Als die Werbebilder laufen lernten: Der Fleckenentferner Benzolinar in den 1890er Jahren

Die Werbebilder lernten im Deutschen Reich spätestens seit den 1890er Jahren laufen. An die Stelle der bereits weit verbreiteten Werbeklischees, also stetig reproduzierter Einzelbilder, traten nun zunehmend Bildserien, Ausfächerungen einer immer breiteren Produktwelt, mit denen Konsumenten angesprochen und gewonnen werden sollten. Die Fortentwicklung der Lithographien und eine wachsende Zahl von (Werbe-)Graphikern veränderte Bedeutung und Stellung der Werbung grundlegend, schufen zugleich die Möglichkeiten für deren Ästhetisierung, für eine hochwertige Plakatkunst, für eine Abkehr von billigen, künstlerisch nicht sonderlich ansprechenden Motiven. So lautet die Quintessenz mehrerer, bis heute regelmäßig zitierter Arbeiten zur Geschichte der Werbung in Deutschland (Dirk Reinhardt, Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der Wirtschaftswerbung in Deutschland, Berlin 1993; Christiane Lamberty, Reklame in Deutschland 1890-1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung, Berlin 2000; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln und Weimar 2009).

Dieses Narrativ einer zunehmend reflektierten, professionalisierten, sich zudem sittlich hebenden Werbebranche ist vorrangig Resultat einer höchst einseitigen Quellengrundlage: Die gedruckten Selbstdarstellungen der Werbebranche, der Werbegraphiker und der wichtigsten Markenartikelproduzenten und Warenhäuser waren bereits in diesen Tenor gehalten, mehr Wunsch als Wirklichkeit, ihrerseits Illusionstheater. Erzählt wurde die Geschichte der Versöhnung von Kunst und Kommerz, die zahllosen Konflikte dieser Zeit erschienen als Reinigungskrisen, an deren Ende die Vorboten unserer heutigen Konsum- und Werbewelt standen. Ausgegrenzt bzw. unterschätzt wurden vor allem drei Aspekte: Erstens gab es schon lange vor den 1890er Jahren ein trotz staatlicher Presse- und Werbezensur hochdifferenziertes Annoncenwesen, das man allerdings lesen können muss. Zweitens war der lokale Einzelhandel Hauptträger der Werbewirtschaft, doch er nutzte vor allem die Tages- und Wochenzeitungen, die erst durch die Digitalisierung wieder in den Blick geraten. Drittens fehlt es an empirischen Fallstudien, die einerseits die Anfänge und den Wandel einzelner Produkte und Firmen detailliert untersuchen, die anderseits aber nicht zum stetig hochgehaltenen Kranz des späteren Markenartikelverbandes oder der Interessenvertretungen der Werbegraphiker und der Großbetriebe des Einzelhandels gehörten.

Das war meine Überlegung, um mich einem vermeintlich abseitigen Produkt wie dem Fleckenwasser „Benzolinar“ genauer zu widmen. Es steht für den seit den 1880er Jahren einsetzenden Bedeutungsgewinn neuer chemisch-pharmazeutischer Präparate, die als „Geheimmittel“ bezeichnet und kritisiert wurden. Darunter verstand man Waren, deren Zusammensetzung vom Hersteller nicht offengelegt wurde, die zugleich mit weit überzogenen, vielfach auch schlicht erfundenen Werbeaussagen angepriesen wurden. Da es sich zumeist um Produkte ohne unmittelbaren Gebrauchswert handelte, nutzten ihre Produzenten die neuen Möglichkeiten der Werbung, insbesondere aber der Visualisierung weit stärker als ihre Konkurrenz. Werbekampagnen etwa des Bartwuchsmittels „Professor Migargees“ (1881-1892) sowie der „Hühneraugenringe in der Uhr“ des Ottensenschen Unternehmers August Wasmuth (1893-1896/7) waren Wegmarken der modernen Wirtschaftswerbung, finden sich zugleich aber nicht im gängigen Kanon der historischen Werbungsforschung. Die Kampagne für das Fleckenwasser „Benzolinar“ stand zeitlich und inhaltlich dazwischen – und spiegelt daher den typischen Wandel der Konsumgüterwerbung dieser Zeit. Sie legt allerdings ein anderes Narrativ nahe: „Benzolinar“ und das in gleicher Firma seit 1894 produzierte „Leipziger Putzwasser“ stehen für generelle Veränderungen in den noch relativ unregulierten 1890er Jahren, in denen mit Geheimmitteln und einer konsequent eingesetzten Werbung rasch ein Vermögen erzielt werden konnte – vorausgesetzt, man bot den Konsumenten mehr als nur ein überteuertes Markenprodukt. Diese Selbstbestätigung war Aufgabe der Werbung, vor allem aber einer neuartigen Visualisierung der Waren. Die schöne Ware war nicht Ausdruck allgemeiner Ästhetisierung, sondern einer möglichst hohen Rendite.

Drogerieartikel als Wachstumsmarkt

Im Gegensatz zur harten Alltagsarbeit des Wäschewaschens, die als zentrale Lebensrealität der Hausfrauen vielfach analysiert wurde (einschlägig v.a. Barbara Orland, Wäsche waschen. Technik und Sozialgeschichte der häuslichen Wäschepflege, Reinbek bei Hamburg 1991), wurden die diffizileren Tätigkeit textiler Pflege deutlich seltener untersucht. Das mag daran liegen, dass Sozialgeschichte, Frauen- und Gendergeschichte sowie die Konsumgeschichte bis heute nicht recht zusammenfinden. Die Kommodifizierung des Alltags durch immer neue Produkte, die dahinterstehenden Strategien und Motive, sie gelten scheinbar wenig, wenn man alltägliche Fron auch anders, scheinbar direkter analysieren kann. Dabei ist just dies ein verbindendes Element zwischen den Lebenswelten des späten 19. Jahrhunderts und dem so anderen Haushaltshandeln in einer technisierten und chemisierten Gegenwart.

Fleckenreinigung war eine Kunst, die einer genaue Kenntnis der Textilien, der Reinigungsmittel und der Fleckenarten voraussetzte. Der Fleck war der Ausgangspunkt, das Reinigungsmittel wirkte auf ihn ein, die Stoffarten lenkten und begrenzten den Einsatz. Fleckenreinigung war ein alltägliches Experiment, praktische Chemie, dieser Wissenschaft der stofflichen Veränderung. Mechanische Reinigung war grundlegend, das Abklopfen und Abbürsten von Staub und Anhängseln. Das half nicht, wenn Schmutz in den Stoff eingedrungen war. Üblich war dann die nasse Wäsche, bei der das (teils erwärmte) Wasser und verschiedene Seifenarten eingesetzt wurden. Speichel oder Zuckerarten konnten einfach ausgewaschen werden, doch schon Fettflecken erforderten weitere Hilfsmittel, Seifen, Salmiakgeist. Bei Seidenwaren, bei Ölfarben oder Harzen reichte dies nicht mehr aus. Man nutzte dazu neue, seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend verfügbare Hilfsmittel der Alkoholdestillation und der Steinkohlenchemie. Spiritus, Terpentin, Benzin oder reiner Alkohol reagierten mit den Flecken, die neuen Stoffe verflüchtigten sich teils. Der Einsatz dieser flüchtigen chemischen Substanzen ermöglichte eine trockene Wäsche, denn Wasser war dazu nicht mehr erforderlich. Seit der Jahrhundertmitte gab es einen immer genaueren Kanon, um Flecken jeder Art gezielt und mit möglichst geringer Beschädigung der Textilien selbst beseitigen zu können (Vgl. G[ustav] A[dolf] Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, T. 2, 3. verm. Aufl., Berlin 1898, 335-336).

Chemie als Helfer: Werbung für Judlins Chemische Wäsche-Anstalt (Kladderadatsch 23, 1870, Nr. 11, Beibl. 1, 1)

Seit den 1850er Jahren entwickelten sich zudem professionelle Dienstleister, die aus der Kunst der Reinigung ein Geschäft für ein zahlungskräftiges Publikum machten (als Fallstudie Drei Generationen im Reiche der Färberei, Wäscherei und Chemischen Reinigung. Eine Denkschrift zur Feier des 75jährigen Geschäfts-Jubiläums der Firma W. Spindler, Berlin 1907; deutlich umfassender Josef Kurz, Die Kulturgeschichte der professionellen Textilpflege. Zweitausend Jahre textile Sauberkeit durch Waschen und Reinigen, Heidelberg 2008). Diese Spezialisten optimierten die trockene Wäsche, nutzten die noch teuren Chemikalien. Diese „französische Wäscherei“ entwickelte sich im Zentrum des chemischen Wissens, insbesondere in Paris, der einfache Fleckenputzer hieß daher Detacheur, am Ende der Reinigung stand die aufwändige Appretur. In den 1850er Jahren etablierten sich auch in deutschen Landen chemische Reinigungen, eng verbunden mit dem noch dominanten Färbereigeschäft: Wilhelm Spindler, Judlin, der Hannoveraner Friedrich August Stichweh waren Pionierunternehmen der Reinlichkeit, die ihren Betrieb vor allem seit den späten 1860er Jahren respektabel ausbauten (Josef Kurz, Hans Ziehm und Hans W. Hoepfner, 125 Jahre Stichweh, Hannover 1978; J. v. Sydow, Die Wäsche sonst und jetzt, Die Gartenlaube 1878, 278-279; Chemische Wäsche, Illustrirte Zeitung 64, 1875, 259; M. Reimann, Die sogenannte chemisch-trockene Reinigung zur Entfernung des Schmutzes aus getragenen Stoffen, Industrie-Blätter 8, 1871, 217-219). Die Dienstleistung war teuer, doch das Samtpaletot im Benzinbad war Wunderwerk: „Kaum zehn Minuten aber, und es entsteigt wie ein Phönix der Asche und Pelz und Sammet scheinen uns so schön, wie sie je gewesen sein können. Kein Fältchen, kein Spiegel! Es ist wie ein Zauber!“ (Die Wissenschaft im Dienst des täglichen Lebens, Correspondent für das Großherzogthum Oldenburg 1880, Nr. 61 v. 23. Mai, 1-2, hier 1) Die chemischen Mittel wurden stetig variiert, das geruchsintensive Terpentin wich dem Benzin, dieses vielfach dem preiswerteren Benzol. All das war gefährliche Arbeit, unbrennbare Lösungsmittel wie v.a. Tetrachlorkohlenstoff setzte sich erst um die Jahrhundertwende durch.

Allen Dienstleistungen zum Trotz wurden Flecken jedoch vorrangig von den Hausfrauen im Haushalt bekämpft, das Wäschewaschen blieb die dominante Form der Reinigung. Individuelle Sauberkeit wurde ein bürgerliches Ideal, saubere Kleidung zunehmend erforderlich, schloss man doch vom Äußeren auf das Innere der Menschen. Entsprechend nutzten die Haushalte auch die Chancen der neuen Hilfsmittel: Seifen wurden zunehmend chemisch produziert, Petroleum- und Teerderivate in kleinen Mengen verfügbar. Die Haushalte reinigten, doch sie nutzten verstärkt ein chemisch-technisches Angebot. Dabei handelte es sich teils um Alltagschemikalien aus Drogerien und Apotheken, teils auch von Schneidern, Friseuren und Parfümerien. Hausfrauen mixten auf Grundlage regelmäßig in der Presse zirkulierender Rezepte ihre vermeintlich eigenen Hilfsmittel. Das war eine hybride Verwissenschaftlichung, einerseits durch die Rezepte, anderseits durch die Grundstoffe.

Ein Beispiel mag genügen, auch um die Schwierigkeit der damaligen Hauswirtschaft zu unterstreichen: „Fettflecke entfernt man sehr gut und ohne Aenderung der Farbe der Zeuge durch folgende Flüssigkeit: 4 Loth sehr reines Terpentinöl, 2 Quentchen höchst rectificirten Weingeist und eben so viel Schwefeläther, mit ein wenig Citronenöl gut zusammengeschüttelt und in einer verschlossenen Flasche aufbewahrt“ (Salzburger Chronik 1880, Nr. 89 v. 24. Juli, 6). Die häuslichen Fleckenmittel wurden vielfach auch gekocht, umrahmt von zahlreichen Gewürzen und Duftstoffen, um so den Geruch der Chemikalien zu dämpfen und zu überdecken. All dies war Notwendigkeit, Ausdruck erforderlicher Sparsamkeit (Universal-Fleckentinctur, Unser Hausfreund. Sonntagsblatt des Hannoverschen Courier 1891, Nr. 13, 102).

Doch auch die Drogerien, teils die Apotheken, bedienten den Wachstumsmarkt Fleckenreinigung mit eigenen Angeboten, meist Mixturen nach Rezeptbuch. Sie ersparten das Kochen und Vermengen im Haushalt, doch über die Zutaten herrschte vielfach Stillschweigen, allein Preis und Wirksamkeit entschieden (L. F. Dietrich, Illustrirte Encyclopädie praktischer Rezepte und Belehrungen, Leipzig und Dresden 1862/63, 336-340; J[oseph] Thein, Chemisch-technische Instructionen, 3. sehr verm. u. verb. Aufl., Prag 1871, 294).

Produzent und Produkt – Ausnahme Kelydon (Leipziger Zeitung 1858, Nr. 69 v. 23. März, 1425 (l.); ebd. 1853, Nr. 229 v. 27. September, 4772 (u.); National-Zeitung 1867, Nr. 5 v. 4. Januar, 4)

Diese Drogistenangebote wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch überregional abgesetzt. Am bekanntesten war das seit 1849 angebotene Brönnersche Fleckenwasser, das vorrangig aus Benzin bestand. Zahlreich Konkurrenzprodukte entstanden in den Folgejahrzehnten, durchweg Geheimmittel, meist angepriesen unter dem Namen des Produzenten. Produkte mit Eigennamen, wie das in Berlin hergestellte Kelydon, etablierten sich noch nicht.

