Was ist Ernährungspolitik? Der Begriff fehlte im gedruckten Brockhaus, in Meyers Lexikon, wurde erst 2019 in die Wikipedia-Enzyklopädie eingetragen. Heutige Ernährungspolitik scheint also Neuland zu erschließen, ist scheinbar Gestaltungsaufgabe. Der Begriff kam jedenfalls während der BSE-Krise 2000/01 neu auf. Meist undefiniert verwandt, bündelte er vor zwei Jahrzehnten offenbar veränderte gesellschaftliche Anspruchshaltungen an das politische System, an die politische Teilhabe der Bürger, manifestierte zugleich bestehende Sorgen um die tägliche Kost und die eigene Gesundheit. Der Begriff erlaubte, unsere Art der Regulierung von Nahrungsmittelproduktion, Ernährungsmärkten und der Essenden im Zusammenhang denken, sie zu verbessern und zukunftsfähig zu gestalten.

Themenfelder der staatlichen Ernährungspolitik (Straka, 2007, 732; nach Meier-Ploeger, 2005, 5)
Dies ist auch Wissenschaftlern nicht verborgen geblieben. Politikwissenschaftler feierten etwa den Übergang vom Schutz zur Aktivierung der Konsumenten als Anbruch einer neuen Ära (Christoph Strünck, Re-Shaping Consumer Policy in Europe. Enabling Consumers to Act?, German Policy Studies 4, 2008, 1-6). Die Ernährungswissenschaftlerin Dorothee Straka sah damals Anzeichen dafür, „dass Deutschland ernährungspolitisch der Vision von einer ‚Ernährungspolitik im Verbraucherbereich‘ in den letzten Jahren näher gekommen ist“ (Dorothee Straka, Ernährungspolitik in Deutschland. Von der Ernährungssicherung bis zum gesundheitsfördernden Lebensstil, Ernährungs-Umschau 54, 2007, 730-736, hier 736). Diese wurde 2005 in einem „Grundsatzpapier Ernährungspolitik“ des Wissenschaftlichen Beirates „Verbraucher und Ernährungspolitik“ beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz analysiert (Angelika Meier-Ploeger, Grundsatzpapier Ernährungspolitik […], Witzenhausen und Berlin 2005). Das Forum Gesundheitsstiftungen hatte im November 2008 ergänzend die „staatliche Verantwortung für gesunde Ernährung“ angemahnt und eine verbesserte Verhältnisprävention gefordert (Gesa Schönberger und Thomas Hartmann, Staatliche Verantwortung für gesunde Ernährung, Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens. Mitteilungen 17, 2009, 34-41). Es knüpfte damit an zahlreiche gesundheitspolitische Aktionspläne an, wie sie etwa die Weltgesundheitsorganisation ein Jahrzehnt zuvor ausformuliert hatte (Erster Aktionsplan Lebensmittel- und Ernährungspolitik. Europäische Region der WHO 2000-2005, o.O. 2001). Man propagierte nicht mehr allein Krankheitsbekämpfung, sondern zielte zunehmend auf Gesundheitsförderung.
Diesen zu Papier geronnen Entwicklungen und Einschätzungen standen allerdings auch gewichtige kritische Stimmen gegenüber. Das Kölner Katalyse Institut hob schon 2004 hervor, dass die hierzulande angekündigte Ernährungswende die politischen und wissenschaftlichen Institutionen nicht wirklich verändert habe (Frank Waskow und Regine Rehaag, Ernährungspolitik nach der BSE-Krise – ein Politikfeld in Transformation, Köln 2004). Auch der Verbraucherverein Foodwatch bescheinigte den rot-grünen und rot-schwarzen Bundesregierungen eine nur magere ernährungs- und agrarpolitische Bilanz (Bilanz und Ausblick deutscher Ernährungs- und Agrarpolitik aus Verbrauchersicht, Berlin 2005 (Ms.)). Nach dem Regierungs- und Ministerwechsel sei das Ernährungsministerium nun wieder ein „Klientelministerium“, das vorrangig die etablierten Interessen der Land- und Ernährungswirtschaft bediene. Hierüber wird zu reden sein.
