr. 62, dessen Bibliothek eine kleine Gedenkbroschüre. Dieses gebührend erweiterte dürre Material liefert das Gerüst zur Rekonstruktion der Geschehnisse im Mai 1899, als es schreckerfüllt hieß: Karstadt in Flammen!

Am Mittwoch, den 17. Mai 1899 befanden sich kurz vor Ladenschluss noch etwa 70 Personen, darunter 30 Käufer, im Kaufhaus Karstadt in der Braunschweiger Stephanstraße 6. Im äußersten rechten Schaufenster – es gab insgesamt sechs davon – entstand zwischen 19.40 und 19.45 Uhr ein Brand. Eine glühende Leitung hatte Textilien erhitzt, diese fingen Feuer, das Schaufenster brannte aus, ebenso die Rückseite. Der Brand griff auf den Verkaufsraum über, fand Nahrung durch leicht entzündliche Waren. „Innerhalb weniger Minuten verbreitete sich, begünstigt von der breiten, nach dem ersten Stocke führenden Treppe, das Feuer in die oberen Stockwerke. Eine hohe Feuersäule und dichter Qualm schlugen nach oben, Alles um sich verzehrend und den Hauptausgang versperrend“ (Eine furchtbare Brandkatastrophe, Neueste Nachrichten 1899, Nr. 116 v. 19. Mai). Feuermelder waren nicht vorhanden, ebenso keine Alarmanlage. Ein Fahrradfahrer sah den Brand, eilte zur nahegelegenen Wache der Berufsfeuerwehr, wo der Alarm um 19.50 einging. Erste Einheiten rückten nach zwei Minuten aus, erreichten drei bis fünf Minuten später den Brandort. Die Feuerwehr der Turner und verschiedene Fabrikwehren folgten, ebenso freiwillige Feuerwehren aus dem unmittelbaren Umland.

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Die Freitreppe als potenzieller Schlot: Blick in das Berliner Kaufhaus Hermann Hoffmann (Baukunde des Architekten, Bd. 2, T. 5, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Berlin 1902, 75)

Bei Karstadt hatten sich derweil die Geschehnisse überschlagen. Die Mehrzahl der Käufer und auch des Personals entkamen in den Hinterhof durch die Nottüren im Erdgeschoss. Die Richtung zu diesem unbekannten Fluchtweg wiesen Angestellte. Die elektrische Anlage war trotz des Kurzschlusses und der Angst vor weiterem Funkenschlag nicht abgestellt worden, so dass man den rettenden Weg trotz des Qualmes sehen und einschlagen konnte. Während die Personen im Erdgeschoss also rasch entkommen konnten, spitzte sich die Situation für die Besucher und Bediensteten in der ersten und zweiten Etage massiv zu. Sie wurden vom Feuer getrieben, konnten teils durch eine im Hause gelegene Nottreppe entkommen, retteten sich teils aber auch auf und über die Balustraden und Dächer des Geschäftshauses. Die Feuerwehr begann, ihre bis zu 18 Meter hohen hölzernen Leitern in Stellung zu bringen. All dies dauerte, und in ihrer Not kam es bei einigen zu beherzten Panikreaktionen.

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Lageplan auf Grundlage der Karte von Ernst Stier, Führer durch die Stadt Braunschweig und deren Umgebung, 2. verb. u verm. Aufl., Braunschweig 1899, s.p. (Wikipedia)

Folgen wir einer der Schilderungen, wohl wissend, dass dies ausschmückender Lokaljournalismus war, nachträglich erstellt: „In ihrer Verzweiflung sprangen einige der ängstlichen Personen von ihrem so sehr gefährdeten Standorte ohne unteren Schutz ins Freie. Einige kletterten, wie bereits oben angedeutet, aus den Giebelfenstern auf das Ziegeldach des benachbarten Schmidt’schen Hauses, oder wagten lebensgefährliche Sprünge auch auf dieses. Ein Mann sprang in seiner Angst sogar ins Leere, hatte aber doch noch die Geistesgegenwart, sich, während er nach unten sauste, an eine Sprosse einer Leiter festzuhalten, wo er, zum Entsetzen der Untenstehenden, zwischen Himmel und Erde hängen blieb. Die Aufregung der Letzteren steigerte sich jeden Augenblick und wuchs, als die Kräfte des Unglücklichen zu erlahmen drohten. Ein wackerer Feuerwehrmann erklomm so rasch es ging die Leiter und es gelang ihm schließlich unter Aufbietung all seiner Kräfte, den Aermsten zu sich herüberzuziehen. Zum Tode erschöpft kamen Retter und Geretteter zur Freude der Untenstehenden unten an“ (Brandkatastrophe, 1899). Der Artikel lenkte dann zum Höhepunkt über, den Sprüngen einzelner in die Tiefe der Hinterhöfe. Doch diese erfolgten schon vor Eintreffen der Feuerwehr. Der Schneider Karl Bosse sprang wohl bereits um 19.47 Uhr vom zweiten Stock aus auf die Straße. Seine Beine waren gebrochen, sein Rückgrat schwer beschädigt, Kopfwunden kamen hinzu. Der blutende Mann wurde in das hinter Karstadt gelegene Schmidtsche Etablissement getragen, einer beliebten, für seine Damenkapelle bekannten Restauration. Er war bei vollem Bewusstsein, verwies auf weitere vom Feuer drangsalierte Schneiderinnen im 2. Stock. Karl Bosse wurde mit einem Rettungswagen in das Herzogliche Krankenhaus gebracht, wo er in der Nacht verstarb.

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Sammelplatz vieler Brandopfer – Anzeige für Schmidts Etablissement (Braunschweigisches Adreß-Buch für das Jahr 1899, Braunschweig 1899, Werbung, 60)

Es folgte die Schneiderin Emma Müller. Sie erlitt einen doppelten Beinbruch, verstauchte sich das andere Bein, wies ebenfalls schwere Verletzung des Rückgrats und des Kopfes auf (Das Feuer bei Karstadt, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 200 v. 18. Mai). Ihr Zustand war kritisch, schien aber nicht lebensgefährlich zu sein, so dass sie von einem Sanitätswagen in die Obhut ihrer Eltern gebracht wurde. Es ist unklar, ob und wie viele weitere Personen in den Hof heruntersprangen. Doch diesen war das Glück hold, sicher auch Folge des verwinkelten und teils mit Zwischenmauern versehenen Hinterhofs. Drei Schneider sprangen zudem auf das acht Meter tiefer gelegene Dach des feuersicheren Treppenhauses, von wo sie dann mit Leitern gerettet wurden (Zum Brandunglück an der Stephanstraße, Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 138 v. 19. Mai 1899; Gedenkblatt an die Brandkatastrophe Karstadt am 17. Mai 1899, Braunschweig 1899, 9). Dramen spielten sich auch im Inneren des Karstadtschen Geschäftshauses ab. Eine junge Frau war in den Ölkeller des Hauses geflohen, schlug dort die Eisentür hinter sich zu, konnte diese dann aber nicht mehr öffnen. Andere hat dies bemerkt, Männer brachen das Straßengitter mit einem zufällig verfügbaren Brecheisen auf, retteten so ein Leben. Unmittelbar danach fingen in dem mit Rauch erfüllten Raum geplatzte Ölfässer Feuer, hüllten die Vorderfront des Hauses in dunkle Schwaden.

Der Berufsfeuerwehr war es kurz darauf gelungen, zahlreiche, wohl bis zu achtzehn Personen mittels ihrer Leitern zu retten. Gemeinsam mit den anderen Wehren wurde Karstadt von allen vier Seiten mit Löschwasser bestrichen. Dies diente nicht allein der Brandbekämpfung, sondern sollte vor allem verhindern, dass sich das Feuer auf die benachbarten Gebäude ausbreitete. Dabei half der einsetzende leichte Regen. Brennende Waren flogen jedoch hoch, fielen in der Nachbarschaft nieder. Sie fanden sich teils jenseits von Dom und Burgplatz, ohne aber weitere Brandherde zu entfachen. Auch Personen waren dadurch gefährdet: Ein Stoffballen traf eine Musikerin der Damenkapelle beim Einpacken, ihr Rock fing Feuer, doch die Flammen konnten rasch erstickt werden. Neben dem raschen Eingreifen der Wehren und der Sicherung des Hinterhofs halfen vor allem die drei hohen Giebelwände den Brand einzudämmen. In der Nachbarschaft, insbesondere im Bazar von Adolf Frank und im Schmidtschen Etablissements zersprangen Scheiben, wurden Außenwände und Mauerwerk beschädigt. Doch das Feuer war kurz nach 21 Uhr im Wesentlichen gelöscht. Zwei Stunden später zogen die ersten Wehren wieder ab, ebenso die Soldaten, die gemeinsam mit der fast komplett mobilisierten Polizei Sicherungsaufgaben übernommen hatten.

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Sammelpunkt der Menschenmenge: Der südlich vom Brandort gelegene Braunschweiger Kohlmarkt (Der Bär 26, 1900, 511)

Dies war erforderlich, denn die „schauerlichen Sturmsignale von den Thürmen, der helle Feuerschein und die mächtigen schwarzen Rauchwolken hatten eine nach Tausenden zählende Menschenmenge angelockt, welche das furchbare Schauspiel mit ansehen wollten“ (Brandkatastrophe, 1899). Die Schaulustigen wurden aus den umliegenden Straßen zurückgedrängt, Schützen- und Neuestraße, Sack und Schuhstraße abgesperrt. Der Straßenbahnverkehr kam teils zum Erliegen, Rückstaus waren die Folge. Ja, es gab etwas zu sehen: „Der Zudrang zur Brandstätte war gestern Abend unbeschreiblich; der Kohlmarkt war z.B. derart von Zuschauern bestanden, daß es dem Einzelnen schwer hielt, den Platz zu durchqueren“ (Brandunglück, 1899).