Angebote ohne Produktidentität, teils per Versand (Deutscher Haus- und Landwirths-Freund 1884, Nr. 1, 4 (l.); Dortmunder Zeitung 1885, Nr. 330 v. 1. Dezember, 6)

Der deutsche Markt wurde durch vielfältige Angebote aus dem Ausland bereichert, erst aus Frankreich, dann insbesondere aus Großbritannien. Englisches Fleckenwasser war in den 1860er bis 1880er Jahre gängig (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1876, Nr. 108 v. 10. Mai, 5). Und auch später gab es zahlreiche kurzlebigere Angebote wie etwa „Electric Cleansing Compound“, ein „wirklich vorzügliches, unentzündliches und geruchloses Fleckenwasser“ (Duisburger Tageblatt 1893, Nr. 8 v. 10. Januar, 4). Marktchancen für Markenartikel gab es also, doch vielfach gelang es den Anbietern weder eine Absatzstruktur aufzubauen, noch die Konsumenten per Werbung anzusprechen und zum Kauf zu bewegen.

Scheitern des Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen, Stuttgart 1890 (Bonner Volkszeitung 1890, Nr. 126 v. 8. Mai, 3 (l.); Neckar-Bote 1890, Nr. 53 v. 8. Mai, 255 (u.); Schwäbischer Merkur 1890, Nr. 197 v. 21. August, 12 (M.); Neues Tagblatt 1890, Nr. 278 v. 27. November, 4)

Typisch hierfür war das 1890 im Westen des Deutschen Reiches angebotene Universal-Fleckenwasser des Stuttgarter Kaufmanns Albert Roebelen. Es wurde in kleinen Textanzeigen ohne Produktinformation angepriesen. Allgemein gehaltene Texte unterstützen den Markteintritt, doch der Erfolg blieb aus – auch aufgrund eines Preises, der höher lag als der gängiger Drogistenmixturen (Remscheider Zeitung 1890, Nr. 104 v. 6. Mai, 4). Nur ein halbes Jahr nach dem Beginn der Werbekampagne konnte Roebelen die Rechnungen nicht mehr zahlen, wurden die Geschäftsutensilien und nicht verkauften Fleckenwasserflaschen zwangsversteigert. Marktchancen gab es, nicht aber eine Garantie für unternehmerischen Erfolg.

Wilhelm Roloff, Leipzig, Dachpappen und Teerprodukte

Das Universalfleckenmittel Benzolinar wurde seit Februar 1891 von der Leipziger Firma Wilhelm Roloff angeboten – und das allein war bemerkenswert. Hersteller war weder eine chemische Reinigung, ein Drogist, noch ein Konsumgüterproduzent, sondern eine seit den 1840er Jahren aktive Terresin-, Asphalt- und Dachpappenfabrik. Wilhelm Roloff hatte sich unmittelbar neben der 1838 in Betrieb genommene städtische Gasanstalt angesiedelt, nutzte deren Nebenprodukte Koks, Teer und Ammoniak, machte dadurch ihren Betrieb wirtschaftlich. Anfänglich produzierte sein Unternehmen das von Friedrich Busse (1794-1862) entwickelte Terresin, ein aus Teer, Kalk und Sand bestehender Baustoff, der vornehmlich für Eisenbahntrassen verwandt wurde (Leipziger Zeitung 1847, Nr. 157 v. 2. Juli, 3155).

Kern- und Nebengeschäft von Wilhelm Roloff (Leipziger Zeitung 1857, Nr. 173 v. 23. Juli, 3730)

Wilhelm Roloff, einer aus „der Classe der unangesessenen Bürger vom Handelsstande“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1856, Nr. 288 v. 9. Dezember, 2457), nutzte Teerprodukte aber auch eigenbestimmt, entwickelte seit Mitte der 1850er Jahre sog. Steinpappen (Die Steinpappen-Fabrik von Wilhelm-Roloff in Leipzig 10, 1859, 488-490). Pappe wurde nach schwedischem Vorbild mit Steinkohlenteer imprägniert. Die relativ leichten, flexiblen und doch festen Schindelsubstitute verdrängten zunehmend schwerere Materialien, so den damals üblichen Asphaltfilz. Dachpappe von Wilhelm Roloff galt als „bewährtes Fabrikat“, mit ihr wurden seit den späten 1850er Jahren auch größere Gebäude, etwa Bahnhöfe, Fabriken und Gasanstalten gedeckt (Die Dachpappe, Paque’s Panorama des Wissens und der Gewerbe 1865, 603-605, hier 605). Der Unternehmer war als Sachverständiger gefragt (W. Hamm, Die Dachpappe, Centralblatt der Land- und Forstwirthschaft in Böhmen 10, 1861, 278-279, hier 279) – und er bewarb seine Dachpappen nicht nur in Sachsen als eine leichte, billige, gegen Feuer, Regen, Schnee, Wind und Sturm schützende Innovation, sondern ermöglichte damit relativ flache Dächer und günstigeres Bauen.

Grenzüberschreitende Diffusion der Roloffschen Dachpappen (Donau-Zeitung 1860, Nr. 135 v. 16. Mai, 4)

Wilhelm Roloff diversifizierte in benachbarte Branchen, seine „Stein-Dachpappen-, Terresin & Asphalt-Fabrick“ (Regensburger Tagblatt 1859, Nr. 128 v. 10. Mai, 4) etablierte sich als Technologieführer. Verbessertes Schmirgelpapier wurde entwickelt, Anstriche für Pappdächer, für andere Anbieter war man zudem in Kommission tätig (Illustrierte Zeitung 37, 1861, Nr. 961, 396; Leipziger Zeitung 1862, Ausg. v. 6. September, 4582; Friedrich Georg Wieck’s Deutsche Illustrierte Gewerbezeitung 30, 1865, Nr. 2, Inserate, 3). 1870 verkaufte Roloff seine Firma an den Chemiker Heinrich Caspersen und starb ein Jahr später (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1870, Nr. 206 v. 25. Juli, 6874; ebd. 1871, Nr. 178 v. 27. Juni, 2618).

Die Firma entwickelte sich jedoch kontinuierlich weiter, Holzzementelemente modernisierten die Palette der Baumaterialien (Bautzener Nachrichten 1873, Nr. 123 v. 30. Mai, 1433; Handbuch der Leistungsfähigkeit der gesammten Industrie Deutschland, Oesterreichs, Elsass-Lothringens und der Schweiz, Bd. II, Leipzig 1874, 14). Caspersen plante 1872 einen Neubau im nördlichen Leipzig, nicht zuletzt um dort Kohlen- und Wasserstoffpräparate herzustellen (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1872, Nr. 361 v. 26. Dezember, 6219). Auch der Chemiker Carl August Müller, der 1875 die Firma übernahm, verfolgte dieses Projekt weiter, allerdings erfolglos (ebd. 1875, Nr. 116 v. 26. April, 2309). Die Firma wurde innerhalb der Familie weiter übergeben, doch 1885 trat mit dem „Kaufmann Johannes Meister“ ein junger Chemiker als Kompagnon in die Geschäfte ein, die er 1886 schließlich vollständig übernahm (Ebd. 1884, Nr. 313 v. 8. November, 5952; Deutscher Reichsanzeiger 1885, Nr. 71 v. 244. März, 26; ebd. 1886, Nr. 35 v. 9. Februar, 9). Am Firmenprofil änderte sich durch den späteren Hersteller des Fleckenwassers Benzolinar erst einmal wenig, Innovationen wurden weiter ersonnen, umgesetzt und regelmäßig annonciert.

Technische Werbung als Betriebsstandard (Mittheilungen aus der Praxis des Dampfkessel- und Dampfmaschinen-Betriebes 14, 1891, 214)

Johannes Meister (1865-1916) stammte aus Zittau. Sein Vater Guido Meister (1818-1891) war einerseits einer der führenden Bankiers und Kapitalisten der Oberlausitz, seit 1871 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der 1871 gegründeten Oberlausitzer Bank zu Zittau (Jahrbuch der Berliner Börse 1885-1886, Berlin 1885, 102; ebd. 1888-1889, Berlin 1888, 107). Er engagierte sich breit und grenzübergreifend, etwa als Repräsentant der Gothaer Feuerversicherungsbank, als Aufsichtsrat der Leitmeritzer Bierbraugesellschaft zum Elbschloss. Der überzeugte Liberale heiratete 1855 Marie Helfft, mehrere Kinder folgten, Johannes war der jüngste Sproß. Guido Meister war anderseits seit 1848 auch führender Freimaurer, Alt- und Ehrenmeister vor Ort, zeitweilig stellvertretender Vorsitzender des Vereins deutscher Freimaurer (Latomia NF 2, 1879, 167; Freimaurer-Zeitung 42, 1888, 364). Er gründete mehrere philanthropische Stiftungen, war seit 1885 wiederholt Stadtrat, auch Mitglied des lokalen Handelsgerichtes (Die Bauhütte 34, 1891, 175).

Johannes Meisters Vater war demnach ambitioniert, gut vernetzt, aufstiegsorientiert und wohlhabend. Sein Sohn besuchte die Bürgerschule, dann das Realgymnasium in Zittau, studierte ab 1883 in Leipzig Naturwissenschaften, schloss das Studium nach etwas mehr als vier Jahren mit der Promotion ab (Johannes Meister, Ueber eine Condensation zwischen Acetessigäther und Urethan, Phil. Diss. Leipzig 1888, 24). Seine unter den Auspizien des Chemikers Robert Behrend (1856-1926) entstandene und auch in einer führenden wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichte Dissertation untersuchte die Chemie des Duft- und Aromastoffs Azetatessigäther (Ders., Dass., Justus Liebigs Annalen der Chemie 244, 1888, 233-253; Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 221, 1888, 427-428). Das passte in die Forschungsinteressen nicht nur am Physikalisch-Chemischen Institut, sondern auch im 1879 eingerichteten Versuchslaboratorium der in der Berliner Straße angesiedelten Firma Schimmel & Co., damals auf dem Weg zum Weltmarktführer für ätherische Öle und Riechstoffe. Meisters Übernahme von Wilhelm Roloff war demnach mehr als ein simples Investment, sondern Eintritt in einen Wissenscluster, in der die Teerstoffchemie zunehmend für Konsumgüter fruchtbar gemacht wurde. Der Fleckenentferner Benzolinar war das erste und prominenteste Ergebnis dieser Erweiterung der sich 1890 „Chemisch-Technische Fabrik“ nennenden Firma Wilhelm Roloff (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293).

Der ambivalente Glaube an die Kraft der Reklame

Benzolinar steht aber nicht nur für die gestalterischen Möglichkeiten der modernen Chemie, sondern ebenso für einen noch kaum getrübten Glauben an die Wirkmächtigkeit der Reklame, für die es gerade im Bereich medizinisch-pharmazeutischer Geheimmittel seit den 1860er Jahren zahllose Beispiele gab. Johann Hoffs Malzextrakt galt als prominentes Beispiel, auch wenn dessen reichsweite Werbekampagne für „Deutschen Porter“ krachend scheiterte und die Grenzen der Vermarktung schlechter Produkte unterstrich. In immer neuen Wellen wandten sich damals Mediziner gegen Quacksalber, Ehrenmänner gegen Geheimmittelproduzenten – doch aus ihrer Sicht scheiterten sie immer wieder an der vielbeschworenen und emsig beklagten Einfältigkeit der reklamegläubigen Konsumenten. Zugleich riefen sie nach dem Staat, nach dem harten Schwert der Justiz. So berechtigt die Mehrzahl der Einsprüche auch war, so unklar blieb jedoch, wie man wirksame und weniger wirksame Präparate sicher voneinander abgrenzen konnte, wo die Grenzen von Täuschung und Betrug verliefen, wo das Schickliche, das Sittliche ins Unschickliche und Unsittliche kippte. Richtschwert wurde jedenfalls „die Wissenschaft“, wohl wissend, dass diese vielstimmig war und irren konnte, wohl wissend, dass diese korrumpierbar war, wohl wissend, dass ihre Vorstellungen von Gesundheitsgefährdungen vorläufig und vielfach industrienah waren, wie etwa bei Konservierungsmitteln oder Farbstoffen. Dennoch träumten Experten von Wahrheitsinstitutionen. Ziel wäre „ein höheres, wirthschaftliches und sittliches Aichungsamt für Messung und Wägung von Tugend und Laster, Nutzen und Schaden, Schönheit und Häßlichkeit“ (H[einrich] Beta, Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie, Berlin 1872, 32). Dabei wurde ausgeblendet, dass die Mehrzahl der Anbieter des Neuen durchaus wissenschaftlich gebildet war und Geheimmittel das Janusgesicht just „der Wissenschaft“ verkörperten.

Da der Staat sich damals lediglich bei offenkundigen Gefahren oder aber akutem Marktversagen autorativ einschaltete, war die weit verbreitete Schelte gegen die Reklame die einfachste Möglichkeit, die Reihen der Tugend geschlossen zu halten: „Alles was nötig ist, einem Geheimmittel den Erfolg zu sichern, ist Geld und Geschick, es zur Reklame zu benutzen. Was es für ein Mittel ist, kommt nicht in Frage, die Wahl der Ingredienzien ist die geringste Sorge“ (Halversche Zeitung 1883, Nr. 97 v. 5. Dezember, 2). Seit den späten 1870er Jahren, als die Etablierung zahlreicher leistungsfähigerer Betriebsformen des Einzelhandels (Versandgeschäfte, Filialbetriebe, Bazare und schließlich auch Warenhäuser) immer größere Sortimente und zugleich anonymere Formen des Kaufens ermöglichte, kam die Gier der Anbieter hinzu – und das mit dem üblichen antisemitischen Odeur. Dabei erforderten komplexere und ausdifferenzierte Sortimente, arbeitsteilige und internationale Absatzmärkte eine andere Ansprache des Konsumenten. Nationalökonomen warfen sich daher für die Reklame ins Zeug: „Sie macht die Gleichgültigen aufmerksam; sie redet eine eindringliche, zum Nachdenken auffordernde Sprache. Sie verfeinert die Bedarfsbefriedigung und eröffnet den Fortschritten der Technik und Kultur, der Einführung von Neuheiten die Bahn. Sie wirkt auch erzieherisch, indem sie auffordert, sich der für die Gesundheit oder Ernährungsweise bedeutsamen neueren Mittel und Gegenstände zu bedienen, nicht im alten Schlendrian bei der Befriedigung des Bedarfs zu bleiben“ (Wilhelm Roscher, Nationalökonomik des Handels und Gewerbfleißes, 8. verm. Aufl. bearb. v. Wilhelm Stieda, Halbbd. 2, Stuttgart und Berlin 1917, 69).