Ein Historiker nimmt derartige Debatten und Aktionspläne interessiert zur Kenntnis, stellt sie jedoch in andere Perspektiven. Um die politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben im Ernährungsbereich in Gegenwart und Zukunft anzugehen, scheint es mir sinnvoll, ja unabdingbar, die bestehenden Strukturen des kaum definierten Gestaltungsfeldes Ernährungspolitik in einen breiten historischen Kontext zu stellen. Ohne derartiges Orientierungswissen über die Gründe für die heutigen Strukturen wird man nicht in der Lage sein, Aufgaben realistisch zu definieren und zu hierarchisieren. Ohne historische Grundkenntnisse wird man einzig an Fehlern und Illusionen scheitern, die schon Generationen vor uns begangen haben.
Denn der seit 2000/01 wieder breiter verwandte und zunehmend modische Begriff Ernährungspolitik war weder neu, noch mit neuartigen Gestaltungsaufgaben verbunden. Von „Ernährungspolitik“ wurde vereinzelt schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gesprochen, um angesichts der interessengetriebenen Agrarpolitik die Belange der Konsumenten nicht zu vergessen. Der Begriff setzte sich dann im Ersten Weltkrieg allgemein durch. Angesichts wachsender Unterversorgung der arbeitenden Bevölkerung in den Städten versuchte man dadurch begrifflich die tradierte Agrarpolitik und die Versorgungsansprüche der städtischen Konsumenten in ein erträgliches Gleichgewicht zu bringen. Dergestalt wurde Ernährungspolitik ein Leitbegriff während der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus. Während der Nachkriegszeit hielt man an ihm in Ost und West fest, doch er verlor angesichts wachsenden Wohlstands an Bedeutung, ehe die BSE-Krise die natürlich auch vorher bestehenden Strukturprobleme des Gestaltungsfeldes offen zu Tage treten ließ.
Die folgenden drei Kapitel werden die Hauptlinien der deutschen Ernährungspolitik im kurzen 20. Jahrhundert aufzeigen: Am Anfang steht eine kurze Darstellung der aktuellen Strukturen. Zweitens gilt es dann in wagemutiger Verkürzung die historischen Strukturen des Politikfeldes darzustellen, ehe ich abschließend versuchen werde, die Gestaltungsmöglichkeiten des Politikfeldes Ernährung vor dem Hintergrund historischer Pfadabhängigkeiten pointiert zu bewerten.
Ein widersprüchliches Politikfeld: Konturen der heutigen Ernährungspolitik
Lassen Sie mich im Hier und Jetzt beginnen: Ernährungspolitik steht heute zwischen den Polen eines randständigen und zerklüfteten Politikfeldes und eines für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften zentralen Handlungsfeldes. Es geht um wichtige, um prägnante Fragen: Wie organisieren wir unsere Lebensmittelproduktion, und wie kann ein breites, hochwertiges und zugleich bezahlbares Nahrungsangebot auch in Zukunft sichergestellt werden? Wie schaffen wir eine Balance zwischen den Vorgaben „richtiger“, „gesunder“ Ernährung und dem Wunsch nach einem guten Leben, nach Genuss und Tischgemeinschaft? Wie schützen wir uns alle vor Übervorteilung und falschen Versprechungen, wie stärken wir uns durch Bildung und realisieren unsere Selbstverantwortung? Wie ist all das mit globalen Herausforderungen und Aufgaben zu verbinden?
Diese großen Fragen werden nicht nur von einem kleinen Bundesministerium beantwortet, das knapp zwei Prozent des Bundeshaushalts verteilt, das vornehmlich für die sozialen Belange der Bauern aufkommt. Dominieren im Ernährungsministerium nach wie vor agrarpolitische Aufgaben, so beschäftigen sich auch das Gesundheits- und Umweltministerium mit Fragen einer „gesunden“ und „nachhaltigen“ Ernährung. Der Rahmen lässt sich weiter fassen: Forschungs- und Bildungspolitik, Rechts- und Wirtschaftspolitik, die zahlreichen bundesdeutschen Parlamente; sie alle beeinflussen das Handlungsfeld Essen/Ernährung. Sie sind jedoch nur lose miteinander vernetzt und folgen vielfach nicht miteinander abgestimmten, teils widersprüchlichen Zielen. Nichtraucherschutz und die Subventionierung von Tabakanbau sind dafür ein beredtes Beispiel. Nicht nur auf Bundesebene finden wir ein zersplittertes Politikfeld: Ernährungspolitik wird im Rahmen globaler Abkommen, der Europäischen Union, der Bundes-, Landes- und Kommunalebenen unterschiedlich definiert und gehandhabt. Der Verzicht auf das EU-Schulobstprogramm in mindestens vier Bundesländern steht etwa in klarem Gegensatz zu den Zielsetzungen des Bundesgesundheitsministeriums und vieler halbstaatlicher Akteure. Die gemeinsame Klammer dieser Ebenen bilden Personenverbände, vorwiegend agrarwirtschaftlicher und medizinisch-naturwissenschaftlicher Experten. Sie sind vielfach staatlich finanziert, dienen aber auch wirtschaftlichen und medizinischen Interessengruppen sowie den zahlreichen Institutionen des Verbraucherschutzes und der Ernährungsaufklärung. Man kann die Unterschiede betonen, doch realistischer ist es, von einer strukturell recht einheitlichen Wissens- und Funktionselite auszugehen.