Die Menge zerstreute sich wieder, die Berufsfeuerwehr bekämpfte weiterhin schwelende Brandherde, Polizisten blieben auf Posten. Der Brand war ein Ereignis, doch noch war von Toten nicht die Rede. Am späten Abend zogen Journalisten und Agenturen eine erste Bilanz: „Im Waarenhaus von Karstadt entstand heute Abends 7¾ Uhr infolge Kurzschlusses der elektrischen Leitung Feuer, das rasch um sich griff. Alle vier Stockwerke sind ausgebrannt. Mehrere Angestellte sind verletzt, einige werden vermisst. Der Schaden ist sehr bedeutend“ (Berliner Tageblatt 1899, Nr. 249 v. 18. Mai, 3; ähnlich Berliner Börsen-Zeitung 1899, Nr. 230 v. 18. Mai, 5; Neue Hamburger Zeitung 1899, Nr. 229 v. 18. Mai, 4). Der nächste Tag sollte zeigen, dass die Verheerungen schlimmer waren als gedacht.

Das Warenhausunternehmen Rudolph Karstadt

Bevor wir darauf eingehen, sollten wir uns kurz dem Unternehmen widmen, dessen Braunschweiger Filiale jäh zerstört wurde. Der Name Karstadt steht einerseits für die übliche Entwicklung der deutschen Warenhäuser. 1881 gründeten Rudolph Karstadt (1856-1944) und seine Geschwister Ernst und Sophie-Charlotte unter dem Namen des Vaters Christian im mecklenburgischen Wismar das Manufakturwarengeschäft C. Karstadt & Co. Wie Wertheim, die Tietz-Brüder oder aber auch Althoff begnügte sich Rudolph Karstadt nicht mit nur einem prosperierenden Geschäft, mochte er es ab 1884 auch unter eigenem Namen führen. Rudolph Karstadt beschritt stattdessen den für die Warenhäuser üblichen Weg von der Provinz in die größeren Städte. 1884 folgte ein Geschäft in Lübeck, 1888 in Neumünster, 1890 dann in Braunschweig. Diese Filialbildung machten den Einkauf billiger, mochten die Läden auch noch eingeschossig sein und sich kaum von gängigen mittelständischen Geschäften unterscheiden. In Kiel, Preetz, Heide, Mölln und Eutin folgten weitere Karstadt-Betriebe. Erfolgreiche Häuser wurden rasch erweitert, so auch 1898 das Braunschweiger Geschäft in der Stephanstraße 6, inmitten der Altstadt (Die Rudolph Karstadt A.G. und die mit ihr verbundenen Unternehmungen, Berlin 1929, 9-16). Das damals in Kiel ansässige Unternehmen entwickelte sich in der Folgezeit zum wichtigsten Warenhauskonzern in Nord- und dann auch (neben Alsberg und Leonhard Tietz) in Westdeutschland. Rudolph Karstadt übernahm dazu die Läden seines Bruders Ernst Karstadt (1900-1901) sowie dann des Althoff-Konzerns (1918-1920).

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Nur für Christen: Stellenanzeige von Rudolph Karstadt Braunschweig (Allgemeine Zeitung 1907, Nr. 182 v. 20. April, 12)

Karstadt war anderseits aber eine Ausnahme innerhalb der diskreten Elite der Warenhausbesitzer (Heidrun Homburg, Warenhausunternehmen und ihre Gründer in Frankreich und Deutschland, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1992/I, 183-219). Bis 1912, der Eröffnung des Hamburger Warenhauses in der Mönckebergstraße firmierten seine Filialen als Kaufhäuser. In Braunschweig verkaufte er zuvor kein sortimentsübergreifendes Komplettangebot, sondern Textilien aller Art, Damen-, Herren- und Kinderkonfektion sowie Gardinen und Teppiche. Karstadt firmierte vor Ort nicht als Warenhaus, sondern als „Handlung mit Manufacturwaaren“ (Braunschweigisches Adreß-Buch für das Jahr 1896, Braunschweig 1896, 126; ebd. 1899, 145). Das diente der (letztlich erfolglosen) Vermeidung drohender Warenhaussteuern sowie der damals ebenfalls intensiv diskutierten Filialsteuern. Karstadt war zudem Lutheraner, also nicht jüdischen Glaubens. Auch wenn er virtuos Anzeigen schaltete, regelmäßig Ausverkäufe veranstaltete und nicht zuletzt Waren relativ preiswert verkaufte, bot er aufgrund seines christlichen Glaubens der immer auch antisemitischen Mittelstandsbewegung deutlich weniger Angriffsfläche als die Warenhauskonkurrenz. Dies wurde unternehmerisch auch genutzt, denn Karstadt setzte sich teils bewusst von der jüdischen Konkurrenz ab: Als Jude hatte man innerhalb des Karstadt-Imperiums nur begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten. Der Brand des Braunschweiger Hauses konnte daher von der gegen die gewaltsame Umgestaltung des Handels wetternde Mittelstandskonkurrenz also weniger einfach genutzt werden.

Braunschweig, 18. Mai 1899: Entdeckende Aufräumarbeiten

Am Morgen des 18. Mai 1899 war mit Karl Bosse ein erstes Todesopfer zu beklagen. Doch es gab Gerüchte über weitere Tote, zumal noch mehrere Personen vermisst wurden. Die Verwüstungen waren aber auch so bereits immens: „Das zerstörte Gebäude ist ein dreistöckiger Massivbau mit einem Dachgeschoß, dem drei große Giebelbauten vorgelegt worden sind; der mittlere stürzte zusammen, der westliche wurde heute Morgen abgetragen. In das untere Stockwerk waren 6 große Schaufenster und der breite Eingang eingeordnet; die beiden oberen Stockwerke hatten in der Front je 10 Fenster. Der Bau hat eine Tiefe von etwa 20 Metern“ (Brandunglück, 1899). Der Schaden wurde auf mindestens eine halbe Million Mark geschätzt, das gesamte Warenlager war verbrannt. Der Straßenbahnverkehr blieb beeinträchtigt, die Brandstätte abgesperrt. Kleine Brände loderten immer wieder auf, wurden jedoch rasch gelöscht. Hauptkasse und Geldschrank wurden zwischen den Trümmern gefunden. Der Keller war voller Wasser, darin schwammen Einrichtungsgegenstände und Waren. „Die Kellerdecken zeigen mehrfach Risse und drohen jeden Augenblick einzustürzen. Die eisernen Pfeiler sind eingeknickt, die Sandsteinpfeiler geborsten. Die Stockwerke machen einen beängstigenden Eindruck. Verbogene Eisenpfeiler, gebrochene und abgeschmolzene Traversen, verkohlte Fußböden, bedeckt mit fußhohem Schutt und rauchender Asche, das ist das Bild, dem man auf Schritt und Tritt begegnet“ (Zum Brande des Karstadt’schen Geschäftshauses, Neueste Nachrichten 1899, Nr. 117 v. 20. Mai).

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Die verwüstete Fassade des Karstadt-Hauses (Neueste Nachrichten 1899, Nr. 117 v. 20. Mai; Gedenkblatt, 1)

Am Morgen kamen auch Angehörige der Vermissten in die Stephanstraße 6. Sie forderten die Feuerwehr auf, in der Ruine genauer zu suchen. Die Mannschaften räumten ab 10 Uhr den Schutt aus dem nordwestlich gelegenen abgegrenzten Treppenhaus, das vielen erst ein Entkommen ermöglicht hatte. Sie drangen nach Mittag dann zu den im Hinterflügel des 2. Stocks gelegenen Schneiderwerkstätten vor. Lassen wir uns nochmals auf eine stilisierte Schilderung des Geschehens ein: „Ein schmaler Raum, mächtige Schutthaufen bedecken, wie alle übrigen Räume, den Boden, ein penetranter Brandgeruch steigt von demselben auf, der Verputz der Wände bedeckt den unheimlichen Haufen, langsam sickert das kohlengeschwärzte Wasser aus demselben hervor und bildet stellenweise dicke, zähe Lachen. Da gewahrt ein Feuerwehrmann eine verkohlte Hand, in Todesqual zur Faust geballt, welche aus dem Schutthaufen hervorragt. Schreckensrufe, heiser und schrill werden laut. Man ist an der Unglücksstätte angelangt. Vorsichtig wird der Schutt entfernt und ein Knäuel menschlicher Gliedmaßen, bis zur Unkenntlichkeit zusammengebrannt, wird frei gelegt. Es sind die fünf vermißten Schneiderinnen, fest umschlungen, als hätten sie gewußt, daß der unerbittliche Tod sie Alle auf einmal dahinraffen würden, müssen sie ihrem schrecklichen Ende entgegen gesehen haben. […] Die Namen der jungen Mädchen sind […] Paula Trippler, Frankfurterstr. 35, Meta Schulz, Alte Waage 21, Marie Becker (der Stiefvater derselben heißt Bartels), Alte Waage 21, Elsbeth Ruthemann, Haupt-Bahnhof und Frieda Jordan, Gliesmaroderstraße 46“ (Brande, 1899). Die Leichen wurden vom Schutt befreit, in den Hof getragen, dort von einem Karstadt-Angestellten rekognosziert. Dann brachte man sie in die Leichenhalle des Herzoglichen Krankenhauses. Dort hatten die Angehörigen die Möglichkeit Abschied zu nehmen.