Kommerzialisierung des Alltags: Außenreklame für die schönen neuen Dinge (Münchner humoristische Blätter 6, 1890, 224)

Reklame blieb daher notwendig und umstritten zugleich. Das galt zumal für das Wissensfeld der Fleckenentferner. Es gab nur wenige wirklich verlässliche Mittel – und ein technischer Durchbruch würde rasch ein Vermögen nach sich ziehen. Dieser Mechanismus prägte die neu entstehenden und sich in den 1890er Jahren rasch ausweitenden Märkte pharmazeutisch-technischer Artikel: „Da nun aber jeder Erfinder in seinem Mittel das beste gefunden zu haben glaubt, so hat er natürlich nichts dringenderes zu thun, als die Zusammensetzung desselben möglichst geheim zu halten, damit sich nicht dieser oder jener der Erzeugung desselben bemächtigte und ihn um den Lohn seiner Versuche bringe. Das wäre wohl an und für sich ganz gerechtfertigt; allein da gibt es speculative Köpfe, die es unternehmen, aus nichts Geld zu machen und Mittel, die im besten Falle harmlos, wenn nicht gar schädlich sind, dem Publikum für theueres Geld unter Aufwendung maßloser Reklame anzuhängen suchen und thatsächlich anhängen. […] Und was die Reclame zu leisten vermag, dafür gibt beispielsweise das vor nicht allzulanger Zeit auftretende Fleckreinigungsmittel ‚Benzolinar‘ einen treffenden Beweis. Wenn es auch für schweres Geld verkauft wird, so besteht es eben doch einzig und allein aus Benzin, den man füglich um einige Kreuzer bei jedem Kaufmanne bekommen kann“ (Kosmetische Geheimmittel, Neue Wiener Friseur-Zeitung 1, 1894, Nr. 1, 2). Derartige Kritik traf auf ein Präparat, das offenkundig von einem Experten, vom frisch promovierten Chemiker Johannes Meister auf den Markt geworfen war. Retrospektiv hieß es angesichts des ebenfalls üppig aufschäumenden Seifenmarktes: „Wieder ist ein neues Weltwunder aufgetaucht. Es scheint, daß es die ‚Erfinder‘ hauptsächlich auf unser Fach abgesehen haben: Flecken-Reinigungsmittel, natürlich ‚Universal‘, dutzendweise zu erfinden (die Namen dafür: Aphanizon, Benzolinar, Opal in der Tonne etc., ist wohl die schwierigste Erfindung dabei), genügt wohl nicht mehr. Jetzt geht es ans Färben à la minute, von Jedem spielend ausführbar! […] Unzählige Leichtgläubige lassen sich von den gleißnerischen Reclamen bethören, meistens sind es unsere pantschlustigen Damen, die ihm aufsitzen, jedoch machen fast Alle ausnahmslos schlechte Erfahrungen mit dem ‚unfehlbaren Mittel.‘“ (Maypole Soap (Färbe-Seife), Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 649-650). Derart in das Zeitkolorit der 1890er Jahre zurückversetzt, können wir uns nun mit gebührender Distanz der Markteinführung und der Marktpräsenz von Benzolinar widmen.

Benzolinar: Markenaufbau und Marktdurchdringungen

Das Warenzeichen des Fleckenwassers Benzolinar wurde am 30. Juni 1891 bewilligt, nur rekordverdächtige vier Tage nach der Anmeldung (Deutscher Reichsanzeiger 1891, Nr. 154 v. 3. Juli, 10). Die Marke bestand aus einer stilisierten antikisierten Atlas-Figur, entsprach damit historistischen Bildwelten. Sie wurde Teil des Flaschenetiketts. Der Markenschutz wurde im Oktober 1898 für zehn Jahre verlängert und endete schließlich am 27. Oktober 1908 (Ebd. 1898, Nr. 247 v. 18. Oktober, 10; ebd. 1908, Nr. 257 v. 30. Oktober, 16).

Die Markteinführung begann bereits im Februar 1891 (Kölnische Zeitung 1891, Nr. 139 v. 19. Februar, 4). Die Werbung konzentrierte sich auf reichsweit präsente Zeitschriften, zudem auf führende Tageszeitungen. In einigen an sich lukrativen Regionen, etwa in Hamburg oder Baden, wurde für Benzolinar allerdings erst ab Mitte 1891 regelmäßig beworben. Dies dürfte mit einer noch fehlenden Großhandelsorganisation zusammengehangen haben. Im Gegensatz zu vielen anderen Geheimmittelanbietern setzte die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff nämlich auf die im Hauptgeschäft bewährten traditionellen Formen des Absatzes: Man belieferte den Großhandel, delegierte den Vertrieb an regionale Generalagenturen, die ihrerseits an weitere Agenturen oder aber direkt an die Drogerien lieferten. Die ersten Anzeigen bewarben daher nicht nur das neue Fleckenmittel Benzolinar, sondern warben zudem um Zwischenhändler: „Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht“. All das basierte auf der Preisbindung, also Privatverträgen, die allen Beteiligten relative hohe, rechtliche verbindliche Handelsspannen garantierten. Drogerieartikel waren dafür bestens geeignet, handelte es sich doch um homogene Güter mit geringen Lagerkosten und langer Haltbarkeit. In der Fachpresse hieß es einladend: „Großen Nutzen bringender Handverkauf! Wiederverkäufer gegen hohen Rabatt gesucht. Die Original-Flasche kostet für das Publicum 1 M“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 184).

Geteiltes Leid unter Freundinnen (Schlesische Zeitung 1891, Nr. 127 v. 20. Februar, 3)

Die Anzeigen präsentierten die Vorteile dieses Absatzkonzept: „Die Leistungsfähigkeit dieses Fleckenwassers ‚Benzolinar‘ sowohl als auch eine dauernde und zeitgemässe Reklame […] in über 70 der gelesensten Journale Deutschlands sorgen für einen grossen Absatz“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 248). Werbung war immer auch ein Versprechen eines guten Geschäftes, adressierte sowohl Käufer als auch Zwischenhändler. Der hohe Preis war für Wiederverkäufer attraktiv. Gängige Preise, etwa 40 Pfennig für ein Fläschchen Drogistenware (Hasper Zeitung 1888, Nr. 37 v. 9. Mai, 3), führten automatisch zu niedrigeren Gewinnen beim Einzelverkauf.

Als Offiziere ihre Uniformen noch selbst bezahlen mussten (Kölnische Sonntags-Anzeiger 1891, Nr. 753 v. 29. März, 7 (l.); Bonner Volkszeitung 1891, Nr. 268 v. 20. Juni, 4)

Die anfänglichen Anzeigen suggerierten wahrheitswidrig einen allgemeinen Markterfolg, hieß es doch: „Benzolinar führt jede Droguenhandlung“ (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2). In lokalen Zeitschriften klang das vorsichtiger, realistischer, so etwa in München: „Zu haben in den durch Plakate ersichtlichen Verkaufsstellen: Droguen, Apotheken und Parfümeriehandlungen“ (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 143 v. 25. Mai, 6). Trotz breit gefächerter Hintergrundarbeit gelang es der Firma Wilhelm Roloff letztlich nicht, Benzolinar reichsweit in allen Drogeriehandlungen zu etablieren – die Gewerbezählung 1895 sollte etwas mehr als 5.000 Hauptbetriebe ergeben (Statistik des Deutschen Reiches NF, Bd. 113, Berlin 1898, 126-127). Dies wurde sprachlich kaschiert, war aber betriebliche Realität hinter Verweisen wie „Benzolinar führen die meisten Drogenhandlungen etc.“ oder „In allen bess[eren] Drogen- u[nd] Parf[ümerie]-Handl[ungen]“ erhältlich (Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 182 v. 5. August, 4; ebd., Nr. 219 v. 17. September, 4). Die prominente Hervorhebung des Firmennamens Wilhelm Roloff war daher kein Zufall: Interessierte sollten in den Läden vor Ort nachfragen, so Großhandelsbestellungen anregen. Zugleich erlaubte es den Käufern, die Firma direkt zu kontaktieren, um das Fleckenwasser per Nachnahme zugeschickt zu bekommen. Wilhelm Roloff bemühte sich also um Marktpräsenz, ließ sich aber das Schlupfloch zum gängigen Versandhandel offen.

Der Graf und seine Tänzerin (Fliegende Blätter 94, 1891, Nr. 2385, Beibl. 3, 2)

Blicken wir nun genauer auf die Werbung für Benzolinar: Am Beginn standen vier ordentlich gezeichnete (und signierte) Zeichnungen. Es handelte sich um vier Paare, Freundinnen und Bekannte, Männer und Frauen. Dies erlaubte einen kommunikativen Einstieg, ein Gespräch über das Fleckenwasser, das anschließend in stanzenhafter Form vorgestellt wurde. Benzolinar durfte zwar in „keinem Haushalt fehlen“ (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1891, Nr. 159 v. 111. Juli, 4), doch das Zielpublikum war deutlich enger, konzentrierte sich auf wohlsituierte Bürger. Hervorgehoben wurden insbesondere „Militärs und Beamte“, da deren Kleidung immer auch repräsentativ sein musste (Allgemeine Zeitung 1891, Nr. 57 v. 26. Februar, 4).

Befleckte Männer kaufen Alltagsdrogen (Wochenblatt für das christliche Volk 29, 1891, 487)

Die Zeichnungen präsentierten die gehobenen Stände: Graf und Tänzerin, bürgerliche Ballbesucherinnen, Offiziere sowie modisch gekleidete Bürger am Sonntag. Benzolinar war Hilfsmittel für eine repräsentative Position in der begrenzten Öffentlichkeit von Funktionseliten. Nicht die Oberschicht wurde angesprochen, sondern das breite Bürgertum, für das ein Fleck auf einem Kleidungsstück mehr war als ein Ärgernis. Das Fleckenmittel half eine an sich gesicherte, gleichwohl immer wieder neu zu behauptende Stellung zu bewahren. Dafür schien der an sich hohe Preis angemessen.

Die serielle Bildwerbung hob Benzolinar von Anbeginn gegenüber anderen Fleckenmitteln hervor. Auf der einen Seite hatte Johannes Meister einen werblichen Kunstbegriff geschaffen, der die Aura der Wissenschaft als Markenidentität nutzte, sich abhob von den mit Erfindern oder Firmen verbundenen Konkurrenzprodukten – oder gar von der anonymen Ware lokaler Drogistenmixturen. Auf der anderen Seite nutzte der Leipziger Chemiker eine Sequenz ansprechender Zeichnungen voller Anleihen an die gängigen Karikaturzeitschriften bzw. Illustrierten. Ein einheitlicher, auf allgemeine Marktpräsenz zielender technischer Markenartikel wurde durch eine vielgestaltige Produktpräsentation interessant gemacht. Das war neu, setzte einen neuen Werbestandard für eine Wachstumsbranche der 1890er Jahre.

Parallel nutzte die Firma Wilhelm Roloff jedoch auch andere Werbemittel, etwa die damals gängigen Prospekte (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 144). Wichtig war ebenfalls redaktionelle Reklame, also kleine Geschichten und Texteinschübe im Grenzgebiet zwischen redaktionellen Texten und Inseraten. Sie gaben sich vermeintlich sachlich, mündeten dann jedoch in einen Lobpreis der Ware. Hören wir zu, wie ein eloquentes bürgerliches Publikum angesprochen wurde: „Die chemische Fabrik Wilhelm Roloff in Leipzig bringt seit Kurzem ein neues Fleckenwasser, Benzolinar genannt, in den Handel. Dies Benzolinar übertrifft alle anderen Fleckenmittel. Alle Flecken von Theer, Harz, Oel, Fett, Oelfarbe, Schmutz etc., ausgenommen Tinte und Obstflecken, müssen weichen, und es ist wirklich erstaunlich, wie selbst alte Flecke durch den Gebrauch von Benzolinar verschwinden. Es besteht aus chemischen reinen Producten, die den Stoff etc. nicht im Geringsten angreifen, die zarteste Farbe unbehelligt lassen und keinen Rand beim Abreiben hervorrufen, wie dies bei den meisten Fleckenmitteln der Fall ist. Jede Hausfrau wird sich freuen, damit ein wirklich gutes Mittel in die Hand zu bekommen“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1891, Nr. 67 v. 8. März, 1532). Benzolinar war demnach ein Universalmittel, fast allseits anwendbar. Es war zugleich Qualitätsführer, das beste seiner Art. Die Anwendung schien einfach, Gefahr bestand nicht. Das war wichtig, denn der Umgang mit dem fertigen chemischen Hilfsmittel war angesichts des häuslichen Waffenarsenals von Wasser, Seife und fettlösenden Hilfsmitteln erst zu erlernen. Vertrauen in die moderne Chemie war angesagt, Schaden fast auszuschließen, zumal die Verpackung auch eine Gebrauchsanweisung enthielt.

Benzolinar war relativ teuer, doch gewiss billiger, schneller und weniger aufwändig als eine chemische Reinigung. Reinigungsarbeit wurde, insbesondere bei der Alltagswäsche, zwar vielfach außer Haus erledigt, doch mit dem neuen Fleckenwasser konnte man selbst tätig werden, auf die Fährnisse des Alltags unmittelbar reagieren. Auch wenn die Arbeit idealerweise an ein Dienstmädchen oder einen Burschen delegiert werden konnte, war die bürgerliche Selbstermächtigung durch das neue Präparat doch ein Kernthema in den Werbetexten: „Hier ist ein theueres seidenes Ballkleid durch Bratenbrühe verdorben, ein neuer Rock hat sich in zu inniger Berührung mit einer frisch gestrichenen Thür befunden, da ist ein theueres Kunstwerk mit schmutzigen Händen angegriffen und dadurch unsauber und werthlos geworden, – bei sachkundiger Behandlung mit Benzolinar läßt sich der Schaden bald wieder ausbessern. Schmutzig gewordene Sammetkragen, Sammet, Seide, Aufschläge von Uniformen, Kravatten, seidene Fächer etc. werden, mit Benzolinar behandelt, wieder wie neu, Gold- und Kunstgegenstände in Elfenbein erhalten neues Aussehen, kurz, Benzolinar wird sich in jedem Haushalt bald unentbehrlich machen“ (Danziger Zeitung 1891, Nr. 18795 v. 11. März, 6).