Da die Auflistung nur der wichtigsten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure den Umfang sprengen würde, will ich nur die damit verbundenen Konsequenzen benennen: 1. Ernährungspolitik in seinen unterschiedlichen Interessen dient erst einmal Partikularinteressen, sei es der Landwirtschaft, Gewerbe, Industrie und Handel und nicht zuletzt der Wissenschaft. Sie ist 2. in umkämpften gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldern angesiedelt, birgt deshalb ein grundsätzlich hohes Konfliktpotenzial. Ernährungspolitik wird 3. in kleinteiligen Debatten erörtert. Stichworte wie Milchbauern, Amflora oder Übergewicht zeigen deutlich, dass thematische Snacks im Vordergrund stehen, während die gedeckte Tafel kaum sichtbar wird. Einzelthemen und Kampagnen dominieren in der Öffentlichkeit, prägen die Arbeit der Akteure, werden im Mediensystem eng widergespiegelt. Ernährungspolitik zielt 4. schließlich auf den Essalltag und die Ernährungspraxis, verfügt aber kaum über Wissensbestände und Handlungsoptionen, um hier Erfolge erzielen zu können. Die Gründe für diese Engführungen sind nur historisch zu erklären.
Genese und Wandel der deutschen Ernährungspolitik im kurzen 20. Jahrhundert
„Ernährungspolitik“ – das schrieb ich schon eingangs – ist begrifflich und inhaltlich ein Kind des Ersten Weltkrieges. Angesichts der völkerrechtswidrigen Blockade der Alliierten und der Unfähigkeit der bestehenden öffentlichen und militärischen Institutionen, eine effiziente und gerechte Verteilung der vorhandenen Nahrung zu organisieren, zentralisierte man zuvor von den Landwirtschaftsministerien der Länder und der Daseinsfürsorge der Kommunen wahrgenommene Aufgaben. 1916 entstand das Kriegsernährungsamt, aus dem schließlich 1924 das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft hervorging. Dadurch sollten die zuvor vorrangig auf Ebene der Bundesstaaten und der Kommunen angesiedelter ernährungsbezogener Politiken koordiniert und ergänzt werden.

Kooperation zwischen Reich und Ländern: Ernährungsministerkonferenz 1921 (Der Welt-Spiegel 1921, Nr. 11 v. 6. März, 3)
Die Kommunen hatten im Städterecht des 19. Jahrhunderts einen Blankoscheck zur Regelung aller sie unmittelbar betreffenden Angelegenheiten erhalten. Selbstverwaltung der Bürger umgriff die Regulierung lokaler Märkte, die Kontrolle der Lebensmittel, die Sicherung der Verbraucher vor Täuschung und Gesundheitsschädigung sowie die Armenfürsorge. Auch die hygienische Grundversorgung wurde zur kommunalen Aufgabe: Wasserversorgung und Abwassersysteme, später auch Krankenhäuser, Säuglingsküchen und kommunale Untersuchungsämter bildeten ein Netzwerk der Daseinsfürsorge, dessen Ausbau die Lebenserwartung beträchtlich erhöhte.

