Gift im Zucker!? Der Skandal um die Ultramarinfärbung 1856

Lebensmittelskandale sind Salz in der Suppe moderner Konsumgesellschaften – die gängigen Sicherungssysteme greifen zwar, doch ihre strukturellen Grenzen werden sichtbar (lebensmittelwarnung.de – Meldungen). Das galt auch für den nachfolgend analysierten Zuckerskandal des Jahres 1856, der die durch Ultramarinfärbung möglichen Gesundheitsgefahren grell beleuchtete. 1856? Ja, Lebensmittelskandale gab es offenkundig schon lange bevor man diesen Begriff im Ersten Weltkrieg erstmals verwendete (Die Kölner Lebensmittelskandale, Volkswacht 1916, Nr. 112 v. 13. Mai, 3; Wie mit Lebensmitteln geschwindelt wird, Münstersche Zeitung 1917, Nr. 65 v. 8. März, 4). Das sperrige Wort verschwand in der unmittelbaren Nachkriegszeit neuerlich, kam während des Zweiten Weltkriegs lediglich als Teil der NS-Propaganda gegen Großbritannien wieder auf (Churchills Speisekarte, Das Kleine Volksblatt 1941, Nr. 10 v. 10. Januar, 3; Scotland Yard versagt gegen Schieber, Westfälische Neueste Nachrichten 1941, Nr. 119 v. 23. Mai, 7). Während der 1950er und 1960er Jahre gab es zahlreiche Skandale – doch der Begriff wurde erst in den 1970er Jahren wieder geläufiger, im Rahmen der verschiedenen Hormonskandale, um die Jahrtausendwende dann der BSE- und Nitrofenskandale (Werner Stoya, Chemie in unserer Nahrung – ein Skandal? Lebensmittel, im Spiegel heutiger Zeit, München 1975; Uwe Spiekermann, Hormonskandale, in: Skandale in Deutschland nach 1945, hg. v.d. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2007, 104-113).

Lebensmittelskandal, dieser Begriff war offenbar sprachlicher Nachgänger der wahrlich nicht heilen Konsumwelt des 19. Jahrhunderts. Skandale mit Bezug auf Lebens- resp. Nahrungsmittel waren lange vor dem Ersten Weltkrieg alltäglich. Die neuen Produktionstechniken unterminierten die bestehenden Angebote – und das neue Unbekannte war mit zuvor unbedachten Risiken verbunden. Diese Skandale erschienen den Zeitgenossen allerdings handfester, griffiger, wurden direkt verbunden mit den jeweils betroffenen Lebensmitteln (Milchskandal) oder den verfälschenden oder schädigenden Substanzen (Methylalkoholskandal). Schließlich verband der Dachbegriff der Nahrungsmittelfälschung höchst unterschiedliche Formen des Betrugs, der Fälschung und der Schädigung, erlaubte bündelnde Diskussionen, beredte Klagen gegen die Zeitläufte.

Derartige Skandale waren eine Begleiterscheinung der gewerblichen, dann auch industriellen Fertigung von Nahrung. Sie erforderten allerdings einen öffentlichen Resonanzraum, waren also nicht Ausdruck von individuellem Betrug oder Fälschung, sondern auch Gegenstand öffentlichen Räsonnements, medialer Aufmerksamkeit. Die bürgerliche Öffentlichkeit aber entfaltete sich im 19. Jahrhundert nur langsam, Weimarer Kultiviertheit war fern, Pressezensur üblich. Die 1815 und 1848 kodifizierte Pressefreiheit währte jeweils nur kurz; und auch das Reichspressgesetz von 1874 wurde im staatlichen Kampf gegen Katholizismus und Sozialdemokratie vielfach suspendiert. Der Rahmen des Sagbaren erweiterte sich, doch nach wie vor hing das Richtbeil des Staates über offenen Debatten kundiger Bürger. Dies begrenzte die Thematisierung von Skandalen. Das galt aber auch für die im Begriff „Skandal“ anfangs liegende Selbstbegrenzung der bürgerlichen Gesellschaft. Er stammte vom französischen Hofe, bezeichnete nicht nur eitlen Tuschelkram, sondern Anstoß und Aufsehen erregende Geschehnisse. Der Skandal war im frühen 19. Jahrhundert liberal-konservativ, es ging um Ehre und Anstand, um den Verfall und vor allem die Bewahrung der alten Ordnung. Den heutigen aufklärerisch-progressiven Klang gewann er erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Skandale markierten also eine zweigeteilte Welt: Konservative debattierten vorrangig private, Liberale und Linke dagegen vermehrt politische Skandale.

Vor diesem Hintergrund war es überraschend, dass just Zucker Gegenstand eines der ersten Lebensmittelskandale der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde. Zucker war eine gewerblich produzierte Handelsware, und die hierzulande schon im 18. Jahrhundert übliche Raffination des kolonialen Rohrzuckers war umrankt von Debatten über die Qualität, den Wert und den angemessenen Preis des süßen Gutes. Das war durchaus üblich für den damaligen kundig-suchenden Umgang mit exotischen Genussmitteln. Präzise Standards fehlten, sei es über die chemische Zusammensetzung, sei es über die unterschiedlichen Qualitäten der kolonialen Roh(r)zuckerimporte. Diese wurden sowohl in den Londoner Docks als auch den nördlichen Hafenstädten grundlegend bearbeitet und raffiniert, so dass Konsumenten den Qualitätsversprechen der Händler und Großhändler vertrauen mussten, da häusliche Zuckerkontrolle aufwändig war.

Ein vielgestaltiges Angebot: Zuckeranzeigen (Freiberger Anzeiger und Tagblatt 1855, Nr. 267 v. 14. November, 1454 (l.); Bonner Zeitung 1856, Nr. 299 v. 20. Dezember, 4)

Der kurze Aufschwung der einheimischen Rübenzuckerindustrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dann erst wieder seit Mitte der 1830er Jahre veränderte dies nur ansatzweise. Die mühselige Fabrikation schien dem Zuckerrohr oder der Runkelrübe gleichermaßen ihre vermeintliche Essenz abzuringen. Wie der weiße Antipode Salz galt Zucker als eine Art reiner Nahrungsstoff – obwohl er doch in vielgestaltiger Form, als Hutzucker, als Melis, Farin, Kandis oder Raffinade, und in grauer, brauner, gelblicher und auch weißer Farbe angeboten wurde. Die chemisch zunehmend komplexe Zuckerproduktion führte zu steten Rückfragen, manche Zeitgenossen lasen mit mulmigem Gefühl über den Einsatz von Kalk oder Knochenkohle bei der Raffination. Doch der Konsum verdoppelte sich trotz hoher Preise bis 1850 auf ca. zwei Kilogramm pro Kopf und Jahr. Am Ende siegte der Lockreiz des repräsentativen Süßen, konnten die offenkundigen Produktmängel den Glauben an den reinen Zucker nicht wirklich unterminierten. Die Industrie, die deutsche, sie wuchs jedenfalls – und am Ende würden deutsche Wissenschaft und deutsche Technologie die Fabrikation vereinfachen, reinen Zucker produzieren. Wunschwelten und Selbstvermarktung verschmolzen, wurden auch in der späteren, recht unkritischen Fachliteratur nicht wirklich thematisiert (vgl. etwa Roman Sandgruber, Genußmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1994, T. 1, 73-88; Christoph Wagner, Süsses Gold. Kultur- und Sozialgeschichte des Wiener Zuckers, Wien 1996; Christoph Maria Merki, Zucker, in: Thomas Hengartner und Ders. (Hg.), Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt/M. und New York 1999, 231-256). Ein kritische Genussmittelgeschichte des 19. Jahrhunderts ist bis heute ein Desiderat.

Die Ahnen auf dem Tische: Knochenkohle in der Zuckerraffinade (Fliegende Blätter 23, 1856, 14)

Ein Weckruf

In dieser Zeit erschien nun ein kleiner Artikel in der Vossischen Zeitung, Berlins bekanntester Tageszeitung, in dem nüchtern ein vermeintlicher Skandal dargelegt wurde: „Seit einiger Zeit kommt im Handel ein Zucker vor, der ein schönes blauweißiges Ansehen hat. Sein Preis ist höher als anderer Zucker, dessen Farbe ins Gelbliche spielt; aber sehr mit Unrecht, denn der blauweiße Zucker ist gefälscht und vergiftet, der gelbliche nicht. Der blauweiße Zucker enthält nämlich einen der Gesundheit nachtheiligen blauen Stoff, das sogenannte Ultramarin, im höchst fein zertheilten Zustand beigemengt.“ Der hohe Preis war offenbar kein Schutz, kein Ausdruck höherer Güte, dies alles war Illusion. In Wasser aufgelöst, zeigte sich ein blauer Rückstand: „Zu diesem äußerlichen Verhalten gesellt sich ein recht widerliches Inneres. Mischt man nämlich den blauen Rückstand mit einer Säure, zum Beispiel Citronensaft, so entwickelt sich ein Gestank nach Schwefelwasserstoff.“ Wer also eine Bowle aus Wein, Zucker und Südfrüchten bereitete, stand in Gefahr „anstatt der Rheinweinblume die faulige Schwefelwasserstoffblume zu genießen.“ Der neue Zucker habe sich allgemein verbreitet, „ein solcher vergifteter Zucker“ sei kaum mehr zu umgehen. Der Autor verglich dies mit dem frühen Aufkommen der Lebensmittelfarben, dem zeitweiligen Blendwerk schön anzuschauender Backwaren und Konfekte: „Wie viel Zeit und Kämpfe hat es gekostet, ehe die Zuckerbäcker es lernten, welche Farben unschädlich, also anwendbar sind zum Färben der Süßigkeiten, und noch jährlich macht die Polizei zur Nachachtung und Warnung die guten und schlimmen Farben in den Zeitungen bekannt. Unter den schlimmen Farben (d.h. den giftigen) befindet sich auch Ultramarin, nun kommen die Herren Zuckersieder und mischen es ohne Weiteres unter ihren Zucker.“ Neuerliche Intervention zum allgemeinen Schutz sei erforderlich: „Denn das Unheil, was sie anrichten können, ist grenzenlos.“ Die Vergiftung des Käufers erfolge schleichend, führe zu weit verbreitetem und kaum zu behandelndem Siechtum: „Wie sollte er auch im harmlosen, sich so süß einschmeichelnden Zucker, ein Gift vermuthen?“ Doch Selbsthilfe war möglich: „Man kaufe keinen blauweißen Zucker, sondern gelben oder gelbbraunen. Candis z.B. ist ohne Gift“ (Zitate n. F[riedlieb] J. [sic!] Runge, Gift im Zucker, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 118 v. 23. Mai, 15-16)

Der Artikel erzielte beträchtliche Resonanz, wurde von vielen Zeitungen übernommen (etwa Posener Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 1; Wochenblatt für Pulsnitz […] 1856, Nr. 24 v. 13. Juni, 185), weit häufiger noch über den Inhalt berichtet. Zwei Punkte hoben den Artikel deutlich hervor. Zum einen tönte die Überschrift „Gift im Zucker“ dramatisch – in den Bleiwüsten der damaligen Zeitschriften unterblieben solche Hervorhebungen zumeist. Gift war damals allerdings ein breiter, ein schillernder Begriff (vgl. Jakob Tanner, Die Ambivalenz der Nahrung. Gift und Genuss aus der Sicht der Kultur- und der Naturwissenschaften, in: Gerhard Neumann et al. (Hg.), Essen und Lebensqualität, Frankfurt/M. und New York 2001, 175-213). Gebraucht wurde er Mitte des 19. Jahrhunderts bei einer eindeutigen physiologischen Schädigung, etwa bei Alkohol, Tabak, Wein oder Kaffee, zunehmend auch bei pharmazeutischen Giften, sichtbar im damals modischer werdenden Giftmord in bürgerlichen Kreisen. Doch dies waren (noch) Ausnahmen, denn bei den meisten Vergiftungen handelte es sich um Nachlässigkeiten, „mit der man giftige Dinge behandelt, oder von der Unkenntniß gefährlicher Dinge, oder von der böswilligen Verfälschung der Speisen und Getränke“. Das galt gerade für den Umgang mit Speisen und Getränken, „besonders in den großen Städten, die es in dieser Giftmischerei am weitesten gebracht, sogar Patente genommen haben auf solche Künste“ (Vergiftungen, Der Verkündiger für Stadt und Land 1854, Nr. 52 v. 29. Juni, 2, Nr. 54 v. 6. Juli, 3, Nr. 58 v. 20. Juli, 22, hier Nr. 52). Der Giftbegriff hatte damals aber auch eine andere, gar dominante Bedeutung: Es ging um das Gift im Herzen, um schwindende Verantwortungsbereitschaft, fehlendes Miteinander. „Gift“ verwies auf die stets gefährdete Moralität der bürgerlichen Gesellschaft durch Menschen ohne gemeinsame Werte. Das war ausgrenzend, gerade gegenüber revolutionärem Gift, doch es verwies vor allem auf das Bürgertum selbst, dessen kulturelle Hegemonie durch die eigene Raffgier, durch die wachsende Bedeutung von Erwerbstrieb, Börse und Spekulation unterminiert wurde. Die Weltwirtschaftskrise begann zwar nominell erst 1857, doch die warnenden Vorzeichen einer Agrarüberproduktion, breiten Preisverfalls und kritisch beäugter Aktienspekulationen in Banken und Eisenbahnen waren im Sommer 1856 bereits überall greifbar.

Friedlieb Ferdinand Runges Grab und Denkmal in Oranienburg (Wikipedia)

Zum anderen handelte es sich bei dem Autor um einen der damals wichtigsten Naturwissenschaftler des Deutschen Bundes. Der aus einem Hamburger Pastorenhaushalt stammende Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867) begann seine Karriere als Apothekergehilfe, studierte ab 1816 zuerst Medizin, dann Chemie, erwarb Doktortitel in beiden Disziplinen. Ab 1828 war er Professor für Technologie in Breslau, verließ nach nur vier Jahren jedoch die Universität, zog nach Oranienburg, wo er als technologischer Chemiker praktisch forschte. Die innere Distanz zum eitlen, aus seiner Sicht zu theoretisch arbeitenden akademischen Milieu führte zu einer relativen Außenseiterposition im gelehrten Deutschland, die durch Runges fehlende Prunk- und Geltungssucht, sein Junggesellendasein und auch seine Publikationstätigkeit fern der gelehrten Journale nochmals unterstrichen wurde (Christa und Fred Niedobitek, Friedlieb Ferdinand Runge: Sein Leben, sein Werk und die Chemische Produkten-Fabrik in Oranienburg, Detmold 2011). Seine Entdeckungen, darunter die Isolation des Koffeins 1819, brachten ihm schon früh die Charakterisierung als „Dr. Gift“ ein (Klaus-D. Röker, Die „Jedermann-Chemie“ des Friedlieb Ferdinand Runge, Mitteilungen der Fachgruppe Geschichte der Chemie 23, 2013, 52-70, hier 53). Runge konzentrierte sich auf praktische Anwendungen des neuen Wissensfeldes Chemie, Stearinkerzen und Palmölseifen wurden auch dadurch Alltagswaren. Seine wichtigsten Entdeckungen resultierten jedoch aus der Analyse des Steinkohlenteers, eines Nebenproduktes der Koksherstellung aus Steinkohle. Die Kohlenwasserstoffe bildeten das eigentliche Stofffundament für das Wachstum sowohl der britischen als auch dann der deutschen chemischen Industrie, bei Grundstoffen als auch insbesondere bei Farben (Albrecht Pohlmann, Vom Türkischrot zum Anilin. Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867), dem Pionier der modernen Farbenchemie, zum 150. Todestag, Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft 22, 2017, 10-31). Runge untersuchte und isolierte beispielsweise das Anilin, das Aurin, die Karbolsäue und die Pyrrole. Die großbetriebliche Umsetzung und Nutzung blieben allerdings anderen vorbehalten. Sein fehlender Geschäftssinn führte auch dazu, dass er ab 1855, dem Todesjahr des Besitzers der „Chemischen Produktenfabrik Oranienburg“, ohne Pension dastand und einen sehr bescheidenen Lebensabend verlebte.

Die bis heutigen gängigen Deutungen Runges als „Genie ohne Ruhm“ verkennen nicht nur die sehr heterogene Rezeptionsgeschichte zumal unter späteren nationalistischen und nationalsozialistischen Vorzeichen (Lena Höft, Karl Aloys Anilin als ‚durchgesehene und ergänzte Neuauflage‘. Ein nationalsozialistischer Sachbuchbestseller und seine Transformation in der Frühphase der Bundesrepublik, s.l. 2014, insb. 38-46), sondern auch seine gegenüber dem akademischen Establishment seiner (und auch unserer) Zeit kritischen Wissenschaftsauffassung. Als Praktiker sah er sich zugleich als Pädagoge und Popularisator der Naturkunde. Runge wollte die Zöpfe der akademischen und auch gymnasialen Ausbildung abschneiden: „Das Regiment der Schulmeister ist vorüber.“ Nicht mehr die Antike und ihre von Menschenhand geschaffenen Werke seien Bildungsleitfäden, sondern die Kenntnis des göttlichen Werkes der Natur. Naturkunde und Mathematik seien in die Gewerbe- und Bürgerschulen vorgedrungen und selbst die Universitäten ließen langsam ab vom Altväterwissen, denn ohne „Kenntnisse im praktischen Leben“ sei man rückständig, „erliegt der Concurrenz, wird von dem Klügern überflügelt und verarmt“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Einleitung in die technische Chemie für Jedermann, Berlin 1836, V-VI). Wissenschaftliches Wissen sei Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, müsse daher offen für Jedermann sein, nicht Deutungsmasse für Expertokratien. Chemisches Wissen war für ihn nicht ein Wissensschätzlein, gewonnen im Laboratorium, sondern Befähigungswissen für selbstbewusste Bürger. Für Runge war dies befreiend, zielte auf Eigeninitiative, auf die selbstbestimmte Verbesserung der Welt für und durch Jedermann. Das war idealistisch gedacht, stand jedoch auch hinter seiner Intervention gegen „Gift im Zucker“. Es ging um die Beobachtung und Minimierung bestehender Gefahren im Alltag. Der „bekannte Chemiker Prof. Runge“ (Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten 1856, Nr. 216 v. 28. Mai, 3; Bonner Zeitung 1856, Nr. 122 v. 28. Mai, 2) schrieb, um einen offenkundigen Missstand zu beheben.

Bürgerliche Scheinwelten

Ultramarin war eine Pigmentfarbe, eine „glänzend blaue Farbe, welche vor den meisten andern blauen Farben Vorzüge hinsichtlich der Völle ihres Tons u. ihrer Haltbarkeit hat. Bleibt an der Luft, so wie in Oel unverändert, wird nicht durch Alkalien zerstört, selbst bei Erhitzung damit, leidet auch nicht durch Glühen, verliert dagegen binnen weniger Minuten ihre Farbe durch Säuren“ (Das Hauslexikon, Bd. 8, Leipzig 1838, 217). Sie war in der frühen Neuzeit eine edle Malerfarbe, teuer, mühselig ausgeschlemmt aus italienischen Lapislazuli-Beständen, teils importiert aus dem Hindukusch, aus Ägypten. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Ultramarin erst verwissenschaftlicht, dann „demokratisiert“. Ein Preisausschreiben der Société d’encouragèment pour l’industrie nationale initiierte in den 1820er Jahren die Produktion eines künstlichen Substituts. Parallel zum Bekanntwerden der preisgekrönten Forschungen des französischen Chemikers Jean-Baptiste Guimet (1795-1871) hatte der Tübinger Chemiker Christian Gottlob Gmelin (1792-1860) 1828 bereits ein Produktionsverfahren veröffentlicht, das den Aufbau einer rasch wachsenden Industrie ermöglichte (Künstliches Ultramarin, Journal für technische und ökonomische Chemie 2, 1828, 406-409; Joost Mertens, The History of Artificial Ultramarine (1787-1844): Science, Industry and Secrecy, Ambix 51, 2004, 219-244; Eberhard Schmauderer, Die Entwicklung der Ultramarin-Fabrikation im 19. Jahrhundert, Tradition 14, 1969, 127-152). Insbesondere nach der Gründung der Nürnberger Ultramarinfabrik 1838 wurde die schöne blaue Farbe in immer weiteren Bereichen eingesetzt. Neben den Anstrich trat das Färben von Papier und Tapeten, dann aber auch das „Weißen“ erst des Papiers, ferner der Wäsche und auch des Zuckers.

Eine Pigmentfarbe mit beträchtlichen Vorteilen: Werbung der Nürnberger Ultramarinfabrik (Karlsruher Zeitung 1841, Nr. 49 v. 19. Februar, 299)

Ultramarin färbte diese Güter nicht, sondern ließ sie weiß erscheinen. Dies war Reflex eines simplen optischen Phänomens, nämlich der Komplementärwirkung von Blau und Gelb. Die Waren- und Alltagswelten wurden nicht nur farbiger, sondern verloren ihren Grauschleier, das Unspezifische des gräulich dumpfen Tones der Leinenwaren, der Hanfgespinste: „So blaut man unter Anderm die Leinwand (auf 50 Stück Leinwand 2-3½ Pfd. Ultramarin), die Papiermasse, die Wäsche, die Kalkmilch beim Anstreichen, die Stärke, die Stearinmasse zur Kerzenfabrikation, und endlich auch den Zucker“ (Johannes Rudolf Wagner, Die chemische Technologie, 7. verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1868, 344). All dies wurde als Errungenschaft der modernen Technik gefeiert. Ordinärer Zucker sah gelblich aus, erstrahlte gebläut jedoch weiß. Weißer Zucker aber wurde höher bezahlt, galt als reiner. Das nutzten die Zuckerfabrikanten mit Bezug auf den vermeintlichen Willen der Konsumenten: „Der Geschmack des Publicums zieht nun unbedingt eine bläuliche Färbung der gelblichen vor, dem Fabrikanten bleibt also nichts übrig, als diesem Geschmacke zu genügen“ (Adolphi, Der Zucker als Consumtions-Artikel und das consumirende Publicum, Zeitschrift des Vereins für die Rübenzucker-Industrie 9, 1859, 337-355, hier 352).

Doch natürlich ging es Mitte des 19. Jahrhunderts um mehr, denn der an sich aufstrebende Rübenzucker kämpfte um Marktakzeptanz. Der importierte, in London oder auch in deutschen Landen raffinierte Rohrzucker war gefälliger, heller, enthielt weniger Rückstände, zumal nicht die technisch aufwändig zu entfernende, teils stinkende Rübenmelasse. Der Ultramarinzusatz konnte helfen, die damaligen „Vorurtheile gegen den Rübenzucker“ (Pariser Ausstellungs-Skizzen für Böhmen. IX., Der Tagesbote aus Böhmen 1855, Nr. 267 v. 27. September, 1) zu überwinden. Das passte zu dem recht deutschen Glauben an heimische Ersatzmittel, die den Geist des allgemeinen Fortschritts verkörperten.

Ultramarin war also ein Aufheller, scheinbar ungefährlich, auf jeden Fall freudig angewandt, um die Welt schöner erscheinen zu lassen. Seine Akzeptanz war Teil einer zunehmenden surrogatbasierten Verzauberung und Ästhetisierung der Warenwelt schon zu Beginn der Konsumgesellschaft. Noch war vieles in statu nascendi: Denken Sie etwa an die sich erst in den Anfängen befindliche Photographie, insbesondere im Gefolge der seit 1839 frei verfügbaren Daguerreotypie, die sich auch durch technische Verbesserungen und Objektive der Wiener Unternehmer Josef Petzval (1807-1891) und Peter Wilhelm Friedrich von Voigtländer (1812-1878) verbreitete. Spiel mit dem Licht, auch mit der Illusion, wurde in den Ateliers üblich, Lichtaufheller sorgten für ansehnlichere Porträts. Bleichmittel wurden Teil einer modernen Wäschepflege, verbesserten die Ergebnisse des meist noch im Freien stattfindenden Bleichens der Wäsche. Haarfärben war aufwändig, doch Wasserstoffsuperoxid war bereits zu haben, auch wenn es sich erst seit 1867 als Haaraufheller für die bürgerliche Frau etablierte. All das war Teil der Surrogatkultur des damaligen Bürgertums, die auf Pressglas und Stuck, Verblendungen und Furnierholz gründete, da für das so treu und stetig besungene „Echte“ zumeist das Geld fehlte. Das von Runge kritisierte „Gift im Zucker“ war daher zwar kaum zu leugnen, doch es entsprach einem Trend, der weit über das süße Genussmittel hinauswies.