Vorteile auf den Punkt gebracht (Münsterischer Anzeiger 1891, Nr. 171 v. 30. Juni, 3)

Derartige Reklametexte atmeten noch den Geist der Werbewelt vor der allgemeinen Visualisierung in den 1890er Jahren. Doch die Texte änderten sich ebenfalls. Wilhelm Roloff verdichtete die Kernbotschaften (und den Lobpreis) seit Mitte 1891 in einem immer wieder reproduzierten Kurztext, der die Vorteile des eigenen Fleckenwassers auf den Punkt brachte (Dortmunder Zeitung 1891, Nr. 176 v. 30. Juni, 3; Neusser Zeitung 1891, Nr. 143 v. 30. Juni, 4; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1891, Nr. 183 v. 5. Juli, 19; Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 1182 v. 5. August, 4). Der Inhalt wurde lokal leicht variiert, die Umrahmungen und Hervorhebungen ebenso. Doch der Kurztext half, die parallel weiter geschalteten Bildanzeigen preisgünstig zu ergänzen. Das Versprechen war eindeutig, unterstrich den Anspruch der Qualitätsführerschaft: „Benzolinar funct[ioniert] wo andere Mittel versagten“ (Münchner Neueste Nachrichten 1891, Nr. 222 v. 17. Mai, 11).

Die Markteinführung von Benzolinar war einerseits erfolgreich, denn anders als etwa das oben vorgestellte Universal-Fleckenwassers von Albert Roebelen verschwand es nicht nach nur wenigen Monaten vom Markt. Anderseits aber waren die Absatzchancen doppelt begrenzt: Auf der einen Seite sozial, denn das bürgerliche Zielpublikum mochte tonangebend sein, doch Massenkonsum war damit kaum zu erreichen. Auf der anderen Seite war die Preisdifferenz zur Konkurrenz, zumal zu den lokalen Drogeriemixturen so groß, dass ein Massengeschäft nicht zu erwarten war. Das mochte bei pharmazeutischen Geheimmitteln funktionieren, deren hohe Preise möglichst viel Gewinn in einer nur kurzen Zeitspanne abschöpfen wollten, da ihre begrenzte Wirksamkeit rasch bekannt war und es kaum Nachfolgebestellungen gab. Benzolinar aber war als seriöses Dauerangebot gedacht. Entsprechend senkte die Firma Wilhelm Roloff scheinbar die Preise: An die Seite der Originalflasche für eine Mark trat ab Spätsommer 1891 eine kleinere Flasche für 50 Pfennig. Damit reduzierte man die Kaufhürde erheblich, bot auch weniger solventen Kunden eine Kaufgelegenheit. Auf der anderen Seite blieben die Handelsspannen immer noch hoch genug, um die Drogisten für den Verkauf des Fertigproduktes zu motivieren.

Rettung durch Benzolinar: Mal vertikal, mal horizontal (Frankfurter Zeitung 1891, Nr. 329 v. 25. November, 1. Morgenbl., 4 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 219 v. 17. September, 4)

Die neue Preisgestaltung wurde durch zwei neue, deutlich kleinere Werbeabbildungen kommuniziert. Sie knüpften an die Einführungsanzeigen unmittelbar an: Neuerlich Paare, neuerlich ein Gesprächseinstieg, neuerlich Produktinformation, Preise und der Name der Firma. Doch die Anzeige war geschrumpft, das Gespräch war eine Ansprache, die Kernbotschaft zurückgefahren. Das war deutlich preiswerter, zumal die neuen Motive sowohl horizontal als auch vertikal eingesetzt werden konnten. Das zweite Motiv war auf Weihnachten zugeschnitten, fand sich aber auch noch im neuen Jahr. Es enthielt zudem einen Verweis auf eine der damals unabdingbaren Medaillen der teils eigens für diesen Zweck durchgeführten Gewerbeausstellungen – ohne sie irgendwie genauer zu spezifizieren.

Ein praktisches Geschenk zu Weihnachten (Echo der Gegenwart 1891, Nr. 290 v. 10. Dezember, 8 (l.); Badische Landes-Zeitung 1891, Nr. 289 v. 8. Dezember, 6)

In den Folgejahren 1892/93 prägten vornehmlich drei Motive die Werbung für Benzolinar: Die Textanzeige mit den Hauptvorteilen, die Bildanzeige mit dem Leutnant und seinem Diener und nun auch der gezielte kommerzielle Flankenschutz durch Werbeanzeigen lokaler Drogerien. Sie folgten einheitlichen Werbetexten aus Leipzig, präsentierten aber lediglich Produkt und Preis(e), verzichteten auf Abbildungen, lenkten das Kaufinteresse direkt auf den benannten Drogisten.

Benzolinar-Werbung lokaler Drogisten (Emscher Zeitung 1891, Nr. 46 v. 24. Februar, 3 (l.); Mindener Zeitung 1891, Nr. 84 v. 11. April, 3 (o.); Lenne-Zeitung und Hohenlimburger Wochenblatt 1893, Nr. 47 v. 25. April, 4 (M.); Bautzener Nachrichten 1891, Nr. 99 v. 1. Mai, 7)

Ergänzt wurde dies durch kleinere redaktionelle Texte, die – wie schon die oben gezeigte Weihnachtsanzeige – insbesondere dem Vorwurf entgegentraten, dass Benzolinar kein erstklassiges Spezialprodukt, sondern lediglich ein parfümiertes Benzin sei (Danziger Zeitung 1891, Nr. 19250 v. 8. Dezember, 3; Die Reform 1891, Nr. 295 v. 18. Dezember, 7). Die fehlende chemische Deklaration des Geheimmittels führte nämlich Ende 1891 zu einer existenzbedrohenden Krise, auf die erst werblich, dann aber auch rechtlich geantwortet wurde.

Qualitätsversicherungen (Posener Zeitung 1891, Nr. 858 v. 8. Dezember, 7)

Benzolinar: Zusammensetzung und Bewertungen

Johannes Meister hat die genaue chemische Zusammensetzung seines Fleckenwassers nie veröffentlicht. Die Werbung gab lediglich Wertungen ab, sprach unspezifisch vom besten, „alle anderen übertreffenden Fleckenmittel“ (Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg 1891, Nr. 63 v. 17. März, 10). Damit ließ sich die Öffentlichkeit, zumal die wissenschaftliche, jedoch nicht stillstellen. Bei chemisch-technischen Präparaten war eine fachliche Kontrolle üblich, zumal bei Waren ohne Patentanspruch. Das diente nicht nur einer möglichen Gefahrenabwehr, sondern war eine Absicherung gegen Übervorteilung und Betrug. Gesichertes Produktwissen half den Drogisten zudem, einschlägige Angebote eigenständig herzustellen und preiswerter zu verkaufen.

Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass bei der Sitzung der Polytechnischen Gesellschaft zu Berlin am 5. November 1891 die Frage debattiert wurde: „Woraus besteht das jetzt so vielfach als Fleckwasser angezeigte Benzolinar?“ Chemiker waren nicht zugegen, Analysen waren nicht angefertigt worden. Doch kein geringerer als Emil Blenck (1832-1911), Direktor des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus in Berlin, ergriff das Wort, erzählte seine Erfahrungen: “Vor einiger Zeit bat mich meine Frau, ihr von dem neuen gepriesenen Reinigungsstoffe etwas zu besorgen. Ich kaufte zunächst eine kleine Flasche bei einem mir bekannten Droguisten. Auf meine Vorstellung, daß das Fabrikat furchtbar teuer sei, ob er mir dasselbe nicht billiger liefern können, erwiderte derselbe achselzuckend: Nehmen Sie Benzin und kleben Sie das Etiquett von Benzolinar darauf. Ob man hieraus schließen darf, daß der Unterschied zwischen beiden Fleckmitteln lediglich in der Ausstattung der Flasche und im Preise besteht, muß ich anheimstellen“ (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 77). Damit trat er eine Lawine los, denn die pharmazeutische Fachliteratur griff diese Aussage begierig auf: „Benzolinar soll nach Blenck nichts als Benzin sein“ (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 544). Die Geschichte gewann rasch Fahrt, auch versierte Wissenschaftler fragten nicht nach der Wissensgrundlage, sondern ergänzten das eine oder andere: „Wie der Name schon sagt, ist im Benzolinar die Hauptsache das Benzin. Das Andere wird Nebensache sein“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 18, 1891, 382). Die Produktwerbung wirkte wie ein Brandbeschleuniger einschlägiger Nachrichten: „Benzolinar, auch vielfach angekündigt, soll ein gut gereinigtes Benzin sein“ (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 32, 1891, 742). Und man übernahm auch ohne genauere Überprüfung einschlägige Presseberichte, etwas der Prager Rundschau: „Benzolinar, ein von Deutschland aus mit amerikanischer Reklame in den Handel gesetztes Fleckwasser, ist nach Geheimrath Blenk [sic!] weiter nichts als gewöhnliches reines Benzin“ (Seifensieder-Zeitung 18, 1891, 389; analog Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 17, 1891, 970). Schlimmer noch machte es die an sich für ihre Seriosität bekannte Berliner Börsen-Zeitung, deren Berichterstatter Blencks Aussage pointiert veränderte: „Benzolinar, das neue vielfach angepriesene Fleckwasser, das zum Preise von 1 Mk. in eleganten Flaschen verkauft wird, ist, wie Geheimrath Blenk [sic!] in der Polytechnischen Gesellschaft constatirte, nichts weiter wie ganz gewöhnliches Benzin, dessen Werth natürlich weit geringer ist“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 521 v. 7. November, 8).

Da half es dem wichtigsten Statistiker Preußens nicht, dass er in der Folgesitzung am 19. November 1891 versuchte, die Geschehnisse gerade zu rücken: Die spekulative Äußerung stamme von seinem Drogisten, sei eine Mutmaßung, nicht mehr. Als chemischer Laie könne er nur dazu aufrufen, Benzolinar zu gebrauchen, um seinen Wert praktisch zu erkunden (Polytechnisches Centralblatt 4, 1891/92, 82). Das war aber alles zu spät, denn Johannes Meister hatte sich bereits zur Wehr gesetzt: Sein Einspruch wurde am 10. November in Deutschlands wichtigster Wirtschaftszeitung veröffentlicht: „Nach der uns mitgetheilten Analyse enthält das Benzolinar durchaus kein Benzin, und dies auch der Polytechnischen Gesellschaft darzuthun, hat die genannte Fabrik die geeigneten Schritte eingeleitet“ (Berliner Börsen-Zeitung 1891, Nr. 525 v. 10. November, 7). Bleck wurden gleich zwei chemische Analysen zugesandt, eine vertraulich, mit der genauen Zusammensetzung, eine zweite mit einer Analyse des Leipziger Pharmazeuten und Nahrungsmittelchemikers Fritz Elsner (1842-1921), dessen 1880 erstmals erschienene „Praxis des Nahrungsmittel-Chemikers“ ein Standardwerk seiner Zeit war (Hermann Schelenz, Geschichte der Pharmazie, Berlin 1904, 699-700). Das Ergebnis war eindeutig, Benzolinar enthielt kein Benzin. Die Werbung der Firma Wilhelm Roloff verkündete dies auch mit der ihr zur Verfügung stehenden Werbemacht.

Die Gegenmaßnahmen griffen jedoch zu spät. Selbst Fachjournale, die sich stets ostentativ vom verlogenen Gebaren der Geheimmittelanbieter abhoben, verbreiteten auch im neuen Jahr die Falschmeldung, passte sie doch in das von ihnen erwartete Muster (Chemisch-technisches Repertorium [30,] 1891, Bd. 2, Berlin 1892, 344; Industrie-Blätter 29, 1892, 53). Man traf sich vor Gericht: Johannes Meister hatte gegen Blenck, den Redakteur der Berliner Börsen-Zeitung Dr. Theobald Konewka und den Berichterstatter Alfred Lange Privatbeleidigungsklage angestrengt. Blenck bedauerte sein Versehen, verwies jedoch auf die verfehlte Berichterstattung und seine nach der Pressemeldung unmittelbar an die Börsenzeitung geschriebene Berichtigung. Lange „erklärte, daß er die Aeußerung des Geheimraths Blenck nur dem Sinne und nicht dem Wortlaute nach wiedergegeben habe, wie ein Berichterstatter dies auch nicht anders könne“ (Das ‚Benzolinar‘ vor Gericht, Internationale Pharmaceutischer General-Anzeiger 1892, Nr. 17, 176). Und auch Konewka sah sich ohne Schuld, denn er habe Lange vertrauen müssen. Dennoch wurde der Prozess für Johannes Meister zum PR-Desaster. Der an sich recht wirtschaftsfreundliche Gerichtschemiker Carl Bischoff (1851-1912) sagte aus, „daß Benzolinar kein einheitliches Produkt, sondern eine Mischung aus einem Theile Aethyläther, vier Theilen Steinkohlen-Benzol und einigen Tropfen Birnenäther sei. Benzin sei es nicht, sondern ein Produkt, welches diesem Stoffe ähnlich sei und wohl auch kaum hinsichtlich der Leistungsfähigkeit auf einer höheren Stufe stehe. Wenn es Flecken bestimmter Art leichter entferne als Benzin, so sei auch umgekehrt dasselbe der Fall. Der Werth einer Flasche Benzolinar, die mit einer Mark verkauft werde, sei höchstens auf 25 Pfennige zu bemessen“ (Vom Benzolinar, Berliner Tageblatt 1892, Nr. 289 v. 10. Juni, 4). Ein zweites Gutachten des Gerichtsmediziners Paul Lohmann soll „ungünstiger“ (Vorwärts 1892, Nr. 134 v. 11. Juni, 7) gelautet haben, der Inhalt wurde jedoch nicht publik. Der Prozess endete ohne Urteil, wahrscheinlich mit einem Vergleich. Johannes Meister wurde einerseits bestätigt, denn sein Produkt konnte nicht mit Billigprodukten auf eine Ebene gestellt werden, die zwar wie das Brönnersche Fleckenwasser eine lange Historie besaßen, die in den frühen 1890er Jahren aber dem Leistungsstandard der Branche nicht mehr entsprachen. Auf der anderen Seite verdeutlichten die quasi amtlichen Gutachten, dass Benzolinar ein hochprofitables Produkt mit überschaubarem Materialwert war. Zu beachten ist dabei, dass die Grundstoff Benzol wahrscheinlich im Roloffschen Hauptbetrieb anfiel, dass es sich hierbei also um eine Nebenverwertung des Dachpappengeschäftes handelte. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass die gängigen Handelsspannen für Groß- und Einzelhandel wohl bei jeweils etwa 20-30 Prozent lagen, so betrug der Nettoertrag des Fleckenwassers nach Abzug der Herstellungs-, Ausstattungs- und Werbekosten doch ebenso 20 bis 30 Prozent des Verkaufspreises. Ein Fortgang des Prozesses hätte eventuell mit einer erfolgreichen Beleidigungsklage und einer symbolischen Geldstrafe geendet, doch der durch die Falschmeldungen entstandene Renommeeschaden konnte nach damaliger Rechtslage schlicht nicht angemessen entschädigt werden.