Erziehung und Aufklärung der Konsumentinnen: Kochunterricht in einer Berliner Gemeindeschule (Das interessante Blatt 24, 1905, Nr. 26, 6)
Die deutschen Staaten konzentrierten sich dagegen stärker auf die Förderung der Landwirtschaft, also den bis in die 1890er Jahre wichtigsten Wirtschaftssektor. Kreditgewährung, Entwässerung, Flurbereinigung, Moorerschließung, Straßen- und Kanalbau, die Liste einschlägiger Infrastrukturprojekte ließe sich erweitern. Sie wurde spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts ergänzt durch umfassende Investitionen in die Agrarwissenschaften, die nicht nur an Universitäten gelehrt, sondern zunehmend auch in Forschungsanstalten, in landwirtschaftlichen Experimentierstationen, institutionalisiert wurden. Dies galt auch für die neuen, akademisch gebildeten Gruppen der Chemiker, dann der Nahrungsmittelchemiker, der Physiologen, der Pädiater, der Militärärzte und, zahlenmäßig am stärksten, der Veterinärmediziner und ihrer Hilfskräfte. Die Länder kümmerten sich um die Lebensmittelkontrolle, allein die Zahl der Fleischbeschauer lag um 1900 bei mehr als 30.000 Personen. Daneben wurden in hauswirtschaftlichen Lehranstalten Frauen im Kochen und der Haushaltsökonomik unterrichtet. Parallel entwickelte sich eine naturwissenschaftlich orientierte Wissenschaft der Lebensmittelzubereitung, die sich nicht nur im Laboratorium, sondern vorrangig am Markt zu bewähren hatte.

Grundsicherung: Fleischkontrolle in Berlin (Daheim 39, 1902/03, Nr. 1, 19)
Der spät entstandene deutsche Zentralstaat konzentrierte sich anfangs auf Grundlagenforschung, etwa im Rahmen des 1876 gegründeten Reichsgesundheitsamtes, sowie eine allgemeine Rahmengesetzgebung, etwa durch das 1879 erlassene Nahrungsmittelgesetz oder spätere Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb. Auch das Außenhandelsrecht erlaubte wichtige Entscheidungen über die verfügbaren Lebensmittel und wurde zunehmend zum Schutz der Landwirtschaft genutzt. Die Regulierungsdichte aber blieb gering, der Staat konzentrierte sich auf Versorgungssicherheit und Gesundheitsschutz. Die von Pharmazeuten und Chemikern vorangetriebene stoffliche Normierung und die von der Physiologie entwickelten Kostmaße des empfohlenen Essens blieben rechtlich unverbindlich, mochten sie auch für Gefängnisse, Krankenanstalten und das Militär an Bedeutung gewinnen. Die Art der Ernährung blieb dem Einzelnen überlassen, hauswirtschaftliche Bildung ebenso.
Trotz mancher Tendenzen der Vereinheitlichung waren für das Kaiserreich Abstimmungsprobleme und Interessengegensätze zwischen den einzelnen Ebenen der Ernährungspolitik üblich. Hohe Zölle und preiswerte Versorgung der Arbeiter standen miteinander im eklatanten Widerspruch, der Kontrolldruck auf die Ernährungswirtschaft war in Preußen gering, während das agrarische Bayern zum weltweiten Vorbild moderner Lebensmittelkontrolle wurde. Wohlhabende Kommunen investierten in ein breit gefächertes Netzwerk der Ernährungsfürsorge, ärmere nahmen diese Aufgaben kaum wahr. Ähnliches galt für den Verbraucherschutz, der noch vorwiegend auf Selbsthilfe durch Konsumgenossenschaften und bürgerlichem Engagement gründete, da die wenigen Gesetze nur grobe Missstände beseitigten.

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg als Büttel der Agrarlobby 1912 und der Leiter des Kriegsernährungsamtes Adolf von Batocki-Friebe als gerechter Ernährungsdiktator (Der Wahre Jacob 29, 1912, 7642 (l.); Ulk 45, 1916, Nr. 22, 5)
Insgesamt gab es also schon vor einem Jahrhundert ein breites Arsenal ernährungsbezogener Politiken, die jedoch unkoordiniert, regional disparat und rechtlich vielfach unverbindlich waren. Insbesondere der Zentralstaat übte seine Gesetzgebungskompetenz zurückhaltend aus und nahm systematisch Rücksicht auf die Interessen von Landwirtschaft, Ernährungsindustrie und mittelständischem Handel. Kennzeichnungsvorschriften und Verpackungszwang wurden erst 1916/17 rechtsverbindlich, Mindestqualitäten und Lebensmittelbezeichnungen erst nach der Novelle des Lebensmittelgesetzes 1927, Handelsklassen folgten Jahre nach der Weltagrarkrise seit 1930. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne wachsende Investitionen des Zentralstaates und auch der Länder in zahlreichen Reichs- und Landesforschungsanstalten. Die Politik setzte auf die Definitions- und Gestaltungsmacht der Natur- und Wirtschaftswissenschaften, um den deutschen Binnenmarkt effizienter zu gestalten, um zugleich aber die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten zu vermindern. Dies bedingte eine neuerliche Forcierung der Agrarsubventionen und einem 1930 einsetzenden und 1933/34 wesentlich beschleunigten Übergang zu einer gelenkten Wirtschaft im Bereich der Ernährung, die schon früh die Kriegswirtschaft vorwegnahm.