Die Debatte der Fachleute

Der Skandal um „Gift im Zucker“ entwickelte sich auch daher höchst eigenartig. Am Ende stand nicht ein einfaches Verbot der Ultramarinfärbung, sondern der vielgestaltig genährte Verdacht, dass es sich bei alledem um Debatten zwischen obskuren Eigenbrötlern handelte, die fernab der praktischen Alltagssorgen in akademischen Wolkenkuckucksheimen lebten. Um dieses einzufangen, sind drei analytische Schritte erforderlich. Erstens werden wir uns den wichtigsten Antworten und Reaktionen auf Runges Artikel widmen, zweitens die vielen anonymen Artikel über diese Debatte diskutieren, ehe wir uns drittens die satirischen Kommentare genauer ansehen. Rasch zeigte sich, dass es kaum ein Interesse daran gab, Runges Warnungen im Detail zu diskutieren und geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen. Der Skandal führte nicht zur Beseitigung der Ursache, sondern beschädigte fast alle Beteiligten. Nicht Wandel, sondern Bestätigung des Status quo war das Ergebnis – und damit zugleich auch eine Beschädigung der Figur des öffentlich für das Gemeinwohl intervenierenden Experten.

Als erster antwortete der in der pommerschen Metropole Stettin tätige gerichtliche Chemiker Gustav Reich. Er war ein allseits bekannter Gewährsmann der Rückenzuckerindustrie – was allerdings nicht thematisiert wurde. 1850 hatte er in Berlin ein Verfahren zum Fäulnisschutz von Klärblut für die Zuckerfabrikation entwickelt, das zuerst in der Potsdamer Zuckersiederei von Ludwig Jacobs (1794-1879) angewandt, anschließend in vielen weiteren Zuckerfabriken genutzt wurde (Archiv der Pharmazie 114, 1850, 421-423; Aufforderung zur gemeinschaftlichen Erwerbung eines von dem Herrn Dr. Gustav Reich aufgefundenen Verfahrens, das zur Klärung erforderliche Blut vor Fäulniß zu schützen […], Zeitschrift des Vereins für die Rübenzuckerindustrie im Zollverein 1, 1851, 68-70). Reich wechselte spätestens 1851 zur auch heute noch produzierenden Pommerschen Provinzial-Zuckersiederei (ebd. 1851, n. 336). Er wäre also in der Lage gewesen, die technologische und unternehmerische Logik der Zuckerfärbung einem breiten Publikum verständlich zu machen. Doch stattdessen offerierte er Polemik und beharrte auf der völligen Unschädlichkeit des Ultramarins für den Menschen.

Runge, so Reich, sei zwar ein berühmter Farbenchemiker, seine Polemik gegen die „schöne blaue Farbe des Ultramarin“ jedoch offenbar Ergebnis einer Bowlenlaune. Er habe übellaunig und ohne vorherige Kontrolle am „thierischen Organismus“ dieses „unschuldige Fabrikat“ zu einem Gift gemacht, dadurch das Publikum „irre geführt“ und „die Zuckerfabrikanten zu Giftmischern gemacht“. Ja, Schwefelwasserstoff könne sich bei der Reaktion mit Säuren bilden, doch angesichts der „fast homöopathischen“ Zusatzmengen bei der Produktion sei dies eine völlig zu vernachlässigende Gefahr. Auf 100 Pfund Zucker kämen ganze 4,5 Gramm Ultramarin, also ein 1760stel. Runge sei offenbar ein Homöopath, glaube an die Wirkung von fast nichts – oder er habe zu viel von seinem Lieblingsgetränk Bowle konsumiert, „und in dieser blauen Stimmung ist ihm im Traume das Ultramarin als blaues Gift erschienen!“ (Zitate n. Gustav Reich, [ohne Titel], Stettiner Zeitung 1856, Nr. 243 v. 27. Mai, 2 (auch für das Folgende)

Gift, Gift, Giftmischer: Typographische Aufmachung der Reichschen Replik auf Runges Artikel (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 122 v. 28. Mai, 13)

All dies wäre als typische Polemik zwischen deutschen Gelehrten durchgegangen, bei der eine derbe und verletzende Sprache üblich war – Justus von Liebig (1803-1873) war dabei unrühmliches Beispiel. Doch Gustav Reich ließ es dabei nicht bewenden: Er nahm ungefähr acht Gramm Ultramarin, rührte sie in Zuckerwasser, gab dieses dann seinem „Arbeitsmann“ – also seinem Dienstboten – zu trinken, ließ den Menschenversuch von seinem Stettiner Hausarzt Dr. Meyer dokumentieren. Und wahrlich, das Ultramarin „zeigte sich indifferent auf seinen Organismus und hatte nur die Wirkung, daß ein Aufstoßen mit dem Geruch nach Schwefelwasserstoffgas erfolgte und einige übelriechende Blähungen von Schwefelwasserstoffgas sich aus ihm entwickelten (wie das beim Genuß von Erbsen auch bei ihm vorkommt), welche aber auf meinen Organismus keine giftige Wirkung äußerten.“ Das Ergebnis sei nicht anders zu erwarten gewesen, denn auch die Ultramarinproduktion seines Lieferanten, des Wermelskirchener Apothekers Carl Leverkus (1804-1889), habe nie Vergiftungen bei dessen Beschäftigten hervorgerufen. Auch das Schlafen in Zimmern mit Ultramarintapeten sei völlig ungiftig. Reich schloss seinen Artikel mit einer neuerlichen Breitseite auf den populären chemischen Schriftsteller Runge, der auf die „naturwissenschaftliche Unwissenheit eines Theils des Publikums spekulirt“, dessen Ausführungen aber substanzlos seien, während er selbst allein auf die „Beruhigung des Publikums“ ziele.

Im Anhang dieser Replik, die von der Vossischen Zeitung mit einer absolut unüblichen typographischen Hervorhebung des Gift-Themas gezielt aufgeheizt worden war, erschien die kurze Stellungnahme des Hausarztes: Der Arbeitsmann „verspürte darauf in keiner Weise ein Unbehagen, weder Uebelkeit noch Druck oder Brennen in der Magengegend; nur gab er an, einige Mal ein Aufstoßen wie nach faulen Eier zu verspüren, was von der Entwickelung von Schwefelwasserstoffgas im Magen herrührte, doch war beim Ausathmen des Baumert Nichts von diesem Geruche zu verspüren. – Auch am folgenden Tage befand sich der Baumert im besten Gesundheitszustande und war seine Verdauung in keiner Weise beeinträchtigt.“ Daraus schloß Dr. Meyer messerscharf, „daß das Ultramarin selbst in größerer Gabe in den Magen gebracht, in keiner Weise nachtheilig auf den thierischen Organismus einwirkt, und daß dasselbe demgemäß zu dem menschlichen Körper sich völlig indifferent verhält“ (Meyer, Attest, Stettiner Zeitung 1856, Nr. 243 v. 27. Mai, 2; auch Posener Zeitung 1856, Nr. 129 v. 5. Juni, 4).

Derart herausgefordert, ließ die Reposte Runges nicht lange auf sich warten. Statt aber sachlich zu antworten und die offenkundigen blinden Flecken in Reichs Antwort präzise zu benennen, konzentrierte er sich auf das Argument, dass Ultramarin ein vielgestaltiges Produkt sei, das je nach Produktionsweise und Herkunft sehr wohl giftig sein könne. Auch Schwefelarsen könne darin enthalten sein – und er wollte „dem tapferen Herrn Baumert nicht rathen,“ solche Varianten zu verschlucken. Als gerichtlicher Chemiker müsse Reich derartige Unterschiede kennen, zumal Ultramarin in Polizeivorschriften durchaus als eine schädliche Farbe auftauche, deren Vermischung mit Esswaren nach § 304 des Preußischen Strafgesetzbuches strafbar sei. Die Verfütterung des Ultramarins habe demnach keinerlei Aussagewert, der Hausarzt fabuliere über ihm unbekannte Dinge. Gustav Reich solle aber als Amtsperson nach § 304 bestraft werden. Neuerlich beendete Runge seinen Artikel mit einer Nutzanwendung, in der er den Giftvorwurf leicht zurücknahm, um zum Kern des Konsumentenschutzes vorzustoßen: „Gesetzt nun auch alles Ultramarin, das die Zuckersieder zum Zuckerfärben anwenden, sei nicht Gift, so bleibt doch stets die Zumischung zum Zucker eine Gesetzübertretung, und dann gelinde gesagt, eine Sudelei. Wenn auch die Farbe noch so schön ist (auch ich verehre sie, aber im Auge, nicht im Magen) so ist sie im Zucker doch am unrechten Ort, und was am unrechten Orte ist, ist Schmutz“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Gift im Zucker, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 17). Zugleich aber war Runge mit seinem Strafansinnen weit über das Ziel hinausgeschossen: Paragraph 304 zielte nämlich auf Brunnen- und Lebensmittelvergiftung, und sah für vorsätzliche Vergiftung oder vergiftende Stoffzumengungen Zuchthaus von fünfzehn Jahren oder gar – im Falle von Sterbefällen – die Todesstrafe vor. Selbst bei Fahrlässigkeit war eine Gefängnisstrafe möglich (Das Neue Strafgesetzbuch für die gesammten Preußischen Staaten […] vom 14. April 1851, 4. verm. Aufl., Berlin 1851, 77-78).

Runge als Spezialist für Schwefelverbindungen: Entree eines seiner Bücher (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Grundlehren der Chemie für Jedermann, 3. verm. Aufl., Berlin 1843, vor I)

Gustav Reich antwortete rasch, Neues aber kam kaum zutage: Ja, es gäbe auch giftiges, arsenhaltiges Ultramarin, doch für die Zuckerbläuung würde von den führenden Fabriken in Nürnberg, Wermelskirchen oder Coburg allein eine garantiert ungiftige Ware verkauft. Runge bringe nichts Neues, zu fragen sei vielmehr, warum er an einer schon lange üblichen Praxis der Färbung nun Anstoß nehmen, so als habe er „als bekannter Farbenchemiker, das ‚blaue Gift‘ im Zucker erst seit Kurzem entdeckt“ (Gustav Reich, Zur „giftigen“ Angelegenheit!, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 17). Reich betonte, ruhig auf die mögliche Bestrafung nach § 304 warten zu wollen, aus seiner Sicht nur eine haltlose „Denunciation“. Die Polemik gegen Runge setzte er fort, übertrug dessen Sorge um die öffentliche Gesundheit auch auf andere Anwendungsfelder des Ultramarin, fragte rhetorisch, ob nicht auch das Bläuen der Wäsche eine Beschmutzung und Besudelung sei (Stettinger Zeitung 1856, Nr. 259 v. 5. Juni, 2; Breslauer Zeitung 1856, Nr. 257 v. 5. Juni, 1881).

Gefärbte Waren als Spezialität des Chemikers Ferdinand Wincklers: Schwämme und Tauben (Illustrierte Zeitung 17, 1851, 393 (l.); Intelligenzblatt zur Wiener Zeitung 1854, Nr. 21 v. 25. Januar, 54)

Die Debatte unter den Fachleuten war damit allerdings noch nicht beendet – auch wenn es überraschend war, dass sie eben nicht in der Fachliteratur, sondern in allgemeinen Tageszeitungen geführt wurde. Runge erhielt jedenfalls Unterstützung durch den Berliner Agrarwissenschaftler und Chemiker Ferdinand Ludwig Winckler (1801-1868), zu dieser Zeit stolzer Erfinder eines neuen, in ganz Mitteleuropas intensiv beworbenen Universaldüngers (Ferdinand Winckler, Das Düngercapital der Landwirthschaft […], Berlin 1856; ders., F. Winckler’s künstlicher Normal-Dünger u. Regenerations-Guano, Berlin 1856). Er repräsentierte die ökonomischen Chancen der neuen Farbenchemie, hatte auf der Londoner Weltausstellung 1851 chemisch gereinigte, gebleichte und gefärbte Schwämme ausgestellt (Amtliches Verzeichniß der aus dem Deutschen Zollverein und Norddeutschland zur Industrie-Ausstellung […] in London eingesandten Gegenstände, Berlin 1851, 31-32), später „Berliner Papageien“ verkauft, also lebendige chemisch gefärbte Tauben in roter, goldgelber oder kornblauer Farbe. Winckler besaß europäische Kontakte, war Mitglied der Pariser Academie d’agriculture de France, leitete in Berlin ein chemisch-technisches Laboratorium (Landwirthschaftlicher Anzeiger für Nord- und Mitteldeutschland 4, 1858, Nr. 9, 118; Zeitung für Landwirthe 2, 1859, 471).

Für Winckler war die Zuckerbläuung eine offenkundige „Zucker-Verfälschung“ (Ferdinand Winckler, In Sachen des Dr. Runge’schen „Gift im Zucker“ contra Dr. Gustav Reich und Consorten, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 123 v. 29. Mai, 15; auch für das Folgende). Wichtiger aber schien noch, dass bestimmte Ultramarinvarianten sehr wohl giftig seien, Runge also zurecht vor einer Gesundheitsgefährdung gewarnt habe. Reich habe mit seinem Menschenversuche fahrlässig und feige gehandelt. Für Winckler war klar, dass ein kundiges Publikum den gebläuten Zucker meiden müsse. Gustav Reich antwortete hierauf ausflüchtend, fokussierte sich allein auf die unterschiedlichen Färbemittel (Gustav Reich, Notizen über die in Frage stehenden blauen Farben, Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 17-18).

Beruhigung als erste Wissenschaftlerpflicht (Magdeburgische Zeitung 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 7)

Parallel meldete sich Anfang Juni 1856 auch der gelernte Apotheker August Wilhelm Lindes (1800-1862) zu Worte: Er war seit 1828 ordentlicher Lehrer der Chemie und Mineralogie bei der kgl. Realschule zu Berlin und Privatlehrer der Pharmazie und hatte ab 1831 auch ein selbständiges Pharmazeutisches Institut, eine pharmazeutische Pensionsanstalt geleitet (Amtsblatt der Kgl. Preußischen Regierung zu Frankfurth a.d. Oder 1828, 68; Nicole Klenke, Zum Alltag der Apothekergehilfen vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2009, 231). Runge habe sich zwar von gemeinnützigen Intentionen leiten lassen, doch angesichts der nur geringen Mengen des eingesetzten Ultramarins und auch der bisher nicht aufgetretenen Krankheitsfälle gäbe es zur Beunruhigung keinen Anlass. Das hervorzuheben sei wichtig für den Fortgang von Handel und Industrie und „zur Beruhigung ängstlicher Gemüther, insbesondere der Frauenwelt“ ([August Wilhelm] Lindes, Zur Beruhigung, Posener Zeitung 1856, Nr. 129 v. 5. Juni, 4; zuerst in Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 17; auch in Stettinger Zeitung 1856, Nr. 258 v. 5. Juni, 2).

Den Reigen inhaltlicher Debattenbeiträge schloss die Nürnberger Ultramarin-Fabrik. Sie war auch nicht ansatzweise an einer sachlichen Diskussion interessiert, zielte dagegen auf die Diskreditierung und Denunziation eines der führenden deutschen Farbenchemiker: Die eigenen Produkte seien sämtlich ungiftig, die Einsatzmengen unbedeutend, der eventuell freiwerdende Schwefel kein Gift, sondern ein lebensnotwendiger Stoff. Die eigenen Arbeiter seien bester Gesundheit, das Ultramarin sei für sie „bisweilen heilsam“, ein „magen- oder blutreinigendes Mittel“ (Zur Aufklärung über Dr. F.J. [sic!] Runge’s: „Gift im Zucker.“, Breslauer Zeitung 1856, Nr. 279 v. 18. Juni, 1288). Runge wisse nicht, worüber er schreibe, sein Urteil daher irrelevant. Am Ende stand der Verweis auf die Obrigkeit: „Die wahrheitswidrigen Veröffentlichungen des Dr. Runge werden eine sanitätische Prüfung des Ultramarins sicherlich zur Folge haben, und diese wird das oben Gesagte über die gänzliche Unschädlichkeit unserer Farbe bestätigen. Möchte dies bald geschehen, um wenigstens von diesem Gesichtspunkte dem Hrn. Dr. Runge für seine gelehrte Unkenntniß danken zu können.“

Fassen wir diesen Teil der Debatte über die Blaufärbung des Zuckers im Mai/Juni 1856 kurz zusammen, so führte Runges Artikel offenkundig nicht zu einer inhaltlich substanziellen Auseinandersetzung über die möglichen Gesundheitsgefahren durch das Färbemittel. Das Publikum las von einander widersprechenden wissenschaftlichen Einschätzungen – hier Gift und Gesundheitsgefährdung, dort völlige Unschädlichkeit. Die Konsumenten sollten nach Runges und auch Wincklers Einschätzung auf gebläuten Zucker verzichten, doch eine marktgängige Alternative war dazu nicht in Sicht, denn über eine Kennzeichnung dieser Ware wurde nicht diskutiert, ebenso nicht über ungefärbte Angebote. Es blieb demnach nur der Verzicht, der Kauf von Kandiszucker oder aber die aufwändige Kontrolle im Hause.

Themensetzung in der publizistischen Öffentlichkeit

Der von Friedlieb Ferdinand Runge in Berlin initiierte Skandal über „Gift im Zucker“ wurde binnen weniger Tage in nahezu alle Städte der deutschen Lande getragen, dort wohl auch diskutiert. Anzunehmen ist, dass auch die fachliche Diskussion etwas breiter war. Da dieses Land jedoch immer noch ein digitales Entwicklungsland ist – und insbesondere in dem sich Hauptstadt nennenden Berlin der Unwille zur Arbeit (im Gegensatz zum Erhalt von leistungsungebundenen Subventionen) gerade im Bibliothekssektor besonders ausgeprägt ist, ist eine breitere Analyse des Hin und Her vor Ort nicht wirklich möglich (zur damaligen Presselandschaft s. Robert Springer, Berlin. Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebungen, Berlin 1861, 252-253).

Die Berichterstattung orientierte sich an der Artikelabfolge in Berlin, konzentrierte sich aber nicht allein auf den Skandal der Zuckerbläuung, sondern vor allem auf den Zweikampf von Runge und Reich. Obwohl gebläuter Zucker ein allgemeines, gar nationales Thema war, wurde der Skandal dadurch personalisiert: „Die Zucker-Debatte geht in den berliner Blättern noch fort“ (Kölnische Zeitung 1856, Nr. 150 v. 31. Mai, 3). Runge war dabei kaum mehr als ein Name, häufig schrieb man lediglich von „einem“ Dr. Runge (Bläulicher Zucker schädlich, Wiener Theater-Zeitung 1856, Nr. 120 v. 28. Mai, 482). Dessen Artikel wurde kurz und kompakt wiedergegeben: „In der ‚Voss. Ztg.‘ macht ein Dr. Runge auf eine Zuckergattung aufmerksam, die seit einiger Zeit im Handel vorkomme, ein schönes blauweißes Aussehen habe, und sehr mit Unrecht theurer bezahlt werde, als anderer Zucker, dessen Farbe in’s Gelbliche spiele. Der bläuliche Zucker sey nämlich gefälscht und vergiftet, und zwar durch eine Beimischung von Ultramarin. […] Dr. Runge räth an, keinen solchen blauweißen Zucker, sondern gelben oder gelbbraunen zu kaufen“ (Bohemia 29, 1856, 693). Die Standardnotiz war respektvoller, benannte Runges Vorwurf und auch mögliche Handreichungen: „Der Chemiker Prof. Runge in Oranienburg macht darauf aufmerksam, daß seit einiger Zeit im Handel ein Zucker vorkomme, der ein schönes blauweißes Ansehen und einen höheren Preis als anderer in’s Gelbliche spielende hat, aber vergiftet ist, indem ihm zur Erreichung jener Farbe Ultramarin beigemengt wird. Als Kennzeichen wird angegeben, daß solcher Zucker bei Auflösung im Wasser nach einigen Tagen Ruhr einen blauen Rückstand zurückläßt, die Auflösung selbst aber sich grünlich zeigt.“ (Lausitzer Zeitung 1856, Nr. 66 v. 5. Juni, 263; entsprechend schon Gift und Zucker, Hannoverscher Courier 1856, Nr. 523 v. 26. Mai, 2; Breslauer Zeitung 1856, Nr. 247 v. 30. Mai, 118; Zur Warnung, Sauerländischer Anzeiger 1856, Nr. 63 v. 31. Mai, Nr. 63, 3; Der Landbote 1856, Nr. 65 v. 31. Mai, 254; Iserlohner Kreisblatt 1856, Nr. 46 v. 7. Juni, 3). Die Nachricht verbreitete sich entlang des Telegraphennetzes, dann der Haupteisenbahnlinien, diffundierte so auch in die Mittelstädte. Die Quintessenz schien klar: „Man kaufe also keinen weißblauen Zucker sondern gelben oder gelbbraunen. Candis z.B. ist ohne Gift“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 43 v. 28. Mai, 664). Kommentare unterblieben, das Gift-Narrativ wurde aufgegriffen und weiterverbreitet.

Dabei wäre es wohl geblieben, hätte nicht Gustav Reichs Polemik neuen Nachrichtenstoff geschaffen. Dessen Entgegnung wurde ebenfalls präsentiert, die Debatte zugleich aber als „komischer“ Streit „zwischen zwei namhaften Chemikern“ aufgeladen (Altonaer Mercur 1856, Nr. 125 v. 29. Mai, 2). So kam Dynamik in die Sache, ordneten sich Schlachtreihen: „In den Journalen wiederhallt es von Entgegnungen und Repliken. Eine ganze Reihe von Professoren ist auf den Kampfplatz getreten, um für oder gegen das Ultramarin zu fechten. Die ‚Blauen‘ behaupten, daß Ultramarin sey durchaus kein Giftstoff und selbst wenn es einer wäre, so sey seine Beimengung zum Zucker nicht gesundheitsschädlich, da es nur in außerordentlich geringer Menge beigemischt erscheint. Die ‚Gelben‘ dagegen erwiedern, sey es mit dem Ultramarin, wie es wolle, dessen Beimengung bleibt zum mindesten eine Unsauberkeit und der gelbe Zucker ist auf jeden Fall vorzuziehen, weil er unverfälscht ist“ (Bohemia 29, 1856, 731). Wichtiger aber war, dass die Zeitungen nun vielfach ihre Zurückhaltung aufgaben, sich der einen oder aber anderen Seite anschlossen. Die einen freuten sich über die Entgegnung Reichs, bezeichneten Runges Intervention als „gelehrten Irrtum“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 44 v. 31. Mai, 675-676; Gelehrter Irrthum, Nürnberger Friedens- und Kriegs-Kurier 1856, Nr. 152 v. 3. Juni, 4). Immer wieder las man den Begriff der vermeintlich unschuldigen Farbe, von einer seit langem ohne Schaden praktizierten Verschönerung des Zuckers (Zucker und Gift, Eisenbahnzeitung 1856, Nr. 85 v. 4. Juni, 3; Bremer Sonntagsblatt 1856, Nr. 26 v. 28. Juni, 208). Das war eine allesamt bemerkenswerte Urteilsfreude, über deren Wissensgrundlage man gern mehr erfahren hätte.

Das Hin und Her zwischen Runge und Reich schuf Lager für die Zeitschriften, meist einfache duale Positionen. Komplexere Rückfragen, etwa nach der Art der gesundheitlichen Schädigung, nach Fragen wirtschaftlicher Redlichkeit, nach den ethischen Grundlagen eines Menschenversuches oder aber den Kennzeichnungspflichten wurden nicht erörtert. Stattdessen hielten die Journalisten die Debatte mit den neuen Beiträgen am Laufen. Getreulich präsentieren sie daher auch die Stellungnahmen von Lindes bzw. Winckler (Magdeburgische Zeitung 1856, Nr. 125 v. 31. Mai, 2; Leipziger Zeitung 1856, Nr. 131 v. 3. Juni, 3120). In den Unterhaltungsbeilagen fanden sich diese auch gebündelt (Vareler Unterhaltungsblatt 1856, Nr. 23 v. 7. Juni, 104).