Preiswertere Substitute für Benzolinar aus der Drogerie (Sächsischer Landes-Anzeiger 1891, Nr. 275 v. 24. November, 3)

Immerhin wurde die falsche Zusammensetzung nach dem Prozess zumeist korrigiert: „Benzolinar, welches für gut gereinigtes Benzin gehalten wurde, ist nach einer Analyse von Bischoff eine mit Birnäther parfumirte Mischung von Schwefeläther (Aethyläther) 1:4 Steinkohlenbenzol“ (Neueste Erfindungen und Erfahrungen 19, 1892, 471, ähnlich Rundschau. Wochenschrift für die Interessen der Pharmazie, Chemie, und der verwandten Fächer 18, 1892, 541). Eine solche korrigierende Rücknahme blieb allerdings eine Ausnahme, denn die meisten Fachjournale meldeten schlicht, dass ein neues Gutachten vorliege – und berichteten dessen Resultate (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 33, 1892, 546; Die Heimat 18, 1893, Bd. II, Nr. 49, 783; Eduard Hahn und J[ohann] Holfert, Spezialitäten und Geheimmittel mit Angabe ihrer Zusammensetzung, 5. völlig umgearb., verm. u. verb. Aufl., Berlin 1893, 276). Die breite Aufmerksamkeit in der Fachpresse führte zugleich dazu, dass über die Zusammensetzung von Meisters Fleckenwasser nun auch im Ausland berichtet wurde (The Pharmaceutical Era 8, 1892, 265; The Western Druggist 14, 1892, 339; De Nijverheid 1, 1893, 285). Dennoch hielten Falschmeldungen an: Im Jeverschen Wochenblatt hieß es weiterhin: „Das mit so großer Reklameanstrengung in den Handel gebracht, mit dem Phantastenname Benzolinar belegte Fleckenwasser ist im wesentlichen nichts weiter als theueres Benzin“ (Jeversches Wochenblatt 1893, Nr. 63 v. 16. März, 3). Fachjournale griffen derartige Meldungen weiterhin auf, schürten Unsicherheit aufgrund einander widersprechender Aussagen: „Wir selbst haben das köstliche Benzolinar noch nicht gesehen, brauchen es auch nicht zu sehen, denn die Art und Weise, wie dieses in den Mantel eines Geheimmittels gehüllte Präparat in jedem Käse- und Wurstblättchen den Offiziersburschen und den ‚verehrten Hausfrauen‘ empfohlen wird, ist nicht geeignet, Vertrauen zu erwecken“ (Deutsche Färber-Zeitung 28, 1892, 174). Offenkundig war die veröffentlichte Meinung komplexer als die simple, wissenschaftlich immer wieder herausgestrichene Gegenüberstellung von ruchlosen Geheimmittelproduzenten und hehrer Wissenschaft.

Unabhängige Untersuchungen aus dem Jahre 1896 führten schließlich zu leicht modifizierten Ergebnissen. Benzolinar bestand demnach aus etwa 89 Prozent Benzol, zehn Prozent Essig- und einem Prozent Birnenäther (Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 37, 1896, 657; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 23, 1896, 610). Drogisten wurde geraten, ihre Fleckenwassersubstitute im Verhältniss 80:18:2 zu mischen (Karl Fr. Töllner, Vorschriften-Buch für Apotheker, Drogisten, chemische Fabriken und verwandte Gewerbe-Betriebe, Strassburg i.E. 1899, 23; Neueste Erfindungen und Erfahrungen 26, 1899, 509).

Fasst man diese Debatten zusammen, so zeigt sich ein tendenziell paradoxes Bild. Benzolinar war ein eher seltenes Beispiel für eine verfehlte Berichterstattung just durch die wissenschaftlich gebildeten Kontrolleure der Geheimmittelindustrie. So berechtigt deren Arbeit und deren stete Benennung von Betrug, Fälschung und Unlauterkeit auch war, so waren sie selbst keineswegs fehlerlos. Ähnlich wie viele der Geheimmittelproduzenten scheuten sie Selbstkritik, benannten eigene Fehler nicht mit der gleichen Emphase wie die der Inkriminierten. Das Geheimmittel Benzolinar entpuppte sich jedenfalls als ein vorrangig aus den Nebenprodukten der Teerproduktion bestehendes und dann aromatisiertes Präparat. Es war gewiss kein wirklich innovatives Produkt, jedoch ein wirksames Hilfsmittel für den bürgerlichen Haushalt. Als Convenienceprodukt beendete es die häusliche Zubereitung von Fleckenmitteln, die insbesondere in weniger gut gestellten Haushalten aber weiter praktiziert wurde. Unabhängige Bewertungen sind selten, doch diese bescheinigten dem Fleckenwasser eine ordentliche Wirkung (Deutsche Malerzeitung 1895/96, Nr. 8, 78). Die Gewinnspanne war relativ hoch, war aber keineswegs exorbitant. Genaue Angaben sind kaum zu treffen, doch ein Erlös von 50 Prozent des Verkaufspreises entsprach durchaus dem Branchendurchschnitt (Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 552-558, auch mit vertiefender Literatur). Guter Absatz vorausgesetzt, führte dies zu hohen Einkommen. Angesichts der auch damals schon bestehenden hohen Flopraten handelte die Firma Wilhelm Roloff jedoch durchaus im Einklang mit der Preisgestaltung der Branche. Benzolinar konnte sich jedenfalls trotz der Debatten über seine Zusammensetzung als ein Standardprodukt etablieren. Das spiegelte auch sein Auftauchen in einem Fremdwörterlexikon der Zeit (Dr. Joh. Christ. Aug. Heyses allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch, neu bearb. v. Otto Lyon, 17. Ausg., Hannover und Leipzig 1896, 107).

Auslandsmärkte

Benzolinar wurde im Deutschen Reich produziert. Doch es wurde auch jenseits der Reichsgrenzen vermarktet, war Teil der wachsenden Anstrengungen der deutschen Konsumgüterindustrien, auch im Ausland erfolgreich zu sein. Die günstigsten Rahmenbedingungen bot gewiss der Handelsverkehr mit der Habsburger Monarchie, denn der 1881 abgeschlossene und zehn Jahre später nochmals verlängerte Handelsvertrag hatte nicht nur Einfuhr-, Ausfuhr- oder Durchfuhrverbote streng begrenzt, sondern auch die Zölle auf die meisten Drogeriewaren abgeschafft.

Marktanalogon Österreich-Ungarn: Aufbau eines Vertriebsnetzes (Drogisten-Zeitung 6, 1891, 158)

Entsprechend begann die Firma Wilhelm Roloff schon im März 1891 mit dem Aufbau eines Vertriebsnetzes in Österreich-Ungarn. Dazu nutzte sie die auch im Deutschen Reich verwandten Anzeigen, auch lokal rühmten Annoncen schon früh „das berühmte Fleckenwasser ‚Benzolinar‘“ (Innsbrucker Nachrichten 1891, Nr. 80 v. 10. April, 13). Gleichwohl verging fast ein halbes Jahr, ehe mit der Budapester Medizinaldrogerie Leopold & Franz Reiner ein Generalvertreter gefunden war (Fremden-Blatt 1891, Nr. 199 v. 22. Juli, 8). Das Deutsche Reich bot die Blaupause für die Marktpräsenz: Der Preis der Originalflasche Benzolinar lag anfangs bei 60 Kreuzern (Budweiser Zeitung 1891, Nr. 55 v. 17. Juli, 112), analog zum Deutschen Reich wurden jedoch 1891 auch kleinere Flaschen zum halben Preis angeboten (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16). Die Zeitungsanzeigen konzentrierten sich vorrangig auf die größeren Metropolen, zumal auf Wien, Prag und Budapest (Neue Freie Presse 1893, Nr. 10343 v. 10. Juni, 16; Prager Tagblatt 1893, Nr. 125 v. 6. Mai, 28; Pester Lloyd 1893, Nr. 130 v. 1. Juni, 7). Eine Besonderheit Österreichs war gewiss die recht hohe Bedeutung sog. Empfehlungen, mit denen redaktionelle Textreklame erweitert wurde. Darin wurde der Name des importierten Fleckenwassers immer mal wieder erwähnt, mögliche Kauflaune so gestärkt (Grazer Tagblatt 1892, Nr. 119 v. 29. April, 11; ebd. Nr. 245 v. 4. September, 13; ebd. 1893, Nr. 50 v. 19. Februar, 8; ebd. 1894, Nr. 245 v. 6. September, 6). Illustrierte Anzeigen erschienen bis mindestens 1897, wobei das Militär eine wichtige Zielgruppe blieb (Neue Armee-Zeitung 1897, 563).

Polnischsprachige Benzolinar-Werbung in Cisleithanien (Czas 1891, Nr. 156 v. 12. Juli, 6 (l.); Gazeta Narodowa 1891, Nr. 158 v. 3. Juli, 4 (o.); ebd. Nr. 268 v. 8. November, 4)

In der Vielvölkermonarchie erschienen Benzolinar-Anzeigen in vielen Sprachen, oben sehen Sie polnischsprachige Beispiele aus Krakau. Die deutschen Anzeigen wurden dazu einfach übersetzt, einzig die Ansprechpartner variierten. Wilhelm Roloff machte keine Anstrengungen für eine den Besonderheiten des Habsburgerreiches entsprechendere Gestaltung der Anzeigen.

Übersetzungen und ein anderes Generaldepot: Benzolinar-Werbung in der Schweiz (La Tribune de Genève 1891, Nr. 296 v. 16. Dezember, 4 (l.); Neue Zürcher-Zeitung 1891, Nr. 334 v. 30. November, 8)

Das galt auch für die Schweiz, wo die Importware aufgrund von Zöllen und einer gesonderten Monopolgebühr jedoch deutlich teurer war (Chemiker-Zeitung 16, 1892, 87; Austria 43, 1891, 516). Die nicht allzu zahlreichen Anzeigen wurden vorrangig Ende 1891 geschaltet, eine nachhaltige Marktpräsenz ist trotz eines in Kreuzlingen, just in der Nachbarschaft von Konstanz gelegenen Generaldepots nicht nachweisbar (Der Bund 1891, Nr. 332 v. 1. Dezember, 4). Der Markteintritt erfolgte also deutlich später als in Österreich-Ungarn, endete aber nach kurzer Zeit.

Auch in Schweden konnte sich Benzolinar nicht längerfristig etablieren. Die frühen Anzeigen variierten zwar leicht, doch illustrierte Anzeigen hatte der Generalagent nicht gewagt – obwohl diese sich im schwedischen Markt damals zunehmend etablierten (Norrtelja Tidning 1891, Nr. 79, 4; Dagens Nyheter 1891, Nr. 8145 v. 10. Oktober, 3; Arvika Tidning 1891, Nr. 47A v. 20. November, 4; Sydsvenska Dagbladet 1891, Nr. 544 v. 23. November, 4). Insgesamt war der Exporterfolg der Firma eher begrenzt. Österreich-Ungarn war eine erfolgreiche Ausnahme, das Deutsche Reich blieb der zentrale Absatzraum.

Fortgesetzter Wandel: Werbemittel seit 1893

In der Zwischenzeit hatten sich die Absatzwege der Firma Wilhelm Roloff etabliert, zudem erweitert. Die Anzeigen verwiesen bereits auf Parfümhandlungen, ebenso dürfte das Fleckenwasser auch von großstädtischen Friseurgeschäften geführt worden sein. Zudem fand es Eingang in die Sortimente schnelldrehender Bazare und größerer Versandgeschäfte (Lindauer Tagblatt 1891, Nr. 148 v. 30. Juni, 4; Deutsche Verkehrs-Blätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahn-Zeitung 12, 1896, 140). In der selbstpreisenden Sprache der Werbung hieß dies: „Benzolinar […] hat sich in allen Gesellschaftsklassen eingeführt“ (Fliegende Blätter 98, 1893, Nr. 2484, Beibl. 3, 4).

Der Traum vom Markenartikel für alle: Vom Globus bis zum herrschaftlichen Haushalt (Über Land und Meer 71, 1894, 202 (l.); Illustrirte Zeitung 101, 1893, 569)

Das war jedoch Wunsch, keine genauer belegte Marktrealität. Nach wie vor adressierte die Werbung vornehmlich das etablierte Bürgertum und das Militär. Der kurze Austausch zwischen Leutnant und Burschen prägte die Werbepräsenz 1892/93. Dann aber veränderte sie sich neuerlich. Einerseits präsentierte das Leipziger Unternehmen neue Werbezeichnungen. Diese spannten einen breiten Bogen, von der herrschaftlichen Dienerschaft bis hin zur vermeintlich globalen Nutzung und Weltgeltung des Benzolinars. Ebenso wichtig war der Übergang zur Werbung mit Empfehlungsschreiben, sog. Zeugnissen. Dies war typisch für pharmazeutisch-technische Geheimmittel, während seriöse Anbieter zurückhaltender agierten. Die Benzolinar-Werbung entsprach zunehmend dem Fremdbild des Produkts, das die Kritiker während der Debatte über die Zusammensetzung 1891/92 gezeichnet hatten. Immerhin, die beiden in den Anzeigen zu Wort kommenden Firmen existierten, waren respektierte Anbieter von Handschuhen und Kleiderstoffen. Die Zeugnisse erlaubten jedenfalls, bestimmte Vorzüge des eigenen Produktes stärker zu akzentuieren.