Sport, gesunde Ernährung und Hygiene als Grundlagen eines langen Lebens (Der Welt-Spiegel 1931, Nr. 4 v. 25. Januar, 15)
Während der 1930er Jahre wurde etwa die Hälfte der öffentlichen Forschungsgelder in den Agrar- und Ernährungssektor gelenkt. Ein neuerlicher Krieg war ohne eine integrierte Ernährungspolitik unter Einbezug der Einzelnen nicht zu gewinnen – das war eine zentrale Lehre aus der Niederlage 1918. Das bedeutete auch neue Anforderungen an die Gesundheitspolitik, die in den Innenministerien von Reich und Ländern sowie den kommunalen Gesundheitsämtern verankert wurde. Die Sozialhygiene sah in der Ernährung schon seit langem einen Schlüsselfaktor der Armutsbekämpfung und der Gesundheitsprävention. Die Rassenhygiene des NS-Staates konzentrierte sich dann auf die gezielte Hege des deutschen Menschen und der Volksgesundheit. Die Entdeckung der Vitamine und die wachsende Bedeutung der Mineralstoffe gaben Idealen einer wissenschaftsbasierten Umstellung der Alltagskost Überzeugungskraft. Aufklärung und Ernährungspropaganda wurden zunehmend verstaatlicht.

Hauswirtschaftliche Bildung und Haushaltsratgeber 1939/40 (Blick in die Welt 1939, Nr. 12, 3 (l.); Ernährungs-Dienst 1940, Nr. 26, 1)
Die Haushalts- und Ernährungswissenschaften propagierten unisono eine dominant vegetabile, regionale und saisonale deutsche Kost, gesundheitliche Ernährungslenkung ging einher mit agrar- und rüstungspolitisch motivierter Verbrauchslenkung. Neu etablierte Berufe, wie etwa der der Diätassistentin, und ein wachsender Bedarf an ausgebildeten Köchinnen und Hauswirtschaftskräften integrierten hunderttausende junge Frauen in die Anstrengungen des Regimes, Frauen, die bis in die 1970er Jahre die west- und ostdeutsche Ernährungsaufklärung prägten. Die Ernährungskommunikation wurde zentralisiert, kombinierte erfolgreich praktische Übungen mit schriftlichen und visuellen Informationen. Zufuhrempfehlungen und Zuweisungen veränderten die immer stärker staatlich organisierte Außer-Haus-Verpflegung, von der am Kriegsende ein Drittel der Deutschen elementar abhängig war. Dies ging einher mit zahlreichen Regulierungen der Lebensmittelkennzeichnung und des Schadstoffgehalts, obwohl zugleich preiswerte Lebensmittelaustauschstoffe immer größeres Gewicht gewannen und während des Krieges viele Maßnahmen wieder suspendiert wurden. Unabhängige Verbrauchervertretungen gab es während des NS-Regimes nicht, doch die große und wachsende Schar wissenschaftlicher Experten sah sich vielfach als Sachwalter und zugleich Erzieher der Konsumenten. Auch die alternative Landwirtschaft expandierte, die Reformwarenwirtschaft erlebte einen beträchtlichen Boom, die Reichsgesundheitsgütemarke nahm das Biosiegel vorweg. Diese hier nur angerissenen Entwicklungen einer integrierten Ernährungspolitik wurden auch durch neu errichtete halbstaatliche Organisationen, wie etwa die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsforschung, den Forschungsdienst oder die Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, getragen. All dies diente dem übergeordneten politischen Ziel von auf Eroberung, auch auf Nahrung zielenden Eroberungskriegen. Die Versorgung der deutschen Bevölkerung konnte auf Kosten der besetzten Gebiete und von Abermillionen Hungertoten „im Osten“ fast bis Kriegsende auf einem auskömmlichen, zumindest aber erträglichen Niveau gehalten werden.