Das Publikum war also informiert, konnte sich einreihen, seine eigenen Schlüsse ziehen: „Das Publikum weiß sonach, was es von jedem bläulich-weißen Zucker zu halten hat“ (Der Bote aus dem Riesengebirge 1856, Nr. 45 v. 4. Juni, 693). Grundsätzlich waren sich die anonym schreibenden Journalisten bewusst, dass dieser Skandal eine praktische Antwort erforderte: „Jedenfalls wird der Zucker ohne Ultramarin – bei weniger schöner Farbe – eben so gut, und ohne Schwefelwasserstoffgas wohl besser, als mit solchem, schmecken“ (Kölnische Zeitung 1856, Nr. 149 v. 30. Mai, 3). Trotz Parteiname im komischen Streit der Experten war man sich letztlich seiner begrenzten Urteilsfähigkeit bewusst: „Wir müssen natürlich die definitive Entscheidung darüber dem Urtheil der Sachverständigen überlassen. D. Red.“ (Gift im Zucker, Posener Zeitung 1856, Nr. 124 v. 30. Mai, 1). Doch nur selten forderten sie mehr, sahen sich durch den Skandal aus der Reserve der am staatlichen Gängelband hängenden Presse gelockt: „Wir halten die auf diese Weise angeregte Frage für hinlänglich wichtig, daß auch andere Chemiker ein öffentliches Gutachten hierüber abgeben möchten. Runge hat als Chemiker einen so namhaften Ruf, daß die gegentheilige Behauptung des Dr. Reich vor der Hand nur den Beginn einer weiteren wissenschaftlichen Besprechung seyn kann. Bei dem so allgemeinen Verbrauch des Zuckers ist die Reinheit und Unschädlichkeit desselben von der größten Wichtigkeit“ (Würzburger Anzeiger 1856, Nr. 152 v. 2. Juni, 2). Auch die Zuckerproduzenten hielten sich aus der Debatte heraus, bezogen Mittelpositionen: „So sehr zu wünschen ist, daß das Publikum sich an ungeschminkte Waaren im allgemeinen gewöhnt, so unrecht ist es anderseits dasselbe unnöthig zu ängstigen, wo keine Gefahr vorhanden ist. Ein Zuckerfabrikant, der seinen Zucker deswegen nicht bläut, weil seine Abnehmer mit Recht die milchweiße Naturfarbe vorziehen“ (Regensburger Zeitung 1856, Nr. 157 v. 9. Juni, 625).

Die Ambivalenz des Konsumenten: Abwägende Haltung in der Industrie (Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik 1856, Nr. 165 v. 13. Juni, 1953)

Unterhaltung statt Sachdebatte: Satirische Überzeichnungen

Die Experten stritten unversöhnlich, die Journalisten nahmen Partei, ohne aber den Skandal weiterzuspinnen, auf erforderliche Maßregeln hin zu lenken. Die Szenerie Ende Mai 1856 war grotesk, eine ernste öffentliche Angelegenheit wurde zur Farce. Dazu trugen nicht zuletzt die Spötter, die Satiriker und Karikaturisten bei, die den Affen Zucker gaben, den Skandal in unterhaltende Münze umwandelten. Der unversöhnliche Zweikampf zweier Naturwissenschaftler bot die Kulisse für reflektiertes Kopfschütteln, für eine aberwitzige Übersteigerung des Geschehens.

Reichs Intervention bildete hierfür den Startschuss: Am 27. Mai hieß es: „Ein furchtbarer Vergiftungskampf über des Lebens Hauptsüßigkeiten ist ausgebrochen. Der bekannte Chemiker Dr. Runge in Oranienburg hat in den Zeitungen den bläulichen Zucker angeschwärzt. Alle Kaufleute, die blauen Zucker auf dem Lager hatten, wurden seitdem von den Käuferinnen maltraitirt und der Vergiftung beschuldigt. Heute aber tritt für sie Dr. G. Reich […] in die Schranken und hängt dem chemischen Gegner die giftige Beschuldigung an, nur eine übelbekommene Bowle seines Lieblingsgetränkes, des Punsches, habe ihn im Ultramarin etwas Giftiges entdecken lassen. […] Es steht demnach zum Besten der Insertions-Kassen ein Zeitungskampf zwischen den ‚Blauen‘ und ‚Gelben‘ in Aussicht, gegen welchen Goldberger und Pulvermacher, Capuleti und Montecchi, Weiße und Rothe Rose reines Tirailleur-Geplänkel bleiben müssen“ (Münsterischer Anzeiger 1856, Nr. 122 v. 30. Mai, 3; auch Leipziger Tageblatt 1856, Nr. 155 v. 3. Juni, 2475). Der Skandal wurde damit persifliert und historisiert, war Fortsetzung der Wiener Werbeschlachten um die elektrischen Rheumatismusketten der Herren Goldberger und Pulvermacher Anfang der 1850er Jahre, der an Shakespeare orientierten Veroneser Familienfehde in Vincenzo Bellinis (1801-1831) 1830 uraufgeführter Oper, der epischen Kämpfe zwischen den englischen Häusern York und Lancaster im späten 15. Jahrhundert. Geschichte als Abfolge variiert wiederholter Farcen, mit Bürgern auf dem Zuschauerrang. Nicht umsonst wurde bereits Reichs Antwort als eine „derbe humoristische Abfertigung“ bezeichnet (Augsburger Tagblatt 1856, Nr. 150 v. 2. Juni, 1058-1059, hier 1058; Der Landbote 1856, Nr. 66 v. 3. Juni, 258).

Am 31. Mai übernahm dann die Berliner Karikaturzeitschrift „Kladderadatsch“ die Humordeutung: Schultze und Müller, die Verkörperungen des Berliners, thematisierten den giftigen Zucker, reduzierten den Skandal auf eine Auseinandersetzung von Runge und Reich, von „Jift“ und „Jalle“ (Kladderadatsch 9, 1856, 99; vgl. auch Eckart Sackmann, Schultze und Müller: Stehende Figuren des »Kladderadatsch«, Deutsche Comicforschung 21, 2025, 22-30).

Die Moritat von Frau Piefke (Kladderadatsch 9, 1856, 99)

Derart eingeleitet folgten gleich drei Mordgeschichten, in denen sowohl das Giftmotiv als auch die Brutalität des Menschenversuches weitergesponnen wurde. Heute noch ansprechend war insbesondere die Moritat von Frau Piefke, die durch Runge angeregt, ihren Gatten durch gebläuten Zucker zu vergiften suchte. Dem Hausherrn wurde ein süßes Dasein bereitet, nicht ahnend, dass er den Tod so im Leibe hatte. Gewiss, diese Art des Mordes dauerte, doch nach vielen Bowlen, vielem Zuckerwerk war Herr Piefke endlich ultramariniert und „Frau Piefke nahm den andern Mann, weil man ihr nichts beweisen kann“ (Kladderadatsch 9, 1856, 99, auch für das Folgende). Da blieb dem einfachen Bürger nur Vorsicht, Verzicht auf das Naschen, Abstand zum gesüßten Kaffee und die bittere Erkenntnis, dass man allgemein auf der „Zucker-Hut“ sein müsse.

Reichs und Meyers Menschenversuch wurde ebenso persifliert, der Chemicus Dr. Bombastus und sein Mitstreiter, der Sanitätsrat Dr. Eisenbart, verabreichten dem Arbeitsmann Bauer ein Glas Zuckerwasser mit dem arsenhaltigen Schweinfurter Grün, so dass er anschließend verschied. Obwohl die Toxizität des Farbstoffs schon damals unstrittig war, wurde er im Deutschen Reich erst 1882 verboten – und bis heute kämpfen zahlreiche Bibliotheken mit der Giftigkeit ihrer grün leuchtenden Bücherschätze. Im „Kladderadatsch“ nutzte aber auch Sanitätsrat Dr. Schnellfertig den von Reich empfohlenen Ultramarinzucker als Mittel gegen Schlaflosigkeit, dem Patienten wohlwissend suggerierend, dass sich dadurch „eine wohltätige Ruhe einstellen wird, aus der kein Schmerz Sie wieder wecken dürfte“ (Ein kleiner Briefwechsel, Kladderadatsch 9, 1856, 99).

Spott über Gustav Reichs Menschenversuch mit Ultramarin (Kladderadatsch 9, 1856, 117)

Gustav Reichs Menschenversuch wurde zwei Wochen später nochmals aufgegriffen, die Brutalität des Vorgehens mündete in Empfehlungen weiterer Tests mit Nikotin, Arsen, Strychnin und anderen guten Dingen. Menschenversuche kamen in der Physiologie, Pharmazie und Medizin der damaligen Zeit immer wieder vor, man denke etwa an Tests mit Haschisch, die Analyse von Kostformen im Respirationsapparat oder die Verabreichung einseitiger Kostformen an Alte, Soldaten, Säuglinge und Labordiener. Gängiger aber waren Selbst- und zunehmend Tierversuche (vgl. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, passim; Barbara Elkeles, Der moralische Diskurs über das medizinische Menschenexperiment im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1996).

Doch schon zuvor wurde „Gift im Zucker“ von weiteren Satirikern aufgegriffen und verlustigt. In der „Berliner Feuerspritze“, dem „Löschblatt für dringende Fragen“, las man von dem „panischen Schrecken“ (Giftige Gedanken. Humoreske der Berliner Feuerspritze, Die Plauderstunde 2, 1856, 188-190, hier 188; auch in Danziger Dampfboot 1856, Nr. 135 v. 12. Juni, 545-546), hervorgerufen von Runges Warnruf: „Die Hand, die sich eben nach der Giftbüchse ausgestreckt hatte, um ein Stück des infernalischen Krystalles in die zur Verdauung der Tante nothwendige Kaffee-Tasse zu werfen, bebte plötzlich zurück und vergebens schrien die Kleinen nach der gewohnten süßen Würze. – Auch der Zucker ist uns nun verbittert! – das war der traurige Gedanke, der alle erfüllte und ängstigte; ja sie wurden von einem leisen Schauer überlaufen, als sie der Menge des Giftes gedachten, das sie schon in sich gesogen, und des Todes, den sie bei harmlosem Kaffeeklatsch wie bei ästhetischem Thee getrunken.“ Der kleine Text ist der an sich spannendste Beitrag zu dieser Skandalgeschichte, denn dem Autor gelang ein Blick hinter die Kulissen, er spiegelte die damals einsetzende, von elementaren Sicherheitsvorkehrungen kaum begrenzte Umgestaltung der täglichen Kost. Mit Verweis auf den englischen Arzt und Giftmörder William Palmer (1824-1856) hieß es beredt: „Wir sind von Giftmischern rings umgeben und haben kein Tribunal, um die ‚Palmer‘ der Industrie zur Rechenschaft zu ziehen. Sie sitzen auf Rittergütern, hinter hohen Schornsteinen und auf weichen Polstern, sie brauen und sieden, destilliren und backen und streichen, wie Palmer, vorzüglich das Blutgeld in ihre Kasten. Sie haben eine weite Tasche und ein weites Gewissen, sie machen in Gift und spekuliren in Kreditaktien, sie fälschen unsere Nahrung und leben von unserem Fett“ (Ebd., 189). Doch nicht die ökonomische Logik dieser Transformation wurde ausgelotet, sondern man verblieb in einer Jeremiade der Zeitläufte, beklagte den sich immer stärker selbst gefährdenden Menschen. Und so würde man nun eine neue Form des Abschieds wählen, um dem irdischen Jammertal zu entfliehen: „Die neue Lucrezia Borgia wird ihre Liebhaber mit Zuckerwasser und die Mitwisser des Verbrechens durch Kuchen morden. Unglücklich Liebende aber werden hingehen, sich einen Zuckerhut kaufen, sich einschließen im stillen Kämmerlein und von dem süßen Gifte lecken, bis sie süß entschlafen sind – Ein Herz und Eine Seele“ (Ebd., 190).

Die satirische Aufarbeitung des Skandals der Zuckerbläuung endete im Juni 1856 in zahlreichen kleineren Artikeln, die den „Streit über das Gift im Zucker“ (Neue Münchener Zeitung 1856, Nr. 132 v. 3. Juni, 527) weiter begleiteten. Der Kampf „zwischen den Gelben und den Blauen“ (Fremden-Blatt 1856, Nr. 127 v. 3. Juni, 5) wurde fast sprichwörtlich. „Notizen über Zuckervergiftung“ fanden sich immer wieder (Ansbacher Morgenblatt 1856, Nr. 137 v. 11. Juni, 547), die ersten Bankenzusammenbrüche gaben der Debatte ein eigenartiges Flair.

Dem Tod stoisch entgegenblicken (Schmerbach, 1856, 2. S. vor I)

Die einen sangen: „Seid umschlungen, Millionen! / Discontirt die ganze Welt! / Brüder – Nur um Geld, um Geld / Soll das Leben sich verlohnen!“ (Börsenjubelhymne, Kladderadatsch 9, 1856, 103) Andere dagegen versuchten, die Moral hochzuhalten, die allgemeine Bürgerpflicht anzumahnen: „Daß häufiger sei zufällige / Vergiftung, als absichtliche, / Das, Letztere um zu verhüten, / Fabrikherrn müsse man verbieten, / Gift mir nix, dir nix zu verschleißen, / Wenn einer kein Attest kann weißen / Von Polizei, daß er’s bedarf, / Und Uebertreter ahnte scharf, / Daß man ihn müsse haftbar machen, / Wenn seine Leut‘ es sollten wagen, / Was aus der Giftfabrik zu tragen“ ([Michael] Schmerbach, Tod! wo ist dein Stachel? oder: Großes medicinisches Lehrgedicht, Würzburg 1856, 14-15). Der blauweiße Zucker war in Verruf geraten, doch einen Reim hierauf konnte sich der Leser kaum machen (Barmer Bürgerblatt 1856, Nr. 134 v. 11. Juni, 3). Also hielt man die Situation unter Kontrolle, reduzierte sie zur Petitesse: „Es scheint übrigens, daß sich in dem gebläuten Zucker weniger Gift, als nur ein nicht dahin gehöriger Farbenzusatz, also ein blauer Schmutz, befindet“ (Leipziger Zeitung 1856, Nr. 140 v. 13. Juni, 3351).

Staatliche Kontrolle oder Kein Grund zur Besorgnis

Der Skandal um die Ultramarinfärbung mündete abseits der öffentlichen Debatte zumindest in eine offizielle Untersuchung des Berliner Polizei-Präsidiums. Anfang Juni 1856 ließ die Behörde „aus allen hiesigen Zuckerfabriken und auch aus verschiedenen hiesigen Zuckerhandlungen Zuckerproben entnehmen“ und führte chemische Untersuchungen durch „um die in neuerer Zeit angeregte Frage, ob Gift im Zucker ist, zu einer das Publikum beruhigenden oder sichernden gründlichen Erledigung zu bringen“ (Echo der Gegenwart 1856, Nr. 159 v. 11. Juni, 2; Münsterischer Anzeiger 1856, Nr. 132 v. 11. Juni, 3). Diese Nachricht wurde weit über Preußen hinaus verbreitet (Kurier für Niederbayern 9, 1856, Nr. 162 v. 15. Juni, 647).

Anfang Juli 1856 lagen die Ergebnisse vor. Die durchschnittliche Raffinade enthielt demnach „nur“ (Der Landbote 1856, Nr. 82 v. 10. Juli, 321) ein halbes Gramm Ultramarin bei einem Zuckerhut von 10 Pfund. Die in der Debatte von Runge inkriminierten giftigen Farbstoffe wurden nicht gefunden, insbesondere fehlte jede Spur von Arsen oder anderer Gifte. Wichtiger noch war das Ergebnis, „daß jede Besorgniß der Schädlichkeit des mit Ultramarin gefärbten Zuckers als völlig unbegründet zu erachten ist“ (Der Ortenauer Bote 1856, Nr. 55 v. 15. Juli, 435; identisch Aachener Zeitung 1856, Nr. 188 v. 7. Juli, 2; Humorist 1856, Nr. 185 v. 10. Juli, 3; Gemeinnütziges Wochenblatt 1856, Nr. 28 v. 12. Juli, 1; Neustadter Zeitung 1856, Unterhaltungsbl., Nr. 87 v. 19. Juli, 3; Wochenblatt für Pulsnitz […] 1856, Nr. 31 v. 1. August, 245). Nähere Informationen zu Methodik und Umfang der Kontrollen fehlten: Entscheidend war die Beruhigung der Öffentlichkeit, war die simple Gegenbotschaft: „Kein Gift im Zucker“ (Posener Zeitung 1856, Nr. 159 v. 10. Juli, 3).

Ob der Konsument es hierbei belassen wollte, war in seine Verantwortung gestellt: „Von einer offenbaren Vergiftung des menschlichen Organismus durch bläulich-gefärbten Zucker kann also wenig oder gar nicht die Rede sein, obgleich auch anderer Seits nicht in Abrede zu stellen ist, daß, wenn dergleichen schädliche Stoffe in den geringsten Gaben täglich in den Körper der Menschen gelangen, sich die daraus entstehenden nachtheiligen Folgen für die Gesundheit oft erst nach Jahren bemerklich machen können. Jedenfalls ist es also gerathener den Zucker ohne Ultramarin zu wählen, der eben so gut und ohne Wirkungen durch Schwefelwasserstoffgas wohl noch besser schmecken wird, als das, wegen des bessern Aussehens gefärbte Fabrikat“ (Gefärbter Zucker, Cochemer Anzeiger 1856, Nr. 58 v. 9. August, 2). Wo dieses zu kaufen war, blieb offen. Ein organisierter Verbraucherschutz fehlte, von gemeinsamen Initiativen vor Ort ist nichts bekannt.

Lehren eines Skandals

Runges Intervention „Gift im Zucker“ war mehr als ein Hinweis auf ein durch Zusatzstoffe veränderndes Genussmittel. Sie war ein früher Alarm über die Veränderung der Gesellschaft selbst, hielt ihr einen Spiegel vor. Das war aufklärerisch und praktisch zugleich, denn Runge benannte nicht nur ein Problem, sondern gab auch eine mögliche Antwort, wie mit dem Problem umzugehen sei. Die Kosten des Neuen waren offenkundig, abwägende Zurückhaltung schien angeraten. Zucker war süß, auch wenn er nicht weiß war. Warum also derartige Ansprüche an ein Konsumgut stellen? Friedlieb Ferdinand Runge breitete seine Gedanken in der wichtigsten Tageszeitung der preußischen Hauptstadt aus, zielte auf ein Publikum, rechnete mit Resonanz, mit Zustimmung, mit einer problemangemessenen dialektischen Antwort.

Der Naturforscher nutzte dazu das Konsumprodukt Zeitung, ein Hybrid staatlicher Regulierung und wirtschaftlicher Interessen. Er thematisierte den Wandel des Konsumgütermarktes und der Produktionsweisen in einem Umfeld, in dem diese zwar häufig besprochen, selten aber in Frage gestellt wurden. Er schrieb über Konsumenten in der „Verstrickung des kaufmännischen Netzes“ (Ueber den Handel. (Schluß.), Westphalia 1846, Nr. 35 v. 29. August, 274-275, hier 274), in seiner Abhängigkeit von den Entscheidungen der Produzenten und Händler. Damit agierte Runge modern. Moderne Gesellschaften fächern sich nämlich arbeitsteilig aus, Kritik wird gemeinhin nicht auf gleicher systemischer Ebene artikuliert, vielmehr beobachten und kritisieren sich die einzelnen Systeme untereinander, da sie die jeweils blinden Flecken der anderen sehen. Die Kosten staatlicher Ineffizienz werden aus wirtschaftlicher Perspektive kritisiert, Gesundheitsgefährdungen nicht von den Kündern neuer technologischer Durchbrüche. Probleme, gerade große, müssen kleinteilig thematisiert werden, um eine Chance für Veränderung zu haben (vgl. allgemein und anregend Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986). Vier Lehren kann man aus diesem Skandal vorrangig ziehen.

1. Beruhigung als Aufgabe des „Eisernen Drecks“ aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat

Der Skandal um den Zuckerbläuung kam nicht zur Entfaltung, wurde vielmehr personalisiert, geriet zur Farce, zur pläsierlichen Unterhaltungsware. Ein Eingehen auf Runges Intervention hätte ein seit knapp zwei Jahrzehnten übliches Schönungsverfahren in Frage gestellt, hätte die vielgestaltigen Bemühungen der deutschen Rübenzuckerindustrie unterminiert, sich gegen den noch hochwertigeren kolonialen Rohrzucker zu behaupten. Es hätte eine Selbstreflektion der Konsumenten erfordert, die in vielfältiger Gestalt eine „schöne“ Ware forderten. All dies wäre bei einer akuten Gesundheitsgefährdung eventuell möglich gewesen – auch wenn das Beispiel des arsenhaltigen Schweinfurter Grüns unterstrich, dass selbst in einem solchen Falle Jahrzehnte vergehen konnten, bevor einer Gefahr beherzt begegnet wurde. Im Falle der Ultramarinfärbung war diese Gesundheitsgefahr jedoch nur ansatzweise gegeben. Kosten und Aufwand für eine Änderung standen in keinem Verhältnis zueinander. Entsprechend befestigte Runges Intervention die bestehende Situation: Wissenschaft, Wirtschaft und Staat bekräftigten sich wechselseitig der Sinnhaftigkeit und Unschädlichkeit ihres Tuns. Dieses „Eiserne Dreieck“ erlaubte weiterhin Außenseiterpositionen, marginalisierte sie jedoch. Besorgte Konsumenten wurden auf eine häusliche Kontrollpraxis verwiesen, galten als besorgte Sonderlinge, als Hypochonder. Der Skandal um das vermeintliche „Gift im Zucker“ mündete in gegenteiliges Handbuchwissen. Im Jahrbuch zum Conversations-Lexikon „Unsere Zeit“ hieß es 1857 zum Ultramarin, daß „seine Verwendung zur Bläuung oder vielmehr Weißmachung des Zuckers […] ohne Nachtheil für die Gesundheit der Consumenten“ bleibe (Deutsche Allgemeine Zeitung 1857, Nr. 140 v. 19. Juni, 1232). Dies galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, gleichermaßen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Staat.

Fortschritt abseits der Gefährdungen: Moderne Rübenzuckertechnologie (Richard v. Regner, Die Fabrikation des Rübenzuckers, Wien, Pest und Leipzig 1870, I)

2. Moderne Konsumwelten: Ein untergründiges Wissen um Gefährdung und Vergiftung

Friedlieb Friedrich Runge beurteilte bis an sein Lebensende den Markt als moralische Anstalt. Er war sich bewusst, dass sein Verweis auf mögliche Schwefelwasserstoffbildungen durch Ultramarinzusatz keine akute Gesundheitsgefahr benannte, sondern einen lästigen, unangenehmen Nebeneffekt unbedachten Zuckerkonsums. Doch er fragte sich auch in späten Publikationen, „ob diese Thatsachen Jemand berechtigen, den Nahrungsmitteln absichtlich schwefelhaltige Dinge beizumischen? – Gewiß nicht! und doch wurde es mir öffentlich in den Zeitungen als Entschuldigungsgrund entgegengehalten, als ich vor dem Genuß blauen Zuckers warnte, weil er Ultramarin enthalte, der, mit Säuren vermischt, einen Gestank von Schwefelwasserstoff aushaucht“ (F[riedlieb] F[erdinand] Runge, Hauswirthschaftliche Briefe. Sechszehnter Brief. (Schluß.), Schlesische Landwirthschaftliche Zeitung 3, 1872, Nr. 47, 186-187, hier 187; das Original stammt von 1866).

