Wilhelm Busch im Nationalsozialismus: Die 4. WHW-Reichsstraßensammlung 1940

Wilhelm Busch (1832-1908) hatte ich nie vergessen. Die zweibändige Bertelsmann-Ausgabe seiner Werke war für mich eine der ersten Entdeckungen, mehr als zweitausend Seiten, durch die ich im Alter von sieben, acht, vielleicht noch elf Jahren stöberte. Wilhelm Busch war Teil der Ferien bei „Oma Antfeld“, die ich als ihr vermeintlicher Liebling während der Oster- und Sommerzeit immer besuchen musste. Meine Oma, Maria Spiekermann, geb. Obertrifter, hatte meinen Opa, Karl Spiekermann, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geheiratet, nachdem meine leibliche Oma an Tuberkulose verstorben war. Sie hatte seither deren fünf Kinder aufzuziehen, stand nach dem Krieg gar alleine da, als ihr Mann nicht lang nach Kriegsende ebenfalls verstarb. Zuvor, im April 1945, hatte das Haus, das man noch mit dem Vieh teilte, einen Treffer abbekommen, während sie mit ihren Kindern in einem Schieferstollen Zuflucht suchte. Für meinen Vater, Helmut Spiekermann, waren das gern erzählte Abenteuer seiner Kindheit.

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Kindheitserinnerungen: Wiederbegegnung mit „meiner“ Werk-Ausgabe im Wilhelm-Busch-Museum Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Knappschaftsrente, ein bisschen Landwirtschaft, dazu fünf Blagen. Als Kind ahnte ich nichts von der Lebensleistung dieser alten Frau, der bei meinen Besuchen noch zwei Räume, eine Vorratskammer und ein Bad in ihrem Haus zustanden, die sie mit mir teilte. Oma Antfeld war keine gebildete Frau, Wilhelm Busch eine Ausnahme im kargen Regal. Für mich schienen dessen Bildgeschichten fast noch zeitgemäß, denn das nur wenige hundert Bewohner zählende Dorf besaß Schloss, Kirche, Gaststätte, Schlachter und einen kleinen Edeka-Laden, die man allesamt durch eine kleine Drift, das Pekchen, erreichte. Fast so wie bei Max und Moritz. Heute ist das Dorf glatt, sauber, konturlos – wenngleich die zwischendurch auch mal zerschlagene Mutter Gottes am Hamberg immer noch über Antfeld wacht. Wilhelm Buschs Geschichten spielten in derartigen Milieus, seine Figuren kamen mir, genau besehen, bekannt vor. Doch bei ihm gab es immer auch noch mehr, nicht nur diesen irren Virtuosen. Ihn zu lesen, weitete die Welt, sie begann in höherem Takt zu schlagen. Und die Besuche endeten rascher.

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Mobilisierung im Zeichen des Humors (Das Kleine Blatt 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 1)

Entsprechend war ich irritiert, als ich unlängst in einigen Zeitungen des Jahres 1940 meinen Kindheitsheros prangend wiederfand. Vereint mit zahlreichen seiner Figuren sammelte Wilhelm Busch für das nationalsozialistische Winterhilfswerk. Das war wie ein Stich ins Herz, in meines und das meiner Oma, einer, trotz Liboriusblatt, aufrechten Sozialdemokratin. Doch dann wollte ich weiter blicken, mehr wissen, so wie einst. Professionelles Handeln überwölbte die nie vergessene Kindheitserinnerung. Was also hatte es mit Wilhelm Busch im Nationalsozialismus auf sich?

Versteckte Abgaben: Sammlungen und Abzeichen als Alltagsbegleiter

Am Beginn stand, notwendig, Distanz. Wilhelm Buschs Konterfei warb auf der Zeichnung von 1940 inmitten seiner unvergessenen Charaktere für eine Straßensammlung des Winterhilfswerkes. Sammlungen erfolgten in dieser Zeit noch direkt, Daueraufträge und Katastrophenportale gab es so noch nicht. Sie standen in der Tradition religiöser Kollekten oder bürgerlicher Initiativen, ihre Anlaufpunkte waren ehedem Kirchen und Synagogen, Komitees und Notable. Im 19. Jahrhundert hatten Sammlungen für Wohlfahrts- und Fürsorgezwecke stark zugenommen, ohne sie hätte es die Denkmalmanie der wilhelminischen Zeit nicht gegeben. Auch der politische Massenmarkt erforderte Spenden, Selbsthilfe der Mitglieder, praktizierte Solidarität. Hinzu kamen globale Katastrophen, Telegraphie schürte Notgemeinschaften der Unterstützung. Während der Weimarer Republik nahm die Zahl sozialer Anliegen weiter zu, Parteienmaschinerien liefen mit Sondergeld geschmierter. Nach Beginn der Präsidialdiktatur verlangten nicht nur Sozialdemokraten Freiheitsopfer, sondern insbesondere die aufstrebende NSDAP sammelte öffentlich für die „nationale Sache“.

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Der Bürger als Beute: SA-Sammlung 1932 (Ulk 61, 1932, Nr. 49, 1)

Nach der Machtzulassung 1933 ging dies weiter, doch geregelter, zielgerichteter, mit Hintersinn. Neben den Weimarer Sozialstaat, neben die seit 1926 reichsweit anerkannten freien Wohlfahrtsverbände trat nun vor allem die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV). Sie war eine seit dem 22. Juni 1932 als eingetragener Verein etablierte NSDAP-Untergliederung, die am 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge zuständig wurde. Die erst seit 1935 offiziell zu den Verbänden der NSDAP zählende Institution bedrängte voller „Machthunger“ (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380, hier 343) die nach dem Verbot der Arbeiterwohlfahrtsverbände weiter bestehenden Konkurrenten Innere Mission, Caritas und Deutsches Rote Kreuz. Zugleich stand sie in stetem Kompetenzgerangel zu anderen NS-Organisationen, insbesondere dem Deutschen Frauenwerk, der Deutschen Arbeitsfront und der Hitlerjugend.

Die freien Wohlfahrtverbände hatten seit dem Winter 1931/32 eine gemeinsame Winterhilfe organisiert, um die Härten der durch das Notverordnungsregime der Regierung Brüning nochmals verschärften Weltwirtschaftskrise zu mildern (Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 165-172). An deren Stelle trat Mitte 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Er hatte zuvor die Leitung an Reichpropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) übertragen, der sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“ bediente. Das Winterhilfswerk (WHW) galt als Ausdruck des nationalen Sozialismus, einer neuen nationalen Solidarität, hatte eine völkische Agenda. Die anderen Wohlfahrtsverbände und Parteigliederungen kooperierten. Die Spenden dienten als ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur galten parallel weiter. Das WHW war rechtlich lange schwer zu fassen, seit Dezember 1936 handelte es sich um eine Stiftung des bürgerlichen Rechtes, die mit den stetig wachsenden Spenden ein gewichtiger Faktor nicht nur der Sozial-, sondern auch der Wirtschaftspolitik wurde. Dabei half das Sammlungsgesetz vom 5. November 1934, das dem WHW ein exklusives öffentliches Sammelrecht während der sechs Wintermonate garantierte, also von Oktober bis März. Juden wurden seit 1936 exkludiert, eine segregierte Jüdische Winterhilfe geschaffen.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der Machthaber eine völkischen Opfergemeinschaft. An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten. Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie (vgl. Anja Kafurke, Anstiften zur guten Tat. Die »Aktion Gemeinsinn« und die westdeutsche Zivilgesellschaft, 1957-2014, Bielefeld 2024, 36-37). Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder.

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Sachspenden für das Winterhilfswerk (l.) und Türplakette zur Kennzeichnung schon errichteter Gaben (Hildener Rundschau 1935, Nr. 3 v. 1. April, 10 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 26 v. 26. Januar, 6)

Die Spenden für das Winterhilfswerk waren nominell freiwillig, faktisch aber handelte sich zunehmend um Zwangsspenden (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 382-389). Die Straßensammlungen dominierten propagandistisch, doch zu einer faktischen Zwangssteuer entwickelten sich die Spenden einerseits durch verpflichtende Abzüge von Lohn und Ertrag – zehn Prozent und mehr der Lohnsteuer bzw. erwartete und gegebenenfalls erzwungene Abgaben von Firmen und Organisationen. Hinzu kamen die Erträge der Eintopfessen resp. Opfersonntage sowie beträchtliche Sachspenden. 1933/34 machten letztere 35 Prozent der Gesamtspenden aus. Die Erträge des Eintopfessens lagen erst 1938/39 unter denen der Reichsstraßensammlungen. Letztere wurden insbesondere seit Kriegsbeginn nochmals bedeutsamer: 1939/40 kamen 119 Mio. RM zusammen, im Folgejahr waren es 203, dann 302 und 1942/43 schließlich 397 Mio. RM. Das war allerdings nur ein knappes Viertel der damaligen Gesamtspenden von 1,596 Mrd. RM. Nicht vergessen darf man mögliche Mitgliedsbeiträge für die NS-Volkswohlfahrt von den bei Kriegsbeginn mehr als elf Millionen Zahlern. Die bei aller grundsätzlichen Unterstützung doch offenkundige Aversion gegen die Sammlungen des WHW – unter der Hand auch „Waffenhilfswerk“ (Deutschland-Berichte der Sopade 3, 1936, Nr. 5 v. 9. Juni, A-94) genannt – wurde auch dadurch befördert, dass die Sammlungen nicht allein die Straßen beherrschten, sondern auch das gesamte kulturelle Leben, Kinos, Sportereignisse und Konzerte, dass sie zudem durch systematische Haussammlungen ergänzt wurden. Diese „Spenden“ wurden in Listen erfasst, Nichtspenden galt nicht nur als regimefeindlich, sondern konnte strikt sanktioniert werden – bis hin zu Entlassungen. Gewiss gab es zahlreiche Formen von Devianz, doch angesichts der Woche für Woche stattfindenden Sammlungen auf Reichs-, aber auch auf Gau- und Kommunalebene, war die Zwangsspende ein Grundelement des Alltagslebens während des NS-Regimes. In der Bildwelt der Zeit wurde sie umgemünzt in einen Kampf gegen den bürgerlichen Spießer, gegen die Geizkragen der alten Zeit.

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Abseits der Volksgemeinschaft: Gemeinschaftsfremde Spießer (Westfälischer Beobachter 1933, Nr. 289 v. 9. Dezember, 14 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175)

Die Reichsstraßensammlungen erfolgten monatlich an einem Wochenende, pro Winter gab es sechs. Ihr besonderes Gepräge erhielten sie durch die offensiv vorgehaltene rote Spendenbüchse, durch die Präsens der Parteigliederungen auf den Straßen und an der Haustür. Spenden waren ein sichtbares Bekenntnis für die Ziele des Regimes. Die Türplaketten für gezahlte Lohnabzüge führten diese tagtäglich vor Augen. Während der Straßensammlungen markierten jedoch Anstecknadeln, dann zunehmend ansprechende Abzeichen die Teilnahme. Diese wurden offensiv vermarket: „Die erste Reichsstraßensammlung findet am 14. und 15. Oktober statt. Es sammelt die DAF., die dabei eine Serie von sechs Büchlein verteilt, deren Motto ‚Der Führer macht Geschichte‘ lautet. Die Büchlein enthalten Bilder und Texte aus den Jahren 1933 bis 1938. Bei der zweiten Reichsstraßensammlung am 4. und 5. November sammeln die Gliederungen, SA., SS, NSKK., NSFK und verteilen dabei Ansteckzeichen in Form germanischer Schwerter und Dolche. Zur dritten Reichsstraßensammlung tritt am 16. und 17. Dezember die HJ. an; sie vertreibt gedrechselte Holzfiguren. Auch Gaustraßensammlungen, WHW.-Briefmarken und -Postkarten sowie Spendenkarten der Reichsbahn sind wieder vorgesehen“ (Der Plan des Kriegswinterhilfswerks, Hamburger Tageblatt 1939, Nr. 281 v. 11. Oktober, 1). Allerdings halfen Türplaketten und Abzeichen nicht sicher gegen weitere Spendenforderungen, zumal zwischen den Sammlern durchaus ein Wettbewerb um möglichst hohe Ergebnisse bestand, man auf jeden Fall die Vorjahresergebnisse übertreffen wollte. Die Uniformträger verwiesen auf eine imaginäre „moralische Pflicht“ (Noch ein Wort zur Winterhilfe!, Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 291 v. 12. Dezember, 6). Die Spendenforderung war eine kleine Machtdemonstrationen im Alltag, ein Verweis auf die Machtmittel von Partei und Staat.

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Gemeinschaftspropaganda und individueller Schmuck (Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 37 (l.); Illustrierter Beobachter 11, 1936, 358)

In diesem Umfeld erfolgte im Februar 1940 auch der Verkauf der Wilhelm-Busch-Figuren. Einschlägige Anstecker wurden seit Oktober 1933 gegen eine Spende von zwei Groschen ausgegeben. Zuerst handelte es sich um Einzelstücke, doch rasch folgten Serien mit zehn, zwölf, bis zu dreißig Motiven (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981, 32). Den Anfang machten Motivnadeln, zumal „Gegen Hunger und Kälte“, deren Motto dann monatlich wechselte. Die Gesamtzahl der bei den Straßensammlungen verkauften Abzeichen lag bei knapp fünftausend. Sie wurden ergänzt durch regionale, lokale und anlassbezogene Abzeichen, so dass man insgesamt von etwa 8000 Stück ausgehen kann (vgl. Handbuch der WHW Abzeichen, 2. Aufl., München 1939; Rainer Baumann, WHW-Abzeichen der Reichs-Straßensammlung 1933-1934, Nürnberg 1973; Harry Rosenberg, Spendenabzeichen des WHW, Berlin-West 1974).

Als erstes Motivabzeichen allein für die Straßensammlung diente im Dezember 1933 eine Christrose. 16 Millionen wurden hergestellt, und die ansprechende Gestaltung ließ Sammelherzen höherschlagen. Schmuck- und Dekorationsartikel kamen auf, florale Elemente, zudem Christbaumschmuck und kleine Spielwaren. All das war begleitet von lenkender Propaganda, von Liederbüchern, von Märchen. Die Abzeichen galten als Ausdruck der Volkskultur, von Handwerkskunst, bestanden aus deutschen (billigen) Rohstoffen. National- und Regionalstolz wurden gezielt gefördert, so wie zeitgleich die regional disparate deutsche Kost. Die materielle Kultur von Handwerk und Bauerntum, von Germanen und Parteiorganisationen sollte den völkischen Zusammenhalt stärken. Zugleich aber gab es zahlreiche „moderne“ Serien, etwa über Verkehrszeichen und auch die während der Verdunklung durchaus praktischen Leuchtplaketten. Die Abzeichen waren das werbeträchtigste Hilfsmittel des WHW, das auch mittels Plakaten, Radio- und Wochenschausendungen dauerpräsent war (vgl. Martin, 2008, 193-232; Michael Hughes, The Anarchy of Nazi Memorabilia. From Things of Tryanny to Troubled Treasue, London und New York 2022).

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Ein künstlerischer Spendenbeleg: Winterhilfswerks-Anstecknadeln (Gebrauchsgraphik 12, 1935, Nr. 10, 54)

Wilhelm Busch: Volksdichter oder völkischer Seher?

All das scheint weit entfernt von Wilhelm Busch, noch weiter von meinen Kindheitsentdeckungen. Warum nutzte man nun einen Maler und Dichter wie Busch im Rahmen der Reichsstraßensammlung des Winterhilfswerks? Popularität allein kann kein Kriterium gewesen sein, denn Karl May (1842-1912) und dessen Figuren verschmähte man. Zwei Aspekte schienen vorrangig: Zum einen war Buschs Biografie und Werk seit der Jahrhundertwende deutungsoffen, zum anderen gab es mit der 1930 gegründeten Wilhelm-Busch-Gesellschaft eine Institution, die einer nationalsozialistischen Deutung ihres verehrten Meisters die Scholle bereitete.

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Öffentliche Gestalt fernab der Öffentlichkeit: Wilhelm Busch (Über Land und Meer 31, 1874, 461 (l.); Das Deutsche Blatt 1907, Nr. 101 v. 14. April, 5)

Wilhelm Busch war ein im Schaumburger Land geborener Maler und Dichter, eine Doppelbegabung, wie es sie im deutschen Sprachraum kaum gab (Gerd Ueding, Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature, erw. u. rev. Neuausgabe, Frankfurt a.M. und Leipzig 2007; Eva Weissweiler, Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist, Köln 2007). Er absolvierte ein Kunststudium in Düsseldorf, Antwerpen und München, doch einem breiteren Publikum war er vor allem durch seine in den späten 1850er Jahren einsetzenden Zeichnungen in den Münchener Bilderbögen und den Fliegenden Blätter bekannt. Ruhm gewann er mit seinen seit Mitte der 1860er Jahre veröffentlichten Bildergeschichten: Max und Moritz (1865), Hans Huckebein (1867), Die fromme Helene (1872) oder Fipps, der Affe (1879) sind bis heute bekannt. Dieser Reigen endete 1884 mit Maler Klecksel. Busch lebte in seinem Geburtsort Wiedensahl, publizierte nur wenig, malte nicht mehr für den Markt. Nie verheiratet, wurde er von seiner verwitweten Schwester Fanny Nöldeke (1834-1922) versorgt, lebte im verwandtschaftlichen Familienverbund der protestantischen Pfarrerfamilie Nöldeke. 1898 zog er in das Pfarrhaus der kleinen, am Harzrand gelegenen Gemeinde Mechtshausen, wo er 1908 verstarb. Er gilt bis heute als führender Kinderbuchautor, als Mitbegründer des Comics (vgl. dagegen Eckart Sackmann, Der deutschsprachige Comic vor »Max und Moritz«, Deutsche Comicforschung 11, 2015, 6-29), als Knittelreimer und Sentenzenschmied. Seine präzise Sezierung des (ländlichen) Bürgertums, die Entlarvung allgemeiner Heuchelei und seine Schilderung der Brüchigkeit der Existenz machten ihn sehens- und lesenswert – und Historiker kennen ihn natürlich auch als Aktivisten des Kulturkampfes der 1870er Jahre, für den sich der Begriff der Katholikenverfolgung ja nicht eingebürgert hat.

Die hier nur angedeutete Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des Werkes, ebenso aber sein recht zurückgezogenes dörfliches Leben erschwerten eine Einordnung als der alte Herr anlässlich seiner runden Geburtstage 1902 und 1907 zu einem reichsweit gefeierten Nationaldichter und Humoristen mutierte. Der Gegensatz zu künstlerischen Selbstdarstellern dieser Zeit wie den sehr unterschiedlichen Ernst von Wildenbruch (1845-1909), Oscar Blumenthal (1852-1917), Hermann Sudermann (1857-1928), Frank Wedekind (1864-1918) oder dem als NS-Vorzeigedichter endenden Gerhart Hauptmann (1862-1946) war offenkundig – und daher weiteten sich Person und Werk schon vor dem ersten Weltkrieg fast beliebig aus, hatten doch fast alle Lager ihren Busch, konnten ihre Wahl auch mit lustigen Versen belegen.

Mit Blick auf die spätere Präsentation des Humoristen im Rahmen der 4. Reichstraßensammlung 1940 sind zwei Aspekte festzuhalten. Auf der einen Seite wurden nicht nur Buschs Charaktere „zu massenproduzierten Symbolen einer vorindustriellen Ära“ (Thomas A. Kohut, Wilhelm Busch: Die Erfindung eines literarischen Nationalhelden (1902-1908), Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 134, 2004, 147-157, hier 152). Sie waren um die Jahrhundertwende schon antiquiert, kaum mehr existent, allen Rückzugsgefechten der damaligen Mittelstandsbewegung zum Trotz. Auch Busch selbst erschien als „eine vorindustrielle Figur“ (Ebd. 150), Ausdruck vergangener Behaglichkeit, einer besseren, weniger fordernden Zeit. Ja, er zeichnete mit Bleistift oder Gänsefeder, mit selbst hergestellter brauner Sepiatinte. Dass der nikotinabhängige Künstler seine unverzichtbaren Zigaretten in feines JOB-Papier aus dem ferner Paris drehte, dass er seine Anzüge aus Frankfurt a.M. bezog, dass er also auch in der vermeintlichen ländlichen Idylle Teil der Konsumgesellschaft seiner Zeit war, mochte zwar nicht recht passen, doch Deutungen und kulturelles Marketing sind durch widersprechende Fakten kaum zu bremsen.

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Wilhelm Buschs Zigarettenpapier in einer Vitrine im Wilhelm-Busch-Haus Mechtshausen (Uwe Spiekermann)

Busch war vor dem Ersten Weltkrieg ein äußerst erfolgreicher Autor mit einer Millionenauflage, an der vorrangig seine Verleger verdienten. Er verkörperte Massenerfolg, hob sich damit deutlich von der Mehrzahl zeitgenössischer Künstler, Schriftsteller und Journalisten ab. Sein Erfolg war der Erfolg eines Massengeschmacks, eines Volksdichters. Busch bot etwas zum Lachen – und das mit künstlerischen Mitteln. Er verkörperte die Souveränität des Massenpublikums, das sich von kulturellen Eliten nurmehr bedingt anleiten ließ. Hier liegt zweitens – und ich folge weiter der Argumentation Kohuts – der Grund für die Verdenkmalung Buschs am Ende seines Lebens. Die zahllosen Analysen und Deutungen waren Versuche einer kulturellen Elite, ihre Deutungshoheit auch über den widerspenstigen Alten und sein Publikum zu behaupten. Sie zielten, in der Massenpresse, in Massenzeitungen, darauf, Buschs Werk eine neue (durchaus vorhandene) Tiefe zu geben, um so den vermeintlich wahren Gehalt seines Werkes und seiner Person herauszuarbeiten. Wilhelm Busch wurde auch dadurch zur fast beliebigen Projektionsfläche. Der Meister schwieg – und der Chor der schreibenden Deuter dröhnte umso stärker. Das war bildungsbürgerlicher urbaner Habitus, der mehr über die Deuter als über das Gedeutete aussagte.

Es ist daher nicht überraschend, dass Wilhelm Busch beispielsweise von sozialdemokratischen Journalisten als zukunftsgewandter Skeptiker gedeutet wurde, der die Heuchelei des Bürgertums „an der Schwelle einer neuen Zeit, die erst nach ihm kam, die er ahnte“ (Ernst Schur, Wilhelm Busch, Unterhaltungsblatt des Vorwärts 1907, Nr. 72 v. 13. April, 286-287, hier 287) selbstkritisch demaskiert hatte. Und auch deutlich später, inmitten des Reichspräsidentenwahlkampfes 1932, porträtierte ihn der sozialdemokratische Kunstkritiker Paul F. Schmidt (1878-1955) als Mitstreiter im Freiheitskampf: „Der Hundertjährige erfüllt wahrlich erst heute seine Mission, denn der deutsche ‚Untermensch‘, den er wie kein zweiter geschildert hat, erfährt nun seine historische Mission, erst heute tritt er aus der Anonymität des Privatlebens, das Busch mit dem Blick des Genies und abgrundtiefem Haß gezeichnet hat, in die politische Arena und wirkt, wie er es allein kann und muß, zerstörend. Man versetze die Hunderte von Gestalten Wilhelm Buschs in den Sportpalast, und siehe da, es sind Mann für Mann die treuen Schildhalter und Schildbürger des Nationalsozialismus!“ (Wilhelm Busch, Vorwärts 1932, Nr. 176 v. 15. April, 10). Der Wiener Kulturphilosoph Egon Friedell (1878-1938) hatte Busch derweil zu einem humoristischen Dokumentaristen des bürgerlichen Zeitalters geadelt, beredt seine Fähigkeit gepriesen, den Philister zu demaskieren und zugleich zu verklären. Busch erschien als Meister der Ambivalenz, der die Widersprüchlichkeit der Moderne in seinen Charakteren einzufangen vermocht hatte, der das Dasein trotz aller Verwüstungen feierte (Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele. Von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg, London 1940, 380-383).