Selbstdarstellung der NS-Ernährungspolitik 1940 – Der Mythos einer Kooperation aller Betroffenen (Ernährungsdienst 1940, Nr. 25, I, IV)
Die relative Effizienz der ernährungspolitischen Strukturen zeigte sich nicht zuletzt in der Fortführung der Reichsnährstandstrukturen bis 1948. In der unmittelbaren Nachkriegszeit trat die Frage einer qualitativ hochwertigen Ernährung in den Hintergrund, die Politik dieser Zeit kreiste erst einmal um eine ausreichende Grundversorgung. Abgesehen von einer kurzen Periode moderaten Wettbewerbs Anfang der 1950er Jahre wurden der Landwirtschaft systematische staatliche Produktionsanreize gegeben, die angesichts der intensivierten Technisierung, Chemisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft nun auch zu rasch steigenden Flächenerträgen führte. Der Grüne Plan 1955 und die Römischen Verträge 1957 mündeten in eine „subventionierte Unvernunft“, wobei das Hauptziel der Versorgungssicherheit zunehmend vom Nebenziel eines sozialpolitisch abgemilderten Strukturwandels des Agrarsektors überwölbt wurden.

Rationengesellschaft: Lebensmittelversorgung deutscher Zivilisten durch die US Army (Time 1945, Nr. 13, 22)
Ernährungspolitik mutierte in den 1950er Jahren auch deshalb wieder zur Agrarpolitik, weil die ernährungsbezogene Gesundheitspolitik ideologisch desavouiert war, die Ernährungswissenschaft sich neuerlich organisieren musste und die relativ liberale Wirtschaftspolitik den Marktkräften an sich Raum zur Entfaltung gab. Staatlicher Verbraucherschutz gewann trotz des dominierenden Leitbildes eines schwachen und einfach verführbaren Konsumenten nur langsam an Bedeutung. Konsumgenossenschaften und Hausfrauenverbände bündelten dagegen ihre Kräfte und gründeten 1953 die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, deren politischer Einfluss jedoch begrenzt blieb.

Kontinuierlicher Strukturwandel der Landwirtschaft: Größere, doch weniger Betriebe in Schleswig-Holstein (Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 295 v. 17. Dezember, 24)
Politische Veränderungen wurden in den 1950er Jahren erstmals vom Parlament und einer breiten öffentlichen Protestbewegung gegen vermeintlich vergiftetes Essen errungen, die zunehmend auch von Gegenexperten unterstützt wurde. Das Lebensmittelgesetz von 1958 etablierte das Vorsorgeprinzip, Folgeverordnungen verboten zahlreiche Zusatz- und Konservierungsstoffe, verboten und regelten neue Konservierungstechniken, festigten zugleich aber die Kontroll- und Definitionsmacht der Naturwissenschaften. Dies galt erst einmal für die agrarwissenschaftliche Ressortforschung, die 1953 gegründete Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die wissenschaftlichen Beiräte der Ministerien und halbstaatliche Institutionen der Ernährungsbildung, etwa dem aid. Doch auch die Medizin gewann im Kampf gegen vermeintliche Zivilisationskrankheiten wieder an Bedeutung: 1961 wurde mit dem neu gegründeten Bundesministerium für Gesundheitswesen die Suchtprävention und der Kampf gegen Fehlernährung verstärkt, war doch der Gewichtsanstieg der deutschen Bevölkerung in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Beispiel. Rivalitäten zwischen den Ministerien und den verschiedenen Institutionen in Bund, Ländern und Kommunen nahmen zu dieser Zeit zu. Neue Oberbehörden, wie die 1967 gegründete Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, verstärkten diesen Trend, zeugten zugleich aber vom Reformoptimismus dieser von Machbarkeitsvorstellungen geprägten Zeit. Dies galt auch für die stärker zentralisierte DDR, deren Agrarpolitik zu dieser Zeit vielen westdeutschen Wissenschaftlern als zukunftsweisend galt, deren Gesundheitspolitik sich hinter der des westlichen Bruders kaum verstecken musste.