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Hinterhof mit Außenreklame: Von Punkt 1 sprangen Karl Bosse und Emma Müller hinab, hinter den Punkten 2 lagen die Arbeitsräume der fünf erstickten Schneiderinnen. Das Schmidtsche Etablissement befand sich hinter den Mauern an der rechten Seite (Gedenkblatt 1899, 10)

Die Ermittlungen ergaben, dass die jungen Frauen in ihrem Arbeitsraum den Ausstand von Meta Schulz gefeiert hatten (Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 249 v. 31. Mai). Sie wollte am Pfingstsonntag heiraten. Die Aussagen zum Geschehen sind widersprüchlich. Augenzeugen wollten Meta Schulz, aber auch mehrere andere Personen an den Fenstern gesehen haben, doch sie sei zurück ins Zimmer gefallen, nachdem sie sich nicht zum Sprung habe entschließen können (Volks-Zeitung 1899, Nr. 233 v. 20. Mai, 3). Karl Bosse gab zu Protokoll, dass Meta Schulz die zum drei Meter entfernten Treppenhaus führende Tür geöffnet habe, durch die Hitze und das Feuer aber zurückgefallen sei. Sicher ist, dass sich mehrere in unmittelbarer Nähe befindliche Schneider retten konnten, doch hatten diese die Schneiderinnen nicht noch eigens gewarnt. Die Untersuchungen der Feuerwehr ergaben, dass eine der mit etwa einem Meter Schutt bedeckten Leichen mit den Füßen zur Tür aufgefunden wurde, drei Leichen zusammenlagen, die fünfte etwas versetzt gefunden wurde. Die Schneiderinnen hatten demnach das Feuer erst um ca. 19.46 Uhr bemerkt, seien aber vom Rauch, eventuell auch vom Schrecken niedergestreckt worden und dann erstickt. Die Feuerwehr habe ihren Tod daher nicht verhindern können (Sitzungsbericht 61 vom 30. Mai 1899 BL, Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 160, Beilage, 775-793, hier 779).

Beherztes Eingreifen anderer Beschäftigter oder Käufer hätte vielleicht etwas wenden können. Die Vorsteherin der Schneiderinnenwerkstatt, die aus Ahlum stammende Marie Grigat, brachte beim Brandausbruch fertig genähten Textilien ins Erdgeschoss. „Als sie in die zweite Etage kam, schlugen ihr schon die Flammen entgegen und sie lief nun ohne Weiteres aus dem Hause. Sie hat allerdings den unten stehenden Leuten zugerufen, daß sich noch acht junge Mädchen oben im Hause befänden, doch muß in der entsetzlichen Aufregung Niemand darauf geachtet haben“ (Das Feuer bei Karstadt, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 202 v. 19. Mai). Die Schneiderin im Ölkeller wurde gerettet, die in ihrer Werkstätte Feiernden reagierten zu spät und wurden vergessen.

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Extrablatt mit Todesnachrichten (Braunschweigische Landezeitung 1899, Extrablatt v. 18. Mai)

Am Mittag des 18. Mai 1899 war demnach klar, dass der Braunschweiger Brand mindestens sechs Todesopfer gefordert hatte. Diese Nachricht fand reichsweite Resonanz, wenngleich es meist bei einer kurzen Meldung blieb (Vossische Zeitung 1899, Nr. 230 v. 18. Mai, 8; Berliner Tageblatt 1899, Nr. 250 v. 18. Mai, 4; Neue Hamburger Zeitung 1899, Nr. 229 v. 18. Mai, 9; Der sächsische Erzähler 1899, Nr. 58 v. 20. Mai, 4). Teilwiese paraphrasierte man die Berichte der Braunschweiger Zeitungen (Vossische Zeitung 1899, Nr. 231 v. 19. Mai, 12). Die Toten und der Schaden standen im Mittelpunkt der Berichterstattung: „Der angerichtete Materialschaden ist, wie schon gesagt, sehr bedeutend. Das Gebäude ist mit 150.000 M, die Waarenvorräthe sind mit 225.000 M versichert“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1899, Nr. 253 v. 20. Mai, 4006). Die „Brandkatastrophe“, das „Brandunglück“ wurde auch im Ausland breit rezipiert (vgl. etwa die Berichte in Prager Tagblatt 1899, Nr. 138 v. 19. Mai, 9; Grazer Tagblatt 1899, Nr. 138 v. 19. Mai, 16; L’Universe 1899, Ausg. v. 20. Mai, 4; La Suisse Libérale 1899, Nr. 155 v. 20. Mai, 3; Feldkircher Zeitung 1899, Nr. 41 v. 24. Mai, 3; Auerthal-Zeitung 1899, Nr. 62 v. 24. Mai, 3).

Eigenproduktion

Der Tod von bei Karstadt in eigenen Werkstätten angestellten Schneidern und Schneiderinnen mag auf den ersten Blick überraschen. Es handelte sich dabei nicht allein um Vorläufer der bis heute in gehobenen Fachgeschäften vorhandenen Änderungsschneidereien. Vielmehr spiegelt dies die Traditionslinie der Magazine – Adolf Franks benachbartes Geschäft firmierte noch als solches –, also von Ladengeschäften mit integrierter Warenproduktion, die von den Warenhäusern fortgeführt wurde (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 376-377). Das größte deutsche Warenhaus, Wertheim in Berlin, beschäftigte 1895 beispielsweise 4.670 Personen. Doch darunter befanden sich im Haupthaus 180 Arbeiter, zudem 250 Schneider, 1200 Näherinnen und je 100 Stickerinnen und Putzmacherinnen in gesonderten Werkstätten (Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1903, 578). 40 Prozent der Beschäftigten stellten demnach Textilien und Besatzartikel her, änderten und reparierten Kleidung.

Die Braunschweiger Toten stehen für die rückwärtige Seite des breiten und kulanten Angebotes von Karstadt, für rasch zu erledigende Dienstleistungen der ja noch nicht durchkonfektionierten und normierten Angebote dieser Zeit. Die Warenhäuser intensivierten diese Eigenproduktion, teils als Bestandteil ihres Kundendienstes, aufgrund der abnehmenden Zahlen kleiner selbständiger Schneidereien, dem Reiz „exklusiver“ Angebote und der größeren Flexibilität bei Modewaren. 1908 besaßen 33 von 35 befragten Warenhausunternehmen eigene Produktionsstätten (Käthe Lux, Studien über die Entwicklung der Warenhäuser in Deutschland, Jena 1910, 150-152). Diese vertikale Konzentration war zugleich ein wichtiger Puffer gegen die schwer abwägbaren Einflüsse der Mode. Schwer verkäufliche Kollektionen konnten so umgearbeitet, nicht verkäufliche Stoffe und Muster anderweitig genutzt werden. Gerade Karstadt entwickelte sich, trotz der Brandtoten, schon vor dem Ersten Weltkrieg zum wichtigsten Protagonisten einer derartigen in einem Handelskonzern integrierten Warenproduktion (Heinrich Husemann, Die Eigenproduktion der deutschen Warenhauskonzerne, Hamburg 1930, 21; Käthe Lux, Die Eigenproduktion der deutschen Warenhäuser, Magazin der Wirtschaft 3, 1927, 1381-1383, insb. 1381). Dies führte allerdings zu massiver Kapitalbindung, so dass während der Weltwirtschaftskrise hohe staatliche Kredite und Subventionen erforderlich waren, um den Konkurs von Karstadt zu verhindern.

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Verspäteter Nachruf. Traueranzeige Rudolph Karstadts für seine verstorbenen Bediensteten (Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 236 v. 20. Mai)

Die Presse, die Gerüchte und die Ordnung

Der Karstadt-Brand war ein Ereignis elementarer Wucht auch abseits der Toten und Verletzten. So verloren die meisten Beschäftigten unmittelbar ihre Arbeit. Das war üblich, ebenso wie das überschüssige Wabern zahlreicher Gerüchte. Die Presse verbreitete einige davon, begünstigte sie mit übertriebener, teils fehlerhafter Berichterstattung. Als zentrales Medium abseits des Alltagsgesprächs verstand sie sich dennoch vor allem als Korrektiv, als Garant von Wahrheit und Ordnung.

Entsprechend traten die verschiedenen Zeitungen erst einmal Übertreibungen entgegen. Am Mittag nach dem Brand sprach man in der Stadt schon davon, dass man Menschenschädel oder gar vollständige Leichen gefunden habe. Das in der Presse immer wieder luzide ausgebreitete Leid der Betroffenen wurde fortgeführt: So etwa in der Fama, dass sich der Bräutigam von Meta Schulz in seiner Verzweiflung erschossen habe, nachdem er die zerborstene Leiche seiner Braut im Krankenhaus identifizierte hatte. Hier vermengte die Phantasie zwei unterschiedliche Ereignisse, denn in der Tat hatte sich am 19. Mai ein 19-Jähriger Kutscher mit einem Revolver erschossen (Das Feuer bei Karstadt, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 202 v. 19. Mai). Fabuliert wurde auch über weitere Opfer, die Vorsteherin der Schneiderwerkstatt mutierte zur vermissten und wohl verbrannten Käuferin.

Auch der Brand selbst gebar seine eigene Realität. Mehrere Nottüren seien verschlossen gewesen, die Feuerwehr habe zu spät reagiert und die Sprungtücher vergessen. Selbst in Berlin wurde gemeldet: „Die Feuerwehr zeigte sich der Situation durchaus nicht gewachsen, worüber hier große Entrüstung herrscht“ (Volks-Zeitung 1899, Nr. 230 v. 18. Mai, 3). Die lokalen Zeitungen verteidigten die Wehren, betonten ihre Mannhaftigkeit und ihre Tapferkeit, ihre Professionalität und Ortskunde. Offenkundige Abstimmungsprobleme zwischen Polizei und Feuerwehr wurden dagegen nicht thematisiert, obwohl Hinweise auf die Vermissten die Berufsfeuerwehr erst am Morgen nach dem Brand erreichten. Über den Anzeigenkunden Karstadt wurde kaum kritisch berichtet, denn er hatte gegen die baupolizeilichen Vorgaben scheinbar nicht verstoßen. Es kümmerte kaum, dass es keine Feuerleitern gab. Auch dass die zum Hof führende Nottür anfangs verschlossen war, fand nur Erwähnung, da der Schlüssel rasch zur Hand war. Die fehlenden Feuermelder waren kein Thema. Dabei hatte nicht nur der wackere Fahrradfahrer den Brand gemeldet, sondern unmittelbar darauf auch die Turmwache der nördlich gelegenen Andreaskirche sowie – per Feuermelder – ein Angestellter des in der Schuhstraße 33 befindlichen Kaufhauses Pfingst, einer Filialgründung des Nürnberger Warenhausbesitzes Julius Tietz (Vom Brande bei Karstadt, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 209 v. 25. Mai). Die unmittelbar nach dem Brand entbrannte Debatte über die Braunschweiger Baupolizeiordnung lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit stattdessen auf die nicht mehr zeitgemäße Regulierung moderner Verkaufsstätten. Dies war im Einklang mit der Staatsregierung, hatte Staatminister Adolf von Hartwieg (1849-1914) doch die Brandstätte am 18. Mai besucht und derartige Verbesserungen in Aussicht gestellt.