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Ein gefeiertes Chamäleon: Grab Wilhelm Buschs in Mechtshausen, Denkmal in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Es wundert daher kaum, dass nach der Machtzulassung der NSDAP völkische Deutungen Wilhelm Buschs die Oberhand gewannen – denn die meisten Mitglieder der kulturellen Eliten der Weimarer Zeit passten sich an, stießen gar ins Horn der neuen, nun nationalsozialistischen Zeit. Von den mehr 1.250 Bauhausstudierenden blieben beispielsweise ca. 900 im Deutschen Reich. Von diesen engagierten sich nicht weniger als 188 in der NSDAP (Anke Blümm und Patrick Rössler, Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine statistische Annäherung, in: Dies. u. Elizabeth Otto (Hg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, 2. Aufl., Weimar und München 2024, 72-77, insb. 75, 77). Erst kommt das Fressen und dann kommt die Moral…

Entsprechend wurde Busch nun als Kenner der Rassen und Temperamente der Menschen gewürdigt, etwa des Juden in Plisch und Plum: „So bietet Wilhelm Busch nicht nur den weitesten Kreisen unseres Volkes Unterhaltung, sondern er schenkt auch dem Rassenseelenforscher mit seinen Gestalten wertvollen Beobachtungsstoff“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München 1936, Volk und Rasse 11, 1936, 508). Er mutierte zum Repräsentanten echt deutschen Humors, der strikt abgegrenzt wurde vom „Witz anderer Völker, insbesondere von der amerikanischen Blödelei“, da er die „Wärme des Gemüts mit philosophischer Lebensbetrachtung verbindet“ (Rez. v. Wilhelm-Busch-Album, Jubiläumsausgabe, München, Unser Wille und Weg 7, 1937, 349). Die Deutung von Busch als „völkischem Seher“ war schon lange vor der 4. Reichsstraßensammlung 1940 gängig, auch bevor der nationalsozialistische Archivar der Wilhelm-Busch-Gesellschaft ihn als solchen porträtierte (Karl Anlauf, Der Philosoph von Wiedensahl. Der völkische Seher Wilhelm Busch, Berlin 1939). 1940 war diese Deutung jedenfalls dominant (vgl. etwa Kurt Pfeiffer, Wilhelm Busch – ein Streiter der Wahrheit, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 53 v. 22. Februar, 6).

Eine wichtige, gleichwohl nicht präzise einzuschätzende Rolle für diese völkische Deutung spielte die Wilhelm-Busch-Gesellschaft in Hannover, die ihre eigene NS-Geschichte bis heute nur rudimentär erforscht hat (vgl. Monika Herlt, 75 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft – eine Chronik, Satire 2005, Nr. 69, 9-34). Die Verwendung von Wilhelm Busch und seiner Charaktere für die Zwecke des nationalsozialistischen Winterhilfswerkes war eben nicht eine typische „Indienstnahme durch ein totalitäres System“ (Herbert Günther, Der Versteckspieler. Die Lebensgeschichte des Wilhelm Busch, Springe 2011, 205). Es handelte sich vielmehr um die gezielte Nutzung eines einseitig gedeuteten Erbes durch interessierte kulturelle Eliten, darunter nicht zuletzt die Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft. Sie gaben vor, die eigentlichen Kenner und Sachwalter Buschs zu sein; und es war diese Gesellschaft, die von der 4. Reichsstraßensammlung 1940 unmittelbar profitierte. Die Mitgliedszahlen stiegen im Anschluss steil an, führten die literarische Gesellschaft „auf einem Höhepunkt ihrer Popularität“ (Herlt, 2005, 16). Zeitweilig handelte es sich um die reichsweit mitgliederstärkste Organisation ihrer Art, größer als etwa die Anfang der 1930er Jahre noch führende Goethe-Gesellschaft. Die völkische Deutung Buschs zahlte sich für die Hannoveraner aus.

Sie steht allerdings in einem breiteren Zusammenhang. Ihre Gründung am 24. Juni 1930 resultierte aus einer ganz wesentlich vom Heimatbund Niedersachen getragenen Wilhelm-Busch-Spende 1927, dank der nicht nur dessen Geburtshaus in Wiedensahl renoviert und erworben werden, sondern auch der Grundstock einer dann zielstrebig erweiterten Sammlung gelegt werden konnte. Schon 1930 schrieb Kurt Voss (1896-1939), Feuilletonschriftleiter des Hannoverschen Kuriers: „Wir haben allen Grund, in Wilhelm Busch einen der großen Niedersachsen zu erkennen, die aus dem Bauerntum und seiner markanten Lebensphilosophie ihr Bestes geschöpft haben“ (Bei Wilhelm Busch in Wiedensahl, Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Als nationalsozialistischer Hauptschriftleiter der 1933 gleichgeschalteten Zeitung lieferte er der neuen Gesellschaft steten Flankenschutz. Diese war anfangs ein bildungsbürgerlicher Verein, der „weiteste Volkskreise“ für eine „Wilhelm-Busch-Ehrung“ gewinnen wollte (Hannoverscher Kurier 1930, Nr. 292 v. 25. Juni, 3). Anlässlich der Centenarfeier 1932 präsentierte er im Hannoveraner Provinzialmuseum eine Busch-Ausstellung, die vom Hamburger Kunsthistoriker Robert Dangers (1896-1987) und dem Direktor des Provinzialmuseums Alexander Dorner (1893-1957) kuratiert worden war (R[ichard] Abich, Dem Dichter, Maler und Philosophen. Ueber die Geschichte der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Hannoverscher Kurier 1932, Nr. 357 v. 2. August, 6). Dieses Duo spiegelte die Ambivalenz der Anfangszeit: Dorner war ein ausgesprochener Förderer der modernen Kunst und des Bauhauses, sein Haus hatte parallel Busch schon länger gesammelt (Stefanie Waske, Der Traum vom neuen Leben. Niedersachsen und das Bauhaus, Hannover 2019, 24-25; hagiographisch: Reinhard Spieler, Die Entwicklung des Provinzial-Museums unter Alexander Dorner, in: Karin Orchard (Hg.), RevonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912-1933, Hannover 2017, 189-203). Während Dorner 1936 ins Exil ging, gehörte Dangers seit spätestens 1930 zu den niederdeutsch-völkischen, vermeintlich „sachlichen“ Interpreten und zugleich intellektuellen Repräsentanten der Wilhelm-Busch-Gesellschaft (Walter Pape, Wilhelm Busch, Stuttgart 1977, 14; Robert Dangers, Wilhelm Busch. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1930).

Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft erreichte ihre selbstgesetzten Ziele, nicht zuletzt die Erweiterung und „einwandfreie Unterbringung“ der Sammlung (Die Eröffnung des Wilhelm-Busch-Museums und Jahrestagung 1937, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 1-14, hier 3). Die Machtzulassung der NSDAP hatte mit den Suiziden des jüdischen Vorstandsmitgliedes Otto Levin am 15. März 1933 und des Vorstandsvorsitzenden und Staatsparteipolitikers Martin Frommhold am 10. April intern gravierende Folgen (Herlt, 2005, 11-12). Doch diese halfen ihre öffentliche Position zu stärken und sich den neuen Machtverhältnissen anzupassen. Die neue Zeit schuf neue Chancen nicht zuletzt für den Erwerb neuer Objekte, der quirlige Kulturfunktionär und spätere Direktor des Wilhelm-Busch-Museums Emil Conrad (1885-1967) nahm diese wahr. Zwischen 1933 und 1945 wurden mehr als 2.200 der heutigen ca. 3.000 Busch-Artefakte erworben – und die Dokumentation von mehr als 1.250 war „auffallend ungenau und lückenhaft“ (Ruth Brunngraber-Malottke, Provenienzforschung im Wilhelm-Busch-Museum Hannover, 2013 (Ms.). Öffentlich hieß es dagegen, dass alles „sorgfältig erworben und gesammelt worden“ sei (Straßensammlung mit Wilhelm Busch, Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 4).

Die Repräsentanten der Gesellschaft erreichten ihre Ziele nicht zuletzt durch das Wohlwollen der Stadt Hannover und des Oberbürgermeisters Arthur Menge (1884-1965), eines Welfen, der auch ohne NSDAP-Mitgliedschaft 1933 im Amt blieb, zugleich als Vorsitzender der Wilhelm-Busch-Gesellschaft einsprang. Deren neues Hauptziel, die Gründung eines Wilhelm-Busch-Museums, wurde 1937 schließlich erreicht und verkörperte die Deutungshoheit über Wilhelm Busch institutionell: „Wer Wilhelm Busch sehen, ihn studieren und sich an ihm erfreuen will, der mache sich auf nach Hannover, dazu ist das Wilhelm-Busch-Museum in Hannover da“, so Walther Lampe (1894-1985), stellvertretender Vorsitzender, zugleich Vorsitzender des Heimatbundes Niedersachsen, NSDAP-Mitglied und Deutscher Christ (Jahrestagung, 1937, 10).

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Bildungsbürgerliche Weihestätte für einen Volksdichter: Einblicke in das Wilhelm-Busch-Museum Hannover (Wiener Illustrierte 59, 1940, Nr. 5, 6)

Lampe sprach für die Wilhelm-Busch-Gesellschaft als er 1938 an Buschs Todestag an dessen Grab, umgeben von Jungvolk, ausführte: „Wir müssen ihn hören, weil er das Selbstverständliche sagt, denn er sagt damit das ewig Schlichte und ewig Große seiner Weisheit. In dieser Klarheit und Selbstverständlichkeit berührt sich Busch mit dem geistigen Inhalt unserer deutschen Welt von heute, nämlich dem Nationalsozialismus“ (Gedenkfeier zum 30jährigen Todestage von Wilhelm Busch in Mechtshausen, Mitteilungen der Wilhelm-Busch Gesellschaft 1938, Nr. 8, 20-28, hier 21). Was Lampe flötete, dröhnte der Hildesheimer NSDAP-Landrat Albert Schneider deutlicher: „Die breite Masse sähe in ihm immer noch nur den Humoristen, er aber sei ein Prophet gewesen. Er habe schon vor 50 Jahren die Schäden der damaligen Zeit erkannt, er wußte um die Fäulnis in der Politik und in den Parlamenten, ihm war der Blutsgedanke vertraut, und er verwurzelte ganz in seinem Boden, auf den ihn das Schicksal gestellt“ (Ebd., 21).

Das Museum fand seinen Platz in einem im April 1936 von der Stadt an die Wilhelm-Busch-Gesellschaft übertragenen Haus am repräsentativen Rustplatz. Die Ausstellung war gediegen, präsentierte vor allem die eigenen Sammelstücke. Sie war biographisch angelegt, folgte den Orten von Buschs Leben, mündete aber nicht allein in Wiedensahl und Mechtshausen, sondern stellte auch die Größe des Meisters und die Glückwünsche zu Buschs 70. und 75. Geburtstag zusammen, um dadurch die historische Bedeutung des Namensgebers zu veranschaulichen (vgl. etwa Wilhelm-Busch-Museum. Eröffnung am 13. Juni, Hannoverscher Kurier 1937, Nr. 214 v. 11. Mai, 5; Hermann Wiebe, Busch-Museum und Fest-Theater, Bremer Zeitung 1937, Nr. 161 v. 15. Juni, 12; Hans Pusen, Wilhelm Busch: „Ich hab’n hübschen Krug“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 62 v. 3. März, 9; Und nun zu ihm selbst. Wilhelm-Busch-Museum neugestaltet, ebd. 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4). Das Museum war sicher kein „Museum für das Lachen“, als das es teils bezeichnet wurde (Bremer Zeitung 1937, Nr. 121 v. 5. Mai, 5). Es war eine neue, zentralisierte Weihestätte abseits von Wiedensahl und Mechtshausen – und Buschs erste Studienjahre am Hannoveraner Polytechnikum legitimierten nur ansatzweise den Bruch mit den mühevollen Busfahrten in die Provinz. Das Wilhelm-Busch-Museum diente der Zentralisierung der Erinnerung an einen großen Deutschen und war bildungsbürgerliches Pendant zu gängigen Zentralisierungsbestrebungen des NS-Regimes. Die Bauern trafen sich zum Erntedank am nicht fernen Bückeberg, Partei und Wehrmacht in Nürnberg, die ewige Flamme der Blutsopfer des 9. November brannte am Königsplatz in München – und Originaldrucke und Gemälde Buchs fanden nun in Hannover ihre Heimstatt. Eine „deutsche Kulturstätte, einzig in ihrer Art, […] geweiht dem Genius des großen deutschen und niedersächsischen Mannes Wilhelm Busch“ (Eröffnung, 1937, 2 (Arthur Menge)).

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Werbebesuch im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover (Bildbeobachter des Volksrufs 10, 1940, Nr. 49, 2 (l.); 3)

Die 4. Reichsstraßensammlung nutzte Wilhelm Busch im Sinne der (Hannoveraner) Bildungsbürger, im Sinne ihrer völkischen und nationalsozialistischen Deutung des Dichters. Mir fallen hierzu Zeilen eines im Sommer 1944 geschriebenes Gedicht des protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) ein: „Leidensscheu und arm an Taten, / haben wir Dich vor den Menschen verraten. / Wir sahen die Lüge ihr Haupt erheben / und haben der Wahrheit nicht Ehre gegeben“ (Nächtliche Stimmen in Tegel, in: Ders., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, 2. Aufl., München 1977, 383-389, hier 388). Entsprechende Worte hat es in der Nachkriegszeit von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft zu ihrer Busch-Deutung nicht gegeben; nicht verwunderlich angesichts einer bemerkenswerten personellen Kontinuität der Leitungskader. Stattdessen lobte man sich selbst, schwieg beredt, freute sich am neuen, das alte, in der Bombennacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 zerstörte Haus ersetzende Museum, und blickte freudig in die Zukunft (Martin Anger, 25 Jahre Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Jahrbuch der Wilhelm-Busch-Gesellschaft 1955, 7-28). Die Wilhelm-Busch-Gesellschaft war dabei in Hannover in guter Gesellschaft. Die Universität Hannover reintegrierte beispielsweise mit Konrad Meyer (1901-1973) einen der Hauptverantwortlichen des Generalplans Ost. Auch Hans Adalbert Schweigart (1900-1972), führender NS-Ernährungswissenschaftler, fand in Hannover Lehrstuhl und Heimstatt. Der NS-Hygieniker Werner Kollath (1892-1970) wurde vom Hannoveraner Unternehmer Bahlsen aufgenommen und erhielt zeitweilig Salär, nachdem seine Anbiederung an die SED in Rostock nicht erfolgreich war (nicht erwähnt in der Auftragsarbeit von Hartmut Berghoff und Manfred Grieger, Die Geschichte des Hauses Bahlsen. Keks – Krieg – Konsum 1911-1974, Göttingen 2024). Die Hannoveraner Tiermedizin wurde weiterhin vom NSDAP-Mitglied Richard Götze (1890-1955) geleitet; der kurze Einschnitt britischer Reeducation und Denazification währte nicht lange. Auch die Politik wies bemerkenswerte Kontinuitäten aus: Im dritten Landtag des neuen Bundeslandes Niedersachen lag der Anteil der NSDAP-Mitglieder 1951-1955 bei mehr als einem Drittel aller Abgeordneten (Stephan A. Glienke, Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter, Hannover s.a. [2012], 19). Selbst der „rote Welfe“, der sozialdemokratische Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961) konnte dem Land seinen Stempel aufdrücken, obwohl an sich bekannt war, dass er sich seit 1933 mit der Arisierung jüdischer Betriebe beschäftigt, dass er während des Krieges als Generaltreuhändler der Haupttreuhandstelle Ost die Germanisierung Oberschlesiens forciert hatte (Teresa Nentwig, Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, Kap. 5). Dass er die Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstützte, versteht sich von selbst.

Kampagnenbeginn: Einstimmende Artikel und erste Bilder

Doch zurück in die Weite des Deutschen Reiches. Anfang 1940 war der Krieg alltagsprägend, doch zugleich war es wie ein Leben zwischen den Kriegen. Polen war besiegt, die westlichen Teile okkupiert, Besatzungsherrschaft, Germanisierung, Umsiedlung, Raumplanungen und Ghettobildungen nahmen Gestalt an. An den Westgrenzen gab es Scharmützel während des sog. „Sitzkrieges“, Erfolgsmeldungen von See- und Luftkämpfen prägten die Titelseiten der Tageszeitungen. Im Alltag hatte man sich an die Rationierung der wichtigsten Güter und die Verdunkelung gewöhnt, kaum aber an die immense Kälte dieses Winters. Gängige Alltagsfreuden waren eingeschränkt worden, etwa der an sich Anfang Februar anstehende Karneval. Der bevorstehende reale Krieg mit Frankreich und dem britischen Expeditionskorps führte zu allgemeiner Besorgnis, denn die Härten des Ersten Weltkriegs waren noch nicht vergessen.

Das Winterhilfswerk wurde nach Kriegsbeginn in Kriegswinterhilfswerk umgetauft, der Krieg schien Anlass für vermehrte Spenden, doch zugleich ging es um eine neuartige innere Rüstung. Programmatisch betonte Reichspropagandaminister Goebbels Ende Januar 1940, dass man sich im Krieg auf „alle Kraftquellen“ besinnen müsse: „Eine solche Quelle der Kraft ist insbesondere auch die deutsche Kunst, und weil andererseits gerade die Freude den Menschen stark macht für den Lebenskampf, so darf in einer so harten, schwierigen Zeitspanne wie der unsrigen, das Lachen nicht verlernt werden, wenn wir nicht in Griesgram und Verbitterungen ersticken wollen“ (alle Zitate des Absatzes n. Pruys, Holt mir das Glas, o Seelentrost Humor!, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 3). Wilhelm Busch sei eine solche Kraftquelle, „weil er eine unerschöpfliche Quelle von Freude und Kraft den nur uns Deutschen in dieser Reinkultur eigenen Humor in noch nicht wieder erreichter Weise gleichzeitig mit Zeichenstift und Federhalter so ausgezeichnet und gottbegnadet beherrscht“. Seine Kunst sei ein „Gesundbrunnen, in dem jeder meckernde Pessimismus ertränkt werden“ könne. Man pries das befreiende Lachen, die Abkehr von Sorge und Trübsal angesichts kommender Fährnisse. „Niemand verlangt von den Menschen jetzt Luftsprünge und Freudenausbrüche. Aber man leistet heute schon viel, wenn man sich zusammenreißt und der Aufheiterung und Lebensfreude einen Spalt in seinem Innern aufläßt.“

In seiner Rede fasste Goebbels zentrale Punkte der Kampagne für die 4. Reichsstraßensammlung zusammen. Sie war sprechend, verweist aber auch auf die Grenzen ihrer Rekonstruktion auf Grundlage der damaligen Publizistik. Es handelt sich um eine Deutung der Macher, der Propagandisten, der Nutznießer, um propagandistische Selbstbeschreibungen. Unmittelbare Kommentare oder Kritik fehlen. Dennoch hat diese Analyse nationalsozialistischer Pressewerke ihren unverzichtbaren Wert. Es handelte sich erstens um zwar gebrochene, gleichwohl reale Berichterstattung. Zweitens spiegelte sie Wunschwelten der politischen (und kulturellen) Eliten. Drittens finden wir Begründungen und Erläuterungen, lernen mehr über die mit den Kampagnen verbundenen Erwartungen an die Bevölkerung. Viertens findet sich auch in der gelenkten Presse ein Widerschein möglicher Widerständigkeiten, möglicher Bruchpunkte. Und fünftens erschließen Zeitungen und Zeitschriften Alltagsbereiche von Propaganda und Konsum, die bis heute wissenschaftlich nur höchst oberflächlich untersucht wurden. Nationalsozialistische Presse ist gewiss gefährlicher Stoff. Doch präzise hinterfragt bietet ihre Analyse Erkenntnismöglichkeiten, die die gängige Selbstbeschreibung des NS-Regimes in Archivalien ganz wesentlich ergänzt.

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Stete Propaganda – veränderte Motive: Werbung für die Reichsstraßensammlungen (Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon 1939, Nr. 12 v. 25. März, 5 (l.); General-Anzeiger 1936, Nr. 96 v. 5. April, 14)

Generell standen die einzelnen Reichsstraßensammlungen für etwa zwei Wochen im Licht der Berichterstattung. Erste Berichte setzten ca. zwei Wochen vor dem Sammelwochenende ein. Der Themenkranz wurde angerissen, in verschiedenen Aspekten erörtert. Anfangs dominierten nicht Bilder, sondern Texte. Sie stammten meist aus den Bürokratien des Reichspropagandaministeriums, des Winterhilfswerkes und der NSV, wurden durch Materndienste verbreitet, setzten die Schwerpunkte, den Tenor der Kampagnen. Eine Woche vor der Sammlung wurde die Berichterstattung dann nicht nur intensiviert, sondern vor allem visualisiert. Nun nutzte man Abbildungen unterschiedlicher Art: Die Abzeichen wurden in verschiedenen Brechungen vorgestellt, hinzu traten die gängigen Plakate, kleine Bildeinsprengsel, Parolen und Erinnerungsfetzen. Diese zweite Phase war stärker dezentralisiert, neben die allüberall gedruckten Artikel traten auch lokale resp. regionale Besonderheiten – Fachleute und die einschlägigen Gau- und Kommunalämter lieferten zu. Die Redaktionen, deren Aufgaben ja auch über tägliche Presseanweisungen gelenkt wurden, hatten für einen gewissen lokalen Flair zu sorgen. Zugleich verwiesen sie jedoch auch auf Begleitpublizistik, meist einschlägige Radiosendungen. Dies mündete in eine mahnende Berichterstattung am Sammlungswochenende, in der das Opfer gefordert wurde, in dem zugleich die näheren Umstände der Sammlungen erläutert wurden. Das schloss lokale Begleitprogramme mit ein, etwa Konzerte oder Gemeinschaftsessen. Am Wochenende traten dann die Dinge, die Abzeichen und die Sammelbüchsen in den Mittelpunkt: Texte, Bilder, Dinge. Zum Abschluss gab es die Sammelergebnisse. Steigende Summen waren geboten, denn es sollte von neuen Erfolgen an der Heimatfront berichtet werden. Die Kampagnen dienten als verbindendes Band einer imaginierten und zugleich eingeforderten Not-, Sorge- und Volksgemeinschaft. Sie sollten zugleich aber auch den lokalen Zusammenhalt stärken, die Leistungsgemeinschaft vor Ort. Was als Einzelkampagne werbetechnisch gut durchdacht und konsequent umgesetzt war, dürfte die Zeitgenossen auf die Dauer jedoch auch ermüdet haben. Die WHW-Sammlungen folgten Routinen, ihr Ablauf war vorhersagbar, barg kaum Überraschungen. Entsprechend bedeutsam war die thematische Aufladung, waren die Abzeichen. Und da war Wilhelm Busch gewiss attraktiver als die soundsovielte Präsentation der Großtaten der Partei oder Hitlers. Entsprechend legten sich Bürokraten, Bildungsbürger, Journalisten und Aktivisten hier besonders ins Zeug.

Die staatliche Propaganda für die 4. Reichsstraßensammlung setzte am 20. Januar ein, also zwei Wochen vor dem Sammelwochenende des 3. und 4. Februar. Unter dem Titel „Jeder kennt Wilhelm Busch“ knüpfte man an dessen Popularität als Humoristen an. Man werde in Zukunft mehr von ihm hören, von ihm, „der still und bescheiden im ‚klimperkleinen‘ Ort Wiedensahl lebte, urwüchsiges Niedersachsentum auch in seinem Schaffen verkörpert und uns allen gerade im Ernst dieser Zeit viel zu sagen hat“ (Hagener Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 9; auch Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 17 v. 20. Januar, 5; Tremonia 1940, Nr. 20 v. 21. Januar, 7; Hasper Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Amts-Zeitung 1940, Nr. 10 v. 23. Januar, 2; Volksblatt 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 2). Lachen und Lächeln seien wichtig, um das Leben zu meistern, um sich im Alltag zu bewähren. Zwei Tage später begann der Abdruck von „Erinnerung an Wilhelm Busch“ (auch unter dem Titel „Ein guter Freund“): Wilhelm Busch sei als Kinderautor bekannt, sei aber heute dank seines „wunderbaren Optimismus“ Vorbild für Jung und Alt (Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 2; Wittener Volks-Zeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 4; Tremonia 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 3; Schwerter Zeitung 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 5; Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 19 v. 23. Januar, 4; Volksblatt 1940, Nr. 21 v. 25. Januar, 4). Busch kennzeichne eine heitere Ernsthaftigkeit, seine Werke schenkten „gerade inmitten gewaltiger Aufgaben und härtester Anforderungen die nötige Entspannung und Erholung“. Das spiegele sich in den immensen Verkaufsziffern seiner Bücher, in den Ausleihrekorden der öffentlichen Büchereien.