Massentierhaltung als Dienst am Konsumenten: Geflügelwerbung in Ost- und Westdeutschland (Neues Deutschland 1960, Nr. 200 v. 23. Juli, 5 (l.); Hör Zu 1968, H. 43, 50)
Die wachsenden Finanzierungsprobleme der ausufernden und von Ost- und Westdeutschland nicht mehr souverän zu gestaltenden Agrarpolitik, die seit den 1960er Jahren zunehmend wahrgenommenen Umweltschäden und die mit dem Wandel zu postmateriellen Werten einhergehende Neubelebung der ökologischen Bewegung ließen Anfang der 1970er Jahre Fragen nach qualitativem Wachstum und einer qualitativ hochwertigen Ernährung auf die Tagesordnung auch der Politik treten. Das galt für Ost und West, doch die Ignoranz der damit verbundenen Aufgaben waren ein wichtiger Grund für den Kollaps der DDR 1989. Die westdeutsche Ernährungspolitik reagierte mit der Integration der Verbraucherpolitik deutlich offener, etablierte 1964 nach langen Debatten auch die Stiftung Warentest. Umweltschutzthemen wurden schon lange vor der Gründung des Ministeriums 1986 im Innen-, Landwirtschafts- und Gesundheitsministerium institutionalisiert. Die sozialliberale Koalition setzte eine stärkere Regulierung der Lebensmittelkennzeichnung durch, während sich in den frühen 1970er Jahren neuerlich die öffentlichen Auseinandersetzungen über die industrialisierte Landwirtschaft, die Schadstoffbelastung und die Qualität der Lebensmittel intensivierten. Begrenzte Veränderungen erfolgten im EU-Bereich, nicht aber ein struktureller Wandel der weiter landwirtschaftlich dominierten Ernährungspolitik. Die Auseinandersetzungen von Bauernverband und Landwirtschaftsministerien mit dem wieder erstarkenden Ökolandbau und die innerwissenschaftlichen Debatten über Vegetarismus und Vollwerternährung verdeutlichen einen auch in historischer Perspektive außergewöhnlichen Strukturkonservatismus des Juste milieu der Bundesrepublik.

Ende der tradierten Agrarpolitik? Karikatur zur BSE-Krise 2000 (Frankfurter Rundschau 2000, Nr. 297 v. 21. Dezember, 1)
Einen wichtigen rhetorischen Einschnitt bildete schließlich die BSE-Krise 2000/01. Der dramatische (wenngleich kurzfristige) Vertrauensverlust der breiten Mehrzahl reagierte auf eine alltagsferne Agrarpolitik, die die Folgen der eigenen Strukturentscheidungen nicht tragen, sondern vertuschen wollte. In Deutschland folgerten hieraus beträchtliche, in den Begriffen „Agrarwende“ und „Ernährungswende“ gebündelte Veränderungen, mochten beide auch weit hinter den ursprünglichen Zielen zurückgeblieben sein. Nach EU-Vorbild wurden Risikobewertung und Risikomanagement voneinander getrennt, an die Stelle des Bundesinstituts für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin traten 2002 insbesondere das Bundesinstitut für Risikobewertung sowie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Schon zuvor hatten sich die Verbraucherschützer mit der Verbraucherzentrale Bundesverband eine schlagkräftigere Vertretung gegeben, nachdem unterschiedlich ausgerichtete Verbraucherorganisationen die Interessenvertretung erschwert hatten. Sie fanden nun wachsendes Gehör, ohne aber politikbestimmend zu werden. Dagegen veränderte die Ressortforschung ihre Ausrichtung kaum, blieb der Ausbau von Ernährungskompetenzen trotz der Integrationen einschlägiger Referate des Gesundheitsministeriums gering. Der staatliche Verbraucherschutz wurde gewiss verbessert, das inhaltlich gescheitere Verbraucherinformationsgesetz aber verwies auf gravierende Defizite bei der Informationsgewinnung und den Verbraucherrechten. Die Agrarpolitik stand nach wie vor im Zentrum der Arbeit des Ernährungsministeriums, die Ernährungspolitik wurde in enger Kooperation mit den einschlägigen Interessengruppen der Ernährungswirtschaft formuliert. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen, wie etwa über die Gentechnik resp. „Biotechnologie“ dauerten an, ebenso die am Beispiel der Milchbauern offenkundigen Wechselspiele des Marktgeschehens.
Ernährungspolitik als Gestaltungsaufgabe!? Ergebnisse und Konsequenzen
Fassen wir zusammen, ziehen daraus auch Folgerungen für die Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik:
- Die Ernährungspolitik befand sich seit dem späten 19. Jahrhundert in einer defensiven und reaktiven Stellung zu den Veränderungen im Handlungsfeld Essen/Ernährung, zur Dynamik einer Wissens- und Konsumgesellschaft. Die relativ abnehmende Bedeutung der Landwirtschaft, das schnell anwachsende Wissen der Naturwissenschaften und Medizin sowie ihr Gestaltungsoptimismus im Umgang mit dem „menschlichen Tier“ verankerten eine sektoral ausgerichtete Interventionskultur, die erhebliche nicht intendierte negative Folgen für andere Wirtschaftssektoren und Lebensbereiche billigend in Kauf nahm, um Partikularinteressen zu genügen. Eine Überwindung dieser defensiv-reaktiven Grundausrichtung erfordert eine Rückbesinnung auf die gesellschaftliche und alltagspraktische Bedeutung von Essen/Ernährung und die Berücksichtigung von Ernährungspolitik als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe.