Lasst andere für mich sprechen: Empfehlungsschreiben für Benzolinar (Hamburger Fremdenblatt 1893, Nr. 138 v. 15. Juni, 12 (o.); Münchner Neueste Nachrichten 1893, Nr. 293 v. 29. Juni, 6 (M.); Posener Zeitung 1893, Nr. 491 v. 16. Juli, 12)

Wilhelm Roloff versuchte auf diese Art, die Nutzenperspektive der Konsumenten einzunehmen, also die Frage zu beantworten, warum sie ein recht teures Produkt dieser Art kaufen sollten. Das zeigte sich noch deutlicher in drei Textanzeigen, die 1893/94 zum Rückgrat der Werbepräsenz wurden: Benzolinar wurde als Spezialprodukt für teurere Textilien und Handschuhe beworben, Woll- und Seidenwaren standen dabei im Mittelpunkt. Empfehlungsschreiben bestätigten diesen Nutzen.

Diese Textanzeigen wurden ab 1894 wiederum von Bildanzeigen abgelöst. Einerseits lenkte man den Blick direkt auf das Produkt, folgte damit einer Erfolgsstrategie des Mundwassers Odol oder der Waschmittelanbieter Sunlicht/Sunlight, Luhns oder Dr. Thompson. Die Ware trat gegenüber dem Produzenten zurück, gewann eine eigene kommerzielle Identität. Das galt bereits für die Spirituosenbranche, für Maggis Würze, Nestles Kindermehl oder Kosmetika.

Die Warenverpackung als Werbeträger (Von links: Donau-Zeitung 1892, Nr. 186 v. 19. August, 6; Allgemeine Zeitung 1893, Nr. 92 v. 2. April, 8; Illustrirte Zeitung 101, 1893, 152; Der Bazar 39, 1893, 337)

Anderseits bediente man auch tradierte Bildwelten der Frauenillustrierten: Benzolinar wurde als Hilfsmittel der Mutter angepriesen, mit seiner Hilfe hielt man den Schaden kleckernder Kinder im Zaum. Von einer gezielten Definition und Ansprache neuer Zielgruppen konnte dabei aber noch nicht die Rede sein, eher um einen netten, freundlichen Hingucker. Nach mehrjähriger Marktpräsenz präsentierte man jedenfalls stolz „ein vorzügliches, langjährig erprobtes Fleckenmittel“ (Neue Freie Presse 1897, Nr. 11819 v. 19. Juli, 7). Doch neuer Werbebilder entwickelte man nicht mehr. Benzolinar wurde ab 1896 nur noch von Abnehmern beworben, vorrangig in breiter gehaltenen Anzeigen einzelner Drogerien. Die werbliche Markenpräsenz ebbte deutlich ab, blieb aber zumindest bis kurz vor der Löschung der Marke 1908 bestehen (Wildbader Chronik 1906, Nr. 111 v. 20. September, 4).

Die Marke bewirbt die Marke; die Graphik bewirbt alle Absatzmärkte (Über Land und Meer 72, 1894, 788 (l.); Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2611, Beibl. 4, 5)

Wachsende Konkurrenz: Der Zwang, Gewinne abzuschöpfen

Es waren vor allem drei Gründe, warum Benzolinar ab 1896 eine auslaufende Marke wurde. Erstens schliffen sich die bekannten First-Mover-Advantages ab, also die Vorteile einer Produktpioniers. Neben Benzolinar traten zunehmend ähnliche, mit breit gestreuter Werbung angepriesene Produkte, allesamt proklamierend, das beste Fleckenmittel zu sein.

August Falks Fleckenpaste Aphanizon (Fliegende Blätter 103, 1895, Nr. 2606, Beibl. 3, 2)

Im März 1893 wurde in Österreich Aphanizon eingeführt, dessen Werbung sich visuell offenkundig an der Benzolinars orientierte (Publication des Central-Marken-Registers für das Jahr 1893, Wien 1895, 315). Es handelte sich um eine „automatisch wirkende Fleckenreinigungs-Paste“, die als trockener Brei auf die Flecken gestrichen, trocknen gelassen und dann ausgebürstet wurde (A. Schneider, Aphanizon und Pasta Magica, Pharmaceutische Centralhalle für Deutschland 36, 1895, 347). Der griechisch tönende Markenname stand für Wissenschaftlichkeit, die Werbung war trommelnd, erfolgte auch über redaktionelle Reklame („Aphanizon.“ Ein neuer Hausfreund, Das Echo 13, 1894, 1833) und kostenlose Probepackungen. Der Wiener Chemiker August Falk, der vor allem durch seine kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten entnikotinisierten Zigaretten in Erinnerung geblieben ist, setzte allerdings nur auf zwei Werbezeichnungen, also nicht auf den für Benzolinar üblichen Wechsel. Trotz unterschiedlicher Zusammensetzung und Konsistenz standen beide Fleckenmittel in unmittelbarem Wettbewerb (Illustrirte Zeitung 104, 1895, 721). Bezeichnenderweise wurde obige Anzeige nach einigen Jahren als Ausdruck künstlerischer Werbung gefeiert (Philipp Rath, Künstlerische Inseraten-Reklame, Zeitschrift für Bücherfreunde 2, 1898/99, 506-519, hier 514-515). So wurden Übernahmen und Anleihen unkundig geadelt.

Massive Werbepräsenz im Gefolge der Hühneraugenringe: A. Wasmuths Opal (Fliegende Blätter 105, 1896, Nr. 2668, Beibl. 3, 2)

Eine deutliche variablere und vor allem von Zeichnungen geprägte Werbung charakterisierte Opal, dem ebenfalls besten Fleckenwasser der Welt. Es wurde 1896 eingeführt, die 24-teilige Serie einfacher Textanzeigen im „Vorwärts“ verwies auf einen bisher unbekannten Werbeaufwand. Produzent August Wasmuth hatte zuvor schon mit seinen nicht sonderlich wirksamen Hühneraugenringen Werbegeschichte geschrieben, doch mit „Opal in der Tonne“ präsentierte die Firma ein Fleckenwasser von äußerst fraglichem Wert: Es müsse, „bei seinem geringen Gehalt an eigentlich wirksamer Substanz gegenüber der großartigen Reclame als ein sehr geringes und nichts weniger als allgemein anwendbares Fleckenwasser bezeichnet werden“, so die Badisch chemisch-technische Prüfungs- und Versuchsanstalt (Deutsche Färber-Zeitung 32, 1896, 545). Das Geheimmittel verschwand rasch vom Markt.

Regionale Konkurrenz: Fleckenreinigungsmittel Purin von Berndt aus Berlin; Furor Fleckenwasser von Oswald Rudolph aus Liegnitz (Internationaler Pharmaceutischer General-Anzeiger 1891, Nr. 19, 203 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 2 v. 3. Januar, 7)

Opal setzte dennoch einen neuen Werbestandard, dem nur mit hoher Kapitalkraft zu genügen war. Parallel aber wurde die Marktstellung von Benzolinar durch zahlreiche kurzlebige und meist nur regional verfügbare Markenartikel angegriffen. Angesichts der noch geringen Markenloyalität dürften diese immer wieder neu mit dem Anspruch des Besten angekündigten Präparate das Geschäft von Wilhelm Roloff beeinträchtigt haben – zumal sie vielfach preiswerter waren, teils den Wiederverkäufern auch bessere Konditionen boten. Dennoch war Benzolinar bis Mitte der 1890er Jahre nicht nur ein Pionier der Branche, sondern zugleich auch Referenzprodukt. Schon 1894 warb das Electric-Fleckenwasser mit dem Hinweis „bedeutend besser als Benzin und Benzolinar“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1893, Nr. 10 v. 12. Januar, 4). Weitere Markenartikel bezogen sich in ihrer Werbung unmittelbar auf das Leipziger Fleckenwasser, grenzten sich von diesem ab, betonten ihre Vorzüge, ihre größere Preiswürdigkeit.

Abgrenzung zum Referenzprodukt Benzolinar: Koch’s Benzinol und das Viktoria-Fleckenwasser (Tag- und Anzeigeblatt 1894, Nr. 22 v. 28. Januar, 3 (l.); Der Zeitungs-Bote 1896, Nr. 74 v. 27. Juni, 4)

In der Werbung der lokalen Drogerien war Benzolinar entsprechend stetig präsent, war jedoch umgeben von einer wachsenden Zahl einschlägiger Konkurrenten. Diese Anzeigen verwiesen einerseits auf die weiterhin hohe Bedeutung von lokalen Mixturen der Drogisten. Anderseits gab es eine wachsende Zahl spezialisierter anonymer Angebote, für Weißzeug etwa das Fleckenwasser „Schneeweiß“ oder für Vorsichtige das Fleckenmittel „Feuersicher“. Benzolinar stand für die wachsende Bedeutung von Universalmitteln, doch zugleich fächerte sich der Markt durch Spezialangebote weiter auf (Würzburger Stadt- und Landbote 1898, Nr. 66 v. 23. März, 8). Dies stellte auch in Wachstumsmärkten neue unternehmerische Aufgaben.

Benzolinar als Teil eines wachsenden Angebotes (General-Anzeiger für Essen und Umgegend 1895, Nr. 165 v. 22. Juli, 6 (l.); ebd. 1899, Nr. 65 v. 17. März, 4 (r.); Hagener Zeitung 1896, Nr. 172 v. 24. Juli, 4)

Nachläufer: Das Leipziger Putzwasser

Der zweite Grund für das Auslaufen der Marke Benzolinar dürfte im Scheitern einer Dachmarkenstrategie gelegen haben. In den 1890er Jahren entstand nicht nur eine größere Zahl von Waschmittelanbieter, die angesichts der nur geringen Unterschiede ihrer Produkte versuchten, diese mit Hilfe von Werbung voneinander abzuheben. Ähnliches erfolgte auch im Bereich der Reinigungsmittel. Nicht nur Fleckenmittel, sondern auch Schuh- und Ledercreme, Möbel- und Ofenpolituren, Bohnerwachs und Metallputzartikel bestanden aus ähnlichen und überlappenden Rohmaterialien, wurden zugleich allesamt über die gleichen Absatzketten vermarktet. Da lag es nahe, die Rohwaren in einer Firma in größerem Umfang – und damit billiger – einzukaufen, zugleich aber Marktmacht aufzubauen, um die Handelsmargen zugunsten eines marktrelevanten Anbieters zu verändern. In Leipzig zeigte der gezielte Umbau der 1878 gegründeten Firma von Fritz Schulz jr. den einzuschlagenden Erfolgsweg. Sie konzentrierte sich anfangs vornehmlich auf Schleifmittel. Die Abhängigkeit von wenigen Rohstofflieferanten führte 1893 dazu, diese aufzukaufen. Auf dieser Grundlage erweiterte Schulz sein Portfolio von Putzmitteln, baute 1897 eine große Fabrik in Leipzig-Plagwitz und bündelte seine Firmen 1900 in der Fritz Schulz jr. AG mit einem Aktienkapital von 5,1 Mio. Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 157 v. 4. Juli, 11).

Gängige Metallputzmittel (Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1885, Nr. 157 v. 3. April, 8 (l.); Rhein- und Ruhrzeitung 1896, Nr. 21 v. 25. Januar, 8)

Schleifmittel wurden für Metallputzmittel benötigt. Bürgerliche Haushalte besaßen schon seit der Gründerzeit eine stetig wachsende Menge von Besteck, Schlössern, Lampen, Kesseln, Kerzenhaltern, von Metallknöpfen und anderen blinkenden Dingen ganz abgesehen. Bis weit in die 1890er Jahre dominierten Spezialisten den Markt. Sie boten vor allem Pulver und Pasten, bei denen die Gefahr des Verkratzens immer groß war. Rein mechanisch handelte es sich beim Putzen nämlich um eine Politur der verdreckten Metallwaren: Sie wurden durch Gase und Dämpfe chemisch angegriffen, Staub, Fett und andere Schmutzarten lagerten sich ab. Metallputzmittel hatten also eine doppelte Aufgabe, mussten sie doch erst mit Hilfe gängiger Lösemittel den Schmutz beseitigen, ehe sie dann mittels eines Poliermittels die eigentlichen Metallschichten wieder zum Glänzen brachten (G. Schneemann, Metallputzmittel, Seifensieder-Zeitung 1913, 18-20, 53-54, 77-78). Seit den frühen 1890er Jahren bemühte man sich, diese Aufgaben mit flüssigen Präparaten zu erfüllen, die zudem die Gefahr des Zerkratzens verringerten (Lüdecke, Metallputzmittel, in: Fritz Ullmann (Hg.), Enzyklopädie der technischen Chemie, Bd. 8, Berlin und Wien, 51-59, hier 55). Ein Fleckenwasseranbieter wie Wilhelm Roloff konnte also seine Expertise und seine Rohwaren nutzen, Poliermittel ergänzen und dann ein modernes Metallputzmittel anbieten. Diese Überlegungen standen hinter der Entwicklung des Leipziger Putzwassers, das ab Mitte 1894 neben Benzolinar trat (Deutscher Reichsanzeiger 1894, Nr. 131 v. 6. Juni, 9). Es stand für die Fortentwicklung der Chemischen Fabrik Wilhelm Roloff zu einem breit aufgestellten Putzmittelanbieter.