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Die gute alte Welt des Wilhelm Busch (Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 35 v. 4. Februar, 1)

Erst im Anschluss informierten die Zeitungen, dass bei der anstehenden Reichsstraßensammlung die Kampfverbände der Partei, also SA, SS, das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps und der NS-Fliegerkorps, just Wilhelm-Busch-Abzeichen verkaufen würden (In jeder Gemeinde wird ein Opferbuch ausgelegt, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 18 v. 22. Januar, 5). Es folgte eine nähere Beschreibung der noch nicht bildlich dargestellten Figuren: „Max und Moritz, Julchen und Adele, die fromme Helene und der Maler Klecksel, Herr und Frau Knopp, die gute Tante und der Meister Böck und schließlich der alte Bauer Nolte und die Witwe Bolte kommen wieder zu uns und rufen schöne Stunden der Erinnerung an unsere Kindheit, aber auch an manche späteren Jahre in uns wach“ (Die Kampfverbände sammeln für das WHW., Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; auch für das folgende Zitat). Die Kindheit aber sei vergangen, die heutige Zeit fordere nun ein „starkes Herz und den unerschütterlichen Willen zur Einsatzbereitschaft für unser Vaterland, das nun Mann für Mann angetreten ist, um den uns aufgezwungenen Krieg siegreich zu beenden. In diesem Kampf wollen wir kompromißlos sein wie der Niedersachse Wilhelm Busch, der seinen Weg gegangen ist, auch wenn ihn viele Feinde belächelt und bespöttelt haben.“ Sentimentalität und Prinzipientreue standen in der NS-Propaganda Seit an Seit – die Comicserie der „Familie Pfundig“ von Emmerich Huber (1903-1979) gab zeitgleich Ratschläge für den Alltag an der Heimatfront.

Entsprechend erschienen nun auch erste stimmungsvolle Begleitgeschichten: Wilhelm-Busch-Anekdoten zeichneten das Bild eines knorrigen, humorvollen und uneitlen Menschen; vorbildlich für die Kriegszeit (Fasse dich kurz!, Westfälische Neueste Nachrichten 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 10). Wilhelm Buschs Humor schien mit seinem Lachen, seinem freudigen Ja zum Leben Front und Heimat verbinden zu können (Wochenendbrief an unsere Soldaten, Westfälischer Kurier 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5). Vergessene und weniger beachtete Werke Buschs wurden kurz charakterisiert, zum Lesen ermuntert. Bei der Reichsstraßensammlung würden daher auch weniger bekannte Figuren des „lachenden Philosophen“ (Schön ist ein Zylinderhut, Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3) angeboten werden.

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Wilhelm-Busch-Abzeichen zwischen Erinnerung und Gegenwart (Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 57 v. 1. Februar, 2. Morgenbl., 9 (l.); Solinger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 3)

Am Ende der Vorbereitungswoche wurden erste Abzeichen gezeigt – die Bildvorlagen meist zentral von Scherls Bilderdienst, Presse-Hoffmann oder Zander-Klischees geliefert. Die vor Augen geführten Figuren traten ins Zwiegespräch mit den Betrachtern, Bildmontagen zeigten die Motive, zugleich aber die vermeintliche Freude der Busch-Figuren selbst (Wilhelm-Busch-Figuren werben für das Kriegs-WHW., Wittener Tageblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Sie erschienen als Geschenk, nicht aber als erwartete Zweigroschengabe an das WHW. Noch war Zeit bis zur Sammlung, ein Zwischenraum der Wonne wurde gewährt: „Wer viel arbeitet, muß auch viel Freude haben, um immer neue Kraft daraus zu gewinnen“ (Lachendes Lebensbekenntnis, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 244 v. 29. Januar, 5). Frohsinn und Ernst seien keine Gegensätze, sondern bedingten einander. Und dann tauchte auch der Meister selbst auf, als Bild inmitten seiner Schöpfungen. Nun, eine Woche vor Beginn, setzte stakkatohaft das Buschsche Versmotto der 4. Reichsstraßensammlung ein: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5; Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5; Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 6).

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Wilhelm-Busch inmitten der Abzeichen des Winterhilfswerkes (Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 2)

Der Blick auf den Nächsten erschien als Verpflichtung innerhalb der Volks- und Kriegsgemeinschaft. Opferfreudigkeit wurde eingefordert und die sammelnden Formationen der Partei würden bald lustig und froh agieren, aber „auch ihre Streiche da einzusetzen, wo man zur Mitarbeit am Kriegswinterhilfswerk mal etwas nachhelfen muß“ (Max und Moritz helfen dem WHW., Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Da verging manchem das Lachen.

Ein Volk schaffender Menschen: Die Produktion von 34,5 Millionen Abzeichen

Bevor die Sammelbüchsen schepperten, gab es jedoch noch ein propagandistisches Zwischenspiel, nämlich den vom Publikum fast schon erwarteten Blick auf die Produktion der jeweiligen WHW-Abzeichen. „Arbeit und Brot“ war eine der wichtigsten NS-Parolen, entlehnt aus dem reichen Arsenal der Arbeiterbewegung. Die Geldspenden standen für das notbrechende Brot, für die solidarische Hilfe der Volksgenossen. Doch die Abzeichen erinnerten zugleich an Arbeit als Grundbedingung völkischer Existenz und siegreichen kriegerischen Ringens. Diese Arbeit verkörperten die zahlreichen Hersteller der Anstecker, Schmuckstücke, des künstlerischen Zierrats. Von Beginn an vergab das WHW (nach eigener Auskunft) die Aufträge in wirtschaftliche und soziale Krisengebiete, bevorzugte einheimisches Handwerk und Heimarbeit. Es galt Arbeit zu schaffen, Not durch unverhoffte Zuarbeit zu wenden. Was machte es schon, dass die Aufträge nicht selten an findige Parteigenossen gingen. Auch 1940 folgte die Wilhelm-Busch-Kampagne dieser Erwartung, obwohl schon lange Vollbeschäftigung herrschte, Arbeitskräfte fehlten und die Zahl polnischer Zwangsarbeiter bald über einer Million liegen sollte. Dennoch verzichtete man noch nicht auf dieses Zwischenspiel: Arbeit und Produktion erlaubten, auch über die verarbeiteten Materialien, die Herstellungsorte, die Formgestalter und die mit Hand und Maschine schaffenden Menschen zu berichten. Der vielbeschworene „Sozialismus der Tat“ sollte dadurch Kontur gewinnen, nachvollziehbar werden (vgl. Felix H. v. Eckhardt, Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Gebrauchsgraphik 12, 1935, H. 4, 54-59).

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Beispiele für die bemalten Majolika-Figuren im Museum im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die 34,5 Millionen Wilhelm-Busch-Abzeichen wurden offiziell in zehn Betrieben in Baden, der Eifel, der Steiermark und in Hamburg hergestellt (Frankenberger Tageblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 6; Gießener Anzeiger 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Die Aufträge gingen an wenige Hauptbetriebe, die ihrerseits Subunternehmer verpflichteten. Die Zahl der Betriebsstätten lag aber schon aufgrund des hohen Anteils von dezentraler Heimarbeit höher. Charakteristisch für die Abzeichenproduktion war gering bezahlte Frauenarbeit, war ein ergänzender Nebenerwerb. Das WHW erschloss 1940 Arbeitsreserven, sorgte zugleich aber für eine Grundauslastung der während der Kriegszeit zunehmend zurückgefahrenen Konsumgüterindustrien. Die Berichte betonten paternalistisch: „Tausende von Händen hatten willkommene Arbeit, Tausende von Menschen, die mit Sorgen in den Winter gingen, lernten lächeln wie die 12 fingerhutgroßen Gesichter, die unter ihren Fingern entstanden“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4). Hervorgehoben wurde die monatelange Vorbereitung, ebenso die arbeitsteilige Produktion. Die Arbeitsfreude schien augenscheinlich, eine Referenz an den zeitgenössischen Leistungskampf der deutschen Betriebe der Deutschen Arbeitsfront, für den die „Schönheit der Arbeit“ ein wichtiges Bewertungskriterium war (Da sind sie: Zwölf Busch-Figuren, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 4).

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Ein seitlicher plastischer Eindruck der bemalten Majolika-Figuren im „Alten Pfarrhaus“ in Wiedensahl (Uwe Spiekermann)

Die Wilhelm Busch-Figuren wurden von dem Bildhauer Max Heinze (1883-1966) gestaltet, der seit 1910 in der Staatlichen Majolika-Manufaktur Karlsruhe beschäftigt war und 1939/40 die Gipsformerei leitete. Er setzte Buschs Flächenzeichnungen in etwa dreieinhalb Zentimeter hohe Reliefs um. Der Entwurf wurde in Ton modelliert, in Gips abgegossen, dann tausende von Negativgipsformen erstellt, die nicht nur in Karlsruhe, sondern auch an den anderen Brennorten genutzt wurden. Männer füllten die Formen anschließend mit Ton, prüften sie auf blasenfreie Füllung, ließen sie trocknen und brannten sie dann bei ca. 1.000 Grad Celsius. Anschließend begannen Frauen mit der Bemalung der Figuren, trugen Klebstoff für die noch fehlenden Nadeln auf. Es folgte eine neuerliche Trocknung und dann die Verpackung in Pappschachteln, aus denen während der Sammlung verkauft wurde. Die Packungen enthielten teils vollständige Serien, teils jedoch auch Figuren nur eines Charakters. Die Staatliche Majolika-Manufaktur koordinierte die Arbeit in weiteren Brennstätten in Baden-Oos, Mosbach, Kandern und Zell a.M. Die Auftragsnehmer organisierten dann die weitere Produktion vor Ort. In Durlach bedeutete das etwa die Umwandlung des Gasthauses „Zur Krone“ in eine Malstube, in der im Auftrag der Grötzinger chemischen Firma Petunia mehr als hundert Frauen die Figuren bemalten, mit einer Nadel versahen und verpackten (Durlach und die Wilhelm Busch-Abzeichen, Durlacher Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 3).

Karlsruhe hatte die Federführung, dorthin führte auch der reichsweit veröffentlichte und anschaulich beschreibende Bericht des Sonderkorrespondenten der Nationalsozialistischen Parteikorrespondenz Friedrich Karl Haas (1912-1975), seit 1931 für die Mannheimer NSDAP-Zeitung Hakenkreuzbanner tätig (An der Geburtsstätte von Max und Moritz, Der Führer 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 5; analog Wilhelm Busch in der Majolikaindustrie, Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 8; Gelsenkirchener Zeitung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 8; Aachener Anzeiger 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 3; Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 3). Dort sprach man von 300 für ein halbes Jahr zusätzlich vor Ort Beschäftigten, reichsweit waren es ca. 3.000 Arbeiterinnen. Gefertigt wurde im Stundenlohn, Sorgfalt sollte das Werk prägen, hatte dieses doch eine „künstlerische, kulturelle Sendung“, sollte sich Wilhelm Busch würdig erweisen, sei gleichsam ein millionenteiliges Denkmal. Junge und auch deutlich ältere Frauen wurden hier angelernt, in den Berichten schwangen die Schwierigkeiten mit, ehe der Pinselstrich richtig saß, ehe der Arbeitsrhythmus für die jeweiligen Einzelstriche und die einzeln aufgetragenen Farben einer Figur rasch und verlässlich funktionierte (Majolika-Manufaktur Karlsruhe maßgebend beteiligt, Badische Presse 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 8).

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Frauenarbeit in den Hamburger Werkstätten (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5)

Während in Karlsruhe die Abzeichen nur Teil einer breit angelegten Majolikaproduktion waren, bildeten sie an anderen Orten monatelang die Hauptbeschäftigung. In der Steiermark, in Mürzzuschlag, soll die dortige keramische Werkstätte die Stammbelegschaft von zweiundsiebzig Beschäftigten auf 120 Personen aufgestockt haben, hinzu kamen 390 Heimarbeiter (Fromme Helene aus Mürzzuschlag, Völkischer Beobachter 1940, Nr. 29 v. 29. Januar, 5; auch für das Folgende). Anders als im „Altreich“ nutzte man in der „Ostmark“ den Bericht, um die kürzlich einsetzende wirtschaftliche Aufbauleistung des Nationalsozialismus zu feiern. Noch vor wenigen Jahren hätte die alte Industriestadt darniedergelegen, nun sähe man „heinzelmännchenhafte Emsigkeit in Stadt und Umgebung“. Die seit 1936 vom nationalsozialistischen Sohn des alten Firmengründers Birnstingl wieder angekurbelte Keramikfirma sei dafür verantwortlich (Kleine Volks-Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 4). Voll Wonne listete man die großen Mengen dort bewegter Werk- und Rohstoffe auf, allein 3,2 Tonnen Eisen für die Nadeln, oder auch 30.000 kleine und 300 große Kartons, erforderlich für die pünktliche Herstellung der georderten 2,5 Millionen Abzeichen (Kleine Meisterstücke ostmärkischer Keramik, Neues Wiener Tagblatt 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5).

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Heimarbeit im steiermärkischen Mürzzuschlag (Völkischer Beobachter 1939, Nr. 29 v. 29. Januar, 5)

Im Norden wurden sechs Millionen Abzeichen in Wandsbek, Kiel und Schnelsen gebrannt, anschließend dezentral bearbeitet. In Hamburg präsentierten lokale Berichte dann 120 freudig singende Frauen in den Räumen der Firma Hermeneit, die dort an langen Tischen saßen. Die angelernten Kräfte arbeiteten mit einfachen, speziell entwickelten Hilfsmitteln (Wilhelm Busch in Hamburg wieder auferstanden, Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 26 v. 27. Januar, 5). Im Bericht spürt man den Zeitdruck vor Ort. Von den 800.000 für Hamburg vorgesehenen Abzeichen konnte nur 615.000 fertiggestellt werden, weitere blieben unbemalt (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 5). Die Presse kritisierte jedoch nicht die Produktionsmängel, sondern kommentierte eulogisch: Vielleicht „werden gerade diese Figürchen besonders gefragt sein, weil diese Kinder sich ein Vergnügen daraus machen werden, sie selbst zu bemalen“ (Morgen kommen sie!, Hamburger Fremdenblatt 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5). Insgesamt dominierte in der Presse der Stolz über das fertiggestellte Millionenwerk – das nun von den Käufern entsprechend gewürdigt werden sollte. Das WHW nutzte die etablierte Arbeitsorganisation weiter, noch die im Februar 1943 – just nach Stalingrad! – angebotenen 59 Millionen Kasperletonfiguren stammten neuerlich aus Karlsruhe, Hamburg, Mürzzuschlag und ergänzend aus Gmünden und Mengersgereuth (Aachener Anzeiger 1943, Nr. 26 v. 1. Februar, 3). Die Einblicke in die Arbeit sollten Lust machen auf die neuen Wilhelm-Busch-Abzeichen, die eine Woche vor der 4. Reichsstraßensammlung nun Gestalt annahmen.

Vorabpräsentation der Wilhelm-Busch-Abzeichen

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Aktivierung durch Wilhelm-Busch-Abzeichen (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14385 v. 4. Februar, 1)

Die „Wilhelm-Busch-Woche des WHW“ (Volksblatt 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 1) mündete seit dem 29. Januar in immer neue Artikel, Hinweise und Appelle, die unmittelbar vor der Sammlung ihren Höhepunkt erreichten. Parallel aber drangen die Wilhelm-Busch-Abzeichen visuell vor. Trotz der zunehmend spürbaren Papierknappheit, trotz verringerten Umfangs, trotz der insgesamt noch nicht sonderlich zahlreichen Presseabbildungen präsentierten die Zeitungen die Anstecker augenfällig: Erst schauen, dann spenden. Erst zeigen, dann appellieren.

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Die Abzeichen im Umfeld der Buschschen Bildgeschichten (Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 5)

Die Abbildungen verbanden Wilhelm Busch und seine Figuren, erlaubten schon vorher angerissene Themen zu wiederholen und zu vertiefen. Nationalstolz wurde geschürt, so wie in den zeitgleichen Ufa-Filmen über große Deutsche, indem man „Max und Moritz“ irreführend zum „heute nächst der Bibel“ meistgelesenen „Buch der Welt“ erhob (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Der Grafschafter 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Der nationalsozialistische Journalist Jan Kondring, ab 1941 Pressereferent des Reichskommissars für Altmaterialverwertung, pries Busch als Niedersachsen, der sich niemals vom Urwesen des Volkes entfernt habe, als Pionier der neuen Zeit: „Wilhelm Buschs volkhafte Bedeutung wird uns gerade in unseren Jahren volklichen, kulturellen Erwachens immer klarer“ (Zwölf Wilhelm-Busch-Figuren werden, Neue Mannheimer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 5). Der Meister sei kein Nationalsozialist gewesen, wohl aber ein Vorkämpfer für die nationalsozialistische Sache: „Nicht nur Jesuiten, Juden oder andere undeutsche Elemente, sondern alles Unwahre und vor allem Unnatürliche ist Busch verhaßt“ (Wilhelm Busch, der deutsche Künstler, Herforder Kreisblatt 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Busch mutierte zum Kritiker der wirtschaftlichen Not seiner Zeit, zum Verfechter seiner angestammten Heimat (Wilhelm Busch, Buersche Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3). Und ein solches Vorbild verpflichtete: „Wilhelm Busch marschiert an der Spitze des Feldzuges deutscher Opferbereitschaft. Er, der immer alles Deutsche tapfer und unerbittlich verteidigt hat, fordert zum deutschen Opfer auf und lehrt uns deutschen Siegesglauben“ (Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5). Man schulde ihm, aber auch den Männern im Felde, eine großzügige Gabe, würdig ihres Einsatzes (Aufruf zu der vierten Reichsstraßensammlung, Hannoverscher Kurier, Nr. 32 v. 2. Februar, 4). Und mit weniger Patina tönte es auch plump: „Im Jahre 1940 wollen wir noch fester zusammenstehen und durch ein kleines Opfer dazu beitragen, den Endsieg über die Geldsackbarone Englands und Frankreichs sicherzustellen“ (Der Führer 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 5).

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Präsentation und virtuelle Vorabauswahl der zwölf Wilhelm-Busch-Abzeichen (Die Glocke am Sonntag 13, 1940, Nr. 5, 1)

Die Abzeichen wurden präsentiert, parallel über deren Ankunft bei der lokalen NS-Volkswohlfahrt berichtet. Zahlen wurden genannt, machten die Spendenaufgabe deutlich. Und vielfach war man der Ansicht, dass „so etwas Schönes noch garnicht dagewesen“ sei. Vorfreude machte sich breit: „Am Freitag kommen die freiwilligen Helfer mit ihren Handwägelchen zur Kreisamtsleitung, um die Abzeichenpakete abzuholen, und dann kann die große Offensive der Männer aus den Formationen auf das gute Herz“ beginnen (Kein Knopfloch bleibt am Sonntag leer!, Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9). Die schönen Figuren seien Sammlerstücke, Wertsteigerungen fast sicher, der Kauf nicht nur einer Figur, sondern ganzer Serien sei ratsam (Des Rätsels Lösung, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Präsentation ohne Einordnung: Wilhelm-Busch-Figuren im Wiedensahler Museum im „Alten Pfarrhaus“ (Uwe Spiekermann)

Die plakative Freude mischte sich jedoch auch mit Anleitungen und Ermahnungen. Die Reichsstraßensammlung galt als Lebensbekenntnis, „und reif und stark werden wir als Sieger aus diesem Kriege hervorgehen, den man unserem Volk aufgezwungen hat, weil man keine Ahnung von der unzerstörbaren Lebenskraft und dem herrlichen, einmütigen Siegeswillen der Nation unter der Führung Adolf Hitlers hatte! […] Mit Wilhelm Busch packen wir froh und siegesgewiß auch jetzt wieder das Leben an – und uns, nur uns allein wird der Sieg gehören!“ (Wilhelm Buschs Auferstehung, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Die Figuren ließen Kinderaugen erstrahlen, erlaubten eine Auszeit, um „frischen Atem zu holen und dann neugekräftigt ans harte, anforderungsreiche Werk dieser Kriegszeit zu gehen!“ („Mutti, bitte – Max und Moritz!“, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 3). Wilhelm-Busch-Abzeichen standen gegen schlechte Laune und Disziplinlosigkeit, seine Werke vermittelten „kernhafte Kraft“, zeigten „wie man allezeit den Kopf oben und das starke, zuversichtliche Lachen in hellen Augen behält!“ (Ein Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 1). Die Figuren erlaubten Einkehr und Besinnung, das gemeinsame Opfer sei ein schon von Busch antizipierter „Sozialismus des deutschen Volkes“ (Falsche Wohltätigkeit, Erzgebirgischer Volksfreund 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5).

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Plakate, auch als Anzeigen verwandt (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1940, Nr. 28 v. 29. Januar, 3 (l.); Volksblatt 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 4)

Die Propaganda spielte auch leisere und ernste Töne. Lieselotte Henckel, promovierte Autorin der NS-Frauenwarte, nach dem Krieg dann einflussreiche Herausgeberin der „Filmblätter“, formulierte sinnreich und linientreu: „Wenn wir jetzt in ernsten Zeiten / Freude durch Humor bereiten, / liegt darin ein tiefer Sinn. / Fröhlichkeit regt an zum Geben, / ist im grauen Alltagsleben / guter Taten Anbeginn. // Kleine Wilhelm-Busch-Gestalten / emsig ihres Amtes walten / Lustig, pfiffig und gescheit, / werden sie im lust’gen Reigen / sich beim Winterhilfswerk zeigen. / Helfer sein in großer Zeit“ (Fröhlichkeit regt an zum Geben!, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5).

Wilhelm Busch und deutscher Humor

Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 propagierte aber nicht nur eine völkische, kriegsfreudige und opferbereite Deutung des Menschen und des Werkes Buschs. Auch Humor wurde im Sinne des NS-Regimes umgedeutet. Buschs Humor war doppelbödig, realistisch bis zur Desillusionierung. Seine Charaktere waren böse, niederträchtig und boshaft. Über das junge Julchen hieß es beredt: „Denn der Mensch als Kreatur / Hat von Rücksicht keine Spur“ (Wilhelm Busch, Humoristischer Hausschatz, 5. Aufl., München 1896, 144). Der Leser sah sie scheitern, an sich, an den Umständen. Buschs Werk plädierte für stete Skepsis, für einen illusionslosen Blick auf seine Mitmenschen. Busch wusste um die Begrenztheit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns, Strebens und auch Duldens: „Ewig an des Lebens Küsten / Wirst du scheiternd untergehn“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein, München 1909, 2). Damit war die Großsprecherei der NS-Propaganda, auch die völkische Utopie eines großdeutsch beherrschten Europas nicht in eins zu bringen. Buschs Humor musste daher umgedeutet werden.