Runges Vorstellung eines wechselseitig rücksichtsvollen Umgangs von Bürgern in der Marktsphäre mag antiquiert erscheinen, doch insbesondere das Kennzeichnungsrecht spiegelt noch den Anspruch, dass Anbieter und Produzenten über die nicht sichtbaren Gehalte ihrer Waren aufklären müssen. Es ging im Skandal um die Ultramarinfärbung nicht allein um Gesundheitsgefährdungen, sondern immer auch um Markttransparenz in zunehmend anonymen Märkten. Zucker war eine Imagination, eine semantische Illusion, doch als Ware veränderte er sich durch das Aufkommen des Rübenzuckers, durch fortschrittlichere Produktionsverfahren, durch neuartige Zusatzstoffe. Ungebläuter Zucker verschwand ungefragt vom Markt, ohne Wissen des vielbeschworenen Souveräns, des Konsumenten. Wie war dies mit der Ethik moderner Marktwirtschaften in eins zu bringen?

Obwohl der Skandal den Zuckermarkt nicht veränderte, etablierte die Debatte doch ein breit gelagertes, im Detail aber nicht genauer einschätzbares Wissen von der Brüchigkeit moderner Konsumwelten. Die Konsumenten akzeptierten den intransparenten Marktwandel, doch an die Stelle des vielfach beschworenen Marktvertrauens traten Vorsicht, Misstrauen und unartikuliertes Wissen um mögliche Gefährdungen, gar Vergiftungen durch Konsumgüter. Als kurz nach Ende des Zuckerskandals über andere Fälschungen diskutiert wurde, erinnerte man sich gleich der Färbedebatten, schloss von dem einen auf das andere (Die Verfälschungen des Kaffees, des Zuckers und der Chocolade, Neuigkeiten 1856, Nr. 210 v. 31. Juli, 3). Als einige Jahre später deutlich wurde, dass der Zusatz von Ultramarin keineswegs glatt erfolgte, dass Klumpenbildungen üblich waren und dadurch das Risiko von Gesundheitsgefahren deutlich größer war, erinnerte man sich der früheren Warnungen (Das Ultramarin. (Schluß.), Industrie- und Gewerbe-Blatt 4, 1860, Nr. 17, 65-67, hier 67). So sehr man sich auf die eigenen Sinne verließ, so war man doch gewahr, dass „die Nase eines Chemikers“ (Azur und Purpur, Aus der Natur 11, 1858, 1-46, hier 23) mehr entdecken würde. Leben und Konsumieren waren gefährlich, mochten die Beruhigungen der Etablierten auch anders tönen.

3. Skandalierung als langfristig aktivierbare Themensetzung

Die Zuckerbläuung verschwand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Zangenbewegung einerseits der Substitution des Ultramarins durch andere Farbstoffe, anderseits durch „reinere“ Produktionsverfahren des Zuckers. Dies entsprach einer für diese Zeit üblichen strukturellen Minderung realer Risiken, die auf die für das 19. Jahrhundert insgesamt dominierende Bekämpfung elementarer Gesundheitsrisken folgte, während unsere heutigen Skandale vor allem versuchen, moralisch skandalisierte Praktiken in den Wertschöpfungsketten zu reduzieren.

Doch trotz der begrenzten Gesundheitsgefahr durch die Ultramarinfärbung blieb sie ein in den Folgejahrzehnten wieder und wieder diskutiertes Skandalon. Das ist nicht überraschend, denn Lebensmittelskandale stellen Brückenphänome dar, durch die für kurze Zeit scheinbare Gegensätze aufeinanderprallen, die durch unsere Art des Wirtschaftens und Konsumierens gemeinhin voneinander getrennt sind (Uwe Spiekermann, Die Normalität des (Lebensmittel-)Skandals – Risikowahrnehmungen und Handlungsfolgen im 20. Jahrhundert, Hauswirtschaft und Wissenschaft 52, 2004, Nr. 2, 60-69, hier 61). Zwischen privat und öffentlich, zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen technischen Möglichkeiten und faktischen Handlungen taten sich immer wieder Diskrepanzen auf, die durch andere Nahrungsmittelproduktion, andere Kennzeichnungsregime, alternative Angebote und staatliche Regulierung hätten geschlossen werden können. Wir werden dies in einem zweiten Beitrag noch genauer analysieren. Für unsere Perspektive auf den Skandal von 1856 ist allein festzuhalten, dass er damals zwar stillgestellt worden war, dass er anschließend aber aus strukturellen Gründen nicht mehr zur Ruhe kommen konnte. Es ist allerdings ein bezeichnender Treppenwitz der Geschichte, dass die wiederholte Skandalisierung der Ultramarinfärbung seit den 1870er und 1880er Jahren nicht mehr direkt an Runges Intervention anschloss. Sein Name war vergessen, die Struktur seiner Rückfrage jedoch nicht.

4. Die strukturelle Schwäche der Öffentlichkeit: Konsumentenfragen als Machtfragen

Der Skandal um die Ultramarinfärbung 1856 unterstrich die Grenzen öffentlicher Themensetzung ohne wissenschaftliche, wirtschaftliche und staatliche Macht. Diese Debatte ist auch deshalb vergessen, fand sie doch kaum Niederschlag in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Zeit. Fachwissenschaften huldigen (sinnvollerweise) Schmalspurdenken, kümmern sich vorrangig um selbstgesetzte Probleme, sind für alles andere strukturell blind. Innerhalb der Zuckerindustrie wurde die eigene Praxis der Färbung erst dann wieder akut, als neue Düsentechnologien seit den 1860er Jahren sparsamere und effizientere Techniken ermöglichten, und neue Farbstoffe das faktische Monopol des Ultramarins hinterfragten. Innerhalb des Staates gab es aufgrund der früheren Debatten über die Zuckerbläuung keinen Zwang für eine Regulierung im Vorfeld des Nahrungsmittelgesetzes 1879, denn offenkundige Unschädlichkeit musste nicht reguliert werden. Auch wenn die „Stimme des Consumenten“ (Westfälischer Merkur 1844, Nr. 158 v. 3. Juli, 1) damals heller erklang, fand sie keinen Hebel, besaß sie keine Machtposition.

Der Skandal von 1856 hat diese Machtposition kaum thematisiert. Sie wurde als wunderliche Debatte zwischen Experten präsentiert, hatte Unterhaltungs- und etwas Gruselwert, mehr nicht. Sie entfachte keinen Funkenschlag, drang nicht vor in die Programmatik des politischen Bürgers resp. der Konsumenten. Das Problem einer eventuell gesundheitsgefährdenden Blaufärbung des Zuckers wurde nicht ignoriert, fand aber keinen Widerhall, führte nicht zu institutionellen Antworten. Ohne Machtoption aber blieben die Konsumenten auf ihr eigenes Handeln zurückgeworfen. So wie in einer Anfrage aus dem Jahre 1858: „Herr Redakteur! Man wünscht zu wissen, ob der mit Ultramarin bläulich, oder fast blau gefärbte Zucker der Gesundheit nicht schädlich sei? (Ich weiß das nicht. Wer darüber im Zweifel, kaufe sich ungefärbten. D. Red.)“ (Der Pfälzer 1858, Nr. 29 v. 10. März, 2).

Uwe Spiekermann, 29. März 2025

Betrug, Täuschung oder Lebensmitteldesign? – Der Skandal um den Fleischsaft Puro

Im späten 19. Jahrhundert träumten Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker und auch viele Konsumenten von einer Welt ohne Hunger und Not, geschaffen und gesichert durch die Fortschritte der modernen Naturwissenschaften. Synthetische Farben hatten bereits seit den 1880er Jahren den Alltag verändert, neue Werkstoffe erlaubten Hochbau und Maschinenwelten, Mobilität und einfachere Arbeitsabläufe. Warum sollte der Fortschritt vor den Lebensmitteln haltmachen? Auf Basis neuen chemischen Wissens um die Bestandteile der Nahrung hatten sich die Säuglingsernährung und Krankenkost bereits gewandelt. Neugierde und Gewinnaussichten lockten, zumal als man langsam verstand, nicht nur Fett, sondern Fettsäuren, nicht nur Eiweiß, sondern Aminosäuren, nicht nur Kohlehydrate, sondern Stärke, Zucker, Gummi und Zellulose voneinander zu unterscheiden (Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland 1840 bis heute, Göttingen 2018, 46-57). Ende des 19. Jahrhunderts entstanden daraufhin zahlreiche neuartige Nähr-, Kräftigungs- und Eiweißpräparate, preiswert und gehaltvoll, Vorboten eines bereits auf Erden Gestalt annehmenden Himmelreiches. Doch sie waren keine göttlichen Gaben, sondern Resultate menschlicher Schaffenskraft, menschlichen Erfindergeistes (Uwe Spiekermann, Die gescheiterte Neugestaltung der Alltagskost. Nähr- und Eiweißpräparate im späten Kaiserreich, Technikgeschichte 78, 2011, 187-209). Nun, wir wissen, dass die Neugestaltung der Alltagskost damals nicht gelang, dass die Träume trogen. Doch sie verflogen nicht. Bis heute hegen wir Vorstellungen auskömmlicher, gerechter, klimaneutraler, ohne Raubbau und Leid hergestellter Lebensmittel, streiten dafür und darum.

Häufig ausgeblendet wird, dass neuartiges Wissen und Innovationen immer auch eine „dunkle“ Seite haben, dass wachsende Komplexität zunehmende Kontrollen gebiert und Systemvertrauen erfordert. Die Graubereiche nahmen und nehmen zu. Kennzeichnungen helfen da nur wenig, orientierten sie sich doch vornehmlich an einer chemisch definierten und politisch regulierten Welt von Stoffen, die nicht nur „Laien“ nicht wirklich kennen und verstehen. Entsprechend vielfältig sind daher die mit Lebensmitteln zusätzlich verbundenen Beschwörungen des Natürlichen, Gesunden, Frischen, etc. Halten wir also ein wenig inne und fragen uns, wie es zu dieser schielenden Situation hat kommen können. Wagen wir uns mitten hinein in den Graubereich zwischen klarer Kennzeichnung und den Wünschen des Ernährungsalltags. Einen Schlüssel hierzu bieten Lebensmittelskandale, die bei genauerem Hinsehen zumeist nuancenreicher sind als die kurzzeitige Schnappatmung einer erregten Öffentlichkeit und fordernder Interessengruppen erahnen lässt (Uwe Spiekermann, Hormonskandale, in: Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007, 104-112). Das unterstreichen auch scheinbar klare Fälle, so der „Skandal“ um den Fleischsaft Puro, der von 1908 bis 1910 für beträchtlichen Widerhall bei Medizinern, Pharmazeuten, Nahrungsmittelchemikern, Kranken und auch der breiteren Öffentlichkeit sorgte (zur Einführung s. Spiekermann, 2018, 178-180).

Fleischsaft zwischen Haushalt und Markt

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Optimiertes Haushaltsgerät: Dr. Karl Kleins zerlegbare Fleischsaftpresse (Pharmaceutische Post 34, 1901, 300)

Fleischsaft ist heute kaum mehr bekannt. Das „Saftige“ wird mit Kuchen und Früchten, Steaks und dem Grillen verbunden, ist Produkteigenschaft, nicht Produkt. Im späten 19. Jahrhundert war Fleischsaft dagegen ein wichtiger Bestandteil der Krankenernährung. Im Hause, in Apotheken und Kliniken wurde rohes, fettfreies Rindfleisch mittels spezieller Fleischpressen bearbeitet, das flüssige Resultat dann dem Kranken gereicht. Ein Kilo Fleisch ergab ein knappes halbes Pfund Saft mit etwa 15 Gramm Eiweiß. Fleischsaft hatte einen Eiweißgehalt von sechs bis sieben Prozent und damit nach Meinung der damaligen Physiologie hohe Nährkraft. Schließlich galt es, „heruntergekommene Kranke über die gefahrvolle Klippe der drohenden Schwäche hinwegzuleiten“ und „mit allen Mitteln für die Erhaltung der Körperkräfte bzw. für deren energetischen Ersatz zu sorgen“ (Carl Klein, Wie kann man den frischen Fleischsaft mehr, wie dies seither geschah, für die Krankenernährung nutzbar machen?, Berliner klinische Wochenschrift 35, 1898, 584-586, hier 584). Frisch bereiteter Fleischsaft half, hatte jedoch drei gravierende Nachteile: Er war erstens teuer, zweitens nur kurz haltbar und drittens eine recht eintönige und schlecht schmeckende Speise, die nicht selten zu „Fleischekel“ führte.

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Haltbare Hilfsmittel für die bürgerliche Krankenkost: Werbung für Liebigschen Fleischextrakt und Dr. Kochs Fleisch-Pepton (Kladderadatsch 31, 1878, Nr. 23/24, Beibl. 2, 2 (l.); Fliegende Blätter 82, 1885, Nr. 2071, Beibl., 8)

Aus diesen Gründen gewann der seit 1863 hergestellte Liebigsche Fleischextrakt nicht nur als Suppenpräparat, sondern auch in der Krankenkost an Bedeutung. Er war haltbar, bei sparsamem Gebrauch erschwinglich, schmeckte und regte die Verdauung an – doch besaß keinen Nährwert (Spiekermann, 2018, 130-138). Die wissenschaftliche Antwort auf dieses Manko waren die seit Ende der 1870er Jahre allgemein verfügbaren Fleischpeptone (J[oseph] König, Über die Fleischpeptone des Handels, Archiv für Hygiene 3, 1885, 486-99). Fleisch(eiweiß) wurde mit Verdauungssäften bearbeitet, gleichsam künstlich vorverdaut. Die flüssigen Produkte hatten Nährwert, stärkten den Kranken also, und konnten lange aufbewahrt werden. Doch sie waren teuer, vor allem aber hatten sie einen offenbar schlechten, ja widerlichen Geschmack, waren also nur kurzfristig zu verabreichen. Ohne großen Erfolg rührte man die Präparate in wohlschmeckendere Suppen ein, auch Peptonweine oder Peptonkakao konnten sich nicht recht etablieren. Blut- und Fleischpulver erweiterten den Angebotsreigen, doch trotz Trocknung bargen diese Präparate aus Schlachtabfällen hygienische Risiken (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 2, 1883, 385-386). Wichtig ist, den Leidensdruck hinter alle diesen Produkten zu realisieren. Sie waren wenig ausgegorene Hilfen in einer Zeit, in der die künstliche Ernährung von Kranken in den Anfängen steckte. Stellen Sie sich nur die Rekonvaleszenz nach einer Magenoperation vor.

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Krankenkost mit schweren Mängeln: Werbung für Valentine’s Meat Juice und die verbesserte Leube-Rosenthalsche Fleischsolution (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 20, 1879, 225 (l.); Der Bazar 39, 1893, 32)

Kranke, Ärzte und Haushalte mussten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts also mit Kompromissen leben. Das galt auch für Angebote „flüssigen Fleisches“. Vorreiter waren US-amerikanische Produkte, Quintessenzen neuartiger Schlacht- und Verarbeitungstechniken in Cincinnati und Chicago einerseits, der dortigen „Patent Medicine“ anderseits. Die großbetrieblichen Schlachthöfe nutzten sämtliche Nebenprodukte der Tiere, setzten diese in marktgängige Produkte um, die sie vielfach auch international verkauften. Ohne Rezept erhältliche medizinische und diätetische Präparate wurden in den USA mit rechtlich kaum eingeschränkten Versprechungen beworben, standen zwischen preiswerten Hausmitteln und dem kostenträchtigen Gang zum Arzt. Pionierprodukt war die 1871 von Mann S. Valentine (1824-1892) in Richmond, Virginia entwickelte Valentine’s Meat Juice. Dieser dunkle „Fleischsaft“ wurde 1877 auch in Mitteleuropa eingeführt, doch die Reaktion vieler Pharmazeuten und auch Mediziner war eher negativ. Die braune, in ovalen Zwei-Unzen-Flaschen für 4 bis 5 Mark angebotene Flüssigkeit sollte den Saft von vier US-Pfund besten Rindfleisches enthalten und schmeckte nach Fleischbrühe. Im Vakuum bei mittleren Temperaturen hergestellt, war Valentine’s Fluid Meat fettfrei und haltbar, enthielt zudem – im Gegensatz zum Liebigschen Fleischextrakt – gewisse Mengen Eiweiß (Valentine’s Meat Juice, Pharmaceutische Post 12, 1877, 234-235). Doch angesichts des geringen Nährstoffgehaltes wurde es als „etwas theure Bratensauce“ (Pharmaceutische Post 12, 1879, 281) kritisiert und schien für die Krankenkost kaum empfehlenswert. Doch „der Markt“, also Ärzte und Kranke, entschieden sich dennoch für das relativ intensiv beworbene Produkt. Allen – auch so prominenten Fürsprechern wie dem Pharmakologen Oskar Liebreich (1839-1908) und dem Anthropologen Rudolf Virchow (1821-1902) – war jedoch klar, dass es sich dabei um keinen wirklichen Fleischsaft handelte. Rohes Fleisch stand am Anfang, doch dem eingedampften Saft wurde mineralstoffhaltiger Fleischextrakt als Geschmacksträger und auch als Konservierungsmittel zugesetzt. Würziger Geschmack und zumindest etwas Eiweiß ermöglichten jedoch einen Markterfolg dieser Komposition, zuerst am Krankenbett, dann vermehrt auch als Würze und Suppengrundstoff in der (bürgerlichen) Küche.

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Alte Rezepturen, ansprechendere Verpackung: Bovril als Zusatznahrung beim Sport (Illustrierte Sport-Zeitung 6, 1897, Nr. 19, 7)

US-amerikanische und auch britische Patentmedizin dominierte das kleine, aber wachsende Marktsegment im Deutschen Reich. Armour’s Fluid Beef (Chicago), Wyeth’s Beef Juice (Philadelphia), Bovril und Brand’s Meat Juice (beide London) waren im späten 19. Jahrhundert weit verbreitet und wurden als „Fleischsäfte“ vermarktet. Damit veränderten sie faktisch, nicht rechtlich, die tradierte Definition als „den aus frischem Fleisch mittels Hebel- oder hydraulischer Presse gewonnenen dünnen, milchig schmeckenden Saft von durchsichtig roter Farbe, der das natürliche Fleischeiweiß in Lösung enthält“ (Apotheker-Zeitung 25, 1910, 347). Ausländische Industrieprodukte führten durch die simple Übersetzung ihrer anderslautenden Bezeichnung in eine Grauzone. Diese wurde von einheimischen Substituten anfangs noch nicht genutzt. Im Zeitalter des Nationalismus und hoher bilateraler Zölle gab es allerdings auch deutsche Fleischangebote – wenngleich die im Vergleich zu den USA und Südamerika hohen Fleischpreise enge Grenzen setzten. Zu nennen ist etwa die 1872 eingeführte und immer wieder verbesserte Leube-Rosenthalsche Fleischsolution (R. Mirus, Ueber die Bereitung der Leube-Rosenthalschen Fleischsolution, Pharmaceutische Post 6, 1873, 198-200). Die „breiige Masse […] von angenehmem bratenartigen Geschmack“ (Die Hausfrau 3, 1879, Beilage Allgemeines Bade-Blatt, Nr. 5, 4) wurde als leicht verdauliches Nahrungsmittel in Blechdosen angepriesen. Faktisch handelte es sich um eine eingedickte Fleischbouillon. Obwohl all diese Fleischsaftpräparate ihre Berechtigung hatten, galt spätestens seit der Jahrhundertwende jedoch das Verdikt des Klinikers Otto Dornblüth (1860-1922), „daß diese Zubereitungen heute nicht mehr ernstlich in Frage kommen“ (Moderne Therapie, Leipzig 1906, 113). Der Fleischsaft Puro hatte, so schien es, einen neuen Standard gesetzt.

Der Fleischsaft Puro: Markteinführung und Werbung

Der schon 1896 verfügbare Fleischsaft „Puro“ wurde 1897 vom Medizinisch-chemischen Institut Dr. Scholl eingeführt. Hermann Scholl (1869-1943) war als Assistent an den hygienischen Instituten in Prag und München hervorgetreten, seine akademischen Mentoren Ferdinand Hueppe (1852-1938) und Max von Pettenkofer (1818-1901) waren weltweit führende Wissenschaftler. Pettenkofer war der vielbeschworene „Vater“ der modernen Hygiene, Hueppe etablierte die Konstitutionslehre und wurde der erste Präsident des 1900 gegründeten Deutschen Fußball-Bundes. Scholl etablierte sich im Grenzgebiet zwischen Medizin und Chemie, forschte zu Seren und zur Eiweißchemie (H[ermann] Scholl, Bacteriologische und chemische Studien über das Hühnereiweiss, Archiv für Hygiene 17, 1893, 535-551), entschied sich jedoch für eine Karriere abseits der Universitäten. Er ließ sich als Apotheker in Thalkirchen nieder und vermarktete dort das gemeinsam mit dem Hygieniker Rudolf Emmerich (1852-1914) entwickelte Krebsserum Anticancrin, das sich allerdings als nicht wirklich wirksam erwies (Pharmaceutische Post 28, 1895, 273; Zeitschrift des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines 34, 1896, 454). Ähnliches galt für ein 1894 vorgestelltes und in Scholls neu errichtetem bakteriologischen Privatlaboratorium hergestelltes Milzbrandserum (Wiener Medizinische Wochenschrift 45, 1895, Sp. 487-488; Münchener Medizinische Wochenschrift 41, 1894, 623). Nach diesen Fehlschlägen konzentrierte sich Scholl darauf, den zuvor im Hygienischen Institut der Universität München entwickelten Fleischsaft zur Marktreife zu bringen.

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Mitteilung über ein neues Produkt (Die Heilkunde 1, 1896/97, 566)

Dessen Alleinstellungsmerkmal war ein vergleichsweiser hoher Eiweißgehalt, der sich vor allem positiv von den US-amerikanischen und britischen Präparaten abhob (Pharmaceutische Post, 30, 1897, 214). Er wurde durch Analysen im Institut von Carl Remigius Fresenius (1818-1897) bestätigt, damals führend in der analytischen Chemie. Die frühen Produktankündigungen gründeten auf Empfehlungen und Einschätzungen führender Chemiker und Kliniker, setzten also auf die Überzeugungskraft von „Autoritäten“. Puro wurde umschrieben, als dreifach konzentrierter natürlicher Fleischsaft angepriesen. Zu Beginn galt er als Substitution des Natürlichen: „Das Präparat bietet zum erstemale einen vollkommenen Ersatz für den von vielen unserer ersten Kliniker, wie Ziemssen etc. mit so vortrefflichem Erfolg angewandten rohen Saft aus gehacktem Fleisch“ (Allgemeine Zeitung 1897, Nr. 284 v. 13 Oktober, 3). Wachsende Absatzzahlen ließen Puro jedoch mehr und mehr als Heilmittel eigener Qualität erscheinen, als Substitut des frisch zubereiteten Fleischsaftes. Wissen und Technologie standen dabei Pate, boten etwas Neues, Bequemeres, Gehaltvolleres. Rohware war eben – so schien es – rohes Rindfleisch: „Aus bestem mageren Fleische, das jede nur denkbare thierärztliche und gesundheitspolizeiliche Controle durchgemacht, wird unter hohem Druck ein Saft gewonnen, der in so großem Masse alles, was nahrhaft, kräftigend und vor allem physiologisch wichtig ist, enthält, dass das, was zurückbleibt, nur die trockene, saft- und kraftlose Muskelfaser ist. Im Vaccum nach einem Sterilisationsprocess eingedampft und des Wohlgeschmackes wegen mit frischen Suppenkräutern behandelt und geklärt, gibt der Saft eine syrupdicke Masse von echt charakteristischem gesundem Fleischbrühegeruch“ (Wiener klinische Wochenschrift 14, 1900, 140).

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Kein Kunstprodukt: Naturromantik in der Puro-Werbung (Wiener klinische Rundschau 11, 1897, 837)

Puro galt erst einmal als Präparat für Privatpraxis und Klinik. Die kleinen Glasflaschen hatten eine gefällige Form, eine Stanniolkapsel, darin eingebettet eine Halsschleife mit Garantiemarke. Das Zielpublikum war primär bürgerlich, denn mit 2,50 Mark für etwa 80 Gramm war es für Kleinbürger und Arbeiter zu teuer. Teelöffelgroße Dosen sollten drei- bis viermal täglich in Milch und Kakao, in Suppen, Bier oder Wein eingerührt und dann verspeist werden. „Geradezu eine Delikatesse bildet Puro, auf geröstetem Weissbrot gestrichen, eine Form der Einnahme, welche namentlich gaumenverwöhnte Individuen gustiren“ (Diaetetica, Die Heilkunde 1, 1896/97, 719).