Zwei Präparate, ein Hersteller (Dies Blatt gehört der Hausfrau 9, 1894/95, 788)

Abermals beanspruchte man mit dem Markteintritt eine Preis- und Qualitätsführung, pries die Firma es doch als „billigstes und bestes Putzmittel für alle Metallgegenstände“ (Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8). Belege hierfür gab es nicht, auch die Konkurrenten suggerierten ähnliches. Als „Wasser“ war das neue Produkt jedoch weniger invasiv als gängige Pasten, so dass man offensiv behauptete: „Leipziger Putzwasser schmiert nicht, greift nicht an und ist sparsam im Verbrauch“ (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 153 v. 7. Juli, 6). Oder auch: „Bestes und billigstes Putzmittel. Kein Beschmutzen, kein Angreifen der Metalle“ (Neusser Zeitung 1894, Nr. 237 v. 17. Oktober, 4). Dies war bestenfalls ansatzweise richtig, denn auch flüssige Metallputzmittel waren nicht davor gefeit, das sich die sorgsam vermengten Lösungs- und Poliermittel voneinander trennten, es dann doch zu Kratzschäden kommen konnte.

Die Markteinführung des Leipziger Putzwasser erfolgte analog zu Benzolinar, auf dessen Vertriebsnetz man unmittelbar bauen konnte: Es hieß: „In allen einschlägigen Geschäften zu haben“ (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771) oder aber „In allen Drogenhandlungen und anderen einschlägigen Geschäften“ zu haben (ebd. 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11). Dazwischen aber mischten sich vorsichtigere Töne: „Wo keine Verkaufsstellen, versende direkt“ (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2567, Beibl. 5, 7). Dabei konnte man auf die Vorarbeiten für Benzolinar unmittelbar zurückgreifen. Das Leipziger Putzwasser wurde – analog zum Markt – billiger angeboten, zudem offerierte man von Beginn an Fläschchen zu 50 und 25 Pfennig. Spätestens ab Mai 1895 konnte auch eine noch kleinere Menge für 10 Pfennig gekauft werden (Mayener Volkszeitung 1895, Nr. 113 v. 16. Mai, 4). Wenige Jahre später reduzierte Roloff gar den Preis für die Standardflasche auf 25 Pfennig (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1899, Nr. 115 v. 18. Mai, 6). Damit eröffnete man sich sozial breitere Kreise, hatte eventuell auch die Hoffnung, das teure Benzolinar in ein kleinbürgerliches Milieu einzuführen.

Varianten eines Werbemotivs für das Leipziger Putzwasser (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6 (l.); Illustrirte Frauen-Zeitung 21, 1894, H. 12, Beibl., 4)

Auch dieses Mal war die Markteinführung von Werbezeichnungen begleitet – allerdings nutzte man nun lediglich zwei Motive. Beide knüpften an die Benzolinar-Werbung an, präsentierten Produkt, Lobpreis und den Namen des Herstellers. Doch die Unterschiede waren beträchtlich. Schon der Verweis auf das (von mir zumindest nicht nachweisbare) Datum der Firmengründung war neu, Ausdruck einer Art Renommeewerbung mit Unternehmenstraditionen. Entscheidender aber: Präsentiert wurde kein Paar, auf Gesprächsfetzen wurde verzichtet, stattdessen zeigte man eine Frau beim Putzen eines Kerzenhalters (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1894, Nr. 327 v. 29. Juni, 4771; Badische Landes-Zeitung 1894, Nr. 149 v. 30. Juni, 8; General-Anzeiger für Düsseldorf und Umgegend 1894, Nr. 179 v. 1. Juli, 9; Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart 1894, Nr. 154 v. 5. Juli, 11). Die Werbung zielte also auf die selbst arbeitende Hausfrau, auf die normale Zeitungsleserin.

Aufmerksamkeit zählt: Mohren sehen Dich an (Posener Zeitung 1894, Nr. 526 v. 31. Juli, 4)

Überraschender noch war das zweite Motiv, antiquiert wirkende Mohren. Sie standen in der Tradition ähnlicher Schwarzer, die in den 1890er Jahre für Drogerieartikel jeder Art warben, vorrangig für Zahnpasta und Schuhcreme. Den altertümlich wirkenden Figuren wurde attestiert „nichts Negroides“ zu haben (Nana Badenberg, Mohrenwäschen, Völkerschauen: Der Konsum der Schwarzen, in: Birgit Tautz (Hg.) Colors 1800/1900/2000: Signs of Ethnic Difference, Amsterdam und New York 2004, 163-184, hier 166, FN 8). Doch die schwarzen Männer erregten gewisse Aufmerksamkeit, brachen sie doch mit den gängigen Werbefiguren der Zeit, ohne zugleich rassistisch herzukommen. Beide Motive dominierten 1894/95, wurden auch als Werbeklischees verwandt, bei denen die Firmenadresse durch die Einkaufsstätte ersetzt wurde (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1894, Nr. 273 v. 23. November, 6; Hagener Zeitung 1895, Nr. 42 v. 19. Februar, 3).

Kleines Lob im redaktionellen Gewande (Thorner Ostdeutsche Zeitung 1894, Nr. 181 v. 5. August, 5)

Wie schon bei Benzolinar wurden die beiden Anzeigen von redaktioneller Reklame flankiert. Sie hoben ebenfalls die Flüssigkeit und den Preis des Leipziger Putzwassers als entscheidende Vorteile hervor (Rheinisch-Westfälische Zeitung 1894, Nr. 211 v. 2. August, 3). Dies wurde innerhalb der Redaktionen vielfach variiert, vielfach auch als Zuschrift bezeichnet (Wittener Tageblatt 1894, Nr. 178 v. 1. August, 3). Die Journalisten nutzten den Grundtext von Wilhelm Roloff, nahmen sich aber der Reinigungsmission zugunsten der Hausfrauen direkt an (Aachener Anzeiger 1894, Nr. 168 v. 25. Juli, 1; Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 177 v. 3. August, 4). Die immer wieder eingeforderte Trennung von redaktionellem und Werbeteil blieb eine Chimäre.

Farbakzente und lokale Drogistenwerbung (Schönburger Tageblatt und Waldenburger Anzeiger 1894, Nr. 183 v. 10. August, 4 (l.); Emscher Zeitung 1894, Nr. 142 v. 20. Juni, 3)

Auch bei Roloffs zweitem Drogerieartikel gab es einfache Variationen der Grundwerbung, die zwischen Text und Slogan chargierte (Westfälischer Merkur 1894, Nr. 217 v. 10. August, 4; Solinger Zeitung 1894, Nr. 187 v. 11. August, 6). Lokale Anbieter nutzten und variierten neuerlich die Vorlage aus Leipzig. Zugleich bemühte sich die Werbung um eine Verschränkung der anvisierten Zielpublika. Das Leipziger Putzwasser wurde explizit auch für Militärzwecke beworben, Militärverwaltungen und Kantinen erhielten überdurchschnittliche Rabatte, hoffte man dadurch doch auf ein besseres Geschäft für Benzolinar (Militär-Zeitung 49, 1894, 159).

Hilfsmittel auch für den einfacheren bürgerlichen Haushalt (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2571, Beibl. 5, 11)

Die Markenkarriere des Leipziger Putzwasser verlief insgesamt ähnlich wie die Benzolinars. Weitere Zeichnungen präsentierten doch wieder miteinander sprechende Paare, nutzten ebenso einschlägige „Zeugnisse“ von nachweislich bestehenden Institutionen und Firmen (mit anderem Empfehlungsschreiben Fliegende Blätter 102, 1895, Nr. 2580, Beibl. 3, 3). Die Werbung gab sich volkstümlicher, präsentierte fiktionale Figuren damaliger Hausfrauen.

Glückliche Hausfrauen dank des Leipziger Putzwassers (Über Land und Meer 73, 1895, 180)

Auch beim zweiten Drogerieartikel von Wilhelm Roloff trugen Drogisten die Alltagswerbung nach der Jahrhundertwende (General-Anzeiger für Duisburg und Umgegend 1900, Nr. 151 v. 2. Juli, 8; ebd. 1901, Nr. 127 v. 3. Juni, 8; Rhein- und Ruhrzeitung 1903, Nr. 113 v. 15. Mai, 3), nachdem die aktive Firmenwerbung 1896/97 endete. Das galt auch für die cisleithanischen Gebiete Österreich-Ungarns, wo neben Drogerien auch Parfümerien für das Putzwasser und Benzolinar warben (Neues Wiener Journal 1897, Nr. 1425 v. 20. Oktober, 13). Bildwerbung wurde für das Flüssigputzmittel im Ausland jedoch nicht mehr geschaltet. Apotheken und Drogerien wurden über den Großhandel beliefert, die dann eigenverantwortlich warben (Nowa Reforma 1896, Nr. 27 v. 2. Februar, 6 [Krakau]; Glos Narodu 1896, Nr. 42 v. 20. Februar, 8 [Przemysl]).

Festzuhalten ist, dass die Chemische Fabrik Wilhelm Roloff eine mögliche Expansion zu einem Drogerieartikelanbieter ab 1894 zwar versuchte, sie Ende 1896 aber aufgab. Das mochte mit der aufstrebenden lokalen Konkurrenz durch Fritz Schulz zusammenhängen. Doch angesichts des beträchtlichen, teils Jahrzehnte andauernden Erfolges anderer Anbieter scheint dies zu kurz gegriffen. Starke Metallputzmittel wie Globus (Fritz Schulz, ab spätestens 1888), Amor (ab 1895 durch Lubszynski & Co., Berlin) und hier nicht näher zu charakterisierende reichsweit präsente Marken wie Geolin, Gentol, Blendol oder Sidol unterstreichen, dass eine konsequente Dachmarkenstrategie auch für Wilhelm Roloff Chancen hätte bieten können. Wir müssen drittens und abschließend daher nochmals auf den Eigner der Chemischen Fabrik zurückkommen, auf Johannes Meister.

Reinvestitionen: Ein Unternehmer in der ersten Reihe der Leipziger Gesellschaft

Für den jungen Chemiker und Unternehmer begann nach dem Tode seines Vaters und mehrerer Umzüge eine Zeit privater und finanzieller Etablierung (Leipziger Adreß-Buch 69, 1890, T. 1, 293; ebd. 72, 1893, T. 1, 453). 1893 verlobte er sich mit Melanie Zeyen, Tochter des Kommerzienrates Leopold Zeyen (1844-1918) und seiner Frau Louise, geb. Heerbrandt; 1894 heirateten sie (Kölnische Zeitung 1893, Nr. 796 v. 6. Oktober, 3; Saale-Zeitung 1894, Nr. 219 v. 12. Mai, 6). Sein Schwiegervater war Ingenieur und Eigentümer der in Raguhn gelegenen Papiermaschinenfabrik und Metallweberei Gottlieb Heerbrandt, die 1897 in die mit 1,5 Million Mark Aktienkapital ausgestatte Maschinenbau- und Metalltuchfabrik AG umgewandelt wurde. Meister wurde später in den Aufsichtsrat gewählt (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 211 v. 7. September, 7). Das Paar wohnte anfangs in repräsentativer Lage in der Pfaffendorfer Straße 13, ehe es 1899 kurzzeitig in das kurz zuvor gekaufte sog. Mückenschlösschen umzog (Leipziger Adreß-Buch 74, 1895, T. 1, 493; ebd. 80, 1901, T. 1, 657). Nach dem Neubau der lange noch in der Berliner Straße 86 gelegenen Firma residierte Familie Meister-Zeyen dann in der unmittelbaren Nachbarschaft zum Unternehmen im Plösener Weg 22. Mindestens zwei Töchter, Alice und Ilse, sind nachweisbar (Leipziger Tagblatt und Handels-Zeitung 1916, Nr. 507 v. 5. Oktober, 5; Dresdner Nachrichten 1917, Nr. 358 v. 29. Dezember, 7).

Das Kerngeschäft der Firma Wilhelm Roloff wurde 1898 auf ein größeres Areal verlegt, die „Dachpappenfabrik, Asphaltkocherei und Theerdestillation“ gewann dadurch neue Expansionsmöglichkeiten (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1898, Nr. 230 v. 8. Mai, 3529). Wichtiger noch war die Kooperation mit dem Leipziger Unternehmer Emil Köllner, der Mitte der 1890er Jahre ein Alphaltvorkommen in den italienischen Abruzzen erworben hatte (Das tausendjährige Leipzig. Die Stadt der Mitte, hg. v. Walter Lange, Leipzig 1928/29, 284). Meister wurde 1899 Mitinhaber von Köllner, der seinerseits in die Firma Wilhelm Roloff eintrat (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1899, Nr. 116 v. 5. März, 1762). Nach außen blieben beide Firmen unabhängig, Wilhelm Roloff firmierte als Chemische Fabrik, Emil Köllner als Holzcement-, Dachpappen- und Asphaltfabrik (Leipziger Adreß-Buch 80, 1901, T. 1, 657). Köllner verlies die Firma 1909, Meister übernahm (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 35 v. 10. Februar, 25). 1913 fusionierte er beide Firmen schließlich in die Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke mbH (Deutscher Reichsanzeiger 1913, Nr. 254 v. 27. Oktober, 17). Das Stammkapital betrug 350.000 Mark, der neue Geschäftsführer Johannes Meister brachte davon 260.000 Mark ein, seine finanziell unabhängige Gattin Melanie Meister-Zeyen gewährte einen Kredit für die fehlenden 90.000 Mark. Ein Ehevertrag sicherte ihre Unabhängigkeit 1914 nochmals ab (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 349 v. 12. Juli, 14).

Innovationen im tradierten Kernsegment: Anmeldung von Pappinol 1900 (Deutscher Reichsanzeiger 1900, Nr. 282 v. 27. November, 16)

Das gemeinsame Geschäft mit Emil Köllner schien Johannes Meister offenbar attraktiver als ein Ausbau der Drogerieartikelsparte in einem hochkompetitiven Umfeld. Die neuartige Holzzement-Klebedachpappe „Pappinol“ war jedenfalls ein Erfolgsprodukt (Das Pappinolpappdach, Architekten- und Baumeister-Zeitung 10, 1901, Ausg. v. 22. September, 8-9). Der selbst produzierte Teer tränkte nun Strohpappen, auf die anschließend eine Kiesschicht aufgepresst wurde. Weitere neue Markenprodukte folgten, das wasserlösliche Holzschutz- und Pflanzenschutzmittel „Marke Roloff“, der „Drei-Kronen“ Asphaltmastix, „Eka“-Falzbaupappen (Deutscher Reichsanzeiger 1906, Nr. 86 v. 10. April, 14; ebd. 1910, Nr. 37 v. 12. Februar, s.p.; Süddeutsche Bauzeitung 24, 1914, Nr. 19, 46). Johannes Meister konnte weiterhin selbstbestimmt im Feld der Teerchemie arbeiten, mochte es sich auch um eher gewerbliche Anwendungen handeln.