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Der Tod als Schicksal – Gebrauchspoetik zum Karstadt-Brand (Vaterländische Volkszeitung 1899, Nr. 28 v. 15. Juli)

Selbstkritik fehlte in den Tageszeitungen, Fehlmeldungen wurden auf die Augenzeugen geschoben, die nicht imstande gewesen seien „kaltblütig und ruhig zu beobachten“ (Folgen des Karstadtschen Brandes, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 253 v. 2. Juni). Die Schaulustigen wurden eher ungläubig zur Kenntnis genommen. Ihre Neugierde wurde nicht als Ausdruck eines Wissens um untergründige Alltagsgefährdungen verstanden, als Beleg für die Unsicherheit des Lebens und ubiquitäre Gewalt, sondern als hysterische Übersprungshandlung: „Geradezu widerlich und abstoßend sei es, wenn Mütter, den Säugling im Arme und ein bis zwei Kinder an der Hand, sich in das Gewühl der schaulustigen Menge stürzen, lediglich zu dem Zwecke, um ‚auch dabei gewesen zu sein!‘ wie es bei dem Karstadt’schen Brande leider so vielfach zu beobachten war. Ich möchte nur wissen, was sich diese Mütter dabei denken, ob sie überhaupt mit ihrem Spatzengehirn die Tragweite ihrer Handlungsweise zu fassen in der Lage sind und vor Allem, was die resp. Gatten dazu sagen“ (Wovon man spricht, Neueste Nachrichten 1899, Nr. 118 v. 21. Mai).

Braunschweig, 21. und 22. Mai 1899: Beerdigungen

Nach dem Brand stand das Pfingstfest in Braunschweig unter dem Eindruck der Ereignisse. Das Leid der anderen, das „Unglück“ der sechs Toten löste eine Welle der Anteilnahme aus. Am Pfingstsonntag, dem 21. Mai 1899, wurde zuerst der Schneider Karl Bosse zu Grabe getragen. Er war in seiner Wohnung aufgebahrt worden, der Leichenzug traf um 13 Uhr auf dem Zentralfriedhof ein. Sein zerborstener Leichnam lag in einem schlichten schwarzen Sarg, sein Grab im heutigen Gräberfeld 31. Die Trauerfeier war einfach, „nur wenige Neugierige nahmen daran Theil“ (Gedenkblatt, 1899, 13). Das sollte sich bei der unmittelbar folgenden Beerdigung der Schneiderin Frieda Jordan ändern. Auch ihr Leichnam wurde häuslich eingesegnet, Pastor Hermann Lagershauser hielt eine mehr oder weniger tröstende Ansprache. „An den Straßen, die der Kondukt passirte, hatten Tausende Aufstellung genommen“ (Gedenkblatt, 1899, 13).

Die eigentliche Trauerfeier fand am zweiten Pfingsttag statt, dem 22. Mai 1899. Die Lokalpresse stimmte hierauf ein, wollte ein ruhiges und würdiges letztes Geleit. Der übliche Pfingstausflug würde wohl vielfach unterbleiben, stattdessen die Gelegenheit genutzt, die „Schritte nach dem stillen Friedhofe [zu, US] lenken, wo die unglücklichen Opfer eines herben Geschicks zur letzten Ruhe bestattet werden sollen, Sie, die mit einander gekämpft und gelitten, sie hat der Tod vereint und Reihe an Reihe, wie sie gestorben, in trauter Nachbarschaft, wird sie der kühle Rasen decken, werden sie ihre letzte Ruhe finden, entrückt dem Lärm der Welt, entronnen dem harten Kampf ums Dasein“ (Wovon man spricht, Neueste Nachrichten 1899, Nr. 118 v. 21. Mai). Das verehrte Publikum zog jedenfalls schon eine Stunde vor dem auf 12 Uhr festgelegten Beginn der Trauerfeier „in hellen Schaaren nach dem Friedhof hinaus und je näher es der zur Trauerfeier angesetzten Mittagsstunde kam, desto stärker wurde der Andrang“ (Gedenkblatt, 13). Die Zugangsstraßen waren verstopft, Polizisten lenkten die Massen. Ein Beobachter vermerkte, „daß Braunschweig eine derartige Theilnahme bei einem bürgerlichen Begräbnis noch nie gesehen hat. Die weiten Gänge der Osthälfte des Friedhofs waren mit vielen Tausenden bestanden, doch herrschte überall mustergültige Ordnung. Man greift nicht zu hoch, wenn man die Zahl der Erschienenen auf 15-20.000 schätzt. Noch nach der Feier zogen breite Menschenströme auf der Straße nach dem Friedhofe hin“ (Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 141 v. 23. Mai). Die Straßenbahn fuhr in enger Taktung, jede versehen mit zwei zusätzlichen Anhängewagen.

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Lageplan der Beerdigung der Brandopfer (Eigene Darstellung auf Grundlage des Winterschen Bauplans von 1889 (Wikipedia resp. Stadtarchiv Braunschweig H XI 26.2)

Die Trauer galt den vier jungen Schneiderinnen Meta Schulz, Marie Becker, Else Ruthemann und Paula Trippler. Sie wurden Seit an Seit beerdigt, im Gräberfeld 33, neben dem verschlossenen Grab Frieda Jordans. Anders als am ersten Pfingsttage standen die vier Särge in einer Reihe in der Friedhofskapelle, umkränzt von Kandelabern, in Front von Trauerpflanzen. Sie waren umgeben und geschmückt von zahllosen Kränzen, Palmen und Blumensträußen. Das trübe Licht brach sich in den farbigen Fenstern der 1887 vom Braunschweiger Stadtbaurat Ludwig Winter (1843-1930) gestalteten neogotischen Kapelle. Deren Türen waren schon lange vor der Mittagszeit geschlossen worden, „weil die Kapelle von Leidtragenden und Teilnehmenden vollständig gefüllt war“ (Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 234 v. 23. Mai). Die Hinterbliebenen standen neben den Särgen, denn nicht ihre Trauer stand im Mittelpunkt, sondern die der gesamten Stadtgemeinde. Das Warenhaus Karstadt repräsentierten die beiden Geschäftsführer Klopp und Gollnick, Rudolph Karstadt blieb der Feier fern.

Um 12 Uhr setzte der Posaunenchor des evangelisch-lutherischen Jünglingsvereins ein, „Jesus lebt, mit ihm auch ich“ ertönte, Christian Fürchtegott Gellerts (1717-1769) bis heute bei Beerdigungen gerne verwandter Choral: „Wer nun verzagt, lästert ihn und Gottes Ehre“. Pastor Heinrich Runte (1860-1946) fragte nach dem Sinn dieses grausamen Geschehens und verwies auf die dem Menschen unergründlichen Pläne Gottes. Dennoch ersparte er der Trauergemeinde nicht seine ganz eigene Interpretation, dass nämlich besseren Zeiten und Verhältnissen stets Opfer vorausgegangen seien: „So würden auch diese Opfer dazu beitragen, den Menschengeist anzuspornen, Mittel und Wege zu finden, daß für die Folge unsere Stadt nie wieder eine solche Heimsuchung erfahren werde“ (Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 141 v. 23. Mai). Gewiss eine eigenartige Form, eine öffentliche Debatte über den Brandschutz in Gang zu setzen. Runte sollte zur prägenden Figur der Braunschweiger evangelisch-lutherschen Pfarrerschaft werden, die Trauerfeier war Teil dieses Weges. Er trug noch ein eigens für die Trauerfeier erdachtes Gebet vor, das „Vater unser“ folgte, ebenso der Segen. „Nicht allein die weiblichen Mitglieder der Trauergemeinde weinten, wohin man sah, rannen auch von den Wangen wetterharter Männer stille Thränen hinab“ (Ebd.). Draußen hatte die Polizei für Ordnung gesorgt und strömender Regen eingesetzt. Unter den Klängen des Posaunenchores und einer zweiten schon die Feier begleitenden Musikkapelle setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Die Särge wurden versenkt, und bis weit in den Nachmittag hinein erwiesen Braunschweiger den Toten die letzte Ehre, legten Kränze, Bestecke und Blumen an den Grabstätten nieder.

Diese breite Resonanz gab der allgemeinen Bestürzung über den Karstadt-Brand eine Form, war zugleich aber Ausfluss des unstillbaren menschlichen Interesses am Leid der anderen. Dieses endete schnell, rief doch das Tagwerk, das nächste Ereignis. Entsprechend wurde über das weitere Schicksal der Schneiderin Emma Müller kaum mehr berichtet. Nach ihrem verwegen-verzweifelten Sprung in die Tiefe war sie zuerst zuhause gepflegt, am 19. Mai aber ins Herzogliche Krankenhaus verlegt worden. Ihr Allgemeinbefinden verschlechterte sich dennoch, Ende Mai mussten ihr Fuß und Unterschenkel amputiert werden (Vom Karstadtschen Brande, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 248 v. 30. Mai). Die inneren Verletzungen waren noch gravierender. Die junge Frau erlag ihren Leiden am 16. Juni 1899 (Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 278 v. 16. Juni). Der Warenhausbrand hatte damit ein siebtes Todesopfer gefordert. Emma Müller wurde am 18. Juni 1899 in unmittelbarer Nähe ihrer fünf Kolleginnen begraben.