Scholls Institut präsentierte Puro den Ärzten jedoch nicht nur per Anzeige, sondernd war anfangs regelmäßiger Gast auf ärztlichen Kongressen und Ausstellungen (Congreß für innere Medicin in Carlsbad, Prager Tagblatt 1899, Nr. 105 v. 16. April, 6; Die Ausstellung für Krankenpflege zu Berlin. II, Allgemeine Zeitung 1899, Nr. 146 v. 28. Mai, 9). Dabei setzte die Firma auf vergleichende Werbung, moderne Präsentationstechniken und die nationale Karte: „Drei gleichgrosse Glascylinder zeigten die drei verschiedenen Mengen von ausgefälltem Eiweiss aus Puro, Wyeth‘s Beef juice und Valentine’s Meat Juice. Die Ausscheidungen standen im Verhältnis von etwa 66, 20, 10 pCt., während der Preis gleicher Portionen 2,50, 3,50 und 4,50 Mark ist. […] Die auffallende Billigkeit des deutschen Präparates soll durch die günstige Verwerthung der Abfälle allein ermöglicht sein“ (Die Ausstellung gelegentlich der 69. Naturforscher-Versammlung in Braunschweig, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 38, 1897, 743-744, hier 743). Auf derartige Mutmaßungen über die Herkunft des Fleisches ging Scholl jedoch nicht ein, seine Werbung verwies stetig auf bestes Ochsenfleisch.

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Ein Angebot für neue Lebenskraft (Berliner Tageblatt 1897, Nr. 49 v. 28. Januar, 8)

Puro wurde jedoch nicht nur im medizinischen Umfeld beworben. Die Markteinführung 1898 bis 1899 war massiv – und sie erfolgte parallel (und zu weit höheren Kosten) in Tageszeitungen und Publikumszeitschriften. Die dabei geschalteten Anzeigen waren etwas spielerischer und verwiesen auf recht breite häusliche Anwendungsmöglichkeiten. Nicht nur im Krankheitsfalle, sondern als Alltagbegleiter sollte Puro genutzt werden, als Hilfsmittel gegen Unpässlichkeiten, als Kräftigungsmittel. Es stand für Widerstandsfähigkeit und neue Lebenskraft, erlaubte Erholung vom Alltagskampf.

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Gescheitertes Dachmarkenkonzept: Werbung für Wein-Puro (Badische Landes-Zeitung 1897, Nr. 14 v. 17. Januar, Bl. I, 4)

Puro warb mit prototypisch männlichen Attributen, nutzte die Virilität von Fleisch und Blut, von Kraft und Stärke. Zugleich aber wies es allen den Weg dorthin, half Schwäche und temporäre Krisen zu überwinden. Frauen wurden in den Publikumszeitschriften vielfach direkt angesprochen. Schwangerschaftsprobleme waren ein Thema, während die vielfältigen „Frauenkrankheiten“ nur vage anklangen. Kurz nach der Einführung von Puro folgte jedoch Wein-Puro, das sich – so die Werbung – in der „Frauen-Praxis“ besonderes anbieten würde (Allgemeine Zeitung 1897, Nr. 284 v. 13. Oktober, 3). Puro wurde dazu mit spanischem Portwein im Verhältnis von 1:5 gemischt, fertig war das neue Produkt (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 39, 1898, 70). Die Idee, den strengen Fleischgeschmack des Präparates durch den süßlichen Wein zu überdecken und zugleich insbesondere Frauen einen erlaubten Alkoholkick zu gewähren, war jedoch nicht erfolgreich. Angesichts einer großen Zahl erfolgreich eingeführter „stärkender“ Medizinalweine, etwa Seravallo, Niers Duflot-Wein, Burgs oder Liebes Arzneiwein, konnte sich Wein-Puro nicht durchsetzen.

09_Wiener Caracaturen_18_1898_Nr21_p11_Kraeftigungsmittel_Fleischsaft-Puro_Vergleichende-Werbung

Etwas mehr Anschauung für das breite Publikum (Wiener Caricaturen 18, 1898, Nr. 21, 11)

Grund hierfür war auch der hybride Charakter von Wein-Puro, sein Changieren zwischen Frau und Mann, dem Süden und dem Norden. Puro wurde nämlich bewusst als deutsches Produkt präsentiert, und strikt gegen die ausländischen Marktführer positioniert: „40mal nahrhafter als anglo-amerikanische Meat-Juice“ (Allgemeine Zeitung 1897, Nr. 202 v. 23. Juli, 8). Es ist erreicht, konnte man denken, denn Puro bot nicht nur der amerikanischen und britischen Konkurrenz die kecke Stirn, sondern schien geeignet, „diese Auslandsprovenienzen aus dem Felde zu schlagen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1897, Nr. 71 v. 9. Februar, 1016). Es half allen Tuberkulösen, Bleichsüchtigen, Skrofulösen, Magenleidenden, war allen Schwachen ein Trost. Auch sein milder Wohlgeschmack hob Puro von den amerikanischen Marken ab. Wohlwollend beschied die Fachpresse: Puro „ist offenbar ein hervorragender Concurrent im friedlichen Streit gegen die bis jetzt meist gehandelten Fleischsäfte von Wyeth und Valentine“ (Pharmaceutische Post 30, 1897, 504).

Die Werbung präsentierte die neue Ware als Convenienceprodukt, als Teil einer weit breiteren Enthäuslichung: „Fleischsaft ‚Puro‘ fehle in keinem Haushalte“ (Neue Freie Presse 1897, Nr. 11756 v. 16. Mai, 25). Sie teilte die Paradoxien damaligen Marketings, präsentierte das neue Produkt als „bewährtes Ernährungs- und Kräftigungsmittel“. In den Tageszeitungen dominierten Anzeigen, vielfach wurde jedoch auch redaktionelle Reklame betrieben. Puro galt darin als vielfältig nutzbares Präparat – eine Umschreibung für eine Neuerscheinung, deren Nische noch nicht gefunden war. Als sicheres Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen wurde es etwa für Zugfahrten gebührend angedient. Es sei kräftigend und belebend, führe „neues, gutes Blut“ zu und gäbe frisches Aussehen (Badische Landes-Zeitung 1897, Nr. 134 v. 11. Juni, Bl. I, 3). Als selbsternannter Helfer des Laien im unübersichtlichen Nährmittelmarkt erschien Puro als Angebot, „von dem Jeder sofort weiß, was er vor sich hat. Dieser Fleischsaft ist aus bestem Ochsenmuskelfleisch gepreßt und nachher unter besonderen Vorsichtsmaßregeln ganz bedeutend concentrirt, so daß ein Glas den gesammten Saft von 5 Pfund Fleisch enthält“ (Wiener Caricaturen 18, 1898, Nr. 16, 6). Für medizinische Lohnschreiber war es Prototyp einer neuen Klasse von Heilmitteln, nämlich hoch konzentrierte und leicht verdauliche Nährpräparate (Ludwig Büchner, Medizinische Wandlungen, Mährisches Tagblatt 1897, Nr. 50 v. 3. März, 1-3, hier 3). Die Werbung selbst war allerdings nicht sonderlich elaboriert, bestand meist aus einfachen Textanzeigen, verwendete keine ansprechenden Graphiken.

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Eine neue kräftigende Alternative zum Alltagsdoping (Sport im Bild 3, 1897, 656)

Parallel schaltete Scholl in Tageszeitungen (Berliner Tageblatt 1898, Nr. 8 v. 6. Januar, 7) und in Publikumszeitschriften Anzeigen mit immer neuen, immer gleichen ärztlichen Empfehlungen. Eine komplette Serie enthalten etwa die „Fliegenden Blättern“, doch auch andere Familienzeitschriften wurden mit derartigen Annoncen bestückt (Der Bazar 44, 1898, Nr. 2 v. 3. Januar, 24; Über Land und Meer 81, 1898/99, Nr. 1, s.p.). Die Ärzte, teils renommierte, hatten zuvor Proben des Fleischsaftes zugesandt bekommen und berichteten dann brieflich von ihren „Erfahrungen“. Für jeden wachen Zeitgenossen war klar, dass es sich dabei um an sich wertlose Impressionen, nicht aber um wissenschaftlich seriöse Wertungen handelte. Doch mehr schien dem Publikum, dem Dummen, ohnehin nicht zuzumuten. Puros Werbung entsprach dem Stand der Zeit und der vielfach fehlenden Zurückhaltung vieler Mediziner bei der Vergabe von Gefälligkeiten.

11_Fliegende Blaetter_108_1898_Nr2748_Beibl_p1_Kraeftigungsmittel_Fleischsaft-Puro_Empfehlungsschreiben

Werbung mit Slogan-Vorform und ärztlicher Empfehlung (Fliegende Blätter 108, 1898, Nr. 2748, Beibl., 1)

Ab 1900 finden sich nur noch selten Anzeigen in den Publikumszeitschriften. Die Markteinführung war gelungen, Puro hatte sich trotz gewöhnungsbedürftigen Geschmacks und eines nicht geringen Preises im klinischen Bereich fest etabliert, wurde zudem in der Privatpraxis breit verwendet. Es galt vor allem als kräftigende Medizin für Rekonvaleszente, wurde aber auch für eine Reihe weiterer Indikationen eingesetzt (Oskar Dreyer, Ueber neuere Eiweisspäparate, Med. Diss. Göttingen 1902, 6-8). Die Puro-Werbung erschien danach regelmäßig in führenden medizinischen Fachzeitschriften, etwa den Therapeutischen Monatsheften, der Berliner klinischen Wochenschrift, der Münchener Medizinischen Wochenschrift oder aber der Wiener klinischen Wochenschrift. Das erfolgreiche Ende der Markteinführung wurde gleichsam symbolisiert in dem seit 1899 verwendeten schwarzen Dreieck, seither der Blickfang des Präparates. Vornehmlich in medizinischen Zeitschriften geschaltet, diente es der Erinnerungswerbung jedoch auch in Tageszeitungen. Scholl nutzte zudem zeittypische Werbemittel, etwa Puro-Sammelbilder. Sie strichen vor allem das internationale Renommee des Fleischsaftes farbenfroh heraus – beispielsweise durch glückliche Eskimos vor ihrem Iglu, die fröhlich Fisch und Fleischsaft konsumierten.

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Ein schwarzes Dreieck als Erkennungselement der Puro-Werbung (Therapeutische Monatshefte 40, 1899, H. 12, II; Allgemeine Zeitung 1899, Ausg. v. 8. April, 12)

Puro wurde demnach zwischen 1897 und 1899 durch massive Werbeanstrengungen im Markt verankert, etablierte sich dadurch als Marktführer in der Nische der Fleischpräparate. Die Werbeformen war anfangs noch recht offen, doch der durch die Käuferresonanz zunehmend klare Platz des Produktes erlaubte Konsolidierung und Begrenzung vorrangig auf die Fachwerbung – in einer Größenordnung von jährlich etwa 50.000 M. Spätere Auslassungen Hermann Scholls, „daß sich Puro lediglich durch sich selber und nicht wie die meisten anderen Nährpräparate durch eine jährlich Hunderttausende verschlingende Reklame Bahn gebrochen hat“ (H[ermann] Scholl, Der Fleischsaft „Puro“. Eine Abwehr der Angriffe auf mich und mein Präparat, München 1908, 10) sind also falsch. Des Betruges bezichtigt, versuchte er die hohen Aufwendungen für die Markenidentität seiner Schöpfung möglichst gering erscheinen zu lassen: Es sei eben keine „‘Riesenreklame‘“ betrieben worden, es sei vielmehr so, „daß gerade Puro dasjenige Präparat ist, für das effektiv die geringste Reklame gemacht wird“ (Ebd., 10). Weiter behauptete Scholl wahrheitswidrig: „Puro exisitiert heute ungefähr zwölf Jahre, hat sich ohne Publikumsreklame nur durch direkte Versuche, die tausende von Aerzten mit dem Präparat gemacht, Bahn gebrochen“ (Ebd., 15).

Der Fleischsaft Puro wurde konventionell vermarktet. Der Absatz erfolgte vor allem in größeren Chargen über Grossisten, im Ausland über Agenturen (vgl. für Mailand Milano Scelta, 3, 1907, 280). Apotheken und Drogerien bildeten das Rückgrat des Verkaufs, doch Puro konnte im Ausland auch in Kolonialwarenhandlungen gekauft werden (Tages-Post [Linz] 1901, Nr. 162 v. 17. Juli, 7). Er besaß eine Schutzmarke, im Deutschen Reich jedoch kein geschütztes Warenzeichen. Anders in vielen Auslandsmärkten, etwa seit 1898 in den USA (The Chemist and Druggist 53, 1898, 341). Dank langer Haltbarkeit konnte man das Präparat in der gesamten westlichen Welt kaufen.

Etablierung als Standarddiätetikum

Ein neuer Fleischsaft, das war eine wissenschaftliche Überraschung. In München stellten die Apotheken nach wie vor täglich frischen Fleischsaft her. Versuche, diesen zu konservieren waren durchweg gescheitert. Max von Pettenkofer, damals auch Leiter der Königlichen Hofapotheke, hielt es für ausgeschlossen, dass dies gelingen könne (Apotheker-Zeitung 25, 1910, 3447). Puro schien ihn eines Besseren zu belehren. Derartige Skepsis wurde öffentlich jedoch nicht geteilt, das neue Präparat vielmehr freudig begrüßt. Das wies auch darauf hin, dass im wissenschaftlich weltweit führenden Mitteleuropa die kritische Überprüfung neuer Heilmittel offenbar defizitär war. Blicken wir daher genauer auf die verschiedenen Kontrollorgane, die allesamt dazu beitrugen, den Fleischsaft Puro zum Standarddiätetikum der Jahrhundertwende zu etablieren.

Am Anfang stand meist eine chemisch-pharmakologische Untersuchung. Schon 1896 untersuchte die Münsteraner Versuchsstation Puro, fand dabei deutlich höhere Peptonanteile als bei der von Scholl bezahlten Untersuchung von Fresenius (J[oseph] König, Chemische Zusammensetzung der menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, 4. verb. Aufl. bearb. v. A[loys] Bömer, Berlin 1903, 89 und 1468). Rückfragen unterblieben jedoch. Die Fachzeitschriften begnügten sich fast durchweg mit der Wiedergabe der Anbieterangaben (Fleischsaft „Puro“, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 38, 1897, 254). Das damals maßgebliche Königsche Handbuch zitierte letztlich gar die Werbeprospekte der Puro-Gesellschaft, pries indirekt die damit verbundene relative Transparenz (J[oseph] König, Die menschlichen Nahrungs- und Genussmittel […], 4. verb. Aufl., Bd. 2, Berlin 1904, 543). Dies galt auch für einschlägige Handbücher damaliger Arzneimittel (Loebisch, Puro, Encyclopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde 7, 1897, 467; H[ermann] v. Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittellehre und Arzneiverordnungslehre, 5. neu bearb. Aufl., Leipzig 1904, 319).

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Trügerisches Wissen: Handbuchherausgeber Joseph König (1843-1930) und Ernst von Leyden (1832-1910) (Wikipedia (l.); Berliner Leben 1, 1898, 152)

Ähnlich unkritisch agierten Mediziner. Die diätetischen Lehrbücher konzentrierten sich vielfach auf Produktvergleiche, bei denen Puro gegenüber den ausländischen Fleischpräparaten durchweg punkten konnte (Carl Wegele, Die diätetische Küche für Magen- und Darmkranke, Jena 1900, 22). Darreichungen wurden aufgefächert, die Grenzen des Produktes benannt (Felix Hirschfeld, Nahrungsmittel und Ernährung der Gesunden und Kranken, Berlin 1900, 120). Nicht die Zusammensetzung, sondern die Wirkung Puros stand im Mittelpunkt (Dreyer, 1902, 6-8). Dabei beobachteten Mediziner sehr wohl die sich verändernde Zusammensetzung des Präparates. Anfangs wurde etwa der Zusatz von Borsäure kritisch moniert, ein Konservierungsmittel, dass nur wenige Jahre später in der Nahrungsmittelproduktion verboten wurde (R[udolf] Kolisch, Lehrbuch der diätetischen Therapie chronischer Krankheiten […], Bd. I, Leipzig und Wien 1899, 88). Deutlicher noch Georg Klemperer (1865-1946), führender Internist. Im repräsentativen Leydenschen Handbuch, kritisierte er die dunkel blutrote Farbe des Fleischsafts, sah darin ein Problem namentlich bei Patientinnen (Ueber Nährpräparate, in: E[rnst] v. Leyden (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, Bd. 1, Abt. 1, Leipzig 1897, 282-304, hier 289). Sechs Jahre später war dieses Problem abgestellt – und die Produktvorstellung entsprach dem allgemeinen Lobpreis (Über künstliche Nährpräparate, in: E[rnst] von Leyden und G[eorg] Klemperer (Hg.), Handbuch der Ernährungstherapie und Diätetik, 2. umgearb. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1903, 336-362, hier 345). Puro regte, so der Tenor, den Appetit an, erlaubte Eiweisszufuhr in kleinen Mengen. Über die Ursachen hierfür wurde durchaus gemutmaßt, genauere Kausalanalysen fehlten jedoch (P[almir] Rodari, Grundriss der medikamentösen Therapie der Magen- und Darmkrankheiten […], 2. verm. Ausg., Wiesbaden 1906, 211-212).

Diätetische Lehrbücher sollten die Quintessenz der Forschung enthalten. Und das Lob für Puro entsprach den knapp drei Dutzend von mir gesichteten klinischen Fallstudien. Zusammengefasst zeigte sich eine enge Verbindung zwischen dem Versenden kostenloser Warenproben, den daraus resultierenden Schreiben und ersten Studien, die sich fast durchweg dem Tenor der Werbeaussagen anschlossen. Nationale Bewertungen fanden sich immer wieder, stolz verkündeten Kliniker, „dass der Fleischsaft ‚Puro‘ allen ähnlichen Produkten überlegen ist“ (Ref. v. Werner, Die moderne Therapie und der Fleischsaft, Deutsche Medizinische Presse 1899, Nr. 10, Wiener klinische Rundschau 14, 1900, 139-140, hier 139). Nähr- und Anregungsmittel zugleich, erschien Puro als „vornehmster Vertreter dieser Classe“ neuartiger Nähr- und Heilpräparate (Ebd., 140). Anfangs dominierten Untersuchungen in verschiedenen Kliniken, darunter auch Zuchthäusern und Kinderabteilungen (Ludwig Nied, Ueber die therapeutische Verwendung von „Puro“, Der Heilkunde 6, 1902/03, 304-305; Julian Marcuse, Der Nutzwert des Fleischsaftes, Ebd. 9, 1905/06, 69-72). Die Qualität der meisten dieser auch in damals führenden Fachzeitschriften erschienenen Arbeiten war gering, Ausdruck einer von Marktinteressen dominierten Wissenschaft: Die meist recht kurzen Artikel verwiesen in einer allgemeinen Einführung zumeist zurück auf Liebig und die frühen Fleischpräparate, erörterten teils aber auch auf die Fortschritte der Ernährungstherapie und deren lichte Zukunft. Es folgten Angaben zum Produkt selbst, meist Wiedergaben der Firmen-PR. Zahlreiche Einzelfälle schlossen sich an, letztlich kurze Berichte aus den Krankenakten. Am Ende stand eine fast durchweg lobende Einschätzung. Die Quintessenz zog dann die Puro-Gesellschaft selbst, veröffentliche sie doch zwei Broschüren mit Fleischsaftelogen im wissenschaftlichen Gewande (Wissenschaftliche Abhandlungen über Fleischsaft Puro, München 1901; Einige neuere Arbeiten über Fleischsaft „Puro“, s.l. 1904).

Derartige Fachartikel waren Folge der immens gewachsenen Zahl von Pharmazeutika allgemein, von Nähr- und Eiweißpräparaten speziell. Die damals nur geringe Regulierung der Werbung und die schwach ausgeprägte Selbstkontrolle der Pharmazeuten, Chemiker und Mediziner führte zu einem wachsenden Bedarf an wissenschaftlicher Expertise: Selbsthilfe, um die Spreu vom Weizen zu trennen (so auch Rattner, Praktische Versuche am Krankenbett und in der ambulanten Praxis mit dem Fleischsaft „Puro“, Die Heilkunde 10, 1906/07, 66-69, hier 66, dem dann Purolob folgte). Neue, vor der Jahrhundertwende erlassene Gesetze über das Apothekerwesen und den Unlauteren Wettbewerb hatten kaum mildernd gewirkt. Neue, zwischen Geheimmitteln und seriösen Therapeutika positionierte Präparate konnten mit ihren „wunderwirkenden Eigenschaften“ (Johann Landau und Anton Schudmak, Erfahrungen über Puro in der Kinderpraxis, Die Heilkunde 5, 1900/01, 298-301, hier 298) durchaus gepriesen werden. Das Beispiel des Fleischsaftes Puro verdeutlicht, dass Wissenschaftler ihr Wächteramt vielfach nicht erfüllten und die immer wieder beschworene Ehrsamkeit des eigenen Standes eine Chimäre war. Bis zur Aufdeckung des Betruges wurde gelobt und Puro als „wunderbares Hilfsmittel“ (P. Schütte, „Puro“ und seine therapeutische Bewertung, Der praktische Arzt 48, 1908, 73-79, hier 76) empfohlen. Zu welch kruden Ideen sich einzelne Mediziner verstiegen, zeigen nicht nur Arbeiten zur vermeintlichen Förderung „guten Blutes“ durch Puro (Erich v. Matzner, „Puro“ und seine Bedeutung für die Zusammensetzung der Blutflüssigkeit, Die Heilkunde 11, 1907/08, 65-69). Livius Fürst (1840-1907), ein bedeutender Leipziger Pädiater, sah in ihm gar ein „Naturprodukt“, das „im erfreulichen Gegensatz zu dem heutigen Ueberwuchern von Kunstproducten auf dem Markt der Diätetica“ stehe („Puro“ in der Kranken-Diätetik, Therapeutische Monatshefte 16, 1902, 25-29, hier 26).

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„Saft aus rohem Ochsen-Muskelfleisch“ – Auszug aus einer ganzseitigen Puro-Werbung (Wiener Medicinische Wochenschrift 53, 1903, Sp. 1-2)

Gewiss, es gab Kritik, auch am Fleischsaft Puro. Anfangs wurde der relativ geringe Eiweißgehalt wiederholt moniert, dem Präparat der Nährcharakter abgesprochen (Pharmaceutische Rundschau 2, 1898, 407; Die Heilkunde 3, 1898/99, 643). Mediziner begrenzten zudem dessen Anwendungsgebiete (Therapeutischer Almanach 26, 1899, 35). Ende der 1890er Jahre schienen diese sehr weit gefächert, sollte Puro doch Bleichsucht, Skrofulose und Rachitis erfolgreich bekämpfen und auch bei der Behandlung von Kachexien und Tuberkulose herangezogen werden (Wiener Medizinische Wochenschrift 48, 1898, Sp. 329-330). Mediziner dämpften also Erwartungen, etablierten und festigten mit ihren Fallstudien zugleich aber die Marktführerschaft im Fleischpräparatesektor. Puro selbst galt als deutsche Spitzenleistung, sein Schöpfer schien in einer Kette mit den führenden Ernährungswissenschaftlern der Zeit zu stehen: „Was v. Liebig, der Erfinder des Fleischextractes, vor Jahren als erstrebenswerthes und wünschenswerthes Ziel hinstellte, […] ist im Puro einigermassen erreicht“ (Max Heim, Die künstlichen Nährpräparate und Anregungsmittel, Berlin 1901, 123).