Die NS-Propagandisten und Bildungsbürger sprachen von Humor, doch sie reduzierten ihn auf einen Appell für Mäßigung und Duldsamkeit, verstanden ihn als Grundlage für Zuversicht, als eine Ressource für Erholung und Leistungsfähigkeit: „Was uns ärgert, ist vergänglich, / aber wer da lebenslänglich / am Humor sein Herz entfacht, / der hat nicht umsonst gelacht, / wenn er Feierabend macht!“ (Wau-Wau, Humor ins Haus!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 24 v. 25. Januar, 4). Anlässlich der 4. Reichsstraßensammlung galt Humor als Lebenswürze, während der Malerdichter fast schon als moderner Candide gezeichnet wurde: „Immer aber war er zufrieden, immer vergnügt, und wenn ihn Sorgen drückten, zeichnete und schrieb er sie sich vergnügt vom Herzen“ (… sagt Wilhelm Busch, Gevelsberger Zeitung 1940, Nr. 22 v. 26. Januar, 3). Sein Humor würde „allen Dingen noch eine gute Seite abgewinnen“ (Klassiker deutschen Humors, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 23 v. 27. Januar, 1). Zugleich aber raunten die NS-Deuter vom Humor als einer eigenartigen deutschen Seelenhaltung, als Mischung von Tiefe und Tun, als „Weltanschauung, die sich zwischen Schicksal und Freiheit des menschlichen Willens in einer Schwebelage hält und darin alle Widerwärtigkeiten des Lebens geistig und tatsächlich überwindet“ (Des Rätsels Lösung, Volksblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 2). 1940 bedeutete das die Abkehr von Selbstreflektion, Eindimensionalität, kein sardonischer Ingrimm auf die eigene Führung, sondern ein Lachen „über die sture Dummheit und teuflische Bosheit unserer Feinde, die glauben, ein unter seinem Führer einiges und vertrauendes 80-Millionen-Volk besiegen und sein Reich zerstückeln zu können“ (Tante Bolte im Anmarsch auf Schwerte, Schwerter Zeitung 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3). Solcher Humor war Kriegstugend, Folgewille, verband seichte Kindheitsschwelgerei mit dem fröhlichen Aus- und Entspannen nach getaner Arbeit (Die fromme Helene am Rockaufschlag, Jeversches Wochenblatt 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3).

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Deutscher Humor, abgegrenzt und präzise gezählt (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 24 v. 29. Januar, 3)

Dieser in Buschs Schuhe geschobene Humor bedeutete Lachen und Weitermachen trotz Spendenzwang, Krieg und Sorge um die Lieben. Dieser Humor war verdammend, war Lebensgarant und Endsieggarantie. Humor „ist die beste Waffe, die man den feindlichen Gewalten des Lebens entgegensetzen kann –: die fröhliche Tapferkeit eines festen gewappneten Herzens!“ (Das fröhliche Herz, Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3). Dieser Humor war unerschütterlich, gläubig und beharrend. An sich hätte diese Diskrepanz jedem Leser, und gewiss jedem Kenner Buschs auffallen müssen. Doch nicht nur seitens der Wilhelm-Busch-Gesellschaft fehlten Rückfragen, fehlten andere Interpretationen. Sie profitierte jedenfalls von der nationalsozialistischen Aufmerksamkeitsökonomie, war Teil davon. Das reichte.

Knittelverse und Poesie: Übernahmen und Nachdichtungen

Als im August 1914 deutsche Armeen gen Westen stürmten, erreichte die deutsche Dichtkunst einen Höhepunkt. Die Zeitungen quollen über von patriotischen Reimwerken, eine hohe sechsstellige Zahl soll gedruckt worden sein. Eine solche Welle blieb 1939 aus, trotz des propagandistisch beschworenen Sieges im Osten. Die 4. Reichsstraßensammlung 1940 vertraute dennoch nicht nur auf Prosatexte und Bilder, sondern setzte auch auf Gedichte und Spricker von und nach Wilhelm Busch: „Ueberall sieht man die Tante, / wie sie Wilhelm Busch benannte. / Außerdem noch weitere Köpfe, / welche mit und ohne Zöpfe, / stellen sich mit viel Humor / für das WHW. jetzt vor“ (Hallische Nachrichten 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 5).

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Die Geste reicht: Eine Wilhelm Busch-Zeichnung dient dem Winterhilfswerk, auch Lehrer Lämpel hält die Sammelbüchse hoch (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; ebd., Nr. 33 v. 3. Februar, 4)

Die Busch-Abzeichen waren eingebettet in ein Umfeld visueller Übernahmen, visueller Umdeutungen. Ebenso bediente man sich der Verse des Dichterphilosophen. Als Motto wählte man eine Sentenz aus Balduin Bählamm, wo es hieß „Doch guter Menschen Hauptbestreben / Ist, Andern auch was abzugeben“ (Busch, 1896, 222). Das „Doch“ wurde getilgt, mal wandelte sich das „Andern“ zu anderen (Ratinger Zeitung 1940, Nr. 20 v. 24. Januar, 9; Ohligser Anzeiger 1940, Nr. 26 v. 31. Januar, 3). Was kümmerte es, dass Busch mit seinem Vers just den unstillbaren Mitteilungsdrang moderner Dichter karikiert hatte. Was kümmerte es, dass er die Sentenz 1905 wieder aufgegriffen hatte: Um eine Widmung für einen Berliner Wohltätigkeitsbazar gebeten, schrieb er: „Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern für das Andre mit“ (Wilhelm Busch, Schein und Sein. Nachgelassene Gedichte, München 1909, 68). Sich um das Andre kümmern schien ihm unbequem, menschlicher Altruismus sei eine Ausnahme. Doch nun, 1940, war er Gewährsmann für Opfer und Zwangsspende, da konnte man vermengen und verfälschen: „Guter Menschen Hauptbestreben / Ist, andern auch was abzugeben. / Mit sanftem Druck legte sie in seine / Entzückte Hand zwei größere Scheine. / Ernst und dringend folgt mir eine / Mahnung nach auf Schritt und Tritt: / Sorge nicht nur für das Deine, / Sondern auch für andere mit“ (Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 4). Entkontextualisierung, parolenhafte Verdichtung und Umdeutung kennzeichneten die Verskunst der 4. Reichsstraßensammlung 1940.

Dabei verschwammen die Grenzen zum Werbegedicht, obwohl doch die NSDAP seit 1933/34 emsig bemüht war, „nationalen Kitsch“ zurückzudrängen, Hitler und Hakenkreuz als Werbeschmuck aus dem Schaufenster des Metzgers zu verbannen. Gleichwohl nutzten die Volksgenossen die gebotene Gelegenheit. Die deutschen – explizit nicht jüdischen – Buchhändler im Gau Wien legten sich bildungsbürgernd und geschäftstüchtig ins Zeug: „Busch-Figuren ringsherum: / Max und Moritz, Plisch und Plum, / Maler Klecksel, Witwe Bolte / und der liebe Onkel Nolte, / Vetter Franz und Fromm‘ Helene, / Schneider Böck und Rektor Klöhne, / Julchen, ach und Fipps der Affe / und so mancher Geck und Laffe, / Huckebein, der Unglücksrabe / und Filuzius samt dem Stabe, / all‘ die trauten Buschiaden, / Freunde unserer Soldaten, / unsrer Kinder, unsrer Väter, / Freudenspender, jetzt und später, / Rufen Dich zum Hilfswerk auf! / Darum hemme Deinen Lauf, / kaufe eifrig die Figürchen, / trage froh sie an den Schnürchen, / kauf‘ Dir auch ein Buch dazu: / Deine Seele hat dann Ruh‘!“ (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14382 v. 1. Februar, 4)

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Reichsstraßensammlung mit Knittelversunterstützung (Alpenpost 1940, Nr. 5 v. 2. Februar, 5 (l.); Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5)

Im öffentlichen Raum wurden damals allseits bekannte Buschverse repetiert. Philologen hatten zuvor das Werk Buschs nach einschlägig nutzbaren Stellen durchforstet, selbst öffentlich kaum mehr erinnerte Verse aus Buschs erster Gedichtsammlung, der bei Kritik und Publikum durchgefallenen „Kritik des Herzens“ (1874), wurden um der Sammelsache willen herangezogen („Sorge nicht nur für das Deine…“, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 4; auch für das folgende Zitat). Auch die Wilhelm-Busch-Gesellschaft durchforstete ihre Sammlung und fand noch ein Schreiben Buschs für einen Wohltätigkeitsbasar, das sein Neffe Otto Nöldeke (1867-1948) übereignet hatte: „Zu nehmen, zu behalten / Und gut für sich zu leben, / Fällt jedem selber ein. / Die Börse zu entfalten, / Den andern was zu geben, / Das will ermuntert sein.“ All das war bemüht, vielleicht auch augenzwinkernd, doch hinter der Propagandafassade stand der Zwang zur Gabe am kommenden Wochenende: „Und wenn die Sammelbüchsen kommen, / laßt euch von Busch ein Verslein frommen: / ‚Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Sachen, welche wir nicht kriegen! / Drum lebe mäßig, lebe klug, / wer nichts gebraucht, der hat genug!‘“ (Wilhelm Busch und das WHW., Westfälische Zeitung 1940, Nr. 27 v. 1. Februar, 5). Das Versmarketing bot Abwechslung, ja Erheiterung inmitten klirrender Kälte (Ueberlistete Kälte, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 5). Poesie wurde genutzt, kommodifiziert, verschlagert. Der schöne Schein der Diktatur blinkte.

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Spendenappelle in gereimter Form (Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3 (l.); Gladbecker Volkszeitung 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3)

Durchführung und Begleitprogramm der 4. Reichsstraßensammlung

Am Freitag und Samstag, dem 2. und 3. Februar 1940, erreichte die Pressekampagne ihren Höhepunkt. Geborgte und befohlene Gefühle prägten die Publizistik. Neuerlich gab es mehrere reichsweit genutzte Zeitungsartikel mit Buschbezug und Versgehalt (Der Griff ins „Camisol“, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 32 v. 2. Februar, 3; analog Völkischer Beobachter 1940, Nr. 32 v. 1. Febr., 6; etc.). Nun dominierte der freundlich verbrämte, auf den Kauf und das Opfer zielende Appell, typisch dafür war ein von Herbert Winkelmann, dem Leiter der Berliner Ortsgruppe der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, verfasster Artikel mit dem vielfach variierten Titel „Wilhelm Busch sammelt für das Kriegswinterhilfswerk“ (Kreisbote 1940, Nr. 2126 v. 2. Februar, 2; analog Badische Presse 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6; Westfälischer Kurier 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 5; Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 1). Parallel fanden sich nun überall kleine Verweisbilder der Busch-Figuren, mal mit, mal ohne Reime, mal die Tonfiguren, mal die Buschzeichnungen. All das war reichsweit koordiniert, doch zunehmend dominierte das Geschehen vor Ort.

30_Glocke_C_1940_2_1_Nr31_p3_Kattowitzer Ztg_1940_2_3_p7_Wilhelm-Busch_WHW_Reichsstrassensammlung_Abzeichen_Maler-Klecksel_Julchen_Helene_Tante

Gemeinsame Motive im Großdeutschen Reich (Die Glocke – Ausg. C 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 3 (l. o.); Kattowitzer Zeitung 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 7 (r. o.); Lodscher Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 12 (l. u.); Sächsische Elbzeitung 1940, Nr. 28 v. 2. Februar, 3)

Sechs Punkte sind dabei hervorzuheben. Erstens führte die Präsenz der uniformierten Parteiformationen – neben SA, SS, NSKK und NS-Fliegerkorps sammelten lokal auch der NS-Reichskriegerbundes oder der Reichsbund Deutscher Beamter (Rheinisch-Bergische Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 5; Das Kleine Volksblatt 1940, Nr. 31 v. 31. Januar, 11) – den Krieg und den Ernst der Lage wieder plastisch vor Augen: „Jeder Groschen, der in die Sammelbüchse wandert und jedes Abzeichen, das erworben wird, sind Zeichen des gemeinsamen Abwehrwillens und des Dankes zugleich für diejenigen Kämpfer, die draußen an der Front zu Lande, zu Wasser und in der Luft die deutsche Heimat beschützen“ (Heute geht’s los!, Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 32 v. 3. Februar, 6). Wilhelm Busch lehre ein Leben in „heldischem Gleichmut“ (Gestern und heute, Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 7); und dieser sei nötig angesichts neuer Aufgaben des Kriegswinterhilfswerkes, etwa der Betreuung von Umsiedlern im just neu errichteten Reichsgau Wartheland, der Sorge um die Evakuierten an der Westgrenze, der Unterstützung von Kriegerwitwen und -waisen, der Pflege einer wachsende Zahl von Kriegsverwundeten und -versehrten (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Die uniformierten Sammelformationen erinnerten aber auch an den Krieg als Grundzustand menschlicher Existenz, handelte es sich doch um eine Sammlung alter Kameraden, die einst im Waffenrock ihre Pflicht getan hatten, die nun die Heimatuniformen des Nationalsozialismus trugen, in der Hand die „Waffe der Heimat: Die Sammelbüchse des Kriegs-WHW.!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3)

Der Ernst der Lage mündete zweitens in eine neue Erwartungshaltung an die Spender. Für jeden Soldaten einen Groschen mehr, hieß es. Eigene finanzielle Probleme seien unwichtig, müssten überwunden werden – auch Wilhelm Busch habe seine Sehnsucht auf eine große Malerkarriere einst fallen gelassen und sei doch ein großer Deutscher geworden (Der heitere Philosoph, Altenaer Kreisblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2). Noch hieß es drängend wie in Friedenszeiten: „An allen Mänteln, Anzügen, Paletots oder Kleidern werden am Samstag und Sonntag die schönen Abzeichen der Kriegs-WHW. baumeln“ (Münstersche Zeitung 1940, Nr. 34 v. 3. Februar, 7). Doch der Krieg erforderte mehr, ein neues Bekenntnis, noch lauter, noch deutlicher, nun erst recht. Das sei eine Antwort an das feindliche Ausland, auf den Hass gegenüber dem „sozialistische[n] Deutschland […], das alle Klassengegensätze überwunden und sich zu einer geschlossenen und unzertrennbaren nationalen Einheit zusammengefunden“ habe (F.W. Schulze, Der Kreis Olpe marschiert!, Sauerländer Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3). Das Opfer sei ein Bekenntnis zum wehrhaften Volk, zum Krieg. Der Einzelne solle beweisen, dass er „bereit ist zum Opfer, zum deutschen Freiheitskampf und zum festen, unerschütterlichen Glauben an den Sieg, der einzig und allein uns gehört!“ (Alles für Deutschland!, Die Heimat am Mittag 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 3) Die Sammlung sei ein Plebiszit: Sag mir, wo du stehst. Abseitsstehende Volksgenossen gäbe es immer noch, solche die sich nicht einreihen wollten: „Wie schade ist es da, daß wir nicht einmal Max und Moritz sein können und diesen Menschen ohne Gemeinschaftssinn und ohne Humor den wackligen Stieg, über den sie laufen, einmal so ansägen können, daß sie ins Wasser plumpsen. Das würde eine Freude und ein Spaß sein, aber leider, leider geht das nicht“ (Max und Moritz setzen sich durch, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 2). Das von der Dorfgemeinschaft einhellig begrüßte Ende der beiden jugendlichen Abweichler in Buschs Bildgeschichte warf drohend ihren Schatten voraus. Rasch eine Figur kaufen…

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Ankunft und Verteilung der Schachteln mit dem Wilhelm-Busch-Abzeichen (Westfälische Landeszeitung 1940, Nr. 30 v. 31. Januar, 9)

Drittens war der Samstag, der erste Sammlungstag, der Tag der zielgerichteten Poesie. Falls Sie noch Beispiele ertragen können: „Max und Moritz, Witwe Bolte, / Knopp, die knusprige Adele, / Maler Klexel [sic!], Onkel Nolte / Und Helenes fromme Seele. // Vierunddreißig Millionen / Bunter Wilhelm-Busch-Figuren. / Die in kleinen Kästen wohnen, / Heften sich an deine Spuren. // Locken dich zur Klapperdose. / Wähle möglichst viel von ihnen, / Und dann hast du die famose / Reihe für dein paar Zechinen. // Suche nicht vorbei zu huschen, / Wenn ein Sammler in der Näh, / Schmücke dich mit Wilhelm Buschen, / Und du hilfst dem WHW!“ (Neueste Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 2) Kleingeld wurde besungen, als Taschenfeind beschrieben – erst im Sammelgrund würde es seiner wahren Bestimmung zugeführt (Wilhelm Busch würde sagen, Westfälisches Volksblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5).

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Busch-Figuren beim Sammeln: Hannover und Berlin (Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 4 (l.); Der Grafschafter 1940, Nr. 31 v. 6. Februar, 4)

Max und Moritz starteten zu neuen Streichen, wurden verfolgt, gefasst – und ans Revers geheftet (Max und Moritz, Münsterischer Anzeiger 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 3). Doch auch die Racker waren alt geworden, denn andernorts entsagten sie der Lust am Chaos, fügten sich ein in die Sammelkolonnen: „Münzen kommen – wie sie sollen – / dabei ganz von selbst ins Rollen, / in die Büchs‘ hinein, husch-husch! / Droben freut sich Wilhelm Busch“ (Max und Moritz wieder da, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 33 v. 3. Februar, 4). Und auch der alte Meister grüßte schließlich mit zielgerichteter Poesie: „So hat des Schicksals freundlich Walten / auch meinen heitern Spottgestalten / nun einen schönen Sinn geschenkt, / indem mit ihnen voll behängt / heut jedermann einher wird schreiten, / zum Zeichen, daß die ernsten Zeiten / auch seinen Opfersinn erhöht, / was sich ja ganz von selbst versteht“ (Murtaler Zeitung 1940, Nr. 5 v. 3. Februar, 2). Der Trubel konnte nun seinen Lauf nehmen.

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So wird es kommen: Vorabsimulation der 4. Reichsstraßensammlung (Der Grafschafter 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 6)

Viertens zeichneten die Tageszeitungen die Sammlung als ein Volksvergnügen. Am kriegsbedingt verbotenen Karnevalwochenende schien der Frohsinn ein Ventil zu finden. Doch wir müssen hier kurz innehalten, Distanz wahren. All das passierte, doch es war zugleich eine Inszenierung, über dessen präzise Gestalt wir kaum etwas aussagen können. Wir wissen, dass es an diesem Wochenende klirrend kalt war, dass die Versorgung durch massiven Frost, fehlende Treibstoffe und requirierte Fahrzeuge beträchtlich erschwert war: „Der Wind fegte durch die Straßen. Die Kälte trieb alle Straßenpassanten zu großer Eile an“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Handschuhe, warme Kleidung, Schals und Hüte waren unverzichtbar für den Gang nach draußen; und man schrieb zurecht von der kältesten aller bisherigen Reichsstraßensammlungen (Flott, aber kalt, Bremer Zeitung 1940, Nr. 34, v. 4. Februar, 5).

Dennoch spiegeln die Zeitungsberichte die Sammlung selbst und die Art der sie umrahmenden Angebote. Kaum erwähnt wurden dagegen die Haussammlungen, denn in den Zeitungen galt es die Opfergemeinschaft in Aktion zu zeigen, das sich selbst helfende Volk. Die SA lockte mit Feldküchen, in denen eine „kräftige Fleischbrühe“ brodelte (Viel Freude mit Wilhelm Busch!, Westfälische Zeitung 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). Wärmende Getränke gab es, doch angesichts offizieller Genussgiftdiskussionen wurde darob kaum berichtet. Jugendliche hatten, schulisch unterstützt, vielerorts Bilder gemalt und trugen Gedichte vor. Mobile Kinos wurden errichtet, auch Schießstände (Im Zeichen Wilhelm Busches, Illustriertes Tageblatt 1940, Nr. 29 v. 3. Februar, 5). An vielen Orten gab es militärische Schauübungen (Gelsenkirchener Anzeiger 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 3), Platzkonzerte, meist Marschmusik, kaum Schlager. Volkslieder wurden intoniert, die alten Weisen, aber auch “Wir fahren gegen Engelland“ (Großer Erfolg der WHW-Sammlung, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 64 v. 5. Februar, Morgenbl., 2; Ratinger Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 1). Manche Orte präsentierten Militariaschmankerl, so etwa die auf dem Dresdner Altmarkt aufgefahrenen tschechischen Geschütze, die ebenso wie Skoda-Panzer ein wichtiger Bestandteil des deutschen Aufmarsches im Westen waren (Kanonen auf dem Altmarkt, Dresdner Nachrichten 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 4).

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Tschechische Geschütze auf dem Dresdner Altmarkt (wo in der zweiten Februarhälfte 1945 fast 7.000 Bombenopfer auf Scheiterhaufen verbrannt wurden) (Dresdner Neueste Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 4)

Häufiger als bei früheren Sammlungen wurden die „Spähtrupps der Gebefreudigkeit“ (Wilhelm Busch an der Mantelklappe, Badische Presse 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 7) von kostümierten Gesellen unterstützt, häufig sammelten als Buschfiguren verkleidete Ehrenamtler (Max und Moritz, höchst persönlich, Aachener Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3).

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Karneval verboten – doch Witwe Bolte schenkt in Neuwaldegg aus und zwei junge Stuttgarterinnen spielen Max und Moritz (Der Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 3 (l.); Stuttgarter NS-Kurier 1940, Nr. 34 v. 4. Februar, 5)

Fünftens erschienen nun auch erstmals die Käufer und Sammler, wenngleich in vorhersehbarer Weise. Sie erfreuten sich an den allseits belobigten Abzeichen, schmückten damit Mäntel, Hüte, Kappen. Wie üblich, war schon am Samstag vom „Abzeichenerfolg“ die Rede. Der Verkauf hatte vielfach nämlich schon am Freitag begonnen, insbesondere Sammler sicherten sich vorab ganze Serien – die Schachtel für 3,20 RM. Am Samstagmorgen waren viele der bekannteren Figuren bereits ausverkauft. In Frankfurt a.M. hatte man mittags alle 250.000 Abzeichen abgesetzt, seit dem Nachmittag gab es lediglich noch Ersatzabzeichen und Postkarten (Fromme Helene – stark begehrt, Frankfurter Zeitung 1940, Nr. 29 v. 4. Februar, 2. Morgenblatt, 3). Die Folge war ein reger Tauschhandel: „‚Geben Sie mir noch mal Herrn Knopp und Schneidermeister Böck‘ oder: ‚Haben Sie noch das ‚Julchen?‘“ (Nochmal Herr Knopp!, Hannoverscher Kurier 1940, Nr. 35 v. 5. Februar, 4). Immer wieder wurde über komplett dekorierte Mäntel berichtet, über ausverkaufte Sammeltrupps (Mit Max und Moritz ins Wochenende, Bergische Post 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Und zugleich hoffte man auf neue Rekordergebnisse.

Sechstens gilt es noch an das kulturelle Begleitprogramm zu erinnern. Da waren zum einen die schon vorher, auch dank der Wilhelm-Busch-Gesellschaft, immer wieder stattfindenden Lichtbildreihen, die zu Jahresbeginn häufig dem Erscheinen von „Max und Moritz“ im Jahre 1865 gewidmet waren (Stolzenauer Wochenblatt 1940, Nr. 5 v. 6. Januar, 3; Solinger Tageblatt 1940, Nr. 9 v. 11. Januar, 5). Lokale „Kraft durch Freude“-Gruppen und das Deutsche Volksbildungswerk der DAF führten Wilhelm-Busch-Abende durch, luden Rezitatorinnen wie etwa Thea Leymann ein, eng verbunden mit der Folkwang-Schule in Essen (Heitere Buschabende, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 21 v. 22. Januar, 1; Freude hilft den Sieg erringen, National-Zeitung 1940, Nr. 25 v. 30. Januar, 6). Viele weitere Kulturabende schlossen sich an, etwa mit dem Freiburger Sprecherzieher Walter Kuhlmann (1906-1988) (Wilhelm Busch – Meister der Lebenskunst, Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 35 v. 3. Februar, 1).

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Die rote Sammelbüchse des Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt im Museum Hameln und im Einsatz (Uwe Spiekermann (l.); Tremonia 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

All das nährte seinen Mann, seine Frau. Größere Reichweite hatte zum andern der Rundfunk, der im Vorfeld der 4. Reichsstraßensammlung gleich mehrere Auftragsarbeiten ausstrahlte. Der eng mit der Wilhelm-Busch-Gesellschaft verbundene Schriftsteller Hans Balzer (1891-1960) schrieb das Hörspiel „Wilhelm Busch“, in dem dessen Leben von den eigenen Figuren erzählt wurde (Aachener Anzeiger, Nr. 27 v. 1. Februar, 4; Münstersche Zeitung 1940, Nr. 40 v. 9. Februar, 5). Deutlich aufwändiger war das musikalische Hörspiel „Tack, tack, tack, da kommen sie!“ des Reichssenders Hamburg. Unter der Regie von Günther Bobrik (1888-1957) und komponiert von Walter Girnatis (1894-1981) und Helmut Wirth (1912-1989) traten die zwölf mit Abzeichen geehrten Busch-Figuren auf, um die allgemeine Sammelpropaganda zu unterstützen (Max und Moritz, Tremonia 1940, Nr. 29 v. 30. Januar, 3; Bremer Zeitung 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 5; Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 31 v. 1. Februar, 6). Das waren arrivierte NS-Künstler, Giratis hatte nur kurz zuvor die DAF-Fanfare „Freut euch des Lebens“ geschaffen. Wilhelm Busch war für sie Broterwerb. Auch andere Sender sprangen auf den Propagandazug, etwa der Reichssender München mit „Klingt der Name Busch ans Ohr, heißt das Lachen und Humor“ und der Reichssender Wien mit einem vom Maler Klecksel verantworteten Bunten Abend (National-Zeitung 1940, Nr. 30 v. 30. Januar, 3; St. Pöltner Bote 1940, Nr. 5 v. 1. Februar, 6). Da konnte der Deutschlandsender Berlin nicht fehlen und präsentierte Gotthard Wlokas „lustige Sendung“ „Eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit..“ (Das Kleine Radio Blatt 7, 1940, Nr. 5, 9; Volksfunk 1940, 30).