- Die Ernährungspolitik hat zentrale Bereiche des Ernährungswandels des letzten Jahrhunderts nicht mit bedacht und daher auch nicht mit bestimmt. Dies gilt für die bis heute kaum problematisierte einseitig naturwissenschaftliche Deutung von Nahrung und Ernährung, die Gestaltungsdynamik von Industrie und insbesondere Handel, die Kommerzialisierung der Nahrung, die mit den Umdefinitionen des Räumlichen verbundenen Identitätsprobleme sowie den im Ernährungsbereich dominierenden semantischen Illusionen, die inhaltleere, weil an Alltagspraxen nicht rückgebundene Begriffe wie „Frische“, „Genuss“, „Geschmack“, „Gesundheit“ oder „Natur“ zwingend mit sich bringen. Ernährungswandel war und ist wirtschaftlich und gesellschaftlich bedingt. Ernährungspolitik wird nachhaltige und zukunftsfähige Gestaltungskraft nur dann gewinnen, wenn die sie tragenden und prägenden Personen diese Entwicklungen seriös analysieren und langfristige Strategien in Kooperation, teils aber auch im Konflikt mit wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickeln. Ignoranz einer mit den eigenen Vorstellungen nicht kompatiblen „Realität“ wird bestehende Probleme nicht mildern, sondern verschärfen.
- Der Begriff der Ernährungspolitik besitzt den Charme, sektoral unterschiedliche Politikfelder integrieren zu können. Doch diese Integration darf sich nicht in der effizienteren Koordinierung von Agrar-, Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz erschöpfen. So wichtig und unabdingbar die mit dem Begriff Ernährung verbundene Perspektive auf die Wertschöpfungsketten und den Metabolismus auch sein mag; will man Alltagshandeln erfolgreich und eigenbestimmt verändern, dann sind auch die mit dem Begriff des Essens verbundenen Bedeutungsdimensionen mit zu bedenken. Ebenso wie derjenige, der Essen verbessern will, abseits der Ernährungswissenschaft immer auch eine Esswissenschaft benötigt, um situationsadäquat denken und handeln zu können, so bedarf auch das Handlungsfeld Essen/Ernährung einer Ernährungs- und einer Esspolitik. Die Regulierung der Essenden wird scheitern, nimmt man diese nicht erst, versteht man nicht die Rationalität auch offenbar „irrationalen“ Verhaltens und Essens. Ernährungspolitik auch als Esspolitik zu denken, mag anachronistisch und naiv klingen. Doch diese Ergänzung erscheint mir gerade in formal demokratischen Gesellschaften unabdingbar zu sein. Ernährungspolitik wird dann vielleicht mehr erlauben als effizienteres Krisenmanagement, stetig neuartige Kampagnen und Aktionspläne, die wohlmeinende Lenkung der anderen, der Mehrzahl. Die Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik setzt verändertes Denken der Experten ebenso voraus, wie ein breiteres Problembewusstsein der demokratisch gewählten und nominell dienenden Repräsentanten.
Uwe Spiekermann, 22. November 2025
Bei dem vorliegenden Artikel handelt es sich um einen moderat veränderten und mit teils anderen Abbildungen versehenen Vortrag zur Tagung „Über den Tellerrand. Gestaltungsaufgabe Ernährungspolitik“, die am 1. und 2. März 2010 in Berlin als Gemeinschaftsanstrengung der Arbeitsgemeinschaft Ernährungsverhalten (deren Vorsitzender ich damals war) und der Verbraucherzentrale Bundesverband veranstaltet wurde. Derweil ist einiges geschehen, in der Ressortforschung, der Gesundheitsaufklärung, der Ernährungskommunikation – nicht immer zum Bessern. Doch aus meiner Sicht spiegelt dieser fünfzehn Jahre alte Artikel die intellektuelle Stagnation der deutschen Ernährungspolitik deutlich wieder. Sie ist weiterhin eine Klientelpolitik, deren Gunstgruppen zwar je nach politischen Vorzeichen wechseln, die sich aber vor allem strukturell lernunfähig zeigt. Wiederholt gescheiterte Ansätze und Politiken werden wiederholt, der eigene Anteil an den bestehenden Problemlagen im Handlungsfeld Essen/Ernährung mit bunten Bildchen und Sprachspielen übertüncht.