Ökonomischer und gesellschaftlicher Erfolg waren der vermeintlich verdiente Lohn für Hermann Scholl. Er war „Millionär“ (Pharmazeutische Presse 15, 1910, 76), sein Vermögen wurde 1914 auf etwa drei Millionen Mark geschätzt (Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Bayern, Berlin 1914). 1899 erwarb er für 90.000 M eine standesgemäße Villa mit einem mehr als 3.000 m² großen Grundstück in bester Münchener Lage. 1905 ließ er dieses abreißen, zahlte mehr als 230.000 M für ein neues Anwesen, das er 1907 bezog (Angaben n. Bayerische Geschichte(n) 2011, Nr. 24: Mit Fleischsaft zur herrschaftlichen Villa [Verweis]). Hermann Scholl war damals mit seiner Gattin Mitglied der Münchener Gesellschaft, vergnügte sich beim Maskenball des Kaufmannskasinos gemeinsam mit Prinzregent Luitpold und bei vielen anderen Gelegenheiten (Alex Braun, Maskenball des Kaufmannskasino, Allgemeine Zeitung 1906, Nr. 93 v. 27. Februar, 4-5, hier 5). Bürgerliche Wohltätigkeit war ihm nicht fremd (Walderholungsstäte Holzapfelskreuth, Allgemeine Zeitung 1906, Nr. 459 v. 4. Oktober, 6). Darunter fiel auch Scholls Engagement in der Deutschen Kolonialgesellschaft, dessen Münchener Abteilung er ab Ende Januar 1908 als Erster Vorsitzender vorstand (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 51 v. 1. Februar, 3-4). In dieser Eigenschaft reiste er kurz darauf nach Deutsch-Ostafrika, um den Kern einer „Kolonialsammlung“ in München anzulegen.

Aufdeckung des Betruges

So schien alles wohl etabliert. Der Fleischsaft Puro wurde selbst von kritischen Kämpfern für mehr Transparenz im Präparatemarkt prospektgemäß dargestellt (G[eorg] Arends, Neue Arzneimittel und Pharmazeutische Spezialitäten, 2. verm. u. verb. Aufl., Berlin 1905, 440). Die Firma selbst beschickte weiterhin führende Ärztekongresse und tönte dort vom eigenen natürlichen Fleischsaft (Verhandlungen des Kongresses für Innere Medizin. Dreiundzwanzigster Kongress. Gehalten zu München vom 23.-26. April 1906, Wiesbaden 1906, 779-780 hier 779). Doch dann, 1908, kam es, das Ende: „Zerschlagt die Welt und laßt das Chaos kreisen / Denn Lug ist alles, alles falscher Schein! Selbst ‚Puro‘ ist nach chemischen Erweisen, / Der reine Fleischsaft Puro, ist nicht rein“ (Das Ende, Kladderadatsch 61, 1908, Nr. 21, Beibl. 5, 3).

Fleischsaft Puro war kein Fleischsaft, sondern ein Kunstprodukt aus Fleischextrakt, Hühnereiweiß und einigen Zusatzstoffen. Das war die Quintessenz mehrerer parallel laufender Untersuchungen des Präparates durch Forscher in Kairo, München und Berlin. Verbindendes Band war eine neuartige biochemische Methode. Die spezifische Präzipation stand für die damaligen Fortschritte in der Immunologie. Sie wurde 1901 von dem Hygieniker Paul Uhlenhuth (1870-1957) entwickelt und erlaubte einen Vergleich der Eiweißstrukturen zweier Organismen. Davon profitierte erst einmal die Forensik, da Menschen- und Tierblut nun sicher voneinander unterschieden werden konnten. Nahrungsmittelchemiker hatten ein anderes Kontrollarsenal, so dass es einige Jahre dauerte, bis die Präzipation auch von ihnen angewandt wurde. Entsprechend wurde der Betrug von Biochemikern und Hygienikern aufgedeckt.

Der erste Strang führte nach Kairo. Ende 1906 kaufte W. A. Schmidt, ein an der dortigen Government School of Medicine seit 1899 tätiger Professor für Chemie in einer Apotheke zwei Fläschchen Puro, um den Fleischsaft als Testmittel bei Experimenten zu nutzen. Der aus Göttingen stammende Eiweißforscher war jedoch überrascht, dass er eben keine genuinen Eiweißstoffe in dem Präparat fand. Schmidt schrieb rückfragend an Scholl, der beruhigend betonte, „‚daß zu meinem Präparat ‚Puro‘ nur Rindfleisch verwandt wird, ferner daß beim Auspressen und Herstellung Chemikalien keine Anwendung finden und daß ‚Puro‘ bei einer Temperatur von 20-35° zur Eindickung gelangt‘“ (Schreiben d. Instituts Dr. H. Scholl v. 18. Juli 1907, zit. n. W.A. Schmidt, Woraus besteht der Fleischsaft Puro?, Medizinische Klink 1908, 800-802, hier 801). Schmidt war irritiert, führte im Oktober 1907 weitere Untersuchungen durch, die analoge Ergebnisse erzielten. Auch Kollegen bestätigten das gänzliche Fehlen von Muskeleiweiß im Präparat. Schmidt veröffentlichte seine Ergebnisse erst am 24. Mai 1908, gleichsam als Protest gegen eine abwiegelnde Werbeanzeige der Puro-Gesellschaft auf derweil veröffentlichte Ergebnisse aus München. Sein Puro-Antiserum bestätigte nämlich den von der Firma in Abrede gestellten Zusatz von Eiereiweiß. Es war offenkundig, dass die Schollsche Firma ihre Käufer täuschte (Schmidt, 1908, 800).

15_Wikipedia_Max-von-Gruber_Tsuguo-Horiuchi

Max von Gruber 1913 (1853-1927) und sein japanischer Schüler Tsuguo Horiuchi 1933 (1873-1855) (Wikipedia)

Zu diesem Zeitpunkt hatten die am 17. April 1908 veröffentlichten Münchener Untersuchungen den „Skandal“ zu einem ersten Höhepunkt geführt. Der im gleichen Jahr nobilitierte Hygieniker, Serologe und auch Rassenhygieniker Max Gruber hatte bereits Mitte November 1907 erste Ergebnisse vergleichender Analysen der gängigen Fleischpräparate in einem Vortrag in der Münchener Morphologisch-physiologischen Gesellschaft vorgestellt. Gruber betonte später: „Anlass der Untersuchung gab eine rein wissenschaftliche Frage, ob man nämlich mit dem Verfahren der spezifischen Präzipation (nach Ulenhuth [sic!]) Aufschluss über die Herkunft der zahlreichen Fleisch-Nährpräparate bekommen könne“ (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 448, 1908, 299). Scholl erfuhr hiervon, sah sich jedoch weder zu einer Korrektur der Produktion noch der Werbung veranlasst. Die „Münchener“ Untersuchungen stammten von dem japanischen Gastwissenschaftler Tsuguo Horiuchi, dem Direktor der Hygienischen Instituts der Akademie der Medizin auf Formosa, dem heutigen Taiwan, zwischen 1895 und 1945 eine japanische Kolonie. Horiuchis Untersuchungen an Kaninchen stehen für die Ausweitung der spezifischen Präzipation auf Nahrungsmitteluntersuchungen von Fleischprodukten. Bei werbungsadäquater Produktion hätte der Fleischsaft Puro auf ein Antirindfleischserum reagieren müssen. Das unterblieb. Horiuchi wies ferner nach, dass das Eiweiß in Puro von Hühnereiweiss war. Bei dem „Fleischsaft“ handelte es sich um eine Mischung aus 40 % Fleischextrakt, 20 % getrocknetem Hühnereiweiß, knapp 7 % Glyzerin sowie Wasser. Statt der Essenz des Ochsen wurde also eine Kombination industriell hergestellter Zwischenprodukte verkauft (T[suguo] Horiuchi, Diätetische Nährpräparate vor dem Forum der spezifischen Präzipation, Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 900-902). Die Drucklegung hatte Gruber veranlasst (M[ax] Gruber, Ueber die Fleischsäfte „Puro“ und „Robur“, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, 791-792, hier 791). Scholl reagierte, strengte eine folgenlose Klage gegen den japanischen Forscher an, der derweil nach Formosa zurückgereist war (Max Gruber, Nochmals der „Fleischsaft“ Puro, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, 1024).

Gruber stand zudem Pate für die zeitgleiche Publikation einer weiteren, nun allerdings chemischen Analyse. Sie stammte von Ludwig Geret, einem Eiweiß- und Hefeforscher, auch er früherer Assistent am Hygienischen Institut in München. Er hatte den Fleischsaft dort schon 1898 und 1899 analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass die angegebene Zusammensetzung nicht stimmen könne (Hermann Bremer und [Ludwig] Geret, Diätetische Nahrungsmittel der Neuzeit, in: Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 71. Versammlung zu München, T. 2, 1. Hälfte, Leipzig 1900, 173-176, hier 175). Scholl hatte die Resultate seinerzeit bestritten. Geret wechselte im Herbst 1901 zur Liebig-Compagnie in Amsterdam, deren enge Beziehungen zu München auf Liebig selbst, aber auch auf Max von Pettenkofer und Carl von Voit (1831-1908) zurückgingen, die den Liebigschen Fleischextraktes im Firmenauftrag und gegen Salär kontrollierten. Geret nahm 1901, 1904 und 1907 weitere Untersuchungen vor, deren Ergebnisse er nun nach einer Anfrage von Gruber veröffentlichte (L[udwig] Geret, Der Fleischsaft „Puro“, Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 902-904, hier 904). Demnach war Puro von Anfang an aus Blut bzw. käuflichem Albumin (also Eiweiß) unter Zusatz von Fleischextrakt hergestellt worden. Seine Zusammensetzung habe sich 1899 (oder schon 1898) mit der Abkehr vom Blut deutlich verändert, seine Farbe wandelte sich von blutrot zu dunkelbraun. Die Details müssen uns hier nicht interessieren, wohl aber Gerets chemisch begründete Aussage, dass ein minderwertiger Fleischextrakt verwendet worden sei. Die Konservierung des „Fleischsaftes“ Puro erfolge durch Glyzerin, nachweisbar sei aber auch Borsäure. Dabei handele es sich um eine Verunreinigung des ebenfalls verwandten Seesalzes bzw. Salpeters, wie sie in Pökelbrühen eingesetzt wurden, die ihrerseits zu Fleischextrakt weiterverarbeitet werden konnten (Nochmals der „Fleischsaft Puro“, Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1264).

16_Geret_1908_p903_Nahrungsmitteluntersuchung_Fleischsaft-Puro_Fleischpraeparate_Nahrungsmittelchemie

Puro in der Sprache der Chemie: Analyseergebnisse 1899-1907 (Geret, 1908, 903)

Die Redaktion der Münchener Medizinische Wochenschrift resümierte, dass die Bezeichnung von Puro als Fleischsaft „irreführend“ sei: „Wir müssen dem Hygienischen Institut München dankbar dafür sein, dass es durch diese Untersuchungen Aufklärung geschaffen hat über eine grobe Täuschung, die an Aerzten und Publikum durch diese Präparate [Puro und Robur, US] seit Jahren verübt wurde“ (Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 943). Nachgeschoben wurde kurz darauf noch eine weitere klinische Studie, die ebenfalls nahelegte, dass Puro kein Ochsenfleisch, wohl aber Hühnereiweiss enthielt (P. Landmann, Ein seltener Fall von Idiosynkrasie gegen Hühnereiweiss nebst Beitrag zur Würdigung des „Fleischsaft“ Puro, Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1079).

Abgerundet wurde die wissenschaftliche Beweisführung durch eine weitere Untersuchung aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt in Berlin. Paul Uhlenhuth hatte dort seit längerem die Anwendungsfelder seiner Methode getestet. Um die Jahreswende 1907/08 beschäftigte sich seine Arbeitsgruppe mit Fälschungen von (Rind-)Fleischwaren durch Pferdefleisch oder -blut. Puro diente dabei, dank seines Werbeimages, abermals als Referenzmittel, doch eine Reaktion bei Zusatz eines Rinderantiserums erfolgte nicht ([Paul] Uhlenhuth, [Oskar] Weidanz und [Wilhelm] Wedemann, Technik und Methodik des biologischen Verfahrens zum Nachweis von Pferdefleisch, Arbeiten aus dem Reichsgesundheitsamte 28, 1908, 449-476, hier 469). Sie wissen, warum.

17_Der Welt-Spiegel_1906_12_09_p4_Biochemiker_Paul-Uhlenhuth

Paul Uhlenhuth (Der Welt-Spiegel 1906, Ausg. v. 9. Dezember, 4)

Und doch, diese wissenschaftlichen Untersuchungen verursachten nicht den Skandal. Ihre Veröffentlichung erfolgte vielmehr nach einer Enthüllung des Betruges in Kenntnis dieser Forschungsarbeiten. Die Wissenschaftler zögerten, wogen ab, hatten sich dadurch das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lassen. Es war der später im Dresdener Hygiene-Museum tätige Münchener Augenarzt Otto Neustätter (1871-1943), der in der „volkstümlichen Monatsschrift“ „Gesundheitslehrer“ am 1. März 1908 über „Puro – der Fleischsaft“ berichtete. Der Druckort war wohl gewählt, es handelte sich um das Organ der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums. Gründend auf 1907 durchgeführte Untersuchungen des Münchener Oberapothekers Rudolf Rapp (1866-1941), auf Horiuchi resp. Gruber behauptete Neustätter, „daß der allbekannte ‚Fleischsaft‘ Puro mit Fleisch nicht das mindeste gemein habe, aus Eiereiweiß bestehe, mithin Schwindel sei“ (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 235; auch für die folgenden Zitate Neustätters). Puro-Werbung und Untersuchungsergebnisse wurden kontrastiert, die Diskrepanz pointiert offengelegt: „Die ganze Puro-Geschichte ist nämlich ein purer Humbug. Puro – vollkommen pur von jedem Fleischsaft.“ Das waren in der Tat „merkwürdige Mitteilungen“ (Pharmazeutische Post 41, 1908, 368; s. auch Der Fleischsaft „Puro“, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 6, 1908, 94-95). Betrug und Täuschung schienen offenkundig: „Es ist eben genau so, wie wenn jemand ‚Kaviar‘ zu Kaviarpreisen verkaufen würde, der vielleicht aus Stärke, Eiereiweiß, Glyzerin und etwa grauer Farbe hergestellt wurde.“ Neustätters Artikel war engagiert geschrieben, enthielt Zuspitzungen und Übertreibungen, auch einige sachliche Fehler.

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Gestorben im erzwungenen Exil. Grabstein von Otto Neustätter in Baltimore, MD (Oliver Bryk)

Doch er machte lange nur in Expertenkreisen bekannte Vorwürfe öffentlich, machte deren Veröffentlichung unverzichtbar. Doch machen wir uns kurz frei von den Experten. Die Öffentlichkeit reagierte auf Neustätters Enthüllung kaum. Der Artikel wurde gelesen, interessierte Kreise reagierten vorhersehbar. Der Verband der Nahrungsmittelproduzenten schloss sich der scharfen Kritik an, unterminierten Unternehmer wie Scholl doch die Stellung der Hersteller bei den Konsumenten. Zugleich aber fragte man sich, warum die bayerischen Behörden nichts gemerkt hätten (Der Fleischsaft „Puro“, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 6, 1908, 94-95; Dass., 165). Zum öffentlichen Skandal wurde die Angelegenheit aber erst Ende April. Schrittmacher waren die Münchner Untersuchungen, die auch in Publikumszeitschriften vorgestellt und diskutiert wurden (Die Fleischsäfte „Puro“ und „Robur“, Berliner Tageblatt 1908, Nr. 222 v. 2. Mai, 10; Gegen den Fleischsaft „Puro“, Berliner Volks-Zeitung 1908, Nr. 264 v. 6. Juni, 3). Die Presse spitzte den Sachstand nochmals zu, wobei sie insbesondere Gerets Aussagen über wohl minderwertigen Fleischextrakt aus Pökelbrühe in den Vordergrund rückte („Puro.“, Berliner Tageblatt 1908, Nr. 249 v. 16. Mai, 5; „Puro.“, Berliner Volks-Zeitung 1908, Nr. 231 v. 17. Mai, 2). Zum Eklat kam es jedoch erst durch die Reaktion der Puro-Gesellschaft auf die Vorwürfe. Die Leugnung jeglicher Verfehlung ließ nicht nur Schmidt zur Veröffentlichung schreiten. In Hamburg protestierten Ärzte offen gegen die Machenschaften der Münchener Firma, nachdem Untersuchungen am dortigen Hygienischen Institut die Vorwürfe abermals bestätigt hatten (Beschlagnahme von Puro-Fleischextrakt, Hamburgischer Correspondent 1908, Nr. 252 v. 18. Mai, 9). Mitte Mai beschlagnahmte daraufhin die Hamburger Staatsanwaltschaft die bei Grossisten gelagerten Puro-Flaschen (Neue Hamburger Zeitung 1908, Nr. 232 v. 18. Mai, 5). Damit wurde auch der Export unterbunden. Die Hauptstadtpresse ergänzte: „Von einer Beschlagnahme in Berlin ist bisher noch nichts bekannt geworden; sie wird sich aber nach den letzten Feststellungen kaum umgehen lassen“ („Puro.“, 1908). Gerüchte waberten, Hermann Scholl solle verhaftet werden und sei geflüchtet (Grazer Tageblatt 1908, Nr. 138 v. 19. Mai, 7). Das war falsch, doch ein spannendes Gesprächsthema (Pharmazeutische Post 41, 1908, 474). Wichtiger war gewiss, dass auch Abnehmer reagierten: Grossisten und Apotheker sandten teils ihre Bestände zurück, erhielten dafür den Kaufpreis zurückerstattet (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 334). Die Puro-Gesellschaft knickte nun rhetorisch ein, strich den Begriff Fleischsaft aus ihren Anzeigen, nachdem diese in alter Form nicht mehr angenommen wurden. Daraufhin wurde die Beschlagnahme aufgehoben „und somit der Verkauf desselben in ganz Deutschland wieder freigegeben“ (Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1366). Man sollte meinen, dass der Skandal nun gängige Formen annahm, also Entschuldigungen, Produktrückzug, Präsentation eines neuen, besseren, zumindest aber transparent gekennzeichneten Präparates. Doch dem war nicht so.

Was ist „Betrug“? Kontroverse Reaktionen auf die Enthüllungen

Die Presse berichtete über den Skandal, umfangreichere Kommentare aber fehlten – dies unter dem steten Vorbehalt, dass eine fundierte Analyse von Tageszeitungen und Zeitschriften im digitalen Entwicklungsland Bundesrepublik Deutschland nicht wirklich möglich ist. Doch schweifen wir nicht ab, sondern widmen uns zuerst den Reaktionen auf die Enthüllungen. Die Puro-Gesellschaft, das ist schon klar geworden, verteidigte ihr Produkt, attackierte ihrerseits die analysierenden Wissenschaftler. Drei Ebenen sind dabei hervorzuheben: Rechtlich ging die Firma gegen zentrale Aussagen der Kritiker vor. Werblich schaltete sie erst kurze, dann zunehmend umfangreichere Anzeigen, um Kunden und Öffentlichkeit alternative Fakten zu liefern. Publizistisch trat Herrmann Scholl mit zwei Broschüren hervor, um seine Sicht der Dinge zu verbreiten.

Gegen die Aussagen im „Gesundheitslehrer“ gingen die Puro-Hersteller rechtlich vor, versandten Berichtigungen auch an Zeitungen, die aus Neustätters Artikel zitiert hatten. Der Tenor war einfach, nämlich dass die Vorwürfe „gegenstandlos seien“ (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 314). Demgegenüber bekräftigte die Zeitschrift die wissenschaftlich fundierten Vorwürfe. Neustätter beharrte darauf, daß „Millionen für das Präparat zu viel bezahlt worden sind“ (Zu der „Aufklärung der Firma Puro-Dr. Scholl“, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, 931-932, hier 932). Es begann ein unfruchtbares Hin und Her, etwa um die Frage ob der mit N. gezeichnete Artikel wirklich von Neustätter oder aber von einem Anonymus geschrieben worden sei (Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1111). Dabei spielte die Firma auch über Bande, indem ihr wohlgesonnene Ärzte Einzelangaben Neustätters berechtigt korrigierten. Beispiel hierfür war der Neurologe Hans Lungwitz (1881-1967), Redakteur der Therapeutischen Rundschau, in den 1920er Jahren Begründer der „Psychobiologie“, seit 1926 dann NSDAP-Mitglied. Er riet zu Gelassenheit: „Ob wohl Herr Dr. Neustätter sich endlich mal über Puro beruhigen wird?“ (Quamvis sint subaqua…., Therapeutische Rundschau 2, 1908, 766). Neustätter griff diesen und andere Einwände auf, veröffentlichte im November 1908 im „Gesundheitslehrer“ „Puro redivivus und die Therapeutische Rundschau“. Scholl verklagte Neustätter nun wegen Beleidigung, doch das Amtsgericht München I wies die Klage zurück, „wenn auch die Aeußerungen an sich und objektiv wohl geeignet gewesen seien, den Kläger verächtlich zu machen“ (Apotheker-Zeitung 24, 1909, 168-169, hier 168). Wichtiger sei, dass Neustätter als Sachwalter der Öffentlichkeit berechtigte Interessen verteidigt habe. Auch die 2. Instanz wies die Beleidigungsklage Scholls ab (Münchener Medizinische Wochenschrift 56, 1909, 487). Deutlicher noch war die Abfuhr der beiden späteren Eigentümer und damaligen Prokuristen der Puro-Gesellschaft Oskar Freygang und Oskar Langguth. Sie hatten den Herausgeber des „Gesundheitslehrers“ verklagt. Der böhmische Primararzt Heinrich Kantor (1859-1926) sollte nicht nur für die vielen Unwahrheiten über Puro zur Rechenschaft gezogen werden, sondern er habe den Artikel nur aus Ärger und Rache über nicht geschaltete Anzeigen veröffentlicht, und Neustätter stehe im Solde der Konkurrenz, der Liebig-Compagnie. „Die Verhandlung ergab auch nicht den Schatten eines Beweises für diese für die Behauptungen“ (Apotheker-Zeitung 244, 1909, 876). Die Behauptungen wurden bedauernd zurückgenommen, eine Geldstrafe verhängt, all das öffentlich zur Kenntnis gebracht. Hinter derartig unbegründeten Strafverfahren stand zweierlei: Zum einen ging es um die Grenzen des öffentlich Sagbaren, um die Chancen für öffentliche Interventionen von Wissenschaftlern gegen kommerzielle Interessen. Zum anderen ging es offenbar auch darum, jüdische Wissenschaftler an den Pranger zu stellen. Neustätter, Kantor, auch Gruber waren jüdischen Glaubens – und die imaginierten Rechtsbrüche wurden von den strikt nationalen Vertretern der Puro-Gesellschaft bewusst gestreut. Es würde schon etwas hängenbleiben… München war bekanntermaßen mehr als Schwabing, schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur vermeintlich liberale Enklave, sondern auch ein Ort virulenten Antijudaismus und Antisemitismus. Doch das ist nicht unsere Fragestellung. Unter dem Aspekt des Skandals ist das Recht jedoch immer Mittel im kommunikativen Kampf, Element der Verzögerung und Abwehr, der Einschüchterung und des Stillstellens. All das gilt, mag am Ende auch die Gerechtigkeit siegen.

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Abwiegeln und Leugnen: „Aufklärungs“-Anzeige der Puro-Gesellschaft vom 18. April 1908 (Wiener Medizinische Wochenschrift 58, 1908, Sp. 834)

Die Puro-Gesellschaft schaltete ab April 1908 zudem mehrere Anzeigen in medizinischen Fachzeitschriften, aber auch in Tageszeitungen, in denen sie Nebenaspekte der publizierten Artikel in den Vordergrund schob und ihre Kritiker der Unwahrheit bezichtigte. „Zur Aufklärung“ stritt die Firma Betrug und Täuschung ab. Wer darüber berichtete erhielt Post, in denen die Firma betonte, daß die über sie „gebrachten Ausstreuungen grundlos seien. Es könne bewiesen werden, daß die Firma im Jahre 1906 zur Herstellung von Puro 19.800, im Jahre 1907 20.217 kg festes Fleischextrakt bezogen und verwendet habe. Da aus einem Stück Vieh nur 5 kg festen Fleischextrakts gewonnen werden, so wären in den beiden erwähnten Jahren 8000 Stück Rindvieh erforderlich gewesen“ (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 282). Damit gab sie indirekt die Kundentäuschung zu. Vorsichtig hieß es in der pharmazeutischen Fachpresse: „Diese Erklärung scheint noch nicht genügend, um das rege gewordene Misstrauen gegen Puro zu entkräften“ (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 48, 1908, 235).