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Augenfang und Sammlungszwang (Bochumer Anzeiger 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3 (l.); Innsbrucker Nachrichten 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 3)

Kleine Beiträge für den „Endsieg“: Ergebnisse des Kriegswinterhilfswerkes

Am Ende der zweiwöchigen Kampagne herrschte Zufriedenheit. Am Rosenmontag, dem 5. Februar 1940, fanden sich in fast allen Zeitungen Erfolgsmeldungen: „Von dem Erfolg hätte sich Meister Busch wahrlich nicht träumen lassen! Bielefeld glich – mit einiger Phantasie gesehen – in diesen Sammeltagen einem großen aufgeschlagenen Busch-Album“ (Westfälische Zeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). Gezeichnet wurde ein heroisches Gemälde. Spendenunwilligkeit gab es, wurde aber gebrochen. Die Abzeichen wurden sämtlich verkauft. Die Heimatfont stand, die Erträge erreichten neue Rekorde. Die Meldungen waren austauschbar, bestanden aus fast identischen Textbausteinen, waren jedoch lokal koloriert worden. Stolz hieß es: „Ein Sieg bei einer Sammlung ist auch eine gewonnene Schlacht“ (Ostfriesische Tageszeitung 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 7). Solche Siege waren wichtig angesichts der unsicheren Lage inmitten des Krieges, zwischen den Kriegen. Solche Erfolgsmeldungen waren aber auch notwendig, um dem Einzelnen die Aussichtslosigkeit grundsätzlicherer Kritik, gar von Devianz und Widerstand deutlich zu machen. Der Sieg der Sammlung bestätigte die zahlende und mitmachende Mehrzahl, mobilisierte für die Ziele des Regimes: „Die Kampfformationen der Bewegung […] schlugen ihre letzte Schlacht im lustigen Abzeichen-Krieg und meldeten von allen Fronten Erfolge auf Erfolge, so daß der Endsieg nun gesichert ist“ (Hamburger Fremdenblatt am Montag 1940, Nr. 6 v. 5. Februar, 2).

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Belobigung und Vorbild: Heinz Hopfer, der Spitzensammler im niederösterreichischen Kaltenleutgeben (Illustrierte Kronen-Zeitung 1940, Nr. 14392 v. 11. Februar, 13)

Ergebnisse tröpfelten ab dem 5. Februar ein, doch Zahlen wurden nur lokal aufgelistet: 3.000 RM in Hilden, alle 7.500 Abzeichen „restlos abgesetzt“ (Rheinisches Volksblatt 1940, Nr. 30 v. 5. Februar, 5). In Olpe 10.552,32 RM, alle 20.000 Abzeichen verkauft (Beobachter für das Sauerland 1940, Nr. 36 v. 6. Februar, 2). Aggregierte Daten fehlten, doch es galt als ausgemacht, dass die Reichsstraßensammlung die bisherigen Ergebnisse weit in den Schatten gestellt hatte. Die eingangs schon erwähnten, jährlich veröffentlichten Gesamtergebnisse des Winterhilfswerkes bestätigten dies.

Zwei Wochen Sammlungspropaganda, doch das war nun alles kein Ereignis mehr: „Die Front kämpft – die Heimat aber opfert und schweigt“ (Oldenburger Nachrichten 1940, Nr. 44 v. 14. Februar, 5). Die nächsten Sammlungen liefen an, die Propagandisten blickten nach vorn. Aus dem just germanisierten Lodsch hieß es, „liebe Lodscher: beim nächstenmal wir [sic!] noch mehr gegeben – auch wenn es nicht gerade Wilhelm Buschs Figuren sind, die werben werden. Niemals für etwas, sondern immer nur um der Sache willen geben“ (Max und Moritz halfen, Lodscher Zeitung 1940, Nr. 39 v. 8. Februar, 4). Die 5. Reichsstraßensammlung am 2. und 3. März kreiste bald schon „Rund um den Dorfteich“. Die neuen Glasabzeichen stammten aus dem Sudentengau und würden „schnell ihre Käufer gefunden haben“ (Hamburger Tageblatt 1940, Nr. 57 v. 27. Februar, 6). Das nächste Rekordergebnis lockte.

Nationalsozialismus und Dichtererbe

Und Wilhelm Busch? Er wurde weiter geehrt, doch auf deutlich kleinerer Flamme. Die Zahl der Kulturabende sank schnell, auch wenn die schwer messbare Popularität des Malerdichters gewiss gewachsen war, wie die gestiegenen Mitgliedszahlen der Wilhelm-Busch-Gesellschaft unterstrichen. Manche Busch-Freunde sahen im Widerhall aber auch Bestätigung für ihren Eigensinn. General Friedrich von Rabenau (1884-1945) freute sich an den Abzeichen, war jedoch skeptisch, ob diese Präsentation dem aus seiner Sicht größten deutschen Philosophen nach Kant gerecht geworden sei (Von Geist und Seele des Soldaten, 162.-177. Tausend, Berlin 1941, 18). Buschs Humor, seine Kunst, die Wahrheit im Scherz zu sagen, sei den Deutschen nach 1918 abhandengekommen. Als Mitwisser des 20. Juli wurde Rabenau im KZ Flossenbürg erschossen.

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Wilhelm Busch gegen Winston Churchill: Propagandakarikatur (Ostmark-Woche 8, 1940, Nr. 29, 5)

Die nationalsozialistische Propaganda spielte in der Folgezeit immer mal wieder mit der neu geschaffenen Popularität Wilhelm Busches und seiner Werke. Seine Deutung als völkischer Seher erlaubte derbe Hiebe und damals gängige Hetze.

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Mit Wilhelm Busch den deutschen Bombenkrieg bemänteln (Hamburger Illustrierte 1941, Ausg. v. 18. Oktober, n. 260)

Ein Beispiel hierfür waren die beiden vom NS-Zeichner Wolfgang Hicks (1909-1983) Ende 1941 „nach Wilhelm Busch“ erstellten Comicserien „Win und Franklin“ und „Die fromme Elene“ (Carol Galway, Wilhelm Busch: Cryptic Enigma, PhD Waterloo, Ontario 2001, 258-265). Max und Moritz sowie die fromme Helene standen Pate für Hetze gegen Winston Churchill (1874-1965), Franklin D. Roosevelt (1882-1945), seiner Gattin Eleanor Roosevelt (1884-1962) und Stalin (1878-1953). Hicks zeichnete auch andernorts, etwa antisemitische und antibolschewistische Karikaturen für die „Wacht im Westen“ (Wolfgang Hicks – Lambiek Comiclopedia). Als späterer Karikaturist von Stern, Zeit und dann insbesondere der Welt führte er seine Mission unverdrossen weiter, so seine Kritiker (Politische Karikaturen | NDR.de – Fernsehen – Sendungen A-Z – Panorama – Sendungsarchiv – 1968). Er war einer der vielen NS-Karikaturisten, die in der Bundesrepublik Deutschland die politischen und humoristischen Bildwelten mit prägten. Das von der Wilhelm-Busch-Gesellschaft heute weiter als „Deutsches Museum für Karikatur & Zeichenkunst“ betriebene Wilhelm-Busch-Museum könnte mit der Aufarbeitung dieser Geschichte eine wichtige Aufgabe übernehmen.

Uwe Spiekermann, 21. September 2024

Eine zerbrochene Heimat: Ruth Gröne auf den Spuren ihrer Kindheit in Boffzen

Anlässlich des 90. Geburtstages von Ruth Gröne haben Stefanie Waske und ich aus dem folgenden Text und weiteren Bildern ein Video zusammengestellt, so dass Sie nicht allein lesen, sondern auch hören und sehen können:

„Hüte Dich – Und bewahre Deine Seele gut, dass Du die Geschichte nicht vergisst, die Deine Augen gesehen haben. Und dass sie nicht aus Deinem Herzen komme, Dein Leben lang – und tue sie Deinen Kindern kund“ (Lesung: Sachor! – Erinnere Dich! Aus dem Leben der jüdischen Hannoveranerin Ruth Gröne – YouTube). Diese jüdische Weisheit stand am Ende eines Grußwortes der am 5. Juli 1933 in Hannover geborenen Ruth Ester Julie Gröne, geb. Kleeberg, anlässlich einer Lesung ihrer von Anja Schade verfassten Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“. Diese Erinnerung kreiste ihr Leben lang um den Ort der heutigen Gedenkstätte Ahlem, um die Erinnerung an ihren 1944 verhafteten und 1945 nach Internierung in Ahlem, Neuengamme und Sandbostel an Torturen und Typhus gestorbenen Vater Erich Kleeberg. Ruth Gröne lebte in der zu einem „Judenhaus“ umgewandelten früheren Israelitischen Gartenbauschule Ahlem seit der Ausbombung 1943 zuerst mit ihren Eltern, dann allein mit ihrer protestantischen Mutter Maria. Für ihr beherztes Engagement, ihre beharrlichen, bohrenden und vielfach erfolgreichen Rückfragen an Verwaltungen, Parlamente, Regierende und Firmen wie die Continental AG hat sie in den letzten Jahren zahlreiche Ehrungen erhalten, darunter 2017 den Theodor-Lessing-Preis. Dessen 1919 erschienenes Hauptwerk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ beinhaltet bis heute dringliche Rückfragen an unseren Umgang mit Vergangenheit, warnt vor der menschlichen Grundneigung des Umbiegens der eigenen Geschichte. Ruth Gröne hat ihre Geschichte immer wieder erzählt, mochte sie auch nicht kommod sein, gegen bequemes Vergessen stehen.

Ruth Grönes Erinnerung war immer eine des Verlustes, des unbegreiflichen und sinnlosen Verlustes ihres Vaters, ihrer in Riga ermordeten Großeltern Frieda und Hermann Kleeberg, ihrer Tante Martha Kleeberg, geb. Heimbach. Sie war immer auch die Geschichte einer zerbrochenen Kindheit, durchfurcht von nicht zu kontrollierenden, nicht einzuhegenden Mächten. Diese Kindheit ist eng mit dem kleinen Weserort Boffzen verbunden, bekannt durch Wilhelm Raabes Beschreibungen, bis heute geprägt von der dortigen Glasindustrie. In Boffzen wurde Erich Kleeberg geboren, hier stand das Haus der Großeltern, die dort eine Schlachterei, eine Viehhandlung betrieben. Dort traf sich die Verwandtschaft, dort erkundete auch die kleine Ruth das Haus, den Innenhof, die Nachbarschaft.

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Die kleine Ruth auf dem Schoß ihrer Großmutter, im Kreise der Familie Kleeberg, Boffzen 1934 (Archiv der Samtgemeinde Boffzen)

Boffzen war und blieb ein wichtiger Teil der Erinnerung Ruth Grönes. Sie war geprägt von kindlichem Entdecken und Erkunden, von dem Grundvertrauen, dass die Welt gut sei, voller Wunder. Doch Boffzen stand auch für die Vertreibung dieser und anderer Familien, für den erzwungenen Verlust einer bis ins 18. Jahrhundert zurückreichenden jüdischen Gemeinschaft. 1939 kamen die Großeltern nach Hannover, fanden Herberge bei ihrem Sohn Erich, seiner Frau Maria und ihrer Tochter Ruth. Sie hatten zuvor ihr Geschäft in Boffzen schließen, Haus und Grundstück verkaufen müssen. Zu fünft lebten sie in einer 2-Zimmer-Wohnung, dann ab 1941 in einem „Judenhaus“, wurden dann getrennt, die Großeltern vor Weihnachten deportiert.

Ruth Gröne ist seit 1966 mehrfach nach Boffzen gefahren, an den Ort ihrer Kindheit, hat dort Kontakte geknüpft, sich entwickelnde Freundschaften gepflegt. 1988/89 wurde sie, aber auch ihre ins britische und US-amerikanische Exil gezwungenen Verwandten, Onkel Walter (Clay, geb. Kleeberg) und Tante Ruth (Kolb, geb. Kleeberg) von der Gemeinde Boffzen eingeladen, 2006 auf Ruth Grönes beharrliches Drängen hin ein Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung errichtet. Weitere Besuche folgten – und bei dem letzten fühlte sich die Hannoveranerin nicht mehr willkommen geheißen. Der Bürgermeister hatte für sie keine Zeit, der Verwaltungsvertreter war auf den Besuch nicht vorbereitet, nicht einmal auf den jüdischen Friedhof begleitete man den Gast.

Anja Schades Biographie „Sachor! – Erinnere Dich!“ veränderte dies. Ruth Gröne war häufiger Gast im Niedersächsischen Landtag, bei Landtagspräsidentin Gabriele Andretta. Deren persönliche Referentin, Stefanie Waske, stammte aus Boffzen, hatte das Buch gelesen, sprach nicht nur mit der Zeitzeugin, sondern auch mit ihrem Vater Walter Waske, früherer Landrat des Landkreises Holzminden, in Boffzen weiter kommunalpolitisch aktiv. Er nahm den Kontakt auf, Besuche folgten, Überzeugungsarbeit in Boffzen, schließlich erfolgte eine von allen Gemeindevertretern getragene Einladung. „Der erzwungene Verlust 1931-1938. Boffzen erinnert sich seiner jüdischen Nachbarn“ war der Titel einer am 19. November 2022 durchgeführten Gedenkveranstaltung. Sie war wichtig, zumal für die Bürger Boffzens. Doch für Ruth Gröne war sie nur Teil einer neuerlichen Rückkehr an den Ort ihrer zerbrochenen Kindheit.

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Besuch im Jacob Pins Forum Höxter: Fritz Ostkämper erzählt von der Geschichte dieses Erinnerungsortes an die vertriebenen und ermordeten Höxteraner Juden (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Reise nach Boffzen und in die eigene Vergangenheit begann in Höxter. Dort besteht seit 2008 das Jacob Pins Forum, ein Ort der Erinnerung an den gleichnamigen, aus Höxter stammenden jüdischen Künstler. Das in einem alten umgestalteten Adelshof liegende Forum ist heute Veranstaltungsort für Konzerte, für Ausstellungen, dort kann man wichtige Werke von Pins sehen. Doch im Obergeschoss gibt es auch zwei kleine, erst jüngst umgestaltete Räume, die an die jüdische Geschichte in Höxter erinnern. Der langjährige Vorsitzende der Jacob Pins Gesellschaft, Fritz Ostkämper, der sich auch als Forscher zur jüdischen Geschichte Höxters und der Region einen Namen gemacht hat, präsentierte Ort und Ausstellungen, erzählte auch über Familien im Umfeld der Kleebergs.

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Letzter Testlauf: Walter Waske in der bereits von den Helferinnen der Arbeiterwohlfahrt und den Landfrauen eingedeckten Mehrzweckhalle (Foto: Uwe Spiekermann)

In Boffzen waren derweil die Vorbereitungen abgeschlossen. Die Mehrzweckhalle war geputzt, von Gemeindearbeitern bestuhlt worden, einhundert Bürger hatten sich zur Gedenkveranstaltung angemeldet. Die „üblichen Verdächtigen“, die verlässlichen Frauen der Arbeiterwohlfahrt und auch der Landfrauen, hatten dem Raum ein freundlicheres Ambiente gegeben, die Technik war aufgebaut und wurde nochmals überprüft. Boffzen war bereit für seine Gäste, Ruth Gröne übernachtete im Hotel „Alte Post“ in Boffzen – Anfang der 1930er Jahre ein Treffpunkt der lokalen NSDAP, heute von der Familie Winnefeld mit frischem Engagement betrieben. Angesprochen auf diese Geschichte, antwortete Ruth Gröne mit lapidar-ernstem Mutterwitz: „Die sind ja schon tot.“

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Aufbruch im Hotel „Alte Post“: Ruth Gröne mit Boffzens Bürgermeisterin Gudrun Raßmann (Foto: Stefanie Waske)

Der Rundgang durch Boffzen begann am Samstagmorgen. Dieses Mal nicht allein, sondern in einer großen Gruppe. Anja Schade war dabei, Bürgermeisterin Gudrun Raßmann begrüßte im Namen der Gemeinde Boffzen, ebenso als Gemeinderatsmitglieder Manfred Bues, Manuela Püttcher und Walter Waske. Nachbarn und alte Bekannte, wie Karl-Heinz Göhmann, waren zugegen, vertieften auch ihre Erinnerungen an Boffzen, an die bis heute bedrückende Verfolgungsgeschichte. Der Weg führte durch die U-förmige Straße „Im Winkel“, in deren Mitte einst die Gemeindeverwaltung und die Polizei lag. Im Ortsmund hieß sie nach dem Krieg „Judengasse“, denn hier hatte eine Reihe jüdischer Familien gelebt, nicht nur die dann während der NS-Zeit ins Exil vertriebene Familie Lebenbaum.

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Gang durch das Dorf: Walter Waske erzählt von der Ortsgeschichte (Foto: Stefanie Waske)

„Im Winkel“ lag auch das kleine Gebetshaus der jüdischen Gemeinschaft. Ruth Gröne hat dieses nicht mehr besucht. Doch die Runde stimmte ein auf das erste Ziel, das Haus ihrer Großeltern in der Oberen Dorfstraße, Teil der Hauptachse Boffzens. Ruth Gröne hatte frühere Fotos mitgebracht, Haus und Straße immer wieder festgehalten. Ihr 2016 verstorbener Mann Ludwig war Schmied, von ihm stammt das schiedeeiserne Geländer des Hauseingangs. Die Grönes standen auf guten Fuß mit den Kues, trotz all der Fährnisse um den Kauf des Hauses zu gedrücktem Preis 1939, trotz der Entschädigung in der Nachkriegszeit. Helmut Kues war für die Kleebergs einkaufen gegangen, als ihnen dies 1939 in Boffzen verboten war, ihnen, einer seit vielen Generationen in Boffzen ansässigen und geachteten Familie, tief verwurzelt in den lokalen Vereinen, deren Männer in den deutschen Einigungskriegen und im Ersten Weltkrieg gedient hatten.

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Abgleich mit alten Fotos: Ruth Gröne mit Bildern früherer Besuche (links Holger Kues, rechts Stefanie Waske) (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues öffnete der Gruppe das große Tor zum Innenhof, Ruth Gröne stand nun wieder an einem Kindheitsort: Dort war der Stall der Ziege, dort der knurrende Hund, vor dem sie immer ein wenig Angst gehabt habe. Erinnerung ist schwer zu teilen, doch man sah im Antlitz der alten Frau einen Widerschein einer immer wieder erinnerten und daher nicht vergessenen Zeit. Gewiss, der Hinterhof hatte sich in achtzig Jahren vielfach verändert, die alten Bodenplatten waren nicht mehr da, die Stallungen, das Plumpsklo, die Abwassergräben, der Brunnen lief nicht mehr. Das Haus hatte neue Türen, neue Fenster, doch sie waren immer noch am gleichen Platz, die alten Formen bewahrend.

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Geteilte Kindheiten: Ruth Gröne im Gespräch mit Bernd Kaussow, der in diesem Haus längere Zeit gelebt hat (Foto: Uwe Spiekermann)

Gesprochen wurde viel, über die Veränderungen, die mehr als achtzig Jahre seit der Vertreibung der Familie Kleeberg. Bernd Kaussow lebte später im Hause, doch seine Erinnerungen waren die der 1960er Jahre, einer Jugend im allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung.

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Hier gingen wir ein und aus: Ruth Gröne an der Tür zwischen Küche und Hof (Foto: Uwe Spiekermann)

Ruth Gröne leihte all dem ihr Ohr, doch ihr Eindruck war ein anderer. Sie war ergriffen. Doch nicht Trauer über den Verlust trat hervor, sondern Dankbarkeit ob der schönen Stunden im Kreise ihrer Großeltern. Hier im Innenhof hatte sie gespielt, durch diese Tür war sie ein und aus gegangen. Die Gruppe trat zurück, mochte mancher davon auch von Erinnerungen an die eigene Kindheit berührt worden sein.

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Ruth Gröne mit Anja Schade im Garten ihrer aus Boffzen vertriebenen Großeltern (Foto: Stefanie Waske)

Im Garten war alles verändert, eine neue Birke war gepflanzt worden. Doch Altes war noch da: Die Trittplatten hatten mehr als hundert Jahre überdauert. Die Futter- und Wassertröge der Stallungen bargen nun Blumen. Ruth Gröne schaute, sah, berührte Wände und Türen, greifbare Reste einer zerbrochenen Heimat. Berühren, Festhalten, wieder Loslassen, doch den Moment bewahren.

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Die Heimat der Kindheit: Ruth Gröne im Innenhof ihrer Großeltern, einem Jugendort ihres Vaters (Foto: Uwe Spiekermann)

Holger Kues verstand das, öffnete dann auch das Haus. Der Aufgang war beschwerlich, doch für Ruth Gröne ging das Festhalten am Geländer und manch stützender Hand über in das Umhergehen, in das Betasten von Wänden und Türrahmen. Das Haus war noch stärker verändert worden als der Innenhof, neue Wände waren eingezogen worden, die modernen Annehmlichkeiten von Wasserversorgung, Zentralheizung und Einbauküche.

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Holger Kues öffnet die Tür seines Hauses für Ruth Gröne und Anja Schade (Foto: Uwe Spiekermann)

Das alte Mobiliar fehlte, einiges war in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 von Unbekannten zerschlagen, einiges vor dem erzwungenen Wegzug verkauft und verschenkt worden, größere Möbel wurden nach Hannover mitgenommen. Kein Klavier zierte die gute Stube. Eine Küche gab es, nicht wie ehedem zwei, die milchige und fleischige, wie in einem koscheren jüdischen Haushalt üblich. Doch Ruth Gröne hatte die alten Bilder in sich bewahrt, im Kopfe und im Herzen, sah hinter Verputz und Verkleidungen, wusste um den Ort der Spüle, um Tische, Schränke und Stühle.

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Erinnerungen an die alte(n) Küche(n) (Anja Schade, Ruth Gröne, Holger Kues, Uwe Spiekermann) (Foto: Stefanie Waske)

Man verließ diesen bitter-freudigen Ort, der Zeitplan war schon längst gesprengt, Erinnerung brach Ordnung. Noch aber gab es einen unverzichtbaren historischen Ort, den kleinen jüdischen Friedhof am nördlichen Ortsausgang. Er wurde „später“ wieder hergerichtet, doch alte Grabplatten fehlten, waren „damals“ von unheiligen Horden zum Straßenbau verwandt worden. Vierzehn Grabstätten gibt es noch, darunter die der Familie Kleeberg. Ruth Gröne war vorbereitet, natürlich. Sie hatte Steine mitgebracht, ein guter jüdischer Brauch, um die Gräber zu markieren, den Ahnen Ehre zu erweisen, um etwas von sich zurückzulassen. Und sie stellte sich selbstbewusst in die Reihe ihrer Vorfahren, beginnend mit Abraham Kleeberg, ihrem Ur-Urgroßvater, endend mit ihrer Großtante Helene Seligmann. Auch hier das Handauflegen, auch hier der handgreifliche Bezug zu den Verstorbenen, zu den Erinnerten. Berührend in einem Umfeld der Grabeinebnungen und Urnenfelder auf „christlichen“ Friedhöfen. Das Vergessen religiöser Traditionen zeigte sich auch in der Gruppe, denn nur zwei der Männer (darunter nicht der Autor, ein guter Katholik) trugen eine Kopfbedeckung, so wie es sich für einen jüdischen Friedhof geziemt.