Effizienterer Brandschutz und neue Baupolizeiordnungen

Das Herzogtum Braunschweig besaß im bunten Reigen deutscher Länder eine Sonderstellung. Als der letzte regierende Welfe Herzog Wilhelm (1806-1884) starb, übernahm nicht dessen legitimer Nachfolger Ernst August von Hannover (1845-1923) die Herrschaft, sondern erst ein Regentschaftsrat, dann Albrecht von Preußen (1837-1906) – ein Hohenzoller und Kriegsheld der sog. Einigungskriege von 1864-1871. Von preußischem Gebiet umgeben, lehnte sich das Herzogtum eng an den übermächtigen Nachbarn an, fuhr innenpolitisch allerdings einen konservativeren Kurs. Er wurde verkörpert durch den seit 1889 tätigen Innenminister („Staatsminister“) Adolf von Hartwieg, der als überzeugter Monarchist Linksliberale und die in Braunschweig schon früh starke Sozialdemokratie möglichst ausgrenzte. Die Landesversammlung, die vorrangig aus entsandten Vertretern der Städte und Landgemeinden bestand – nur 18 der 48 Abgeordneten wurden geheim von Berufsständen gewählt – agierte mittelstandsfreundlich, lehnte allerdings 1898 und dann nochmals 1900 Anträge auf eine gesonderte Kommunalsteuer der Warenhäuser ab. Preußen hatte im gleichen Jahr eine landesweite Warenhaussteuer erlassen (Spiekermann, 1994, 127-128). 1904 wendete sich das Blatt allerdings. Die in Braunschweig von Mittelstandsvertretern und der Deutsch-Sozialen Partei vehement geforderte Sondergewerbesteuer gehörte seither zu den striktesten im Deutschen Reiche. Warenhäuser seien als solche anstößig, selbst „der ganze Geist, der aus diesen neuen Betriebsstätten des Handels herausweht, und der sich schwer auf den Lebensodem zahlreicher Existenzen legt“ (Entwurf des braunschweigischen Gesetzes, die Heranziehung der Warenhäuser usw. zu einer besonderen Gewerbesteuer (Umsatzsteuer) betreffend, Konsumgenossenschaftliche Rundschau 1, 1904, passim, hier 169). Auch Karstadt musste ab 1904 diese Sondersteuer entrichten.

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Verkoppelung von Feuergefahr und Warenhaussteuer kurz nach dem Warenhausbrand in Berlin-Rixdorf (Kladderadatsch 53, 1900, Nr. 8, 9)

Unmittelbar nach dem Brand gab es 1899 gleichwohl eine recht abgewogene Debatte über die nun erforderlichen Konsequenzen: Der Karstadt-Brand zeugte von offenkundigen und nicht zu verleugnenden Gefahren. Auch wenn man die begrenzte Aussagefähigkeit der genutzten Quellen immer im Hinterkopf behalten muss, so gab es doch zwei klar zu unterscheidende Ebenen der öffentlichen Debatte: Erstens eine in den Tageszeitungen artikulierte Ursachendiskussion und -engführung; und zweitens die Erörterung angemessener Maßnahmen zwischen Legislative und Exekutive, zwischen Landesversammlung und Staatsministerium.

Die Zeitungen spielten damals auf der von Friedrich Schiller vorgegebenen Klaviatur: Feuer war ambivalent, war als eingehegte Himmelskraft zivil, als „freie Tochter der Natur“ dagegen gewalttätig und destruktiv. Das hätte man auch über den Konsum der bürgerlichen Gesellschaft sagen können. Die in den lokalen Journalen geforderten Konsequenzen waren einerseits eng administrativ, nämlich „weitere Vorsichts- und Sicherheitsmaßregeln bei Bau, Anlage und Einrichtung von solchen Warenhäusern wie überhaupt bei allen Gebäuden“ (Unaufschiebbare Forderungen, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 237 v. 24. Mai). Stetig geöffnete Notausgänge, vermehrte Kontrollen, staatliche Techniker; dadurch hätte man bei Karstadt Schaden verhindern können, das sollte nun weitere Tote und Verletzte ausschließen. Im Lichte des Brandes schimmerte anderseits die potenzielle Gewalt des Alltagskonsums durch: „Wie anmuthig und gefällig die oft von hochhonorierten Arrangeuren dargebotenen Stoffausstellungen mit elektrischen Glühlampen sein mögen, sie sind, wie der Fall Karstadt zeigt, von außerordentlicher Gefährlichkeit“ (Gedenkblatt, 1899, 15). Das aber bedeutete Eindämmung der Reklamepracht der Schaufenster und Verkaufshäuser, also kleinere Verkaufsräume und Warenausstellungen. Die fehlenden Vorkehrungen und die gemeinsame Gier von Anbietern und Käufern seien ursächlich für die Katastrophe: „Die armen Mädchen, die dem Brande zum Opfer gefallen sind, sind Opfer einer Schaufensterdekoration! und auch des nach einem gegebenen Schema blind arbeitenden Bureaukratismus. Die Rückkehr zu einfacheren Verhältnissen ist das, was erstrebt werden muß. Nur die bis in das Ungemessene gesteigerte Reklamesucht unserer Zeit konnte solche Gebäude schaffen, die wie ein Streichholz auflodern“ (Ebd., 16).

Von letzterem war in der Landesversammlungssitzung am 30. Mai 1899 kaum mehr etwas zu hören: Hier waltete bei Parlamentariern, Experten und Regierungsbeamten der gleiche technokratisch-bürokratische Blickwinkel auf zu verändernde Rechtsnormen. Debattiert wurde ein breit unterstützter Antrag des nationalliberalen Gutsbesitzers Carl Rühland, Anteilseigner einer von seinem Vater August in Königslutter gegründeten Zuckerfabrik. Er zielte auf Änderungen und Ergänzungen der Bauordnung (Volks-Zeitung 1899, Nr. 243 v. 27. Mai, 2). Die Diskussion war sachlich und ernst im Ton. Rühland paraphrasierte das Geschehen, stellte sich hinter die Feuerwehr, verstand den Brand zugleich als Menetekel für die Herausforderungen der Konsumgesellschaft: „Das ganze Haus ist bis oben hin vollgepfropft von Waren aller Art“ (Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 249 v. 31. Mai). Das Gebäude sei solide gebaut gewesen, die Brandmauern und das rasche Eingreifen der Feuerwehr hätten die Ausbreitung des Feuers verhindert. Die bestehende Regulierung einschlägiger Bauten sei aber nicht mehr zeitgemäß, einerseits wegen der sich rasch entwickelnden Elektrotechnik, anderseits wegen der wachsenden Größe moderner Verkaufsstätten. Ähnlich argumentierte der berichtende Abgeordnete Krüger, der aber auch Kritik an der wirtschaftsfreundlichen Politik der Staatsregierung äußerte: „Wo so großes Kapital im Betriebe steckt, wo eine Anzahl solventer Kapitalisten hinter derartigen Unternehmungen steht, wenn es auch äußerlich auf den Namen eines einzigen geht, da hat man doch ganz gewiß nicht nötig, die Leute mit Glacéhandschuhen anzufassen“ (Ebd.). Die bestehenden Vorgaben der Braunschweigischen Bauordnung und der Reichsgewerbeordnung seien an sich völlig ausreichend, doch müssten sie auch um- und durchgesetzt werden – und das sei nicht erfolgt, denn für regelmäßige Kontrolle sei nicht einmal Personal vorhanden (Sitzungsbericht 61 vom 30. Mai 1899 BL, Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 160, Beilage, 775-793, hier 778). Staatsminister Hartwieg nahm diese sanfte Kritik verbal auf, zeigte sich tief berührt von den Ereignissen, die er mittels des Berichtes des Kreisbranddirektors präzisierte. Er sagte den Abgeordneten eine strenge Überprüfung sowohl der Rechtslage als auch der bestehenden Großbetriebe im Handel zu (Sitzungsbericht 61 vom 30. Mai 1899 BL, Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 160, Beilage, 775-793, 779-784). Rühland zeigte sich damit zufrieden und zog seinen Antrag zurück.

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Staatsminister Adolf von Hartwieg (Illustrierte Weltschau 1914, Nr. 3, 8)

Die reichsweit beachtete Debatte war nicht folgenlos (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1899, Nr. 273 v. 1. Juni, 4304; Volks-Zeitung 1899, Nr. 250 v. 31. Mai, 2). Am 7. November 1899 erteilte die Staatsregierung den Verwaltungsbehörden und Gemeinden die Befugnis, beim Brandschutz über die Landesbauordnung hinaus zu gehen, also schärfere lokale Maßregeln zu erlassen (Mitteilungen des Zentral-Verbandes deutscher Kaufleute 10, 1899/1900, Nr. 4, 9). In Braunschweig wurde diese Chance auch ergriffen (Braunschweigische Landeszeitung 1900, Nr. 228 v. 17. Mai 1900). Die öffentliche Kontrolle einschlägiger Elektroanlagen wurde durch einen neu eingestellten Techniker professionalisiert. Die Braunschweiger Berufsfeuerwehr erhielt eine zweite Dampfspritze und 1901 auch eine erste 25 Meter lange Magirusleiter (Erinnerung an eine Brandkatastrophe, Braunschweigische Tageszeitung 1939, Nr. 113 v. 16. Mai).