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Kontinuierliche Fleischsaft-Werbung in Auslandsmärkten (St. Petersburger Medicinische Wochenschrift 33, 1908, 310)

Die Puro-Gesellschaft sah anfangs zugleich keinen Anlass, ihre Werbung umzustellen und insbesondere auf den Begriff „Fleischsaft“ zu verzichten. Ihre Anzeigen wurden im Regelfall von Annoncenexpeditionen verwaltet, die langfristige, häufig einjährige Verträge abschlossen, um so Mengenrabatte zu erhalten. Enthüllungen und Untersuchungen beeinflussten das erst einmal nicht. Dennoch weigerten sich, worauf wir am Ende nochmals genauer eingehen werden, die einschlägigen Fachzeitschriften spätestens ab Ende April, tradierte Puro-Anzeigen zu veröffentlichen. Die Firma selbst sah keinen Anlass, diese freiwillig zurückzuziehen bzw. zu ändern.

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Kampf gegen vermeintliche „Hetze“ – Anzeige der Puro-Gesellschaft Ende Mai 1908 (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 103 v. 30. Mai, VI)

Parallel aber beklagte sie in Anzeigen ein Klima der „Hetze“ gegen ihr bewährtes Produkt und bat ihre Käufer, sich dadurch nicht beirren zu lassen, sondern in Treue fest zu Puro zu stehen. Im Hintergrund stand stets der Vorwurf, dass ausländische Konkurrenz – vornehmlich die Londoner Liebig’s Extract of Meat Company – ein erstklassiges deutsches Präparat vom Markt verdrängen wolle. Neustätter betonte trotzig: „Das Präparat Puro ist und bleibt gerichtet“ (Neustätter, 1908, 932); und doch fanden dessen Produzenten mit ihren Vorwürfen durchaus Widerhall.

Drittens meldete sich auch der Erfinder Puros und Eigentümer des Medizinisch-chemischen Instituts Hermann Scholl nach seiner Rückkehr aus Deutsch-Ostafrika zu Wort. Dazu wählte er nicht die sich langsam verbreitende Form des Interviews, sondern die der darstellenden Broschüre. Sie wurde als Privatdruck erstellt und dann an Kunden und interessierte Kreise verschickt. Für ihn war all dies ein von Neustätter initiierter „wohlvorbereiteter, konzentrischer Angriff auf den Fleischsaft Puro und anschließend auf meine Person“ (Scholl, 1908, 3). Er beschrieb beredt, dass Max von Pettenkofer selbst seine Forschungen angeregt habe, um die ausländischen Präparate durch ein besseres Produkt vom deutschen Markt zu verdrängen. Er habe jedoch einsehen müssen, dass ein aus Fleisch direkt gewonnener Saft viel zu teuer geworden wäre und auch nicht den erforderlichen Geschmack gehabt hätte. Daher sei er zum Lebensmitteldesign übergegangen, habe etwas Neues geschaffen. Den Begriff Fleischsaft habe er analog zu den englischen Vorbildern gewählt, bei denen es ja klar gewesen sei, dass es sich nicht um Fleischsäfte im engeren Sinne des Wortes handelte, „denn der Begriff ‚Fleischsaft‘ ist speziell beim Publikum nicht der konkrete, den meine Gegner ihm gerne geben möchten“ (Ebd., 11). Ja, Puro sei ein Produkt aus Fleischextrakt und Eiweiss, doch es wirke und die Ärzte seien dankbar dafür – das allein sei entscheidend. Seine Kritiker seien heuchlerisch, da jeder Fachmann wisse, dass ein Präparat zu diesem Preis aus frischem Fleisch nicht hätte produziert werden können. Auch ein Blick in seine Firma hätte jedem deutlich gemacht, „daß Puro überhaupt nicht ausschließlich hier fabriziert wird“ (Ebd., 13). Betriebskontrollen hätten nie Beanstandungen ergeben. Der eingesetzte Fleischextrakt stamme vom Rind, der Preis Puros sei moderat, niedriger als der der Konkurrenz. Eine Übervorteilung des Publikums habe es daher nicht gegeben. Ein wirklicher Fleischsaft hätte mit etwa acht Mark pro Flasche kaum Käufer gefunden. Sein Herstellungsverfahren habe er geheim halten müssen, da es keinen gesetzlichen Schutz für derartige Präparate gäbe. Er habe Puro jedoch mehrfach verbessert, nutze gegenwärtig teureres Rohmaterial als zu Beginn der Produktion. Besseres sei gewiss denkbar, doch gegenwärtig gehe es nur um den „Ruin des zur Zeit relativ besten Präparates“ (Ebd., 20).

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Titelblatt von Scholls erster Verteidigungsbroschüre (Scholl, 1908, I)

Die Fachpresse griff Scholls Ausführungen durchaus auf, kaum aber die Öffentlichkeit (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 48, 1908, 315; Apotheker-Zeitung 32, 1908, 363). Die Resonanz war jedoch eindeutig, die Täuschung offenbar: „Die Rechtfertigung Dr. Scholls ist missglückt, wie es bei einer durch und durch faulen Sache nicht anders möglich war; der Erfinder des Puro kann nichts besseres tun, als sein Präparat so geräuschlos als möglich vom Schauplatz verschwinden zu lassen“ (Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1159). Ähnlich äußerten sich Gruber und Geret (Puro, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, 1150-1151; Nochmals, 1908, 1264), die zudem bestritten, dass Puro einem frischen Fleischsaft gleichwertig sei.

Scholl schrieb im Anschluss eine weitere Broschüre: „Mit welchen Mitteln wird der Fleischsaft Puro bekämpft?“. In dieser Polemik zielte er offen auf Neustätter und Gruber, stellte sich als Opfer der Liebig-Compagnie dar, als ein nur bestes Rohmaterial verwendender Erfinder-Unternehmer. Horiuchi erschien darin als willfähriger Handlanger Grubers, dem eigentlichen Drahtzieher der ganzen Affäre (Angaben n. Apotheker-Zeitung 25, 1908, 396). Standpunkt stand gegen Standpunkt, Fachleute mokierten sich langsam über die „Preßpolemik über den Fleischsaft Puro“ (Apotheker-Zeitung 25, 1908, 417). Scholl und seine Firma hatten damit gewiss ein Ziel erreicht: Lebensmitteldesign erschien im Umfeld ausländischer Konkurrenz durchaus angemessen. Täuschung und Betrug schienen offenkundig, doch war dies wirklich entscheidend?

Diese Relativierung wirtschaftskriminellen Verhaltens gründete auch auf Vorwürfen, dass die falsche Bezeichnung Puros als Fleischsaft in Fachkreisen letztlich allgemein bekannt gewesen sei. Die schon erwähnten ersten Untersuchungen Gerets wurden schließlich auf der Jahresversammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte vorgetragen, einem Stelldichein der Experten. Wörtlich hieß es damals, dass der Fleisch Karno, „ebenso wie Puro aus Blut (oder neuerdings aus käuflichem Albumin) unter Zusatz von Fleischextract gewonnen wird“ (Bremer und Geret, 1900, 175). Ein öffentlicher Aufschrei über die offenkundige Diskrepanz zwischen diesem Ergebnis und der Puro-Werbung blieb jedoch aus.

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Ernüchternde Analysen von Puro am London Hospital 1901: Robert Hutchinson (1871-1960) in älteren Jahren (Wikipedia)

Auch international fiel der Fleischsaft Puro als ein falsch bezeichnetes Produkt auf. Robert Hutchinson, Pädiater und Diätetiker am London Hospital, veröffentlichte 1902 in der wichtigsten britischen Fachzeitschrift Untersuchungen von Nährpräparaten, darunter sieben Fleischsäfte. Puro, so schrieb er, „is a German preparation, which is of some interest, because originally, I believe, Puro was the concentrated juice of meat preserved in a special way. But on examining recently another preparation of Puro I found that it contained a large portion of egg albumen. In fact, it amounts to this: that it is a preparation artificially enriched by the addition of white of egg when I am supposed to be paying for the juice of meat. When you ask for meat juice people have no right to give you white of egg“ (An Address on Patent Foods, The Lancet 80, 1902, T. 2, 1-6, hier 4). Lektüre schützt vor Neuentdeckungen… Aber auch damals folgte kein Skandal. Berücksichtigen sollte man dabei allerdings, dass Scholl alles tat, um diese Ergebnisse kleinzuhalten. Hutchinson schrieb beispielsweise an die Puro-Gesellschaft, erhielt jedoch nur eine ausweichende Antwort. Weitere Anfragen nach der Zusammensetzung des Fleischsaftes wurden nicht mehr beantwortet. Ähnlich reagierte Scholl bei der Korrespondenz mit Schmidt. Gleichwohl zeigen diese beiden Publikationen, dass die einschlägigen Fachleute offenbar weniger belesen waren als gemeinhin angenommen. Der Skandal um den Fleischsaft Puro war also seit 1899 grundsätzlich bekannt. Es waren die Fachleute selbst, die erst spät intervenierten und den harten Wind der öffentlichen Kontroverse zuvor offenbar scheuten.

Entsprechend forderte man parallel zu den Enthüllungen verbesserte Kontrollsysteme für Heil- und Nährpräparate zu verbessern. Vor dem Ersten Weltkrieg war das ehedem fortschrittliche deutsche Nahrungsmittelgesetz von 1879 völlig veraltet, doch eine Reform scheiterte an den sich blockierenden Interessen: Es gab damals keine Handhaben gegen Täuschungen ohne Verfälschungen, keine wirklich verbindlichen Begriffsbestimmungen für Nahrungsmittel und zahllose unterschiedlich definierte Rechtsbegriffe. Das Wettbewerbsrecht war im Deutschen Reich schwach ausgebildet, letztlich konnte nur das Strafrecht angewandt werden. Neustätter und Scholl stimmten daher darin überein, dass es dringend neuer Institutionen für die Kontrolle und bedingt auch der Zulassung von Heil- und Nährpräparaten bedürfe. Dies fand grundsätzlich Zustimmung, doch schon die Umsetzung war strittig. Sollte das Kaiserliche Gesundheitsamt zuständig sein? Sollte ein gesondertes Laboratorium gegründet werden? Hätte dieses seine Untersuchungsergebnisse einfach veröffentlichen dürfen? (Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, 792). Diese Fragen stellen sich bis heute. Vertreter der Apotheker waren jedoch skeptisch, da dies ihr Geschäftsmodell untergrub: „Die recht peinliche Angelegenheit ist Wasser auf die Mühle derjenigen, welche den Geheimmittel- und Spezialitätenverkehr unter strengste Ueberwachung der Regierungsorgane stellen wollen“ (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 48, 1908, 219). Puro sei eine Verfehlung, doch zu viel Staat schien ein noch größeres Problem zu sein.

Die Experten, Pharmazeuten, vor allem aber die Mediziner, bevorzugten stattdessen Standespolitik durch Selbstverpflichtungen. Insbesondere Ärzte sahen in der Skandalierung eines bewährten Standarddiätetikums einen Angriff auf ihre wissenschaftliche Autorität. Der schon erwähnte Hans Lungwitz gab den Takt vor: „Ein an sich unbedeutendes Ereignis wird, wenn es nur plötzlich und unerwartet eintritt oder von interessierten Kreisen geschickt benutzt wird, oft genug zu einer Staatsaktion, die nicht bloß die flachen Köpfe erregt, sondern selbst ruhige Gemüter tangieren kann. Die Kritik verblaßt vor der Stimmung – bis die Sache historisch geworden ist und alsdann ihren wahren Wert offenbart“ (Wahre Werte, Therapeutische Rundschau 2, 1908, 523-524, hier 523). Habe man vergessen, dass „erste Autoritäten“ des Faches Puro begutachtet und belobigt hätten? „Wie konnte man es wagen, das Urteil solcher Persönlichkeiten zu mißachten – aus dem einen Grunde, der eine Wertung des Präparats als Nähr- und Kräftigungsmittel gar nicht zuließ, sondern – sagen wir – rein juristische Art war“ (Die Heilkunde 12, 1908/09, 393-394, hier 393). Diese Verniedlichung von Wirtschaftskriminalität wurde zwar durchaus kritisiert (Apotheker-Zeitung 23, 1908, 667), entsprach aber dem Denken vieler Ärzte. Ähnlich wie Lungwitz sahen sie ein „Kesseltreiben“, eine Art deutscher Selbstkasteiung durch einen „mit Pauken und Trompeten, mit Haubitzen und Granaten inszenierte[n] Feldzug“ gegen Puro (Lungwitz, 1908, 524).

„Wozu all der Lärm?“ hieß es, letztlich sei es doch egal, woher die Ochsen stammten – und auch die Frage Hühner- oder Fleischeiweiß sei „von sekundärer Art“ (Der Fleischsaft „Puro“, Drogisten-Zeitung 23, 1908, 258). Teils liefen redaktionelle Reklametexte zu Puro einfach ungeprüft weiter, in denen es auch Ende 1908 noch hieß, dass es „aus erstklassigem Rohmaterial hergestellt“ (Hebammen-Zeitung 22, 1908, Nr. 22 v. 1. Dezember, 11) sei. In Teilen der Presse verfing die PR-Offensive Scholls, machten stattdessen Verschwörungstheorien die Runde: „Nur eine wohlinformierte Konkurrenz konnte den ganzen „Puro-Rummel“ zu einer Zeit in Szene setzen, als Dr. Scholl gerade in Ostafrika weilte und sein Erzeugnis dem Ansturm wehrlos preisgegeben war“ (Die Zeit 1908, Nr. 2210 v. 17. Oktober, 9). Insgesamt aber setzte sich das Wissen um den Betrug allseits durch (Wiener klinische Wochenschrift 22, 1908, 335; Die Geheimnisse der Fleischsäfte Puro und Robur, Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 18, 1908, 302-303; Medizinische Klinik 4, 1908, 692; Schmidt’s Jahrbücher der gesammten in- und ausländischen Medicin 297, 1908, 264).

Verurteilung, Revision und Verurteilung – Die Puro-Prozesse 1909 und 1910

Auch die publizistische Öffentlichkeit hatte im Mai 1908 ihr Urteil schon parat. Eine österreichische Satirezeitschrift bündelte es, mochten auch nicht alle Einzelheiten stimmen: „Es war ein Mann, mit Namen Doktor Scholl, / Chemiae, smart und tatenfreudevoll. / Der hat zu München etwas fabriziert / Und im Pauschale ständig inseriert. / Der Doktor zog, es zog der schöne Namen / Und auch die Wissenschaft sprach gläubig Amen. / Der Doktor brachte ja die Analyse / Schon fertig mit. So unterschrieb man diese. / Der Fleischsaft Puro wurde Allgemeingut / Und wirkte Wunder, wie das schon so sein tut, / Wenn etwas hübsch verpackt ist und recht teuer. / Da kam zu Hamburg dieses Ungeheuer, / Den Staatsanwalt, einmal die Skepsis an, / Ob bei dem Puro alles wohlgetan? / Und siehe: Fleisch war wirklich nicht dabei, / Nur Pökelbrüh‘ und etwas Schweinerei. / Der Doktor Scholl ist seither durchgegangen, / Uns aber braucht deswegen nicht zu bangen. / War auch ein Schmarrn der attestierte Saft – / Uns bleibt die attestierte Wissenschaft!“ (Kiek Kiek, Der Fleischsaft Puro, Die Muskete 6, 1908, Ausg. v. 28. Mai, 10). Dieses Spottgedicht blieb nicht ohne Resonanz, denn Dr. Mößmer III, Scholls Rechtsanwalt, sandte der Redaktion eine Richtigstellung (Der Fleischsaft Puro, Die Muskete 6, 1908, Ausg. v. 23. Juli, 10). Satire darf nicht alles…

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Neuartige Benennung – Puro als „concentriertes flüssiges Fleischpräparat“ (Badische Presse 1908, Nr. 351 v. 1. August, 6)

Puro mochte gerichtet sein, doch verurteilt war weder das Präparat noch sein Hersteller. Die rechtliche Lage war keineswegs klar. Eine strafrechtliche Verfolgung würde nicht einfach sein, da eine einfache Klage einen „Geschädigten“ erforderte und der Sachverhalt der Schädigung schwierig nachzuweisen war. Entsprechend zog sich die Anklage hin. Derweil regelte Scholl sein Unternehmen. Schon am 1. Januar 1908 hatte er sein Institut in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt, die bisherigen Prokuristen Oskar Freygang und Oskar Langguth wurden Mitgesellschafter (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 8 v. 6. Januar, 7). Die Affäre führte keineswegs zur gesellschaftlichen Ächtung: Noch im März erhielt er den preußischen Roten Adlerorden vierter Klasse für seine Verdienste beim Aufbau des Deutschen Museums in München (Allgemeine Zeitung 1908, Nr. 103 v. 6. März, 3). Puro wurde weiter beworben, nun aber als „concentriertes flüssiges Fleischpräparat“. Die Werbung erfolgte nicht allein in der Fachpresse, sondern auch in Tageszeitungen.

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Neue Kontrolleure und eine neue Produktbezeichnung (Neue Freie Presse 1908, Nr. 15841 v. 7. Oktober, 37)

Puro wurde nun extern durch Handelschemiker kontrolliert, verantwortlich zeichnete das 1888 gegründete Münchener chemische Institut von Bender und Holbein, das eine Schrittmacherrolle in der Geschichte der Ausbildung pharmazeutisch-chemischer Assistenten hatte. Die Fachwerbung wurde von der chemischen Zusammensetzung weg, hin auf die therapeutische Wirkung des Präparates gelenkt. Die falsche Kennzeichnung wurde korrigiert. Doch dies war abgerungen, erfolgte nicht aus Einsicht. Denn Scholl betonte weiterhin, nichts Unrechtes begangen zu haben. Er wurde darin längere Zeit durch die zögerliche Münchener Justiz bestätigt. Der Staatsanwalt erhob zwar Anzeige gegen ihn wegen Betrugs, Betrugsversuch und Vergehens wider das Nahrungsmittelgesetz. Doch das Landgericht lehnte die Einleitung des Hauptverfahrens gegen Scholl ab. Erst nach einer Beschwerde des Staatsanwalts beschloss der Strafsenat des Obersten Landesgerichts das Strafverfahren aufgrund fortgesetzten Betrugs und Betrugsversuchs zu eröffnen (Die Heilkunde 1909/10, 63-64, hier 63). Scholl habe, so die Anklage „eine sehr große Anzahl von Vorständen von Krankenhäusern und Anstalten sowie von Privatpersonen in einen Irrtum über die Zusammensetzung und Eigenschaften des ‚Puro‘ versetzt und zu versetzen gesucht und die von ihm Getäuschten zur Abnahme des Präparates veranlaßt, wodurch diese an ihrem Vermögen geschädigt wurden“ (Fleischsaft „Puro“, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 8, 1910, 22-23).

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Wirkung entscheidend: Puro-Werbung 1909 (Therapeutische Rundschau 3, 1909, Nr. 3, IV)

Der „Sensationsprozess“ (Die Heilkunde 1909/10, 63-64, hier 63) am Landgericht München I währte schließlich vier Tage, vom 20. bis 23. Dezember 1909. Die Münchener Presse, insbesondere die Münchener Neueste Nachrichten brachten darüber „Tag für Tag spaltenlange Berichte“ (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 49, 1909, 819). Diese abseits der lokalen Archive und Bibliotheken nachzulesen, ist leider nicht möglich. Ein einschlägiges DFG-Projekt zur Digitalisierung der MNN hat zwar 2019 begonnen – doch derartiges wird in diesem unserem Lande viele Jahre dauern. Gleichwohl gibt es detaillierte Paraphrasen des Prozesses in medizinischen Fachzeitschriften (Der Prozess Puro, Münchener Medizinische Wochenschrift 57, 1910, 52-55).

Am Ende stand erst einmal ein Schuldspruch gegen Scholl, der „wegen fortgesetzten Vergehens und Betrugs zu 1 Monat Gefängnis und 3000 Mk. Geldstrafe verurteilt“ (Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 9, 1910, 23) wurde, außerdem die Prozesskosten zu tragen hatte. Die Geldstrafe lag zwar unter den von der Staatsanwaltschaft geforderten 5000 M, doch die Verhängung einer Haftstrafe war für sie ein großer Erfolg. Die Urteilsbegründung betonte, „Etiketten und Reklameschriften hätten objektiv falsche Tatsachen enthalten, die den Eindruck erwecken mußten, als ob der Angeklagte eine wichtige Entdeckung gemacht habe“ (Apotheker-Zeitung 24, 1909, 971). Allerdings habe Scholl nicht gegen das Nahrungsmittelgesetz verstoßen, Puro sei nicht nachgemacht, sondern ein völlig neues Produkt. Öffentliche Vorbehalte, dass es „unangängig [sei], dem Publikum den drei- oder vierfachen Betrag dessen abzuknöpfen, was ein Präparat wert ist“ (Woraus der Fleischsaft „Puro“ besteht, Die Umschau 12, 1908, 478) schienen damit gesühnt. Buchprüfungen hatten allerdings ergeben, dass die Gestehungskosten eines Fläschchen Puros bei 1,06-1,09 M lagen, der Abgabepreis bei 1,61 M, dass also der Großteil der Gewinne der jährlich etwa 500.000 Einheiten von Grossisten und Apothekern resp. Drogisten erzielt wurden (Münchener Medizinische Wochenschrift 57, 1910, 52). Scholl jedenfalls akzeptierte das Urteil nicht, sondern legte dagegen Revision beim Reichsgericht ein (Puro-Fleischsaft, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 8, 1910, 101-102).

Fast wichtiger aber war, dass sich die Sachverständigen in der Sache eben nicht einig waren, sondern eine Einschätzungskakophonie boten. Neben zahlreichen vom Gericht befragten Zeugen waren auf Antrag von Anklage und Verteidigung eine Reihe renommierter Wissenschaftler geladen, die zumeist schriftliche Gutachten vorlegten, teils aber auch im Prozess aussagten. Aus Berlin der Physiologe Adolf Bickel (1875-1946), der Bakteriologe Max Piorkowski (1859-1937), der schon erwähnte Internist Georg Klemperer, der Sanitätsrat Theodor Goerges und der Chemiker Sigismund Aufrecht (1862-1938). Aus Jena berichtete der Pathologe Hermann Dürck (1869-1941). Aus München war die erste Garde präsent, Max von Gruber, die Chemiker Theodor Paul (1862-1928) und Johannes Hoppe, der Hofapotheker Carl Wagenhäuser, Hofrat Franz Brunner (1850-1944) vom Krankenhaus München-Schwabing, der Landgerichtsarzt Friedrich Anton Hermann (1860-1930) und auch der Internist Friedrich von Müller (1858-1941). So viele Experten, doch kein Konsens. Weder über die Definition des Fleischsaftes noch über die Frage der Fälschung resp. Täuschung, der therapeutischen Wirkung von Puro und dessen angemessenen Preis. Das Verfahren war umkämpft, und es schien fast so, als hätten beide Seiten jeweils ihre Wahrheit wissenschaftlich begründet. Das Resultat war jedenfalls ein öffentliches Desaster für die Urteilsfähigkeit von Wissenschaft – vielleicht auch, weil ja bis heute die Mär vorherrscht, Wissenschaft sei ein verbindlicher Modus zur Entscheidungsfindung.

In den Fachzeitschriften wurde das Urteil zumeist beifällig aufgenommen oder nur vermeldet. Doch auch Scholl hatte Fürsprecher, die die „Hetze gegen ‚Puro‘“ (Der Streit um „Puro“, Drogisten-Zeitung 25, 1910, 41-42, hier 41) scharf verurteilten. Der Unternehmer wurde demnach verurteilt, weil er „beim Vertrieb seines Präparates, bezw. bei der Textierung seiner Reklame diejenigen Vorschriften unbeachtet ließ, die ein veraltetes, reformbedürftiges Gesetz verlangt“ (Ebd.). Auch die Frage eines angemessenen Preises für Puro wurde kontrovers beantwortet. Die einen verwiesen auf die einwandfreien Rohwaren (Puroprozeß, Pharmazeutische Presse 15, 1910, 76), die anderen dagegen auf deren Materialwert von lediglich 35 Pfennig, so dass „der Verdienst an diesem Schwindelmittel ein ganz ungeheurer gewesen ist“ (Verurteilung, Tierärztliche Rundschau 16, 1910, 8).