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In der Reihe ihrer Vorfahren: Ruth Gröne am Grabstein ihres Ur-Urgroßvaters Abraham Kleeberg (1799-1856), dahinter die Gräber ihrer Urgroßeltern Moses (1829-1916) und Julie Kleeberg (1839-1918) sowie ihrer Großtante Helene Seligmann, geb. Kleeberg (1875-1932) (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Momente der Ruhe, des Eingedenkens währten nicht allzu lang. Denn es gab noch einen offiziellen Termin, den Eintrag in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen. Deren Bürgermeister Tino Wenkel und der stellvertretende Gemeindedirektor Philip Becker begrüßten Ruth Gröne und die Gruppe. Schnittchen und Kaffee folgten.

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Eintragung in das „Goldene Buch“ der Samtgemeinde Boffzen (Foto: Uwe Spiekermann)

Der Rahmen war gesteckt, doch unbefangen war das Zusammensein nicht, die rechte Sprache fehlte. Holger Kues durchbrach die wortreiche Stille, indem er unbefangen fragte, warum denn die Juden so verhasst gewesen seien. Ruth Gröne verwies auf die bis weit in die Antike zurückreichende Judenfeindschaft, auf eine kleine Gruppe, die sich schlecht wehren konnte. Uwe Spiekermann ergänzte, verwies auf pseudowissenschaftliche Argumente der Andersartigkeit, auf Unsicherheit und Neid als Untugenden der Mehrheitsgesellschaft. Der Umgang mit Minderheiten, Vorstellungen von Fremdheit, sie standen im Raum, wurden besprochen, ein „Nie wieder“ beschworen.

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„Was Dir verhaßt ist – das tue Deinen Nachbarn nicht an“ (Foto: Uwe Spiekermann)

Der offizielle Termin ebbte ab. Zwei Nicht-Boffzener hatten vor dem Gedenkstein vor der Gemeindeverwaltung zuvor einen Blumenstrauß und eine Kerze gestellt – und Ruth Gröne ließ es sich nicht nehmen, ein Licht anzuzünden, ein Seelenlicht als Ausdruck der Verbundenheit mit den Toten, mit ihren ermordeten Großeltern, ihrer ermordeten Tante, ihrem ermordeten Vater.

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Stilles Gedenken vor der Gemeindeverwaltung: Der Gedenkstein für die vertriebenen jüdischen Nachbarn Boffzens, für die Ermordeten der Familie Kleeberg (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Gedenkveranstaltung schloss sich an. Die Mehrzweckhalle füllte sich, der Landrat traf ein, die Landtagsabgeordnete, der Bundestagsabgeordnete, Vertreter der Boffzener Vereine, der Kirchen, von Feuerwehr und Polizei. Hinzu kamen viele Boffzener, nicht nur ältere. Auch Freunde und Weggefährten Ruth Grönes waren gekommen, darunter Klaus Kieckbusch, der die jüdische Ortsgeschichte einst akribisch erforscht hatte.

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Alte Freunde: Ruth Gröne mit Klaus Kieckbusch, der die Geschichte der Juden in Boffzen umfassend aufgearbeitet hat (Foto: Stefanie Waske)

Nach jüdischen Weisen von Jean Goldenbaum folgten Ansprachen der Bürgermeisterin, dann ein langer Vortrag des Autors über „Boffzen und die NS-Zeit“, der durch begleitende zehn Quellentexte nochmals länger wurde. Und doch: Achtzig Minuten vergingen voller Konzentration, aufmerksam, ja gebannt verfolgten die hundert Gäste die Geschichte der jüdischen Nachbarn Boffzens, ihrer Verfolgung und Vertreibung; aber auch die der gelungener Nachbarschaft (bis 1930/33) und des langen abduckenden Schweigens nach 1939/45. Erinnerung braucht Ruhe, Abgeklärtheit, auch Zeit.

Danach trat Ruth Gröne ans Rednerpult. Sie begann stockend, begrüßte die vielen Würdenträger, bedankte sich bei denen, die diese Tage vorbereitet und mitgestaltet hatten. Sie schilderte ihre angesichts Boffzens ambivalenten Gefühle, die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie vor Ort gemacht hatte. Neben Hannover habe ihr Boffzen jedoch stets am Herzen gelegen – und nun fahre sie mit einem guten Gefühl zurück in ihre erste Heimatstadt. Walter Waske dankte dafür, sichtlich bewegt, hob aber auch hervor, dass es just nach diesem Besuch darum gehen müsste, die Erinnerung vor Ort weiter zu bewahren. Erinnerung sei kein Konsumgut, sondern eine stets auszugestaltende Aufgabe. So, wie sich der fliegende Vogel über das am Boden gefesselte Schlachtkalb erhebt. So wie die Erinnerung an die eigene Kindheit den Funken eines Grundvertrauens birgt, der trotz aller Gewalt und aller Schlechtigkeit doch daran festhalten lässt, dass die Welt gut ist und voller Wunder. Ruth Grönes Rückkehr nach Boffzen hob dies allen ins Gedächtnis.

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Ruth Gröne mit Fritz Ostkämper beim Rundgang in Boffzen (Foto: Stefanie Waske)

Uwe Spiekermann, 21. November 2022

Das Bauhaus als handzahme Konsumware. Ein Besuch im Bauhausmuseum Weimar

Das „Bauhausjahr“ 2019 ist fast schon wieder vergessen, obwohl es doch versprach, die Welt neu zu denken. Allüberall wurde damals das Loblied auf die Männer und Frauen gesungen, die in Weimar, Dessau und dann noch ein wenig in Berlin das Design der Moderne geprägt und das Neue Bauen entscheidend vorangebracht hatten. Wahrlich, sie waren Gesinnungsgenossen – vor allem mit uns. Das Mantra der ein wenig exzentrischen, doch guten Menschen vom Bauhaus, die damals das taten, was wir ach so aufgeklärten Bildungs- und Bundesbürger gewiss auch getan hätten, dieses Mantra ließ Staatsgelder fließen, um die die in der Breite wegbrechenden kleineren Museen und Kultureinrichtungen seit Jahren vergeblich gebettelt hatten. Finanziell ragten dabei die neuen Museen an den Bauhausstätten hervor: In Dessau-Roßlau verbaute man mindestens 28 Millionen €, auch in Weimar überschritt man die Baukosten auf etwa 27 Millionen € – und im Umfeld des Berliner Bauhaus-Archivs dürfte der Finanzrahmen von 64 Millionen € wohl neuerlich erweitert worden sein, wenn vielleicht 2023 (vielleicht aber auch später) die Eröffnungsfeier ausgewählte Bürger*innen zusammenführen wird. Det is halt Berlin, die Hauptstadt mit dem relativ geringsten Beitrag zum nationalen Bruttoinlandsprodukt innerhalb der Europäischen Union.

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Das Weimarer Bauhausmuseum im Bau, Dezember 2018

Diese neuen Wallfahrtstätten standen an der Spitze einer vierstelligen Zahl meist gut subventionierter Ausstellungen, Veranstaltungen, Vorträgen und Festbüffets. Lokal wurde teils Außergewöhnliches geleistet, gerade wenn man gegen den dumpf auf „Zukunft“ ausgerichteten Denkkorridor von „100 Jahre Bauhaus“ agierte. Die Resonanz all dieser „Events“ war beträchtlich, der Aufmarsch von Schulklassen und Bildungsbeflissenen im noch „normalen“ Jahr 2019 erinnerte teils an Sommerschlussverkauf. „Hunderttausende“ begeisterten Museumsmacher und Tourismusplaner, erreichte man doch Zahlen wie allwöchentlich die Fußballbundesliga. In den neuen Häusern wurden die „Massen“ jedenfalls schon vor Einsetzen des Pandemieregimes durch ein striktes Zeitregiment gelenkt. Die Pandemie stoppte den freudigen Aufmarsch, die teuren Museen wurden geschlossen, so dass man eigentlich an das Nachjustieren hätte gehen können.

Kritik und Ertrag von „100 Jahre Bauhaus“ 2019

Das schien angebracht, denn Kenner stießen sich seit April 2019 erst einmal an den aus ihrer Sicht abstoßenden neuen Gebäuden sowie der Präsentation und Auswahl der Exponate – und über derartige Formfragen lässt sich trefflich streiten. Diese Kritik erfolgte meist eingedenk des Bauhausmanifestes von 1919, durch das der Bau in den Mittelpunkt der bildnerischen Tätigkeit gestellt wurde. Dazu passt eben kein „Sarkophag“ (Laura Weissmüller, Das Bauhaus-Mausoleum, Süddeutsche Zeitung 2019, Ausg. v. 5. April), kein „Luftschutzbunker“ (Marcus Woeller, Steckt die Seele des Bauhaus wirklich in diesem Klotz?, Die Welt 2019, Ausg. v. 11. April), kein Bauhausmausoleum.

Wichtiger aber war die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Hauptnarrativen dieser bunten Kulturperformance. Allseits positiv vermerkt wurde die wachsende Popularisierung des Bauhauses, durch die dessen Bedeutung mit wachsendem historischem Abstand stetig ansteigt. Dies führte allerdings auch zu bemerkenswerten neuen Bauhausgeschichten und -geschichtchen, insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Medien und den Kulturboulevardverlagen. „Lotte am Bauhaus“ wird gewiss einen Sonderplatz im Kitschpavillon des Feminismus einnehmen, während „Bauhausmädels“ zwar wichtige Biographien freilegte, populärkulturell aber auch an die wilde Ursula oder den Opfergang der Magdala erinnerte.

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Freudige Erwartung bei Geldgebern und Medienpartnern zum Bauhausjubiläum (100 Jahre Bauhaus. Aus Thüringen in die Welt, hg. v. d. AG Marketing 100 Jahre Bauhaus in der Impulsregion, Weimar 2019, 57 (l.), 54)

Der Aufwand war groß, die Rotationsmaschinen surrten, doch der publizistische Ertrag war überschaubar – zumindest aus meiner begrenzten Warte. Vier Aspekte möchte ich hervorheben: Erstens, natürlich, die Mädels, oder, weniger wild, die am Bauhaus aktiven Frauen. Ihre Rolle wurde im Detail erkundet, die tradierte Geschlechterhierarchie am Bauhaus beredt beklagt, ihr zuvor meist unterschätzter Beitrag ausgelotet (Ulrike Müller, Bauhausfrauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design, München 2019). Zwar gab es nur eine Bauhausmeisterin, Gunta Stölzl (1897-1983), doch immerhin je eine Lehrende in Weimar (Helene Börner (1867-1962)) und in Berlin (Lilly Reich (1885-1947)), und gar derer sechs in Dessau (Marianne Brandt (1893-1983), Carla Grosch (1904-1933), Gunta Stölzl, Anni Albers (1899-1994), Otti Berger (1898-1944) und Lilly Reich). Von den 1.258 Studierenden waren mindestens 465 Frauen. Allerdings war das Bauhaus auch ein wichtiger Ort ehelicher Versorgung, denn zwischen den Studierenden wurden nicht weniger als 56 Ehen geschlossen (Angaben n. Folke Dietzsch, Die Studierenden am Bauhaus, Bd. 2, Weimar 1990, passim).

Wichtiger schienen mir zweitens Arbeiten zur Vor- und Parallelgeschichte. Vorbildlich war eine Ausstellung im Bröhan-Museum 2019, die das Bauhaus als absehbare Konsequenz einer im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Kunstgewerbebewegung präsentierte (Tobias Hoffmann (Hg.), Von Arts and Crafts zum Bauhaus. Kunst und Design – eine neue Einheit, Köln 2019). Wiener Werkstätten, Deutscher Werkbund und De Stijl praktizierten und nahmen vieles vorweg, was heute als Bauhaus vermarktet wird. Die große Zahl recht ähnlicher Bildungsstätten für Gestaltung in den deutschen Einzelstaaten in den 1920er Jahren müsste ebenso genannt werden. Doch der Bulldozercharme des Bauhausjahres setzte eben nicht auf Vergleiche, sondern sah überall Bauhausimpulse – also ein so eben nicht existierendes hierarchisches Verhältnis zwischen ehedem gleichrangig agierenden Institutionen (derart vereinnahmend etwa Jean Molitor und Kaija Voss, Bauhaus. Eine fotografische Weltreise, Bonn 2019). Das verfälscht nicht nur die Entwicklung von Design, Malerei und Kunstgewerbe, sondern verschüttet auch alternative „progressive“ Ansätze, wie sie etwa die damaligen Konsumgenossenschaften praktizierten. Weitet man den Blick räumlich resp. interkulturell, so findet man zudem nicht nur in west- und mitteleuropäischen Ländern vergleichbare Lehrstätten, sondern mit dem Moskauer WChUTEMAS eine Einrichtung, die dem Bauhaus bis in die späten 1920er Jahre wichtige Impulse gab und es an Größe weit überragte (Anna Bokov, Avant-Garde as Method: Vkhutemas and the Pedagogy of Space, 1920-1930, Zürich 2020). Eine Fokussierung allein auf das Bauhaus ist daher irreführend.

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Studenten in den Vereinigten Linken Werkstätten (OBMAS) an der Moskauer WChUTEMS (Wikipedia)

Drittens wurde nochmals eine (für einen Wirtschafts- und Sozialhistoriker) Banalität fundiert bekräftigt: Das Bauhaus kann nur im Kontext sich verändernder Konsumgütermärkte und neuartigen Marketings verstanden werden. Am Anfang stand eben nicht Weimar, sondern das niedersächsische Alfeld. Ohne das 1911 errichtete Fagus-Werk, ohne die Folgeaufträge im Rahmen des Werkbundes, wäre ein Studienabbrecher wie Walter Gropius (1883-1969) gewiss nicht nach Weimar berufen worden (Arne Herbote, Carl Benscheidt auf der Suche nach der idealen Fabrik. Eine Bauherrenbiographie, Braunschweig 2019). Auch in den Folgejahren waren die Industriekooperationen entscheidend für die immer prekäre Grundfinanzierung: Umbauten des Fagus-Werkes, Kandem-Lampen und Rasch-Tapeten stehen exemplarisch für eine auch marktgetriebene Veränderung der Arbeit am Bauhaus (Stefanie Waske, Der Traum vom Neuen Leben. Niedersachsen und das Bauhaus, Hannover 2021). Ebenso wichtig aber war die Ausgestaltung der Marke Bauhaus, wie sie im aus meiner Sicht wichtigsten Beitrag zum Bauhausjahr luzide ausgelotet wurde (Philipp Oswalt, Marke Bauhaus 1919-2019. Der Sieg der ikonischen Form über den Gebrauch, Zürich 2020). Die Engführung des Bauhauses auf eine handzahme Konsumware hat ihren Ursprung just in der geschickten Selbstinszenierung von Gropius und der systematischen Ausblendung von konkurrierenden Ansätzen und der heterogenen, ja widersprüchlichen Ideen der Bauhäusler.

Damit eng verbunden waren viertens Arbeiten, die das Nachleben des Bauhauses nicht allein im Exil, der Bundesrepublik und der DDR erkunden, sondern auch im Stalinismus (Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus, Berlin 2016) und Nationalsozialismus untersuchen. Die große Mehrzahl der Bauhäusler arbeitete nach 1933 mehr oder minder regimenah, so dass eine Reduktion auf die politisch oder rassisch Verfolgten ein schiefes Bild ergibt. So verfehlt es wäre, die vom Bauhäusler Fritz Ertl (Adina Seeger, Vom Bauhaus nach Auschwitz, Wien 2013) konstruierten Baracken in Auschwitz-Birkenau zur Quintessenz der Moderne hochzustilisieren, so wichtig ist doch ein Blick auf die hohe Anpassungsbereitschaft des dritten Direktors Ludwig Mies van der Rohes (1886-1969) 1933/34, auf die Beteiligung von Gropius und einem knappen Dutzend führender Bauhäusler an der Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ der Deutschen Arbeitsfront 1934, auf Gropius lautes Schweigen über die deutschen Verhältnisse in Harvard sowie die vielfältigen Beiträge von Bauhäuslern zu den NS-Bau- und Infrastrukturvorhaben, zu Aufrüstung und Besatzungsherrschaft.

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Der NS-Staat feiert das deutsche Wiedererstarken – unter Beteiligung führender Bauhäusler (Der Bazar 80, 1934, H. 7, 27)

100 Jahre Bauhaus – eine politische Inszenierung

Im Bauhausjahr wurde all das behandelt, in Feuilletons, im wissenschaftlichen Raum. Doch die öffentliche Kernbotschaft nahm dies nicht auf, blieb plakativ, blendete nicht passende Forschungsergebnisse meist aus. Grund hierfür war eine sich wandelnde Stellung des Bauhauses: Geglättet und vermarktet wurde und wird es politisch für den guten Zweck instrumentalisiert. Der massive Finanzregen über „Bauhaus 2019“ war an die unausgesprochene Bedingung geknüpft, diesen durch Agitation für die real existierenden Bundesrepublik, für deren vermeintliche Buntheit und Offenheit zu danken: „Mit dem Bauhaus ging von Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kultureller Aufbruch aus. Bis heute ist das Bauhaus in seiner internationalen Ausprägung der erfolgreichste kulturelle Exportartikel Deutschlands im 20. Jahrhundert. Seine Gestaltungsansätze für eine moderne, offene und freiheitliche Gesellschaft sind nach wie vor von ungebrochener Gültigkeit. So steht das Bauhaus für die Weltoffenheit Deutschlands in der Moderne“ (Antrag Wanderwitz et al. v .13. Januar 2015, Deutscher Bundestag, Drucksache 18/3727). Handreichungen aus Berlin ergänzten derartige Narrative, wurde darin das Bauhaus doch als „eine damals völlig neue Form der Kunstschule“ (4) und als „Inbegriff und Domizil der Avantgarde der Klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien und angewandten Kunst“ gefeiert (100 Jahre Bauhaus 2019, hg. v. d. Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, Berlin 2017). Ja, Du sollst keine anderen Modernen neben mir haben. Die Bauhausmoderne ist Konsumware und Exportartikel, der aller Welt deutlich machen wird, dass wir Deutschen nun unsere Lektionen gelernt haben, die doch so bunt in unserer Geschichte verankert ist. Derartig (a-)historisches Framing geht einher mit einer Erinnerungspolitik, die den Widersprüchen der Moderne einzig entfliehen möchte.

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Markenbilder als Bauzaun, rechts Teile des früheren NS-Gauforums, Dezember 2018

Eine Ausstellung von Fans für Fans: Eindrücke und Rückfragen

Dies alles im Kopfe zog ich los. Das Bauhausjahr war auch an mir nicht einfach vorübergegangen – auch wenn ich nur knapp 20 Ausstellungen und Vortragsveranstaltungen besucht haben dürfte. 2019 hat es mich aber weder nach Weimar, noch nach Dessau verschlagen. Mit einem Abstand von zwei Jahren galt es nun aber nicht nur Versäumtes nachzuholen, sondern sich vor Ort auch davon ein Bild zu machen, ob laufende Forschungen sowie die geäußerte Kritik irgendeinen Widerhall in den öffentlich finanzierten Bauhaustempeln gefunden hatten. Die Macher*innen hatten ja schließlich mehr als ein Jahr Zeit, um nachzujustieren und neu zu fassen.

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„Bunt ist meine Lieblingsfarbe“ (Walter Gropius) – Das Bauhausmuseum Weimar, Juli 2021

An der Architektur hat man in Weimar allerdings nicht weiter gefeilt. Während offiziell verlautbart wird, dass das Bauhausmuseum einen architektonischer Gegenpol zum benachbarten NS-Gauforum bilde, präsentieren die touristischen „Flyer“ Weimars das neue Haus allerdings Seit an Seit mit dem an dieser Seite schön rötlich erscheinenden neoklassizistischen NS-Bau (Museen, Schlösser, Garten 2021, hg. v. d. Klassik Stiftung Weimar; Die Moderne und das Bauhaus in Weimar, hg. v. Ders.). Wahrlich interessante Farbnuancen…

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Der Besucher als gelenktes Wesen: Laufwegvorgaben und eine 34 Meter lange Treppe

Beginnen wir unseren Rundgang mit einem Blick auf die Räumlichkeiten. Versprochen war ein rhythmisches Raumerlebnis, ein Wechselspiel von ausladenden Räumlichkeiten und engführenden Treppen. Geblieben sind Abgründe, nicht nur pandemiebedingte Lenkungen sowie vollgestellte vitrinisierte Räume.

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Gedrängte Fülle im rechten Licht: Präsentation der Bauhauswerkstätten

Platz wäre an sich genügend vorhanden, die Ausstellungsfläche beträgt ordentliche 2000 Quadratmeter (Bettina Maria Brosowksy, Gebaute Abwehr, Bauwelt 26, 2019, H. 10, 20-27, hier 24). Doch den Besucher will man nicht recht ansprechen, sondern man will ihm Schönes, gleichwohl Bekanntes präsentieren. An Interaktion ist nicht gedacht, das Kulturnudging setzt auf den Wiedererkennungseffekt des Erwartbaren. Der Raumeindruck wird aber auch durch fast beliebig eingezogene Zwischenwände unterminiert. Hier findet Kleinklein seinen Platz, auch der ein oder andere Monitor. Doch das erinnert mehr an einen Piggly-Wiggly-Laden als an ein modernes Museum.

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Leere Seiten- und farbige Zwischenwände

Zweitens will die Ausstellung im Bauhausmuseum Weimar nichts anderes präsentieren als das Bauhaus Weimar enggeführt. Verweise auf die lokalen Vorgänger findet man kaum, der Übergang von der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule und der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule hin zur Vereinigung ehemaliger Großherzoglicher Kunstschulen und dann dem Staatlichen Bauhaus in Weimar wird kaum gespiegelt. Dabei hätte man in der Nachbarschaft, im Neuen Museum nachschauen können, in dem auch mehr als Amtsvorgänger Henry van de Velde (1863-1957) präsentiert wird (Wolfgang Kil, Moderne in Weimar, die ganze Geschichte, Bauwelt 26, 2019, H. 10, 28-33). Die politischen Debatten über die neue sozialdemokratische Gründung wären gewiss hilfreich gewesen, um die späteren Debatten über das Ende des Weimarer Bauhauses angemessener einordnen zu können. Dass es dabei nicht nur um Lokal- und Landespolitik ging, sondern auch um grundlegende finanzpolitische Fragen über die 1924 gegründete Bauhaus GmbH hätte aber gewiss nur zur Verwirrung des Besuchers beigetragen. Wie einfach, wie zeitgemäß, wenn die „Rechten“ die Guten rauswerfen. Ach nein, wenn sie die gleichsam zwingen, selbst ihren Auszug aus Weimar zu verkünden. Bei alledem hätten einige Hinweise auf die parallele Geschichte der Weimarer Republik und der besonders umkämpften thüringischen Lande gewiss geholfen. Aber warum denn so viel Mühe, wenn Gut-Böse-Schemata an Stelle etwas komplexerer Geschichtskenntnisse treten können. Alle Guten gehen weg, das neue Bauhausmuseum in Dessau wird übernehmen. Das Fortleben der Staatlichen Bauhochschule Weimar wird deshalb nicht thematisiert, obwohl unter dem Direktorat von Otto Bartning (1883-1959) dort zahlreiche Bauhäusler blieben und arbeiteten. Es gibt nur eine Bauhausmoderne…

Trotz der bewussten Engführung des Museums allein auf die Weimarer Zeit des Bauhauses wird diese doch wieder und wieder durchbrochen. Das Museum präsentiert sich als historische Rumpelkammer, die beliebig hinzufügt und weglässt, was der glatten Darstellung nicht entspricht. Das zeigt sich deutlich am Beginn, wo unter der völlig inhaltsleeren Überschrift der neue Mensch unzusammenhängende Fetzen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst der Jahrhundertwende, aber auch der späten 1920er Jahren zusammengehängt werden. Wichtig nur, dass es pseudoinnovativ und revolutionär bis grundstürzend daherkommt. Was aber Lebensborn hier soll, Fritz Kahns 1926 erschienene Graphik „Der Mensch als Industriepalast“, oder aber die schon vor der Bauhausgründung ermordete, gegen die parlamentarische Demokratie kämpfende Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871-1919), das erschließt sich nicht. Ähnliches gilt für die Klangkulisse: Strawinskys „Sacre de Printemps“ stammt von 1913, doch immerhin hat er das Bauhaus 1923 besucht (Gisela Selden-Goth, Mit Stravinsky und Kandinsky in Weimar, Neues Wiener Journal 1923, Nr. 10688 v. 23. August, 6). Die Marseillaise aber ist deplatziert, wie so vieles andere. Doch es klingt so schön und man ballt dazu doch bis heute die Fäustchen…

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Was ist Bauhaus, was Neues Bauen? Alles war modern!