19_Zeitschrift der oberoesterreichischen Feuerwehren_17_1902_Nr18_p7_Feuerwehrleiter_Dampfspritze_Magirus_Ulm

Hilfsmittel der Brandbekämpfung: Angebotspalette des Marktführers C.D. Magirus (Zeitschrift der oberösterreichischen Feuerwehren 17, 1902, Nr. 18, 7)

Die Geburt des „Warenhausbrandes“ im Gefolge des Braunschweiger Karstadt-Brandes

Wir Nachgeborenen sehen ein Ereignis wie das in Braunschweig unter einem zwingend anderen Blickwinkel als die Zeitgenossen. Ohne großes Nachdenken ist dieser Brand für uns Teil eines breiteren Problems, Beispiel für die öffentliche Gefährdung durch „Kaufhausbrände“, durch „Warenhausbrände“. Dieser Plural nährt sich aus beträchtlichen Fallzahlen, ähnlichen Verläufen und analogen Gegenmaßnahmen. Die Verschärfungen der Braunschweiger Bauordnung und die verbesserte Ausstattung der lokalen Feuerwehren wiesen den Weg für eine allgemeine, weit über Braunschweig hinausgreifende Brandvorsorge. Bevor wir diese in den Blick nehmen, um dadurch die Genese einer Kollektivvorstellung vom „Warenhausbrand“ nachvollziehen zu können, muss aber noch ein Blick zurück erfolgen, nämlich auf den Brand des Warenhauses Wronker in Frankfurt a.M. 1897.

Hermann Wronker (1867-1942), Spross aus der weitverzweigten Tietz-Familie, hatte 1891 auf der Zeil ein Manufakturwarengeschäft gegründet und in den Folgejahren stetig erweitert. Doch am 25. Februar 1897 hieß es um 12 Uhr mittags: Wronker in Flammen! „Vorrübergehende stürzten in den Laden, schrieen in allen Stockwerken ‚Feuer‘ und veranlaßten die entsetzten Kunden und Verkäufer, auf die Straße zu flüchten. Die brennbaren Stoffe, die den erst vor ein paar Monaten eingerichteten und eröffneten Bau bis zum Dach füllten, boten dem Feuer leichtes Spiel, und wie eine lodernde Flamme ging im Nu durch alle Räume der verheerende Brand. Gefährdet waren namentlich die Arbeiterinnen in den oberen Geschossen, wo die Wronkerschen Putzmacherei-Werkstätten u.s.w. gelegen sind. Aber auch sie konnten, zum Theil unter Zurücklassung der Ueberkleider u.s.w., in den Arbeitsgewändern das Freie erreichen“ (Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 97 v. 27. Februar, 9). Die Feuerwehr traf etwa fünfzehn Minuten nach Brandausbruch ein, zu diesem Zeitpunkt hatte das Feuer schon auf benachbarte Häuser übergegriffen. Achtzehn Personen wurden mit mechanischen Leitern und Sprungtüchern von den Balustraden und Dachstühlen der betroffenen Gebäude gerettet. Es gab Verletzte, doch keine Toten. Das Warenhaus wurde komplett zerstört, die umgebenden Häuser erlitten teils beträchtliche Schäden (Hamburger Nachrichten 1897, Nr. 48 v. 26. Februar, 16). Die Ursache des Brandes war schnell klar, beim Aufhängen zweier elektrischer Bogenlampen fielen Funken „des vorzeitig eingestellten electrischen Stromes in Gardinenstoffe“ (Rosenheimer Anzeiger, Nr. 53 v. 6. März, 3). Der verantwortliche Installateur wurde in Haft genommen (Volks-Zeitung 1897, Nr. 95 v. 26. Februar, 3). Der Brand von Wronker lief also exakt so ab, wie zwei Jahre später der Braunschweiger Karstadt-Brand. Für die Öffentlichkeit aber handelte es sich um einen bedauerlichen Einzelfall, um einen Brand wie viele andere. Da keine Kunden, auch keine Beschäftigten ums Leben gekommen waren, lamentierte man in der Tradition der alten Städtebrände, bei denen der ruhende Bürger des Nachts vom Feuer überrascht wurde: „So aber, am hellen Mittag, ist es gelungen, alle bedrohten Geschäftsräume noch so rechtzeitig, wenn auch im letzten Augenblick, von den Insassen zu räumen“ (Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 97 v. 27. Februar, 9). Bei der Einordnung des Wronker-Brandes fehlte das Denkmuster einer allgemeineren Gefahr durch überall drohende „Kaufhausbrände“ oder „Warenhausbrände“. Auch beim fast zeitgleichen Brand des Münchener Kaufhauses Bernheimer diskutierte man vorrangig über die allgemeine Gefahr durch elektrische Anlagen, nicht aber über die strukturelle Feuergefahr in modernen Verkaufsstätten (Allgemeine Zeitung 1897, Nr. 55 v. 24. Februar, 6).

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Stahlskelettbau des Warenhauses Alsberg in Oberhausen nach dem Brand am 25. März 1900 (Centralblatt der Bauverwaltung 20, 1900, 193)

Erst Braunschweig, erst die sieben Toten führten die öffentliche Diskussion auf eine neue vereinigende Ebene. Dabei waren Experten führend: Der Verband Deutscher Privatversicherungs-Gesellschaften hatte die gemeldeten Fälle analysiert und sah einerseits eine wachsende Gefahr durch unsachgemäß installierte und kontrollierte elektrische Anlagen. In einer Eingabe an die Bundesregierungen verlangte er nach dem Braunschweiger Brand staatliche Interventionen: „Trotzdem die Gesellschaften in dieser Hinsicht alles Mögliche vorschreiben und thun, mehrt sich von Jahr zu Jahr die Zahl der Brände. Natürlich sind Brände dieser Art besonders gefährlich in den modernen Waarenhäusern, deren Bauart und Inhalt rapide Verbreitung eines einmal ausgebrochenen Brandes befördern. Die Brände der Waarenhäuser von Bernheimer in München, Wronker in Frankfurt a.M., Bacher & Leon in Berlin, Karstadt in Braunschweig beweisen dies genügend“ (Allgemeine Zeitung 1899, Nr. 200 v. 21. Juli, 3). Man sah nun ein gemeinsames Muster der zuvor als Einzelfälle bewerteten Brände. 1899 entstand dadurch eine allgemeine, mit den Begriffen „Kaufhausbrand“ bzw. „Warenhausbrand“ umrissene Gefahrenquelle.

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Traueranzeige für die Todesopfer des Warenhausbrandes in Karlsruhe im Februar 1900: Zwei Näherinnen und eine Verkäuferin (Badische Presse 1900, Nr. 37 v. 14. Februar, Mittagsausgabe, 6)

In der Tat traten einschlägige Brände häufiger auf: 1897 gab es drei größere Ereignisse (München, Frankfurt a.M. und Berlin), 1898 zwei (Altona und Köln), 1899 derer fünf (Braunschweig, Elberfeld und drei in Berlin inkl. Vororte). Weitere drei folgten 1900, darunter einer – Landauer, Karlsruhe – mit drei Toten. Bereits 1898 mahnten mittelständische Konkurrenten der Großbetriebe des Handels Gegenmaßnahmen an. Der Berliner Centralverband der Vereine selbständiger Gewerbetreibender forderte damals vom Berliner Polizeipräsidium verschärfte baupolizeiliche Regelungen. Man versicherte den Petenten die Entwicklung bereits zu beobachten (Feuersicherheit der Großbazare, Braunschweigische Anzeigen 1899, Nr. 144 v. 26. Mai). In den damals laufenden öffentlichen und parlamentarischen Debatten über die preußische Warenhaussteuer wurde auf die Feuergefahr Bezug genommen – und damit die Brände in den unausgesprochenen Zusammenhang des Behördenversagens gestellt (Stenographische Berichte Preußisches Abgeordnetenhauses 1899, Bd. 4, Debatte v. 16. Juni, 2395 (Brockhausen)). Die Braunschweiger Toten bauten weiteren Handlungsdruck auf, die Debatte in Braunschweiger Landesversammlung setzte den Tenor für präventive Gegenmaßnahmen (Folgen des Karstadtschen Brandes, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 253 v. 2. Juni).

Anfang Juni 1899 forderte daraufhin der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten Karl von Thielen (1832-1906) seine nachgeordneten Behörden auf, große Verkaufshäuser besonders zu prüfen und die lokalen Baupolizeiverordnungen gegebenenfalls zu überarbeiten, um dadurch „das Vorkommen ähnlicher Unfälle, wie in Braunschweig, zu verhüten“ (Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 157 v. 13. Juni, 2). Nottreppen, die Trennung von Keller- und Verkaufsräumen und die feuersichere Umkleidung elektrischer Anlagen sollten dadurch sichergestellt werden. Die Lokalbehörden sollten die Ergebnisse ihrer Prüfungen bis September 1899 melden, ebenso die vor Ort getroffenen Maßregeln (Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 192 v. 19. Juli, 1). In Preußen schien damit das rettende Räderwerk der Bürokratie in Gang gesetzt und schreibentrunken hielt man es für dringend geboten, „dass auch in andern Staaten ebenso vorgegangen wird“ (Berliner Börsen-Zeitung 1899, Nr. 336 v. 20. Juli, 6).

Dazu hätte es der schnarrenden Mahnung nicht bedurft, sondern mittelständische Interessenvertretungen und konservativ-liberale Repräsentanten brachten die Feuersicherheit reichsweit auf die Agenda von Städten und Staaten. Schon Ende Mai ersuchte etwa das Nürnberger Gemeindekollegium einstimmig den Magistrat „sofort Vorbereitungen treffen zu wollen, wodurch Katastrophen wie der Warenhausbrand in Braunschweig verhindert werden können (Neue Hamburger Zeitung 1899, Ausg. v. 31. Mai, 4). Von den größeren Staaten ging Sachsen voran – auch eine Folge der dortigen gewerbefreundlichen Wahlgesetze. Die Leipziger Regelungen vom 28. Mai 1900 setzen den Tenor für das gesamte Königreich (Maßnahmen und Einrichtungen betreffend die Feuer- und Verkehrssicherheit in den Warenhäusern der Stadt Leipzig, Oesterreichische Verbands-Feuerwehr-Zeitung 24, 1900, 123-125, 131-132, 141, 160). In Preußen hatte es derweil nur vereinzelte Maßregeln gegeben. Im Regierungsbezirk Altona beschränkte man beispielsweise offene Warenpräsentationen in Räumen und auf Treppen, „da solche Vorrichtungen bei ausbrechendem Feuer gleich einer Zündschnur zu erachten sind“ (Neue Hamburger Zeitung 1899, Ausg. v. 15. Juli, 3).