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Die Puro-Gesellschaft präsentiert ihre Deutung des Prozesses – Auszug aus einer ganzseitigen Anzeige (Leipziger Tageblatt 1910, Nr. 66 v. 8. März, 4)

Der Prozess selbst gebar weitere Rechtshändel. Max von Gruber musste um seine Stellung als Sachverständiger kämpfen, wurde er doch von Scholls Verteidigern wegen seiner seit Mitte 1908 bestehenden und mit jährlich 6.000 M vergüteten Kontrolltätigkeit für die Liebig-Compagnie als befangen abgelehnt (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 49, 1909, 819). Diese teils als „sensationell“ (Streit, 1908, 42) bewerteten Aussagen waren schon im Prozess zwischen der Puro-Gesellschaft und Kantor erwähnt worden – und Gruber betonte, dass die Geschäftsbeziehung erst nach der Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse eingesetzt, es also keinen Interessenkonflikt gegeben habe. Die Verteidigung behauptete ferner, dass Münchens Oberbürgermeister, der Zentrumspolitiker Wilhelm Borscht (1857-1943) bestätigen könne, dass Gruber ihm gesagt habe, die Angriffe auf Scholl wären unterblieben, hätte dieser die angefragte Spende von 50.000 M für das geplante Pettenkofer-Haus gezahlt (Münchener Medizinische Wochenschrift 57, 1910, 53). Dies führte zu einer Beleidigungsklage, die gegenstandlos blieb, da Borscht die Aussage abstritt (Apotheker-Zeitung 25, 1910, 541). Die Puro-Gesellschaft griff diese Vorwürfe jedoch abermals in einer weit verbreiteten ganzseitigen Textanzeige „Aufklärungen über Puro“ auf (Leipziger Tageblatt 1910, Nr. 66 v. 8. März, 4; Neues Wiener Journal 1910, N. 5897 v. 23. März, 13). Darin beschwor sie den Wert des Präparates, feierte es als einen „Fortschritt in der Ernährungstherapie“. Ansonsten folgten die Vorwürfe des Jahre 1908, sah man sich also von „der Konkurrenz“ attackiert, namentlich von der „englischen“ „Liebig-Company“, in deren Dienst Ludwig Geret und auch Max von Gruber ständen. Neustätters Kritik wurde als tendenziös und unpräzise abgewertet. Puro sei ein deutsches Produkt, weit besser als frisch gepresster Fleischsaft und amerikanische und englische Angebote. Maschinell hergestellt und immer wieder verbessert sei es ein recht billiges Präparat, das nun in seinem Wert nochmals von „zuständiger Seite“ geprüft und gelobt wurde (Neues Wiener Journal 1910, N. 5897 v. 23. März, 13). Der Münchener Ärztliche Verein sah sich angesichts der Vorwürfe gegen Gruber jedenfalls zu einer einstimmig ergangenen Ehrenerklärung genötigt (Die Heilkunde 15, 1910/11, 140).

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Wegducken und Verwirren: Kontinuierliche Vorwürfe gegen Max von Gruber (Leipziger Tageblatt und Handelszeitung 1910, Nr. 91, v. 3. April, 8)

Während die Puro-Gesellschaft also weiter gegen die (jüdischen) Kritiker schoss, um so das eigene wirtschafts-kriminelle Handeln zu überdecken, schied Hermann Scholl Anfang 1910 aus seiner Firma aus, „um seinen persönlichen Gegnern gegenüber völlig freie Hand zu haben“ (Leipziger Tageblatt 1910, Nr. 66 v. 8. März, 4). Sie firmierte seither als Puro-Gesellschaft Freygang & Langguth (Verurteilung, Tierärztliche Rundschau 16, 1910, 27). Nähere Informationen über die finanziellen Konditionen dieser Transaktion fehlen.

Der zweite Akt in der juristischen Bewältigung des Puro-Skandals fand im April 1910 vor dem Reichsgericht in Leipzig statt. Scholls Verteidiger bestritten die Zuständigkeit des Landgerichtes, monierten vor allem aber die unzureichende Feststellung des Straftatbestandes (Der Fleischsaft „Puro“ vor dem Reichsgericht, Leipziger Tageblatt 1910, N. 100 v. 12. April, 15). Das Reichsgericht wies fast alle Monita zurück, kritisierte jedoch den unklaren Nachweis einer Vermögensschädigung durch den Vorrichter (Puro-Fleischsaft, Deutsche Nahrungsmittel-Rundschau 8, 1910, 101-102). „Eine Vermögensschädigung könne vor allem dann nicht gegeben sein, wenn der Preis eines Heilmittels im Verhältnis zu den günstigen Wirkungen, den das Präparat zur Folge habe, als vollkommen angemessen gelten könne. Durch die Tatsache aber, daß viele Aerzte das Puro-Präparat jahrelang mit sehr gutem Erfolge ihren Patienten verordnet hätten, sie zur Genüge bewiesen, daß der Preis des Präparates in Anbetracht dieser Wirkungen und vor allem im Vergleiche mit anderen ähnlichen Präparaten als vollkommen angemessen anzusehen sei“ (Puro-Fleischsaft. (Reichsgerichts-Entscheidung.), Apotheker-Zeitung 25, 1910, 287-288, hier 288).

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Das 1895 eingeweihte Gebäude des Reichsgerichtes in Leipzig (Library of Congress, LC-DIG-ppmsca-00967)

Der Revisionsprozess fand vom 24. bis 17. Oktober 1910 vor der 4. Strafkammer des Landgerichtes München statt (Der Prozess Puro, Münchener Medizinische Wochenschrift 60, 1910, 2377-2382). Der Staatsanwalt plädierte für die gleiche Strafe wie im ersten Prozess, die Verteidigung forderte abermals Freispruch. Am Ende wurde Hermann Scholl vom Vorwurf des Betruges freigesprochen, erhielt jedoch eine Geldstrafe von 1000 Mark wegen Täuschung nach dem Nahrungsmittelgesetz und musste die (erheblichen) Prozesskosten tragen (Wiederaufnahme des Puro-Prozesses, Pharmazeutische Post 43, 1910, 870-871, hier 870).

Inhaltlich erbrachte das Gerichtsverfahren wenig Neues. Es glich einem Gladiatorenkampf. Einer der Sachverständigen, der Münchener Pharmazeut Karl Bedall, sprach von einem „einem leicht entzündlichen und ‚donnernden Beifall‘ spendenden Auditorium“ (Ein Epilog zum Puroprozess, Süddeutsche Apotheker-Zeitung 50, 1910, 715). Abermals waren zahlreiche Sachverständige präsent, ihre Namen vielleicht noch prominenter. Ferdinand Hueppe, Scholls Doktorvater, war dabei, der Berliner Neurologe Albert Eulenburg (1840-1917), die Chemiker Paul Jeserich (1857-1927) und Rudolf Sendtner (1853-1933), aus Frankfurter der Arzt Max Flesch (1852-1943) und der Chemiker Kurt Poppe – und wiederum zahlreiche bayerische Wissenschaftler, insbesondere Pharmazeuten, Chemiker und Mediziner. Abermals konnten sich die Koryphäen selbst über elementare Sachverhalte nicht einigen, etwa den Begriff des Fleischsaftes oder aber den angemessenen Preis des Präparates. Korrespondenten konstatierten Aussagen „nach den auseinandergehendsten Richtungen hin“, sahen sich daher außer Stande, angemessene Paraphrasen des Geschehens zu geben (Der Kampf um „Puro“, Süddeutsche Apotheker-Zeitung 50, 1910, 691-692). Dennoch: Die Unterschiede zwischen den Ärzten und den Chemikern waren offenkundig. Während erstere den therapeutischen Wert Puros hervorhoben, ihnen alles andere weniger wichtig schien, waren für letztere Täuschung und Betrug offenkundig (Wiederaufnahme des Puro-Prozesses, Pharmazeutische Post 43, 1910, 870-871, hier 870). Eulenburg benannte diesen Unterschied, der im Interesse des Patienten liege. Objektiv sei „Fleischsaft“ eine falsche Bezeichnung, doch für den Kranken bedeute sie Hoffnung (Münchener Medizinische Wochenschrift 60, 1910, 2380). Auch Hueppe erklärte die von ihm eingeräumte Täuschung als absolut nebensächlich. Für den überzeugten Lebensreformer und Eugeniker war er über die Wirkung des Prozesses im Ausland entsetzt, denn der Puro-Skandal „sei eine furchtbare Schädigung einer aufblühenden Industrie“, unterminiere eine „deutsche Industrie“ (Ebd., 2381).

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Veränderte Bezeichnung von Puro vor dem zweiten Prozess gegen Scholl (Wiener Medizinische Wochenschrift 60, 1910, Sp. 490)

Gerade diese Äußerungen wurden heftig diskutiert. Die Redaktion der Münchener Medizinischen Wochenschrift kritisierte die „Laxheit der Begriffe von geschäftlicher Moral“ und hielt fest: „Puro war kein Ruhmestitel für München und hat dem guten Rufe der Münchener Industrie nur geschadet“ (Ebd., 2382). Das Urteil selbst wurde jedoch kaum erörtert, denn die Berichterstatter schienen froh, dass die „leidige Puro-Affäre“ (Wiener Medizinische Wochenschrift 61, 1911, Sp. 155) nun an ein Ende gekommen sei. Sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft kündeten nach dem Urteil zwar Revisionsklagen an, weitere Hauptverfahren fanden jedoch nicht statt.

Lehren und fehlende Konsequenzen

Was blieb nun von dieser „großes Aufsehen erregende[n] Affäre“ (Puro-Prozeß, Pharmazeutische Presse 15, 1910, 348)? Hermann Scholl hatte in Leipzig und München Achtungserfolge erzielt, verließ die Gerichte als freier Mann, den Geldstrafe und Prozesskosten nicht sonderlich trafen. Er reüssierte fortan als „Privatgelehrter“ und blieb Teil von Münchens Gesellschaft. Seine Tochter Irma Scholl (1898–1988) heirate 1924 Walther von Miller, Sohn des Bauingenieurs und Mitbegründers des Deutschen Museums, Oskar von Miller (1855-1934) (Sport im Bild 30, 1924, 1342). Scholl förderte dieses Technikmuseum weiterhin aktiv durch Exponate und Gremienarbeit. In seiner Villa hatte er bereits 1909 eine imposante Sternwarte einbauen lassen und blieb der Astronomie sein Leben lang verbunden.

Das Präparat Puro wurde weiterhin angeboten: „Wer an der Geschäftsgebahrung der Firma Scholl keinen Anstoß nimmt, kann heute Puro mit derselben wissenschaftlichen Berechnung verschreiben wie früher“ (Ad. Schmidt, Diätetische Küche und künstliche Nährpräparate, in: Ernst von Leyden und Georg Klemperer (Hg.), Die deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts […], Bd. XIII, Berlin und Wien 1911, 296-234, hier 316). Als „Fleischsaft“ war Puro schon 1908 zurückgezogen worden und wurde unter anderen Bezeichnungen vermarktet. Im Frühjahr 1910 feierte das Präparat jedoch als „künstlicher, konzentrierter Fleischsaft“ Puro eine Rückkehr in Demut (Zeitschrift des Allgemeinen Österreichischen Apotheker-Vereins 48, 1910, 228). Die Zusammensetzung des Präparates wurde transparent gemacht, um damit jegliche Beanstandungen auszuschließen (G[eorg] Arends, Spezialitäten und Geheimmittel […], 8. verm. u. verb. Aufl. Berlin 1924, 179). Auch die Packungsbeilage wurde verändert. Kurz darauf firmierter Puro gar als „Fleischersaftersatz“, gewissermaßen als medizinisches Mock Food.

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Puro, ein verbesserter Ersatz für rohen Fleischsaft (Wiener Medizinische Wochenschrift 62, 1913, Sp. 542)

Zu einer Preisreduktion konnte man sich nicht entschließen, das Fläschchen kostete weiter 2,50 M (Pharmazeutische Post 43, 1910, 436). Puro wurde noch 1914 chemisch analysiert, doch der Absatz war deutlich zurückgegangen. Es ist wohl spätestens Anfang der 1920er Jahre vom Markt verschwunden (Hermann Thoms (Hg.), Handbuch der praktischen und wissenschaftlichen Pharmazie, Bd. 3, T. 1, Berlin 1925, 403). Als Therapeutikum wurde Puro „das z. T. Hühnereiweiß enthält“ (Wolfgang Siegel, Therapeutisches Taschenbuch der Lungenkrankheiten, Berlin 1910, 128) auch nach den Enthüllungen weiter empfohlen. „Sein diäetetischer Wert wird dadurch nicht berührt“ (Carl von Noorden und Hugo Salomon, Handbuch der Ernährungslehre, Bd. 1, Berlin 1920, 633), hieß es noch nach dem Ersten Weltkrieg und warme Fürsprache folgte. Der Vergleich mit den Konkurrenzprodukten fiel weiterhin zugunsten des Münchener Präparates aus.

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Puro als Präparat mit den meisten Nährgeldwerteinheiten pro Mark (Therapeutische Rundschau 3, 1909, 87)

Puro sah sich zudem neuer Konkurrenz ausgesetzt, denn ab 1909 entstanden Substitute des Fleischpräparates. Die Münchener Fabrik medizinisch-chemische Präparate Wilhelm Pick warb Mitte 1909 für den „Fleischsaft“ Karsan und behauptete im Puro-Werbeton, dieser sei hergestellt mit Saft aus frischem Ochsenfleisch ohne künstlichen Zusatz von Eiern oder sonstigem Eiweiß (so die Anzeige in Münchener Medizinische Wochenschrift 56, 1909, Nr. 26, Umschlag, 27). Das irritierte Pharmazeuten und das Präparat verschwand trotz 35% Fleischeiweiß rasch vom Markt (Zeitschrift des Allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereins 47, 1909, 70).

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Puro-Substitut Valid (Wiener Medizinische Wochenschrift 60, 1910, Sp. 2575)

Auch das Fleischpräparat Valid wurde in München hergestellt (Pharmazeutische Presse 1911, 403). Die Analyse stammte wiederum von Fresenius, und für die Kontrolle zeichnete der Nahrungsmittelchemiker Max Winckel (1875-1960), zwischen 1925 und 1945 einer der wichtigsten deutschen Ernährungsfachleute. Valid war eine Nachbildung von Puro, nun allerdings mit rechtskonformer Deklaration. Es sollte „sowohl bezüglich der ernährenden, als der anregenden Eigenschaften analog wie Fleischsaft wirken“ (Pharmazeutische Presse 15, 1910, 338). Auch dieses Präparat wurde nur kurze Zeit angeboten.

Schließlich entstanden auf Grundlage der Enthüllungen neue Apothekenzubereitungen. Ein Gemisch aus trockenem Eiweiß, Wasser und Fleischextrakt hatte, so das Rezept „die Konsistenz eines dünnen, noch fließenden Extraktes und einen 30%igen Eiweißgehalt“ (Apotheker-Zeitung 25, 1910, 348). Das Ergebnis konnte für 1,20 M angeboten werden, unterbot Puro also um mehr als die Hälfte. Der Besitzer der Münchener Adler-Apotheke offerierte ab Herbst 1910 denn auch einen wohl ähnlich hergestellten „Fleischsaft Adlermarke“ für 1,50 M. Doch natürlich war die Bezeichnung irreführend und er wurde vom Münchener Schöffengericht mit Verweis auf die Puro-Prozesse zu einer Geldstrafe von 50 M wegen Täuschung verurteilt (Ein neuer Fleischsaftprozeß, Pharmazeutische Zeitung 56, 1911, 917). Summa summarum waren die Substitute trotz niedrigerer Preise nicht erfolgreich, fehlten doch Markenidentitäten und Vertriebsstrukturen.

Der Puro-Skandal war zugleich eine nicht unwichtige Episode bei der Institutionalisierung öffentlicher Kontrolle über Nahrungs- und Heilmittel. Als solche kann sie Teil einer Fortschrittsgeschichte der Naturwissenschaften sein. Wissenschaft agierte als Aufklärungsmacht, Wissenschaftler als Verbrauchersachwalter. Biochemiker verwiesen voll Stolz auf ihre neue Methoden, durch die es gelang, „einen Fall aufzudecken, dem die Chemie fast machtlos gegenüber stand“ (Schmidt, 1908, 802). Das war nicht ganz richtig, doch Tierärzte und Humanmediziner sahen den Fall zurecht als Beleg für die Leistungsfähigkeit der „biologischen Methode“ (Tiede, Bedeutung und Technik des biologischen Eiweißdifferenzierungsverfahren (Präzipation) […], Zeitschrift für Fleisch- und Milchhygiene 21, 1910/11, 124-126, hier 125; E. Küster, Die praktischen Ergebnisse der Serumforschung, Der praktische Arzt 48, 1908, 241-255, hier 254). Der Puro-Skandal markiert die wachsende Bedeutung elaborierter biochemischer Methoden zumal in der Nahrungsmittelkontrolle. Das war gewiss ein Fortschritt. Doch die in den Puro-Prozessen immer wieder thematisierte Differenz von gesundem Menschenverstand, ärztlicher Therapie und der erhofften Eindeutigkeit und Reinheit der Heilmittel hatte auch Schattenseiten. Die Methodengläubigkeit war Teil des Vordringens von eng kausalen und pharmakologischen Wissensformen, die alternative Blicke auf Krankheit und Gesundheit tendenziell ausgrenzten. Die widersprüchlichen Aussagen der Sachverständigen vor Gericht gaben eine Vorstellung von wissenschaftsimmanenten Röhrenblicken, die selbst mit dem Wissen von Nachbardisziplinen kaum mehr etwas anfangen konnten. In den 1920er Jahren führte dies zu einer langanhaltenden Krise der Medizin (vgl. etwa Carsten Timmermann, Weimar Medical Culture. Doctors, Healers, and the Crisis of Medicine in Interwar Germany, 1918-1933, Phil. Diss. Manchester 1999). Für die Nahrungsmittelchemie markierte der Puro-Skandal dagegen den Weg hin zu neuen Untersuchungsmethoden von Fleischsäften, -präparaten und Fleischextrakt, die einer stofflichen Normierung des Sektors Bahn brachen (Karl Micko, Über die Untersuchung von Fleischsäften, Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genußmittel 20, 1910, 537-564).

Die wohl wichtigste Folge des Puro-Skandals war wachsende Selbstkritik innerhalb der Medizin über die fehlende Distanz zu den kommerziellen Verlockungen durch Pharmazeutika, Heil- und Nährmitteln. Puro konkretisierte allgemeinere Vorstellungen von überteuerten und irreführenden künstlichen Präparaten (dazu schon M[ax] Rubner, Ueber Volksgesundheitspflege und medizinlose Heilkunde, Berlin 1899, insb. 22). Innerhalb der medizinischen Profession wurden die vielfältigen Gefälligkeitsgutachten angeprangert, wissenschaftsimmanente Regeln im Umgang mit der Heil- und Nährmittelindustrie gefordert. Das Sponsoring der Hersteller wurde benannt und kritisiert, ebenso die indirekten Wirkungen der Werbung für die Verschreibungspraxis. Diese kritische Selbstreflexion war gewiss nicht dominant, führte aber mittelfristig zu einer Reihe von Selbstbeschränkungen und Selbstverpflichtungen. „Kurpfuscher“ und Geheimmittel mochten Gefahren für die öffentliche Gesundheit sein, doch die einseitige Hörigkeit vieler Mediziner gegenüber „wissenschaftlichen“ Anbietern stellte diese vielfach in den Schatten.

Das zeigte sich im Fall des Fleischsaftes Puros vor allem am Umgang mit grenzwertigen Inseraten. Nach den Enthüllungen, im April/Mai 1908, verschwanden diese aus den meisten medizinischen Fachzeitschriften. Puro bot dem Ausschuss der freien Vereinigung der medizinischen Fachpresse einen Anlass für einheitliche Verfahren bei die Ablehnung derartiger Anzeigen (Münchener Medizinische Wochenschrift 55, 1908, 1055, 1112; [Hans] Lungwitz, „Spezifikum“, Therapeutische Rundschau 2, 1908, 322-323; Die Zeit 1908, Nr. 2210 v. 17. Oktober, 9). Im Fall Puro wurde die Macht der Fachpresse durchaus spürbar, war der Boykott doch ein Element für die Revision der Bezeichnung Puros als „Fleischsaft“. Allerdings gab es auch Kritik an den nun plötzlich aufkommenden Reinlichkeitsbestrebungen: Nötig wäre nicht nur ein Durchforsten der Anzeigen, sondern viel wichtiger wäre eine Revision der zahllosen „Analysen“ der neuen Präparate in tönenden „Originalartikeln“ und Referaten (Der Fleischsaft „Puro“, Drogisten-Zeitung 23, 1908, 258). Im Fall Puro hörten nach den Enthüllungen „auch die wunderbaren Kurerfolge des Puro auf“ (W. Jaworski und E. Miesowicz, Ueber den verderblichen Einfluß der gegenwärtigen Richtung in den chemischen Fabriken und Apotheken auf die praktische Medizin, Zeitschrift des Allgemeinen Österreichischen Apotheker-Vereines 51, 1913, 527-530, hier 529). Die Selbstkritik zielte auch auf die mangelhafte fachliche Bildung der Ärzteschaft: „Die Entrüstung, die durch die ganze Fachpresse ging, als sie Verfälschung des „Fleischsaftes Puro“ durch Eiereiweiß bekannt wurde, bewies deutlich, wie wenig sich die Ärzte die Wirkung eines solchen Präparates klar gemacht hatten“ (R[udolf] Staehelin, Über Eiweißpräparate, Therapeutische Monatshefte 23, 1909, 634-638, hier 637-638). Ärzte hätten als Sachwalter der Patienten versagt, hätten unkritisch der Werbung und den Lohnschreibern geglaubt.

Der Fall Puro führte schließlich zu einer Neufassung des im Nahrungsmittelgesetz verankerten Begriffes der „Nachahmung“. Puro konnte damit nicht gefasst werden, gab es für das Präparat doch kein Vorbild. Die sprachliche Assoziation mit Fleisch war – das führten die kontroversen Positionen der Experten während der Prozesse klar vor Augen – eben nicht justiziabel: „Die Sache hat die Gerichte länger beschäftigt; sie wollten erst gar nicht recht heran, haben sich schließlich aber doch entschieden: Fleischsaft aus Hühnereiweiß und Extrakt ist ein nachgemachtes Nahrungsmittel, denn wenn es auch bislang noch keinen haltbaren Fleischsaft im Handel gab, so kann die Bezeichnung doch nicht anders als die aus dem Fleische gepreßte Flüssigkeit aufgefaßt werden“ (Zeitschrift für Untersuchung der Nahrungs- und Genussmittel 34, 1917, 16 (Adolf Beythien)). Der Puro-Skandal wurde damit Teil einer allerdings erst 1927 kodifizierten Erneuerung des Lebensmittelrechtes, die nun auch die Realitäten künstlicher Kost ernst nahm.

Der Fleischsaft Puro gründete auf Betrug, sein Hersteller täuschte seine Kunden. Das Präparat aber war ein typisches Beispiel für Lebensmitteldesign schon im Kaiserreich, für die wachsende Zahl von Nähr- und Heilmitteln, die seit dem späten 19. Jahrhundert die Alltagskost erst beeinflussten, dann zunehmend veränderten. Lebensmitteldesign wurde danach kleinteiliger, Bestandteil von immer mehr Produkten, mochten diese sprachlich auch Kontinuität und tradierte Herkunft suggerierten. Der Puro-Skandal fand in einer Übergangszeit statt, die neuer Untersuchungsmethoden, eines neuen regulatorischen Rechtsrahmens und besserer Fachausbildung bedurfte. Er steht für die schwierige Austarierung des Spannungsgefüges von Ernährung, Gesundheit und Markt. Seine facettenreiche Geschichte unterstreicht wieder einmal, dass wir in der Gegenwart immer wieder alte Probleme behandeln, genauso abwegig und genauso wichtig wie die im Umgang mit Hermann Scholls Fleischsaft Puro.

Uwe Spiekermann, 29. September 2020