Problematischer wird das Prinzip historische Rumpelkammer aber drittens, wenn Objekte nebeneinander gestellt werden, die nun nicht aus dem Bauhaus stammen. Das gilt etwa für die Reste einer Frankfurter Küche. Man kann diese gewiss dem klobig-unbeholfenen Küchenentwurf des Weimarer Hauses am Horn entgegenstellen, doch aus Weimar kam sie nicht. Die seit 1926 von Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) konzipierte Einbauküche hätte gewiss ermöglicht, die Breite der damaligen Rationalisierungsbemühungen darzustellen, zumal sie eine Schülerin des Wiener Architekturpolemikers Adolf Loos (1870-1933) war. Doch dann hätte man auch eingestehen müssen, dass Bauen am Weimarer Bauhaus vornehmlich eine theoretische Beschäftigung war – und das Neue Bauen sich aus anderen Quellen speiste. Ähnlich verfahren die Macher in Konsumbereichen, in denen das Bauhaus keine rechte Relevanz hatte, etwa bei der Gestaltung von Bädern. Hier zeigt man schöne Exponate aus den Wiener Werkstätten, namentlich von Koloman Moser (1868-1918). Was dieser bürgerliche Zierrat aber in einer engstens auf das Weimarer Bauhaus zugeschnittenen Ausstellung zu suchen hat, das bleibt ein Geheimnis. Ein Foto habe ich nicht gemacht, denn die nicht entspiegelten Vitrinen und Kunstlicht erschweren eine ordentliche Dokumentation des Gesehenen. All diese historischen Beliebigkeiten deuten jedoch auf das Fehlen einer konsistenten und dem Besucher transparent präsentierten Ausstellungskonzeption hin. Das können auch schöne Exponate nicht überdecken.

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Wir stellen mal was hin: Ungeordnete Fülle als Präsentationsprinzip

Das Weimarer Bauhausmuseum gründet auf einer auf Gropius zurückgehenden Sammlung, die etwa 13.000 Exponate umfasst. Diese war Grundlage für eine Selbstvermarktung des Bauhauses, die während der Hyperinflation unabdingbar schien. Das Ende schien 1923 nahe, doch die Abkehr von Esoterikern wie Johannes Itten (1888-1967) und die Orientierung an praktischer und verwertbarer Arbeit – „Kunst und Technik eine neue Einheit“ – konnten den Bankrott vermeiden. Eine Sammlung war wichtig für die ab 1923 einsetzende Kooperation mit der Industrie, die im (gesponserten) „Haus am Horn“ und der „Bauhauswoche“ auch Gestalt annahm.

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Dinge und Personen: Bildquellen ohne Bezeichnung und Einordnung

Im Weimarer Bauhausmuseum überwältigt viertens die Sammlung jedoch die Ausstellung. Das zeigt sich wiederum an den ausgestellten Design-Ikonen, etwa Breuers Stahlrohrmöbel oder Wagenfelds Glaswaren bei Schott, die eben nicht am Weimarer Bauhaus entstanden. Die Sammlung steht für sich, liefert Augenschmankerl. Zugleich erlaubt sie ein Vollstellen der Räume und Wände, so dass man keinen Platz mehr hat, vom Bauhaus selbst zu erzählen, von dessen Widersprüchen, von dessen inneren Kämpfen, die immer auch Ausdruck des Ringens der Zeit war. Nationalismus, Rassismus, autoritäres Gehabe waren nicht nur „draußen“ vorhanden, sondern waren auch Teil des Lebens und Arbeitens am Bauhaus. Doch das könnte Besucher erschrecken, dann doch lieber noch einige Sammlungsstückchen.

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Personenkult um die Meister

2019 irritierte Kritiker, dass „100 Jahre Bauhaus“ von einem offenkundigen Personenkult geprägt war. Dies gilt fünftens auch und gerade für die Weimarer Dauerausstellung im Jahre 2021. Dieses Kokettieren mit dem Weimarer Geniekult überrascht auch deshalb, da das dortige Bauhaus gegründet worden war, um „Dienerin der Werkstatt“ zu sein, um ein zunftmäßiges – also aufgabenbezogenes – gemeinsames Arbeiten von Meistern, Gesellen und Lehrlingen zu ermöglichen. Man wandte sich gegen die dem Genius frönende Salonkunst, wollte eben „keine »Stars«“ (Fritz Hoeber, Das neue Bauhaus in Weimar, Der Architekt 22, 1919, 122). Im Bauhausmuseum werden dennoch die Direktoren gefeiert, während man schon bei den Meistern Abstriche macht. Eine Ausnahme bildet der ungarische Konstruktivist László Moholy-Nagy (1895-1945), der Itten als Leiter der Metallwerkstatt und der Vorkurse ablöste. In Weimar wird Gropius als der große Visionär und Macher präsentiert, seine wankelmütige Direktion nicht kritisch beleuchtet. Dies geht einher mit einer platten Adaption der gereinigten und verfälschten Interpretation der Bauhausidee, an der Gropius nicht erst seit dem Fiasko der Bauhaussiedlung in Dessau-Törten und seinem Abgang gearbeitet hat – und die auch seitens der heutigen politischen Geldgeber geteilt wird.

In Weimar ist diese Orientierung auf große Männer besonders misslich; nicht unbedingt wegen der damit weggedrückten Frauen, sondern wegen des damit verbundenen Unwillens sozialhistorisch nachzufassen. In Weimar gibt es umfassende Personalunterlagen, zumal der Studierenden. Das Binnenleben des Bauhauses hätte dadurch in seinen Widersprüchen dargestellt werden können, denn nicht nur der hohe Frauenanteil überrascht, sondern auch die vielen sozialen Aufsteiger, die aus teils ärmlichen Verhältnissen stammten und im Bauhaus ihre Chance sahen. Dadurch hätten auch die lokalen Konflikte mit den Weimarer Bürgern an Kontur gewinnen können. Das hätte erlaubt mehr von der Weimarer Zeit zu erzählen, von Armut, Krankheit und Kriegsfolgen, von freien Berufen und einem sich wandelnden Bürgertum. Stattdessen der überraschungsarme Scheuklappenblick auf die Großen…

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Spott über die Weimarer Bürgerinnen (Lachen Links 2, 1925, 26)

Das implizite Motto der Weimarer Ausstellung lautet: Keine Experimente, keine Überraschungen. Präsentiert wird eine ahistorische Marke, dargeboten in edlen Stücken für das gehobene Bürgertum. Die „Heroisierung des Immergleichen“ (Weissmüller, 2019) soll Staunen ermöglichen, Bewunderung der edlen Recken, der tollen Stücke. Dies kann nur gelingen, wenn man sechstens die Widersprüchlichkeit und die innere Pluralität auch des Weimarer Bauhauses möglichst ignoriert. Geboten wird eine Leistungsschau des Bekannten, des wieder und wieder Wiedergekäuten (wesentlich anregender, immer noch, Magdalene Droste, Bauhaus, Aktualisierte Ausg., Köln 2019). Die unterschiedlichen Konzeptionen der Meister, aber auch der Studierenden werden nicht als Möglichkeitsraum verstanden, der ehedem sehr unterschiedlich gefüllt wurde und hätte gefüllt werden können.

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Der ideale Besucher – auf teils nicht aus Weimar stammenden „Bauhausstühlen“

Festzuhalten ist, dass die bereits 2019 vor zwei Jahren geäußerte Kritik auch nicht ansatzweise aufgegriffen wurde. Haus und Ausstellung haben die Pandemie nicht zu Änderungen genutzt, die Kritik prallt am Panzer der Ignoranz ab. Das zeigt sich auch in dem kleinen, doch sprechenden Umstand, dass ein Besucherbuch nicht verfügbar war. Aus Pandemiegründen, versteht sich… Komisch nur, dass in den fünf anderen Museen meiner kleinen Reise solche allesamt verfügbar waren.

Wie sich einen Reim auf dieses alles machen?

Was ist der Zweck von derartigen öffentlich geförderten Museen, die für wichtige Themen und Anliegen stehen könnten, die diesen aber auch nicht ansatzweise gerecht werden? Man könnte es sich arg einfach machen und die politischen Zielsetzungen von dem einen guten und progressiven Bauhaus für bare Münze nehmen, solche Häuser also als Institutionen primär politischer Bildung missverstehen. Dafür bietet auch das Weimarer Museum Belege, denn ohne Verweise auf eine bunte, globale neue Welt und die Zielsetzung eines neuen Weltbürgers endet auch diese Museumsshow nicht (für eine realistischer Sicht all dessen: Branko Milanovic, Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht, Berlin 2020).

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Konsens und Diskurs statt dem Verstehen von realen Konflikten: Neue Welt und Weltbürger als didaktische Ziele

Doch für derartig plumpe Überwältigungen sind die meisten, zumal die „einfachen“ Menschen viel zu klug, denn deren Welt sieht anders aus als die der Museumswände. Wir haben es beim Bauhausmuseum Weimar und bei den meisten Veranstaltungen von „100 Jahre Bauhaus“ vielmehr mit einem polit-ökonomischen Phänomen zu tun. Das Bauhaus ist heute ein Marke, nur ahistorisch ideal zu vermarkten. Sie ist nicht allein Schöpfung von Walter Gropius, der sich als Wiedergänger des Dr. Mabuse denkbar schlecht eignet. Sie ist vielmehr ein integrales Element moderner Bereicherungsökonomie (Luc Boltanski und Arnaud Esquere, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, Berlin 2018).

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Schulklasse auf dem Anmarsch in den Lernort Bauhausmuseum

Eine historisch angemessene kritische Darstellung des Facettenreichtums und der Widersprüchlichkeit des Weimarer Bauhauses würde einer wirtschaftlich lukrativen „Ausschlachtung der Vergangenheit“ im Wege stehen. In zunehmend post- und deindustrialisierten Staaten erfolgt Wohlstandsschöpfung zunehmend durch die Schaffung kultureller Artefakte, für die sich die Bauhaus-Ikonen bestens eignen. Sie erlauben einen „Qualitätstourismus“ und Kulturmarketing, insbesondere in den ärmeren neuen Bundesländern (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Thüringen 2019: 29.883 €, in der Bundesrepublik: 41.358 €). Dazu braucht man Zielorte, ebenso aber auch wenige große „Künstler“, die gefällig und in der Breite vermarktbar sind. Die gängige Kritik – „In Weimar wird aber eine Leistungsschau der bekannten Heroen und Design-Ikonen abgefeiert“ (Brosowsky, 2019, 27) – ist daher fehlgeleitet, denn ohne die Engführung einer einfachen und leicht wiedererkennbaren Markenwelt Bauhaus würde der ökonomische Zweck dieser Kulturinvestitionen verfehlt werden. Es gilt nicht Bildungsbürger nuanciert zu ergötzen, sondern „Massen“ durchschnittlich gebildeter Bürger anzulocken. Die einschlägige Tourismusbroschüre Thüringens hatte immerhin eine Auflage von 330.000 Exemplaren (100 Jahre Bauhaus. Aus Thüringen in die Welt, hg. v. d. AG Marketing 100 Jahre Bauhaus in der Impulsregion, Weimar 2019).

Was man im „Bauhausjahr“ 2019 sehen und an den damals geschaffenen Vermarktungsorten weiter studieren kann hat mit einem reflektiert wissenschaftlichem Umgang mit dem Phänomen Bauhaus nichts zu tun. Es geht vielmehr um eine neuartige Nutzung bestehenden kulturellen Kapitals. Die recht unbedeutende Einrichtung Bauhaus in Weimar 1919-1925 (die ursprüngliche Kapitalakkumulation) wird mit zahlreichen zeitgenössischen Geschichten (Moderne, Design, Nationalsozialismus, Feminismus, Exil, Antisemitismus) aufgeladen, die allesamt in unserem Alltag relevant sind. Sie sind zugleich Teil umfassender Zukunftsszenarien, in denen das Bauhaus als Chiffre für die Kämpfe steht, die „wir“ zu bestehen haben. Das ist historisch abstrus und kann nur durch die bewusste Enthistorisierung der Vergangenheit erfolgreich sein. Doch mangels auch nur fundierter Grundkenntnisse ist dieses Versatzstück lukrativ und ökonomisch erfolgreich.

Als Historiker habe ich hier fachlich gegenzuhalten. Es gilt, das Bauhaus vor Unternehmen wie dem Bauhausmuseum Weimar in Schutz zu nehmen. Philipp Oswalt sprach zu Recht vom untoten Bauhaus (Das untote Bauhaus, Aus Politik und Zeitgeschichte 2019, Nr. 13/14, 16-21; Oswalt, 2020, 325-329, 332-334). Es war eben keine tradierte Avantgarde, sondern nach dem Verwüstungen des Ersten Weltkrieges, dem Kampf um die politische Neugestaltung des Kaiserreichs und dem weiter pulsierenden Kampf von Stadt und Land, von Kapital und Arbeit ein „Reparaturbetrieb der Moderne“ (Oswalt, 2019, 17). Dieser strebte nach neuen Synthesen, auch wenn es sie nur ansatzweise erreicht hat. Das Bauhaus gründete auf dem durch den bürgerlichen Kapitalismus geschaffenen Möglichkeitsraum, teilte dessen Schaffenskraft und Machbarkeitsdenken. Doch es war zugleich dessen scharfer Kritiker, der individuelle und kollektive Emanzipation zu bewahren versuchte, mochten sich viele Bauhäusler am Ende auch in die Sackgasse des Social Engineering verlieren, der nicht angenommenen Wohnmaschinen und Konsumkorridore.

Mir bleibt am Ende des Besuchs im Bauhausmuseum Weimar nur die schlichte Erkenntnis, dass einigermaßen fundierte Kenntnisse beim Besuch einer derartigen Institution nur hinderlich sind. Meine Vorstellung vom Museum als kritische und selbstkritische Bildungsanstalt ist hoffnungslos antiquiert. Museen dienen politischen, vor allem aber ökonomischen Zielsetzungen. Menschen wie ich stören da nur. Sie mögen in ihren Studierzimmern verweilen.

Uwe Spiekermann, 31. Juli 2021

Flucht vor der Vergangenheit? Ein Besuch des Kaiser-Wilhelm-Denkmals in Porta Westfalica

Bei Porta Westfalica durchbricht die Weser die sie begrenzenden Mittelgebirge, verlässt das Weserbergland und fließt durch die norddeutsche Tiefebene der Nordsee entgegen. Dies entgeht den rasch dahinrasenden Autofahrern auf der A2, die es nach Westen oder aber Osten drängt. Doch sie sehen ein riesiges Monument, das 1896 eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Auf vielen Fahrten zwischen Münster und Braunschweig verkörperte es auch für mich Rückkehr oder baldige Ankunft.

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Porta Westfalica vor dem Denkmalsbau (Neue Illustrirte Zeitung 17, 1888/89, 245)

Der aus Detmold stammende Freiheitsdichter Ferdinand Freiligrath (1810-1876) begann hier seinen gemeinsam mit Levin Schücking (1814-1883) verfassten Reisebericht durch das „malerische und romantische Westphalen“, Zeugnis eines weltoffenen und geschichtsbewussten Regionalismus. Von der Mindener Weserbrücke aus sah er „nicht ein enges, zu beiden Seiten schroff und steil in den Strom herabfallendes Felsenthor […], sondern ein nicht allzu schmales Querthal, das ausser dem Strome Wiesen und Ackerland anmuthig ausfüllen“ (Barmen/Leipzig 1840, 12). Er bestieg den Wittekindsberg, benannt nach Widukind, dem mythenumwogenen Anführer der Sachsen im Kampf gegen die Frankenheere Karls „des Großen“ im späten 8. Jahrhundert. Ob der Westgermane dort wirklich zum Christentum übertrat, ist nicht gesichert, doch im Sagenschatz der Deutschen steht dieser Ort auch für den Beginn des Reiches, das in der Spätromantik als „deutsches“ Kaiserreich galt.

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Kaisertod als Marktchance (Fliegende Blätter 88, 1888, Nr. 2231, 10)

Als am 9. März 1888 Wilhelm I., der erste (und drittletzte) „Deutsche Kaiser“ verstorben war, als die durchaus breite Schar der Trauernden ihre Gedenkmünzen, Büsten, Stickrahmen und vieles mehr gekauft und aufgestellt hatte, drang die Frage nach einem würdigen Gedenken des Heldenkaisers rasch in den öffentlichen Raum. Lokalvereine berieten, ein Wettbewerb zwischen preußischen Provinzen begann. Westfalen voran! Schon im April wurde ein Denkmal an der Porta Westfalica vorgeschlagen. Widerspruch machte sich breit, Widerstand führte am Ende gar zu einem Aufbrechen der Westfalenfront; das 1903 bei der Hohensyburg eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Denkmal materialisierte ihn. Doch Porta Westfalica machte das Rennen. In der Nähe wurde 1759 die für Preußens Existenz wichtige Schlacht bei Minden geschlagen, die mit einer Niederlage der Franzosen und Sachsen endete. Wilhelm I. hatte die Weserscharte als Oberbefehlshaber der verbündeten Armee gegen Frankreich überschritten, Grundlage des militärischen Sieges, ohne den die Gründung des Deutschen Reiches 1871 nicht möglich gewesen wäre. Und Porta Westfalica stand schon namentlich für die 1815 von Preußen okkupierte Provinz Westfalen, deren Landtag am 15. März 1889 den Gründungsbeschluss fasste und 500.000 Mark für die Baukosten bereitstellte (zu Details s. Das Kaiser Wilhelm-Denkmal der Provinz Westfalen auf dem Wittekindsberge der Porta Westfalica, Münster 1905, 4-8). Der recht erhebliche Rest sollte durch Spenden aufgebracht werden. Der Bildhauer Ernst von Bandel (1800-1876) musste fast 40 Jahre antichambrieren, um genügend Geld für das nicht fern gelegene Hermannsdenkmal zusammenzukriegen, Wilhelm I. hatte den Bau schließlich ermöglicht. Das war 1888/89 anders.

Wilhelm I. war zur Zeit seines Todes ein geachteter, ja populärer Monarch. Er galt aufgrund der Siege in den sog. Einigungskriegen als Heldenkaiser, er, der die deutschen Truppen höchstpersönlich beim Sieg in Sedan 1870 angeführt hatte. Wilhelm stand für das preußische Militär, dessen Erziehung er genossen hatte, dessen Denken ihn prägte. 1848 trat er für eine militärische Bekämpfung der Revolutionäre in Berlin ein, war 1849 ein zentraler Akteur bei der Niederschlagung der badischen Revolution. Verbittert beklagte Ferdinand Freiligrath in seinem Gedicht „Die Todten an die Lebenden“ „Der Soldateska Wiederkehr, die Wiederkehr des Prinzen“ (Nürnberger Tagblatt 1848, Nr. 85 v. 7. Oktober, 339). Doch der als „Kartäschenprinz“ beschimpfte Kronprinz lernte und mäßigte sich, nahm Grundgedanken des Liberalismus ernst und auch auf. Als Prinzregent läutete er 1858 eine kurze „Neue Ära“ ein. Deutsche Geschichte konnte auch etwas anderes sein als „Blut und Eisen“. Obwohl konstitutionell eingehegt, war Wilhelm dennoch vom Gottesgnadentum überzeugt. 1861 krönte er sich selbst – und berief 1862 dann Otto von Bismarck (1815-1898), um die königlichen Prärogative im Verfassungskonflikt strikt zu verteidigen. Wilhelm I. ließ seinen Kanzler agieren, auch wenn er dessen Vorstellungen von einer Zweckkoalition von Monarchie und liberaler Bewegung in einem Nationalstaat nur bedingt teilte. Wilhelm wusste, dass die 1871 festgezurrte kleindeutsche Lösung das Ende Preußens mit einschloss, das Ende der Herrschaft souveräner Fürsten. Er war klug genug, die um Konsolidierung bemühte Außenpolitik seines Kanzlers zu unterstützen. Auch wenn deren Friktionen bei seinem Tod offenkundig waren, galt er nach 17 Jahren ohne Krieg doch als Friedenskaiser. Er verkörperte Pflichtbewusstsein und Arbeitsamkeit, Prunksucht war ihm fremd. Doch er hatte erst Katholiken verfolgen lassen, dann die Sozialdemokraten, obwohl letztere nicht die fünf Attentate auf den Monarchen zu verantworten hatten. Eine gemischte Bilanz, geschönt im nationalen Überschwang.

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Die von Bruno Schmitz geplante Gesamtanlage des Denkmals am Wittekindsberg (Centralblatt der Bauverwaltung 10, 1890, 388)

Friedenskaiser, Heldenkaiser – solche Träume hegte auch sein Enkel Wilhelm II., der 1888 die Kaiserkrone übernahm und zugleich eine Geschichts- und Medienpolitik begann, in der Wilhelm „der Große“ eine zentrale Rolle einnahm (vgl. Die Kaiser und die Macht der Medien, Berlin 2005). Er billigte die bürgerlichen Denkmalspläne, auch wenn öffentlich die Zersplitterung des vermeintlich nationalen Denkmalwerkes breit kritisiert wurde (Deutsche Bauzeitung 24, 1890, 64). Zuvor aber lief das Denkmalprojekt weiter. Am 31. Januar 1890 startete ein Wettbewerb um den besten Bauentwurf, 56 deutsche Künstler reichten 58 Projekte ein. Ziel war „ein der Landschaft sich anpassendes Bauwerk […], welches den Gedanken des Kaiserdenkmals schon aus der Ferne erkennen lässt und in Verbindung mit einem Bildnis Kaiser Wilhelms“ (Centralblatt der Bauverwaltung 10, 1890, 56) stehen sollte. Die Kosten waren bei 600.000 Mark gedeckelt. Im August standen zwei Sieger fest, von denen schließlich der Entwurf des Berliner Architekten Bruno Schmitz (1858-1916) umgesetzt wurde. Dieser hatte zuvor bereits den vom Deutschen Kriegerbund ausgelobten Wettbewerb um das in Thüringen gelegene Kyffhäuserdenkmal gewonnen. Auch sein eigentlich nur zweitplatzierter Entwurf für das Kaiser-Wilhelm-Denkmal am Deutschen Eck bei Koblenz wurde schließlich realisiert. Schmitz, der zuvor schon ein monumentales Heldendenkmal in Indianapolis, Indiana gebaut hatte, war schließlich auch für das 1913 in Leipzig eingeweihte Völkerschlachtdenkmal verantwortlich. Wie schon zuvor in den USA konnte er auch bei der Ausgestaltung des Porta-Westfalica-Denkmals auf ausländische Hilfe zurückgreifen. Das erzene Standbild des Herrschers stammte vom Wiener Bildhauer Caspar von Zumbusch (1830-1915), der auch auf Wünsche Wilhelm II. einging (zur Umsetzung vgl. Fred Kaspar, Das Kaiserdenkmal an der Porta-Westfalica, Denkmalpflege in Westfalen-Lippe 2007, H. 1, 19-21, hier 20-21).