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Das zerstörte Warenhaus Max Aron in Berlin-Rixdorf Anfang Februar 1900 (Österreichische Illustrierte Zeitung 1900, Nr. 17 v. 4. Februar, IV)

Im preußischen Berlin, der eigentlichen Hauptstadt der Warenhäuser, ging es dagegen gemächlicher zu; auch als Folge der dort dominierenden freisinnigen Wirtschaftsinteressen. Es bedurfte scheinbar erst der Zerstörung des Rixdorfer Warenhauses Max Aron am 13./14. Januar 1900, ehe die Verordnungsmaschinerie langsam in Bewegung kam (Garbe, Die Feuersicherheit der Warenhäuser, Centralblatt der Bauverwaltung 1900, 70-71). Erst mit diesem Brand setzte sich auch in der Reichshauptstadt die Idee durch, dass „Warenhausbrände“ eine reale und speziell zu bekämpfende Gefahr seien (Unglücksfälle, Die Woche 2, 1900, 578). Experten der Versicherungs-, Elektrizitäts- und Gaswirtschaft sahen das ähnlich (Eine neue Gefahr für die Gasindustrie, Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 43, 1900, 345-347). Am 6. Mai 1901 erließ schließlich das preußische Ministerium für öffentliche Arbeiten baupolizeiliche Sonderanforderungen an Waren- und Kaufhäuser. Sie waren recht allgemein gehalten, lokale Besonderheiten konnten dadurch berücksichtigt werden. Architekten intervenierten, sahen sich dadurch gegängelt. Daraus entstanden schließlich präzisierte und ab dem 2. November 1907 geltende „Sonderanforderungen an Warenhäuser und an solche Geschäftshäuser, in welchen größere Mengen brennbarer Stoffe feilgehalten werden“ (R. Goldschmidt, Die Feuersicherheit der Warenhäuser, Deutsche Bauzeitung 42, 1908, 6-11).

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Neue Brandschutzbestimmungen: Feuerwehrmann eines Berliner Warenhauses nebst Feuerleitern (Fritz Leybold, Die Feuersicherheit in großen Berliner Warenhäusern, Die Woche 5, 1903, 1076-1079, hier 1077 (l.); ebd., 1078)

Die Vorstellung einer neuen Gefahr namens „Warenhausbrand“ entstand demnach 1899 und verbreitete sich anschließend. Der Braunschweiger Karstadt-Brand war hierfür die entscheidende Wegmarke. Es wäre allerdings verfehlt all dies als wirklich neu misszuverstehen. Es handelte sich um gängige Verwaltungsmaßnahmen, mit denen zuvor auch andere neuartige Brandarten, etwa die der Theater, erfolgreich eingedämmt werden konnten. Der „Warenhausbrand“ war zu dieser Zeit noch nicht agitatorisches Kampfmittel der Mittelstandsbewegung, eine antisemitisch aufgeladene Trope bzw. der symbolische Bezugspunkt antikapitalistischer, am „jüdischen“ Warenhaus festgemachten Dispositive. Letzteres ist die zentrale These in Paul Lerners Interpretation des „Consuming Fire“ (Lerner, 2015). Zum Beleg führte er einige wenige Aussagen der Warenhausliteratur der Vorkriegszeit an, nutzte markante Zitate antisemitischer Warenhauskritiker, unterzog die Brände aber nicht einer empirisch validen Analyse. Um die vermeintlich mit dem Warenhaus verbundene „fantasy of destruction“ zu belegen, zog Lerner vorrangig fiktive Quellen heran, nämlich mehrere Warenhausromane zumal der 1920er Jahre. Eine derartige Diskursanalyse hat gewiss ihre Meriten, kann als Quirl dienen, um gewisse Dispositive herausarbeiten. Sind diese jedoch nicht empirisch rückgebunden und hinterfragt, so verlässt man den Boden solider Geschichtsschreibung. Gewiss, die Forderungen antisemitischer Mittelstandsvertreter sind gut zu lesen, geben jeder Analyse popkornhaften Reiz: „Ihr Handwerker, Ihr Kaufleute, Ihr Landwirte […] haltet Eure Frauen und Töchter ab hinzugehen, auch schon deshalb, daß Ihr sie nicht eines Tages vom Feuer gebraten […] wieder erhaltet“ (E[mil] Suchsland, Die Klippen des sozialen Friedens, 6. Aufl., Halle a.S. 1904, 30). Da lächeln wir Bürgersöhnchen und -töchterchen fröstelnd, wissen um den richtigen Platz in derartigen Geschichten. Doch derartig schrill-irreale Aussagen waren 1899/1900 selten, lassen sich häufiger erst nach dem Warenhausbrand im Budapester „Pariser Warenhaus“ am 24. August 1903 finden, der europaweit für Aufsehen sorgte. Dort hatte es massive Baumängel gegeben, die Baupolizei hatte offenkundige Gefahren bewusst ignoriert. Im Deutschen Reich wäre das so nicht möglich gewesen; just weil man aus dem Braunschweiger und anderen Warenhausbränden gelernt hatte. Die Imagination des Warenhausbrandes nährte sich in den Folgejahren vorwiegend aus größeren Feuern im Westen Europas, während sich deutsche Behörden und Warenhäuser nicht zu Unrecht als Musterknaben präsentierten. Wer für eine Geschichte des Warenhausbrandes dagegen vorrangig fiktionale Quellen nutzt, ist immer in Gefahr, auch fiktionale Geschichte zu schreiben.

Rechtliche Nachhutgefechte: Karstadt vor Gericht

Der in den Zeitungen gängige Begriff „Unglück“ spiegelte den Zufall, die grundlegende Unsicherheit menschlichen Lebens. Er war zugleich aber ein wichtiges semantisches Hilfsmittel, um Fragen nach Ursachen und Verantwortung zu vernebeln. Rudolph Karstadt war nicht nur persönlich nicht sonderlich berührt von den Toten, die der Brand gefordert hatte. Im Rückblick erschien er als eine rasch überwundene Petitesse: „Einen Rückschlag erlitt die günstige Entwicklung der Firma, als der im Jahre 1898 eröffnete Neubau des Braunschweiger Geschäftshauses im Mai 1899 abbrannte. Bereits am 1. November 1899 faßte Rudolph Karstadt jedoch durch den Ankauf eines Grundstückes in Braunschweig wieder Fuß, und im Jahre 1903 wurde für das abgebrannte Haus durch einen Neubau Ersatz geschaffen, der in der Folgezeit durch Angliederung benachbarter Grundstücke ständig erweitert wurde“ (Die Rudolph Karstadt A.G. und die mit ihr verbundenen Unternehmungen, Berlin 1929, 16). Der 1903 gegründete Verband der Waren- und Kaufhäuser, die Interessenorganisation der Branche griff die Brandgefahr in den Verkaufsstätten ebenfalls auf. Obwohl Brandschutz als öffentliches Gut verstanden wurde, sich also im Wechselspiel zwischen staatlicher Regulierung und öffentlich bezahlten bzw. unterstützten Feuerwehren bewegte, verwiesen seine Repräsentanten auf die vielfältigen zusätzlichen Maßnahmen der einzelnen Firmen. Brandschutz galt zunehmend auch als privates Gut: Die Mitglieder passten Konstruktionen und Baumaterialien ihrer Bauten an, integrierten unabhängige Rettungswege, trennten Keller und Erdgeschoß voneinander, bauten Alarmsysteme, später dann auch Sprinkleranlagen ein. Das Personal wurde geschult, mittels regelmäßiger Probealarme auch getestet (Hermann, Warenhaus und Technik, in: Probleme des Warenhauses, Berlin 1928, 132-141). Größere Häuser hatten auch private Feuerwehren wie sie in der Industrie schon länger üblich waren. Der Vorwurf, „die Warenhäuser sind feuergefährliche Menschenfallen“ (J[ohannes] Wernicke, Kapitalismus und Mittelstandspolitik, Jena 1907, 580) konnte dadurch entkräftet werden, wenngleich kleinere Brände weiter regelmäßig auftraten. Auch diese Vorkehrungen halfen dabei, dass der Karstadt-Brand in Braunschweig der „Unglücksfall“ mit der höchsten Zahl an Toten im Deutschen Reich blieb.

Die rechtlichen Nachhutgefechte zeichnen das Bild von Rudolph Karstadt als Unternehmer, der das „Unglück“ nicht mit eigenen Versäumnissen verband und den entstandenen Schaden vor allem von anderen bezahlt haben wollte. Lokal hatte das durchaus Erfolg, denn die Herzogliche Landesversicherungsanstalt zahlte ihm 122.600 Mark Immobiliarentschädigung, so dass ein Neubau unmittelbar hätte begonnen werden können (Das Gas- und Wasserfach 43, 1900, 734). Die Geschäftsruine wurde beseitigt, das Grundstück lag erst einmal brach. Karstadt hatte das 1898 bezogene Haus für 15 Jahre vom Braunschweiger Kaufmann und Rentner Ernst Bornemann gemietet und sich zugleich im Verkaufsfalle ein Vorkaufsrecht gesichert. Dieses aber, so das Argument des Vermieters, sei mit der Zerstörung des Hauses nicht mehr gegeben – und er könne mit dem Grundstück nach eigenem Gusto verfügen. Karstadt, der mit Bornemann auch wegen des Fortbestehens des Mietvertrages in Rechtshändeln lag, klagte hiergegen, erlitt vor dem Braunschweiger Landesgericht jedoch eine Niederlage (Prozeß wegen des Karstadtschen Hauses, Braunschweigische Landeszeitung 1899, Nr. 381 v. 16. August). Das Grundstück Stephanstraße 6 wurde neu bebaut, doch ab 1903 bot dort das Warenhaus Alsberg seine Angebote an (Braunschweigisches Adreß-Buch für das Jahr 1903, Braunschweig 1903, III.276). Dabei handelte es sich um einen rasch wachsenden Konzern, dessen Schwerpunkte im Rhein-Ruhr-Gebiet lagen und der sein Filialnetz damals weiter nach Osten hin erweiterte. Karstadt musste umdisponieren, wollte er vor Ort präsent bleiben. Er kaufte in unmittelbarer Nähe erste Grundstücke, firmierte ab 1903 unter der Adresse Sack 24 (Ebd.; ebd. 1904, III.281). Ab 1905 offerierte Karstadt seine Waren auch in Verkaufsstätten der daran angrenzenden Schuhstraße 30-32 (Ebd. 1905, III.289). Das Geschäft barg weiterhin eine Änderungsschneiderei und Ateliers für Auftragsfertigungen.