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Der siegreiche Entwurf „Auf hoher Warte“ von Bruno Schmitz (Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 3, 1890, Tafel 102)

Schmitz Entwurf meisterte die Aufgabe der Fernwirkung nicht durch riesige Türme oder gar eine Monumentalfigur, sondern durch eine Kombination von Standbild und offenem, mit einer Kaiserkrone geschmücktem Baldachin mit schmalen Säulen (vgl. Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 3, 1890, 41; Deutsche Bauzeitung 24, 1890, 481-482). Damit wurde der Betrachter eingeladen, dem Herrscher entgegenzutreten, ihn als machtvolle und quasi unter freiem Himmel stehende Person zu sehen. Der vorgelagerte Festplatz erlaubte gleichermaßen Gruppenreisen wie Festspiele, bot zugleich aber eine gewisse Bewegungsfreiheit. All das war nicht wirklich originell, doch der Entwurf wurde wegen „maßvoller Einfachheit und überzeugender Lebensfähigkeit“ (Centralblatt der Bauverwaltung 10, 1890, 388) gelobt. Das neue Denkmal galt als gelungene Materialisierung des Nationalgedankens, stellte sich zudem bewusst in die lang zurückreichende Historie dieses Ortes (Der Bär 17, 1890/91, 431). Man war sich der „derben, kräftigen Formen“ der Ausführung bewusst, doch damit sollten auch „Beschädigungen durch Muthwillen und zerstörende Einflüsse der Witterung“ (Ebd., 389) ausgeschlossen werden. Vielfach bemängelt wurde allerdings, dass Schmitz sich bei seiner „Verherrlichung des neuen Deutschen Reiches und Kaiser ‚Weißbarts‘“ (L. Paloczy, Porta Westfalica, Pester Lloyd 1896, Nr. 256 v. 26. Oktober, 9) doch zu stark wiederholt habe, erinnerte doch manches an das Kyffhäuserdenkmal. Kritiker monierten auch den „von fast allen nationalen Beziehungen losgelösten Stil, der, fast international, beinahe auf jeden Boden passt“ (Deutsche Bauzeitung 24, 1890, 482). Die Platzierung des Kaiserstandbildes unter einen Baldachin erschien vielen fraglich, war doch ein direkter Blick oft nicht gewährleistet. Selbstredend gab es grundsätzliche Kritik seitens der Arbeiterbewegung, aus der es hieß, „es ist ein Jammer, in Deutschland zu leben, wo es nicht still werden will von Wilhelms-Denkmal-Enthüllungen […]. Auf deutschen Bergen wirbeln Trommeln, schmettern Trompeten und ertönen die schnarrenden Kommandorufe preußischer Kommandeure. Und die Freiheit? Wohin hat die Freiheit sich geflüchtet? – In die Thäler, wo es brodelt und qualmt und Legionen von Arbeitern stehen“ (Arbeiter-Zeitung 1896, Nr. 291 v. 22. Oktober, 6).

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Das fertig erbaute Denkmal 1896 (Centralblatt der Bauverwaltung 17, 1897, Blatt 44)

1891 wurde der Vertrag zwischen Schmitz und dem westfälischen Provinzial-Ausschuss geschlossen (Centralblatt der Bauverwaltung 11, 1891, 144). Parallel baute man eine touristische Infrastruktur auf. Die AG Porta Westfalica errichtete ein großzügiges Hotel Kaiserhof, es folgten ein Bahnhof, eine Kaiserstraße und eine Trambahn (Der Bär 17, 1890/91, 531). Der eigentliche Bau begann 1892, wurde durch vielfältige Probleme mit Baufirmen und auch der Gestaltung jedoch verzögert. Der ursprüngliche Entwurf erwies sich als zu teuer, hätte ca. 1,262 Millionen Mark verschlungen. Der Provinzial-Landtag verlangte daraufhin Änderungen in der Struktur, den Dimensionen und des Baumaterials (vgl. W[ilhelm] Moelle, Das Kaiserdenkmal an der Porta westphalica, Deutsche Bauzeitung 32, 1898, 1-3, 5). Die geplanten Ecktürme fielen weg, auch auf Schmuck wurde großenteils verzichtet. So blieb man einigermaßen im Kostenrahmen. Ein Jahr später als geplant konnte das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica dann am 18. Oktober 1896 eingeweiht werden (zum Bau selbst vgl. Centralblatt für Bauverwaltung 16, 1896, 469-471; Scientific American 77, 1897, 235).

Der 18. Oktober war bewusst gewählt worden. Dies war der Geburtstag von Friedrich III. (1831-1888), dem Sohn Wilhelm I. Und es war der Tag, an dem verbündete Heere in der Leipziger Völkerschlacht den Sieg gegen die Truppen Napoleons errungen hatten. Das wurde denkmalskräftig an gleich drei Standorten gefeiert: Eingeweiht wurde das von Karl Janssen (1855-1927) geschaffene Reiterstandbild Wilhelm I. in Düsseldorf, das von Schmitz entworfene und gebaute Denkmal für Wilhelms Gemahlin Augusta (1811-1890) in Koblenz und schließlich das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica. Etikettegerecht besuchte Wilhelm II. am Morgen das Grab seines Vaters in Potsdam (Altonaer Nachrichten 1896, Nr. 246 v. 19. Oktober, 1), ehe er mit seiner Gattin gen Minden aufbrach, wo er um 14 Uhr 20 eintraf. Dort waren derweil die Vorbereitungen abgeschlossen, zumal der Blumen-, Kranz- und Fahnenschmuck bis hin zum Denkmal. Schade nur, dass es regnete, dass es stürmte. Dennoch herrschte allgemeine Feststimmung. Kriegervereine und Anwohner säumten die Straßen, auf den Tribünen beim Denkmal fand man die westfälischen Honoratioren, die Militärs und auch die Bischöfe. Nicht weniger als 700 Posaunisten warteten auf den immer noch jungen Kaiser, spielten aber schon vor dessen Eintreffen patriotische Weisen (Berliner Tageblatt 1896, Nr. 535 v. 19. Oktober, 2). Über die 60.000 Mark teure Kaiserstraße ging es voran, eine Kürassierschwadron vor der Kutsche des Herrschers, Salutschüsse kündeten sein Eintreffen. 15 Uhr; er in Husarenuniform, sie im moosgrünem Plüschkostüm. Ehrenkompanie abschreiten, allgemeine Begrüßungsrunde im Kaiserzelt. Gesang aus 600 Männerkehlen ertönt zum neu komponierten Sängergruß. Derweil hat es sich aufgeklärt. Der westfälische Vertreter Alexander von Oheimb (1820-1903) preist nun die Hohenzollern, den allerdurchlauchtigsten Kaiser und König, spricht sich für die Wahrung und Förderung des allgemeinen Wohles aus, „daß das Reich in Eintracht erstarke, daß Frieden, Treue und Gottesfurcht in demselben erhalten bliebe“ (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1896, Nr. 492 v. 19. Oktober, 1). Es folgt der „Festgesang zum Gedächtnis Kaiser Wilhelms des Großen“, dann die Besichtigung des Denkmals. Majestät zeigt sich zufrieden. Vorbeimarsch der Ehrenkompanie der Vereine. Sonnenschein, Kaiserzelt. Der Ehrentrunk huldvoll entgegengenommen, der Dank des Herrschers, ein Trinkspruch auf das Wohl der Provinz Westfalen. Allseits Begeisterung. Dann einige Gespräche, kurz vor 16 Uhr Abritt. Allgemeine Hochrufe. Ausspannen, Festmahl im Hotel Kaiserhof mit 370 Personen.

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Schilderwald und Kaiser-Wilhelm-Denkmal

Auch mein Besuch fand bei Sturm und Regen statt. Gelockt hatten mich Nachrichten vom Umbau und der Wiedereröffnung des Denkmals. 2014 hatte es einen neuerlichen Wettbewerb gegeben, Ziel war vor allem die Stabilisierung von Terrasse und Außenring, ferner eine neugestaltete Gastronomie, ein Besucherzentrum für die Wissbegierigen sowie ein Parkplatz für alle. Das Geld kam vor allem vom Eigentümer, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), zudem gab es eine kräftige Finanzspritze des Bundes und Zuschüsse der Stadt Porta Westfalica. Der Kostenrahmen wurde mehrfach überschritten, am Ende 16,4 Millionen Euro verbaut. 2016 fand die Grundsteinlegung statt, 2018 dann die Neueröffnung. LWL-Direktor Matthias Löb machte zuvor klar: „Es geht hier nicht nur um Kaiser Wilhelm I.“ (zit. n. Bernd Bexte, Mehr als ein Denkmal für den Kaiser, Westfalen-Blatt 2018, Ausgabe v. 21. Februar). Gleich 2000 Jahre solle der Besucher erleben können, „von den Römern in Germanien (ein römisches Marschlager befand sich in direkter Nachbarschaft in Barkhausen) über das Mittelalter (das Areal der Wittkindsburg ist fußläufig erreichbar) bis hin zu Preußens Gloria und dem Elend der Zwangsarbeiter, die in der NS-Zeit im später von den Briten gesprengten Stollen unter dem Denkmal für die Rüstungsindustrie arbeiten und vielfach auch sterben mussten“ (Ebd.). Das klang vielversprechend, nach breit angelegter Geschichtsvermittlung, nach einer Kontextualisierung preußischer, äh, na, wohl eher deutscher Geschichte.

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Getrübter Durchblick: Informationsbehälter mit Ankündigungsmaterial

Bei Ankunft zeigte sich die volle Größe des Parkplatzes, denn an diesem regnerischen Samstag gab es praktisch keine Besucher. Das Denkmal kann kostenlos besucht werden, für das Auto sind aber drei Euro aufzubringen. Hat ja alles gekostet. Vorbei an einem kompakten Kiosk, an technisch hochwertigen Toiletten, vielen Müllbehältern, einer leider beschlagenen Glasvitrine mit daher nicht lesbarer Karte der Gesamtanlage sowie an Informationsbehältern. Dann die Straße die Anhöhe hoch. Ein eigenartiges Geviert wurde sichtbar, der Eingang zum Besucherzentrum.

 

 

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Hier kehrt man gerne ein – Treppenhaus zum „Besucherzentrum“ und zur Gaststätte

Hinab also die gastlich einladende Steiltreppe. Ein wenig glitschig, doch jeder Besuch ist ein Abenteuer. Innen angekommen, wurde ich erst einmal mit den Angeboten des Restaurants vertraut gemacht. Ordentlich bürgerlich, mittlere Preisklasse, bei an sich herrlichem Ausblick sicher schön. Doch der Sinn stand mir eher nach geistigen Genüssen, nach dem angekündigten Parforceritt durch die 2000 langen Jahre. Davon sah man erst einmal nichts, denn unter der Überschrift „Kaiserliche Aussichten“ waren dort zahlreiche Gruppenphotos aufgehängt worden, allesamt Besucher des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Dazwischen moderne Bildschirme, teils mit Spaßprogramm. Jugendliche mit vorgehaltenem Oberlippenbart. Sollte wohl etwas mit Preußen zu tun haben (dabei war die Berliner Bartmode um 1900 doch von spitzen, eingedrehten Bartenden geprägt, nicht aber von den dort gezeigten rundlich wogenden…).

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Nordkorea lässt grüßen. Aus dem Besucherzentrum

Nun ja, voran. Ich stieß auf eine moderne Stehle mit zahlreichen anderen Denkmälern, allesamt mit ein, zwei Sätzen vorgestellt. Vergleichende Denkmalkunde, in der Tat. Der Vergleich blieb zwar auf der Strecke, wurde mit nur wenigen Sätzen begründet, doch nebeneinandergestellt zeigte sich ein globales Panorama. Eine vergleichende europäische Analyse der Nationaldenkmäler hatte der Historiker Thomas Nipperdey (1927-1992) schon im Gefolge seines 1968 erschienenen Aufsatzes „Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert“ gefordert. Dies schien man hier aufgegriffen und gar erweitert zu haben. Kim Il-sung (1912-1994) und Kim Jong-il (1942-2011) traten mir entgegen, kleine Repliken des 2012 umgebauten Großmonuments Mansudae in Nordkorea. Viele andere Bilder fanden sich im Umfeld, etwa die vier US-Präsidenten von Mount Rushmore, der Arc de Triomphe oder die kontrovers beurteilten Monumente des russischen Bildhauers Surab Zereteli (1934-). All das nahm ich sehr rasch wahr, denn viel mehr als Bildunterschriften und einige Thesen zur relativen Ähnlichkeit aller monumentalen Machtausübung war nicht vorhanden. Nun ja, „Es geht hier nicht nur um Kaiser Wilhelm I.“. Deshalb wohl fehlte ein kleiner Skandal aus dem Jahre 1926, als man Denkmäler von Bruno Schmitz in Wasmuths Monatsheften für Baukunst und Städtebau neben sowjetischen Monumenten inklusive der Kremlmauer stellte. Die Akademie des Bauwesens war empört und protestierte (Centralblatt der Bauverwaltung 46, 1926, 488). Hätte gut gepasst, kann aber noch eingearbeitet werden zwecks kritischer Kontextualisierung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Doch im Besucherzentrum blieb diese Kontextualisierung dunkel. Es war irgendwie kritisch. Und kritisch ist gut. Mehr davon.

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Zweisprachig und mit weniger Informationen als der einschlägige Wikipedia-Artikel. Denkmalskunde im Besucherzentrum

Schon war ich am „Rondell“, das den Besuchern das Denkmal näher bringen will. Es bot Informationen zu Wilhelm I. (und den Hohenzollern), zum Bau des Denkmals und zu den Besuchern. Im Mittelpunkt standen wieder Bilder, kurz erläutert von dürren Unterschriften, kaum verbunden mit wenigen Sätzen, die historischen Kontext darboten. War das alles? Der Kaiser als Kartäschenprinz, dann rasch zum Krieg mit Frankreich. Dazwischen nichts. Otto von Bismarck, der Kanzler als eigentlicher Herrscher. Und natürlich der nicht eindeutig Wilhelm I. zuzuschreibende Satz „Ich habe keine Zeit, müde zu sein.“ Nein, müde konnte man von derartigen fundierten Informationen nicht werden, reicht meine Aufmerksamkeitsspanne doch weit über die Öffnungszeiten derartiger Geschichtsanimation hinaus. Und die konnte auch nicht durch nachgespielte Szenen aus der deutschen Geschichte erschöpft werden, Szenen, die selbst im ZDF zu Qualitätsdiskussionen geführt hätten. Geschichte als Drama mit wenigen markanten Sätzen.

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Panoramawand mit Historienschnipseln. 2000 Jahre Geschichte im Besucherzentrum

Doch da war ja noch etwas, nämlich eine Panoramawand. Die mit den 2000 Jahren Geschichte. Ein bisschen Heimatkunde, ein bisschen Animation, allesamt nur einfache Aussagesätze zu den zahlreichen mit der Porta Westfalica verbundenen Themen. Ernsten Themen. Voller Leben, voller Sterben. Wer mehr wissen will, der kann mittels Bildschirm ein wenig vertiefen. Wer noch mehr möchte, kann sicher zu Hause auf das Internet zurückgreifen. Bücher wurden keine verkauft. Doch Werbebroschüren lagen aus. „Historiker, Archäologen, Naturschützer und Heimatpfleger haben für die Stationen interessante Geschichten zusammengetragen“ lese ich dort. Schade, dass sie diese nicht verbunden haben. Immerhin bot die Rückseite der Panoramawand eindringliche Bilder vom Umbau der Terrasse, von den Herausforderungen für Bautechnik und Baustatik. Leider aber kaum etwas zur Geschichte des Denkmals.

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Die neue, attraktiv gestaltete Oberterrasse

Ich verlasse die heiligen Hallen der Bildung und reibe mir kurz die Augen. Auch ein neuerlicher Blick über die neu gestaltete Oberterrasse unterstreicht, dass ich hier wirklich im Besucherzentrum gewesen sein muss. Das also ist alles, was der Landschaftsverband Westfalen-Lippe seinen Besuchern mitteilen möchte. „Es geht hier nicht nur um Kaiser Wilhelm I.“. Ja, ich habe verstanden.

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Errungenschaften der Neugestaltung – Ein architektonisches Meisterstück der Behindertengerechtigkeit

Der eigentliche Stolz der Macher gilt nicht dem Denkmal, gilt nicht diesem grundsätzlich hervorragenden Lernort zur deutschen Geschichte. Er gilt den rollstuhlgerechten Aufzügen zum Besucherzentrum, den Parkplätzen für Gehbehinderte, nein, für „Menschen mit Gehbehinderung“. Die obere Terrasse ist barrierefrei erschlossen. Schade, dass man trotz umfangreicher Neubaumaßnahmen von wahrlich anheimelnder Architektur das eigentliche Denkmal dennoch nicht begehen kann. Denn es hat Treppen, bis heute. Wie rücksichtslos man im 19. Jahrhundert war… Und das bei den vielen Kriegskrüppeln… Die örtliche Gedenkkultur der Veteranen auch nach dem Ersten Weltkrieg erscheint nicht. Die der Amputierten, der Kriegsblinden, der Vernarbten, der Versehrten, der psychisch Labilen, denn an all die wurde auch hier, an diesem Denkmal erinnert. Von denen die übriggeblieben waren, innerlich gezeichnet. Heute ist das anders. Doch warum man die nicht vorhandenen Barrieren überwinden soll, bleibt unklar. Denn für die Vergangenheit, für die Geschichte dieses Denkmals, scheinen sich die Macher nicht zu interessieren.

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Neue Bewehrung: Fernrohre für Weitblicke

Dabei haben sie sich doch so viel Mühe gegeben. Die Brüstung des eigentlichen Denkmals wurde mit neuen Zäunen versehen, so dass niemand zu Schaden kommt. Das ist wichtig. Doch dabei soll natürlich der Spaß nicht zu kurz kommen. Daher verkleidete man die Brüstung mit leistungsfähigen Fernrohren. Nutzbar gegen eine kleine Gebühr. Hat ja alles gekostet. Allein die Pflastersteine. Weitblicke sind so möglich. Besser als nichts. Doch Einblicke wären mir auch ganz lieb gewesen. Vielleicht auch, weil ich vom Bildungsauftrag öffentlicher Einrichtungen überzeugt bin. Schade, dass man beim LWL anders denkt.

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Erinnerungen, die bleiben

Doch Spaß kann man haben. Ein kleiner Automat erlaubt das neckische Umprägen von Kleingeld in Erinnerungsstücke. So kann man etwas mit nach Hause nehmen. Den Eindruck der Gesamteinlage. Das Bild von Baldachin und Standbild. Leider nicht viel mehr. Vielleicht „Kartäschenprinz“, die Kim-Familie und die vielen Gruppenbilder… Stolz vermerken die Macher, dass man es durch den Umbau wohl schaffen werde, die durchschnittliche Verweildauer von 15 Minuten auf eine Stunde zu steigern. Wegen der Gastronomie. Weswegen auch sonst?

 

Ich gehe die Anhöhe wieder herunter. Ja, ich bin länger als der Durchschnittsbesucher geblieben. Und dass, obwohl ich es schaffe an dem Parkplatzkiosk vorbeizukommen, ohne dort etwas gekauft zu haben. „Willem“ heißt es – doch warum, konnte man mir nicht sagen. Ist halt ein Kiosk an irgendeinem Berg…

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Willem Snack and Go oder Die Tristesse der deutschen Grundverpflegung

So verlasse ich denn diesen Ort. Einen Ort, der es erlauben würde, die Geschichte des deutschen Kaiserreichs kritisch zu vermitteln. Doch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe ist daran offenbar nicht interessiert. Die Neugestaltung entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine Flucht vor der Vergangenheit. Dabei ist das Kaiserreich bis heute aktuell, führt das Leben Wilhelm I. und die Denkmalsgründung in Porta Westfalica doch an zentrale Themenfelder auch unserer durch den deutschen Staat tagtäglich geprägten Gegenwart heran.

Da ist die Frage nach der Identität unseres Gemeinwesens: Was ist deutsch, was macht dieses Volk, diesen Staat, diese Nation aus? Wilhelm I. stand für die endgültige Aufsplittung der deutschen Kulturnation in zwei Reiche, stand für eine Verengung des Nationalbegriffs auf ein kleindeutsches, ein nationalliberal-konservatives, protestantisches Deutsches Reich. Doch er stand auch für etwas kleineres Großes, für ein ideal gedachtes Preußen, eines, in dem jeder „nach seiner Fasson selich“ werden konnte, in dem das gesatzte Recht galt, die Wissenschaften und das Gewerbe gefördert wurden, neuartige Bildungskonzepte entwickelt und mit Leben gefüllt werden konnten. Führt man sich das vor Augen, so erscheinen die heutigen Debatten eigenartig uninspiriert, der Breite der Geschichte nicht angemessen.

Da ist die Frage nach der Essenz des Bürgertums. Wilhelm I. bekämpfte Revolutionäre, erweiterte Bürgerrechte während der neuen Ära, bekämpfte sie neuerlich, ehe er Kernpunkte des Konstitutionalismus akzeptierte und respektierte. Wie definiert sich der Bürger angesichts der Macht des stets überbürdenden Staates und seiner Institutionen? Ist er Untertan, der sich anpassungsschlau wegduckt angesichts einer „alternativlosen“ Politik, der mitblöckt, wie Heinrich Manns Diederich Heßling? Oder ruft man mit Freiligrath: „Der Rang ist das Gepräge nur, Der Mann das Gold trotz alledem!“ (1843).

Da ist die Frage nach der Wehrkraft eines Landes, nach Verteidigung und Militarismus. Wilhelm I. hat in derartigen Kategorien gedacht, während es in diesem unserem Lande fast den Eindruck hat, dass man zwar mehr Soldaten in Auslandseinsätze schickt als die Kolonialmacht Deutsches Reich, dass man im Innern aber die Funktion bewaffneter Streitkräfte nicht mehr recht versteht, sich damit jedenfalls nicht auseinandersetzen möchte.

Da ist die Frage nach dem Warum dieser Flucht vor der Geschichte. Dient Geschichte, zumal in ihrer erinnerungspolitischen Engführung, nicht mehr dem Leben, ist sie negativ monumentalistisch geworden, weiß keinen Funken mehr zu entzünden? Oder ist sie eine Last, der ein friedlich arbeitender und konsumierender Mensch nicht mehr bedarf, wie eine Herde: „sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig“ (Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1985, 7).

Da ist aber auch die Frage nach der Essenz der Wissensproduktion der Experten, in diesem Falle der Historiker. Welche Bedeutung besitzt eine kritische Geschichtswissenschaft angesichts staatlicher Geschichtspolitik, die von einem staatlich finanzierten Wissenschaftssystem vielfach affirmativ begleitet und gestützt wird? Folgt man den Moden der Profession, die sich vom 19. Jahrhundert seit langem abgewandt hat und dennoch (vielleicht auch deshalb?) öffentlich zunehmend bedeutungslos wird?

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Wo einst Wilhelm II. residierte – und ein Außenlager des KZ Neuengamme bestand

Zu all diesen Fragen – und natürlich zu den vielen kleinen Fachfragen – hätte ich gerne mehr am Denkmalsort erfahren, doch dies unterblieb. Und so verließ ich den Ort. Nicht ohne nochmals anzuhalten. Am Hotel Kaiserhof, am Fuße des Wittekindsberges. Dort wo einst Wilhelm II. tafelte und wohin er wieder zurückkam, im September 1898, beim Kaisermanöver (Allgemeine Zeitung 1898, Nr. 248 v. 8. September, 6). Seine Geschichte müsste gesondert erzählt werden. Ein anderes Denkmal in Porta Westfalica, das 1933/34 errichtete Schlageter-Denkmal auf der anderen Weserseite, am Jakobsberg, gab quasi den Takt vor. Es stand für die nationalsozialistische Transformation der Region, die auch das Hotel prägte. Im März 1944 wurde hier ein Außenlager des KZ Neuengamme eingerichtet. Bis zu 1.500 Häftlinge mussten hier leben, um Arbeit im Stollen unterhalb des Kaiser-Wilhelm-Denkmals zu leisten. Ca. 600 Personen kamen dabei ums Leben (Informationstafel der KZ-Gedenk- und Dokumentationsstätte Porta Westfalica am Hotel, 20. Februar 2019; https://www.gedenkstaette-porta.de/). Das Hotel musste 2011 Insolvenz anmelden, im gleichen Jahr zerstörte ein Brand große Teile des Hauses. Ein Wiederaufbau des unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes ist nicht in Sicht. Das wäre ein guter Ort für eine Gedenkstätte, für ein historisches Museum. Vielleicht wäre das eine Alternative für die Flucht vor der Vergangenheit bergauf.

Uwe Spiekermann, 3. April 2019