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Anzeige für die neu errichteten Braunschweiger Karstadt-Kaufhäuser (Verzeichnis der Schulen und sonstigen Bildungsanstalten des Herzogtums Braunschweig, Braunschweig und Leipzig 1906, Anzeigenanhang, 19)

Karstadt brauchte also Jahre, ehe er den Verkauf fortsetzen konnte. Gravierender noch waren zwei Prozesse, die Karstadt gegen die Feuerversicherungsunternehmen „Baseler Versicherungsgesellschaft“ und „Londoner Phönix“ anstrengte. Bei diesen hatte der Warenhausunternehmer seine Warenbestände zu je 125.000 Mark abgesichert. Beide verweigerten jedoch die Zahlung. Ihre Argumentation war zweigeteilt. Zum einen hatte der Geschäftsführer des Braunschweiger Hauses bei Vertragsabschluss am 29. September 1898 die Frage verneint, ob zuvor Brandschäden entstanden und beglichen worden seien. Das aber war offenkundig falsch. Verschiedene Karstadt-Geschäfte außerhalb Braunschweigs hatten Schadenfeuer aufzuweisen, 1894 wurden daraufhin 60.000 Mark erstattet (Schweizerisches Handelsamtsblatt 20, 1902, 354-355, hier 355). Diese Frage stand im Mittelpunkt der Prozesse. Karstadt legte zweimal Revision ein, nachdem erst das Landesgericht, dann auch das Oberlandesgericht seine Klagen kostenpflichtig abgelehnt hatten. Am 6. Dezember 1901 entschied schließlich das Reichsgericht zugunsten der Baseler Versicherung – und Karstadt zog seine noch anhängige Klage gegen die Londoner Phoenix zurück (Der sächsische Erzähler 1902, Nr. 7 v. 16. Januar, 6). Karstadt, so letztinstanzlich das Reichsgericht, habe seine Pflicht der wahrheitsgemäßen Auskunftserteilung schuldhaft verletzt – und könne sich nicht darauf berufen, dass er glaubte, allein über das Braunschweiger Haus berichten zu müssen. Karstadt hatte demnach den kaufmännischen Grundsatz von Treu und Glaube verletzt. Dieses Urteil hatte für alle Filialbetriebe beträchtliche Auswirkungen, schuf zugleich aber wachsende Markttransparenz im Versicherungswesen.

Für unsere Analyse des Braunschweiger Warenhausbrandes war der zweite Teil der Argumentation wichtiger. Hier ging es nämlich um die Schuldfrage: „Karstadt habe den Brand mit verschuldet, weil er die Aufforderung der Baseler Versicherungsgesellschaft, seine Lichtanlage, durch die im Frühjahr v. Js. kurz nacheinander schon zwei kleine Brände veranlaßt worden waren, durch einen unparteiischen Sachverständigen revidieren zu lassen“ (Braunschweiger Stadtanzeiger 1900, Ausg. v. 23. März, auch für das folgende Zitat) ignoriert habe. Karstadts Rechtsanwalt begründete diese unstrittige Vernachlässigung damit, „daß dieselbe von einer ersten Firma nach den damaligen neuesten Erfahrungen installiert worden sei“ – und Karstadt selbst von der Sicherheit der Elektrizitätsanlage derart überzeugt war, dass er ein Warenlager von 450.000 Mark unterhalten habe, also Werte von 200.000 Mark im Vertrauen auf die Feuersicherheit unversichert gelassen habe. Die Zeugenvernehmung ergab weitere Details: Demnach bestätigten drei von der Phoenix aufgebotene Augenzeugen, ein Elektrotechniker und ein Ehepaar, „daß eine elektrische Leitung, die direkt von der Hauptleitung nach einem Schaufenster führte, plötzlich, noch ehe die Glühbirnen in dem Schaufenster angezündet waren, in Glut geriet, wodurch die umhüllende Seide Feuer fing und dann die Gegenstände im Schaufenster entzündete“ (Braunschweiger Anzeiger 1900, Ausg. v. 6. April). Das Aufglühen der Stromleitung sei auf eine zu starke oder aber nicht vorhandene Bleisicherung zurückzuführen, so wie schon zuvor die beiden rasch gelöschten Brände im Frühjahr 1899. Eine Revision der Anlage sei aus Kostengründen nicht erfolgt.

Diese Zeugenaussage wurde von Karstadts Prozessvertreter bestritten. Der Elektrotechniker Rolle stehe in einem Prozess mit Karstadt, sei also befangen. Das Landesgericht ging dieser komplexen Frage nicht nach, denn Karstadts Klage konnte allein durch die wahrheitswidrige Angabe in der Versicherungspolice abgelehnt werden. Die Direktoren der Phoenix hatten einzig zu schwören, dass sie bei Vertragsabschluss nichts von weiteren Karstadt-Geschäften außerhalb Braunschweigs gewusst hätten – was sie dann taten (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1900, Nr. 241 v. 13. Mai, 3989). Die Revisionsklagen vor dem Oberlandes- und dem Reichsgericht behandelten daher nicht mehr die Frage, warum Karstadt trotz zweier Schaufensterbrände die Elektrizitätsanlage nicht hatte nachjustieren lassen (Neuste Nachrichten 1901, Nr. 291 v. 12. Dezember). Die Verantwortung für die sieben Toten stand in den Revisionsprozessen eben nicht mehr zur Debatte. Ein routinemäßig in Gang gesetztes Ermittlungsverfahren der Braunschweiger Staatsanwaltschaft war rasch eingestellt worden, Zivilklagen der Hinterbliebenen unterblieben. Die beiden Brandschutzversicherungen zahlten ihnen im September 1902 freiwillig insgesamt 1000 Mark als Ersatz für die Beerdigungskosten (Jeversches Wochenblatt 1902, Nr. 221 v. 20. September). Über Zahlungen von ihrem Arbeitgeber Karstadt ist nichts bekannt.

Der Brand in Braunschweig, Zufall und die Gewalt des Konsums

Der Feuertod der sieben Karstadt-Beschäftigen ward rasch vergessen. Die vom Stadtarchiv gepflegte Braunschweiger Stadtchronik, die Ereignisse und Petitessen der Stadtgeschichte Jahr für Jahr auflistet, enthält keinen Eintrag zu der größten zivilen, von mindestens 15.000 Personen besuchten Trauerfeier am 22. Mai. Die in den Abteilungen 31 und 33 gelegenen Gräber der sieben Brandopfer liefen ab und wurden neu belegt (Schreiben von Claudia Daniel (Friedhofsverwaltung) v. 14. September 2021). „Karstadt“ wird sein Warenhaus am Gewandhaus Ende September 2021 schließen, die Zukunft des am Ort der früheren Brandstätte in der Schuhstraße 29-34 residierenden zweiten Hauses ist unklar.

Dem Karstadt-Brand in Braunschweig folgten viele weitere Warenhausbrände, doch nicht zuletzt aufgrund der anschließend langsam gezogenen Lehren auf Seiten des Staates und der Unternehmen blieben sie begrenzt, verursachten kaum mehr Tote. Wir könnten es dabei belassen, denn dann passte diese Geschichte in das uns geläufige Narrativ einer nach vorn laufenden Abfolge der Zeit, getragen vom Fortschritt und unser aller Lernfähigkeit. Mir scheint eine Blickumkehr jedoch ebenfalls erhellend. Moderne Gesellschaften tendieren dazu, Puffersysteme gegen Gewalt, gegen den Zufall aufzubauen. Diese funktionieren zumeist, bedürfen aber steter Bemühungen, wohl wissend, dass sie überholt werden und vielfach vergeblich sind.

Für mich bietet der Karstadt-Brand daher auch die Chance zum Räsonnement über die gemeinhin verdrängte Kategorie des Zufalls, dieses „Tremendum der Neuzeit“ (Erhart Kästner, Der Hund in der Sonne, Frankfurt a.M. 1975, 62). Der Tod der Bediensteten war willkürlich, ohne Sinn, kausal nicht rückführbar. In einer vermeintlich berechenbaren Welt über das Unberechenbare nachzudenken kann Kräfte freisetzen, Lebenszuschnitte verändern. Dies kann zugleich helfen, Willkür und Gewalt wahrzunehmen, die in das Gewebe der Konsumgesellschaft eingewoben ist. Dies betrifft die gängige Sprache, unsere Vorstellungen von Waren und Dienstleistungen sowie eines kommodifizierten Miteinanders. Dergestalt wäre die Geschichte dieses längst vergangenen Warenhausbrandes ein Plädoyer für offene Augen und einen reflektierten Realismus auch und gerade im Umgang mit den prangenden Fassaden der Schaufenster und der Läden, den Verlockungen und Verheißungen der Waren und Dienstleistungen; und auch ihrer wissenschaftlichen Untersuchung. Vielleicht können wir dann gar erklären, warum wir es doch auch mögen, mit dem Grauen des imaginierten Todes, mit dem Leiden der anderen zu kokettieren.

Uwe Spiekermann, 18. September 2021