Wichtiger noch dürfte der Eintritt in die erste Reihe der Leipziger Geschäftswelt gewesen sein. Meister begann jedenfalls Mitte der 1890er Jahre mit ersten Immobilieninvestitionen, darunter ein staatliches viergeschossiges Eck- und Mietshaus in der Sidonienstr. 1 (https://www.architektur-blicklicht.de/artikel/touren/paul-gruner-strasse-Leipzig-kohlenstrasse/).

Es folgten Investitionen in zwei führende Leipzig Unternehmen, deren Besitzer verkaufen wollten, teils verstorben waren. Anfang 1896 wurde Johannes Meister Teil der Gründergruppe der neuen Aktiengesellschaft von Grimme & Hempel, einer reichsweit für ihre Diaphanien und Kunstglaserei bekannten Kunstanstalt, die ein Aktienkapital von einer Million Mark aufwies (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 174 v. 23. Juli, 7; Dresdner Journal 1896, Nr. 172 v. 27. Juli, 1419). Meister war zuerst Aufsichtsrat, dann stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender (Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1896/97, 146; Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 138 v. 14. Juni, 7). 1898 wurde er zudem Mitgründer und Aufsichtsratsmitglied der Leipziger Schnellpressenfabrik AG, vorm. Schmiers, Werner & Stein, einem Unternehmen mit einem Aktienkapital von ebenfalls einer Million Mark (Deutscher Reichsanzeiger 1898, Nr. 79 v. 1. April, 20; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1897, Nr. 551 v. 28. Oktober, 7922). 1900 folgte dann noch der Einstieg in die Leipziger Centraltheater AG, die ihr Aktienkapital von 1,3 Million Mark nutzte, um am Thomasring ein Areal zu erwerben und dort ein Theater „mit großen Sälen und Gesellschaftsräumen“ zu erbauen. Johannes Meister war und blieb langjähriges Mitglied des Aufsichtsrates, gehörte aber nicht zu den Gründern (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1900, Nr. 431 v. 25. August, 6719).

Fassen wir diese verschiedenen Facetten zusammen, so eröffneten sich dem Besitzer von Wilhelm Roloff Mitte der 1890er Jahre mehrere Chancen, die einem verstärkten Engagement in der Reinigungsmittelbranche vorzuziehen waren. Er baute das Kerngeschäft der 1886 erworbenen Firma gezielt aus, stärkte ihre Stellung als ein führendes sächsisches Baumaterialunternehmen. Zugleich etablierte er sich in der kleinen aber feinen Welt der Leipziger Wirtschaftselite, agierte auf Augenhöhe mit den wichtigsten Unternehmern der Stadt. Beides waren nachvollziehbare Gründe, sich nicht mehr länger mit Nebenprodukten wie Benzolinar und dem Leipziger Putzwasser zu beschäftigen, sein Engagement auslaufen zu lassen.

Johannes Meister starb am 12. Oktober 1916, die näheren Umstände sind unbekannt (Sächsische Staatszeitung 1916, Nr. 241 v. 16. Oktober, 4). Unklar sind auch die Hintergründe für mehrere Zwangsversteigerungen seiner außerhalb Leipzigs gelegenen Immobilien (Leipziger Tageblatt und Handels-Zeitung 1914, Nr. 593 v. 22. November, 8; ebd. 1915, Nr. 99 v. 24. Februar, 13; ebd., Nr. 591 v. 20. November, 5; Sächsische Staatszeitung 1919, Nr. 133 v. 16. Juni, 7; ebd. 1920, Nr. 38 v. 10. Februar, 7). Schon 1914 waren mehrere Patente der Emil Köllner-Wilhelm Roloff-Werke nicht auf seinen, sondern den Namen seiner Frau ausgestellt worden (Tonindustrie-Zeitung 38, 1914, 1773; Cement 5, 1916, 116). Sie führte das Unternehmen bis 1921 weiter (Leipziger Tageblatt und Handelszeitung 1916, Nr. 593 v. 21. November, 6; Sächsische Staatszeitung 1921, Nr. 297 v. 22. Dezember, 5). All dies berührt jedoch nicht die für uns relevante Entscheidung zum langsamen Ausstieg aus der Reinigungsmittelbranche seit Ende 1896. Die anfangs sicher nicht geringen Gewinne aus diesem Geschäft dürften sowohl für seine lokalen Investitionen als auch für die Erweiterung der eigenen Chemischen Fabrik wichtig gewesen sein. Ein neues Fleckenwasser, ein flüssiges Metallputzmittel, eine für ihre Zeit innovative Bildwerbung – sie alle dienten letztlich einer anerkannten sozialen Position in der bürgerlichen Öffentlichkeit.

Uwe Spiekermann, 10. Mai 2025

Die aufrechte Hausfrau: Das Bohnerwachs Wichsmädel

Nein, darauf war ich nicht gefasst. Als ich eine Ausgabe der einst neuen, frisch-anstößigen Illustrierte „Das Magazin“ durchblätterte, erwartete ich die lebensdralle Ästhetik der 1920er Jahre, erwartete neue Frauen und smarte Männer, die Anbetung des Urbanen und einer neuen Freizeit- und Konsumkultur. Und dann das: Freundlich lächelnd hielt ein als Dienstmädchen verkleidetes Modell eine große Blechdose in die Kamera. Wichsmädel Bohnerwachs stand darauf, zeigte eine eifrig bohnernde Frau auf den Knien, mit kurzem Haarschnitt und durchaus modischen Absätzen. Und schon wandelte sich meine Irritation in Forscherdrang: Darauf musste ich mir einen Reim machen. Kommen Sie mit – oder klicken Sie rasch weiter.

Fußbodenreinigung im Wandel

Dreck ist ein Teil des Lebens, Putzen hält dagegen, sysiphoshaft, als Ringen um Sauberkeit und Alltagshygiene. In gängigen Darstellungen der Geschichte des Wohnens findet sich allerdings kaum etwas zu dieser Fron des Alltags (Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914, Münster 1985; Maren-Sophie Fünderich, Wohnen im Kaiserreich, Berlin und Boston 2019). Auch über die breite und wachsende Palette von Putz- und Reinigungsmitteln wissen wir wenig. Allgemeiner parlieren ist einfacher: Vom vermeintlichen Wandel der respektablen hauswirtschaftlichen Tätigkeit zur Hausarbeit. Von deren doppelter Marginalisierung als unbezahlten Liebesdienst an Mann und Familie einerseits, als einfache, nicht wirklich ernst zu nehmende Beschäftigung anderseits. Dabei belegt der seit Mitte des 19. Jahrhunderts immens wachsende Ratgebermarkt für das Kochen und die Haushaltsführung die vielfältigen und komplexen Aufgaben in einer häuslichen Welt, in der Convenience- oder Fertigprodukte fehlten, die wenigen Geräte Maschinen nicht ersetzen konnten, Kühlung und Konservierung zeitaufwändige Tagesaufgaben waren, das Schneidern und Reparieren der Kleidung und Textilien mit Blick auf die begrenzten Geldmittel erforderlich war, von der Kindererziehung und Gartenwirtschaft ganz zu schweigen (einseitig luftig-normativ hierzu Inga Wiedemann, Herrin im Hause […], Pfaffenweiler 1993; Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, Hamburg 2021). Und da war noch das Haus, das Heim selbst. Es musste gepflegt und in Ordnung gehalten, gekehrt, geputzt, von Unrat und Keimen befreit werden.

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Idealisiertes Bild des Hausputzes (Sydow (Hg.), 1884, 561)

Wie aber sah das Reinigungsumfeld aus, die zu reinigende Wohnung, der zu kehrende und zu bohnernde Fußboden? Dazu müssen wir uns wegbewegen von unseren heutigen einfach zu pflegenden, versiegelten, mit Kunststoff abgedichteten und auf trockenen Grundlagen ruhenden Fußböden. Das galt auch für die in der Hauswirtschaftsliteratur vorrangig behandelten bürgerlichen Haushalte. Sie standen im Mittelpunkt des Wandels, einerseits hin zu besseren Wohnungen und Fußböden, anderseits als Konsumenten einer wachsenden Zahl neuartiger Putz- und Reinigungsmittel, die eng mit dem Aufstieg der chemischen Industrie und insbesondere der Fettchemie seit den 1870er Jahren verbunden waren.

Damals bestanden Fußböden zumeist aus gestampftem und befestigtem Lehm, vielfach mit Brettern überbaut oder aus Holzböden. Die Böden waren teils behandelt, verschieden zusammengesetzte Firnisse aus Leinöl, Schellack oder Deckharzen schützten die Oberflächen. Diese mussten regelmäßig abgewischt werden, meist mit Wasser, kombiniert mit Kernseife oder Seifenlaugen. Putzen war wichtig, zumal in Zeiten unzureichender Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, angesichts der Gesundheitsgefahren der noch nicht wirklich bekämpfbaren Infektionskrankheiten. Das gefährdete nicht nur den Hausfrieden, bedeutete Putzen doch Umräumen, das Bewegen der Teppiche, der Truhen und Möbel. Nasses Putzen griff auch die Bodensubstanz an, denn den Böden fehlten vielfach konservierende Appreturen. Verbesserte Parkette sowie Steinböden waren leichter zu pflegen, waren aber auch teurer.

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Blanker Holzboden in einer oberbayerischen Bauernstube (Der Bazar 39, 1893, 429)

Zur Zeit der Reichsgründung verbreiteten sich daher neue Techniken der Bodenkonservierung. Zum einen erlaubte die Teerfarbenindustrie zahlreiche Farben und dann auch Glasuren, mit denen man die Oberflächen imprägnieren und damit gegen die Verdreckung schützen konnte. Zum anderen nutzte man vermehrt Wachse, um die Böden gleichsam zu versiegeln. Industrielle Wachse, teils auf Grundlage von Importgütern, waren billiger als tradierte Bienenwachse, zudem einfacher zu handhaben: „Das Einlassen oder Bohnen der gewöhnlichen, sowie der parquetirten Fußböden geschieht gewöhnlich mit einer Wachsseife, dem sogenannten Bohnerwachs, es wird aber auch mit reinem Wachs in Stücken gebohnt, eine Operation, die indessen Kraftanstrengung und Uebung erfordert und besser dem Zimmerputzer von Fach überlassen bleibt“ (Vom Fußboden, F. J. Singer’s Fünf-Kreuzer-Bibliothek 5, 1873, 30-31, hier 30). Gebohnerte Flächen durften nicht feucht gereinigt werden, doch man konnte sie einfach kehren.

Bohnerwachs wurde zu dieser Zeit noch vielfach in den Haushalten selbst hergestellt. Die Rohmaterialien, meist gelber Wachs und Pottasche, kauften die Hausfrauen in Drogerien, Gemischtwarenhandlungen und Apotheken. Das Wachs wurde dann auf dem heimischen Herd, im häuslichen Kessel angesetzt, dann auch gefärbt (Johanna von Sydow (Hg.), Das Buch der Hausfrau, 3. völlig umgearb. Aufl., Leipzig und Berlin 1884, 561-562; Illustrirte Welt 34, 1886, 72). Dazu nutzte frau anfangs meist naturale Farben, wie Orleans oder Katechu, oder aber Erdfarben, wie Oker oder Terra di Siena. Bohnerwachse dieser Art chargierten zwischen gelb und tiefrot, waren also noch nicht Basis weißer Reinlichkeit. Das Kochen derartiger Wachse war schwierig, denn die Temperaturführung auf offenem Feuer glich der Arbeit der Glasmacher und Schmiede, gründete auf Erfahrung, stellt die immer nur normativ behauptete Trennung der häuslichen und gewerblichen Sphäre in Frage. Doch ein gebohnerter Boden war schmutzabweisend und einfacher zu fegen. Angesichts kleiner, vollgestellter und vom Ruß und der Asche des Herdes stets umkränzter Zimmer war dies immer noch eine mühselige Arbeit, die möglichst an Dienstboten delegiert wurde. Doch deren Zahl ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch zurück, wenngleich sie um 1900 noch ca. fünf Prozent der großstädtischen Bevölkerung ausmachte. Bohnern war wiederkehrende Alltagstätigkeit: In größeren Abständen musste die Grundimprägnierung erneuert werden, Flecken aber erforderten gezielten und möglichst unmittelbaren Einsatz: „Gebohnte Fußböden, auch Parkettfußböden, werden täglich mit einem trocknen um die Bohnerbürste geschlungenen wollenen Lappen oder einem trocknen noch neuen Scheuerlappen aufgewischt. Einzelne Flecke wischt man mit einem feuchten Läppchen mit Terpentinöl ab oder man entfernt sie mittels abreiben mit Stahlspänen. Die Stellen müssen dann mit etwas Bohnermasse eingerieben und abgebürstet werden. Allwöchentlich reibe man den Fußboden mit Stahlspänen ab; durch dieselben wird Schmutz und das festgetretene Bohnerwachs entfernt, so daß der Boden seine klare Farbe wieder erhält“ (Wiesbadener General-Anzeiger 1894, Nr. 192 v. 19. August, Für’s Haus, 131).

Der Markt übernimmt: Wichsprodukte aus Drogerien und chemischen Fabriken

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Enthäuslichung der Bohnerwachsbereitung durch gewerbliche Fertigwachse (Königlich privilegirte Berlinische Zeitung 1885, Nr. 65 v. 8. Februar, 26)

Bohnerwachs wurde anfangs häuslich hergestellt, doch die bereits erwähnten „Zimmerputzer“ – noch ein qualifizierter männlicher Beruf – nutzten schon selbst produzierte Reinigungsmittel. Diese stammten zumeist von Drogisten, die analog zu den Haushalten, doch unter kontrollierteren Bedingungen größere Mengen produzierten und zunehmend unter eigenem Namen verkauften. Der Begriff „Bohnerwachs“ war jedoch noch nicht stofflich definiert und reguliert, sondern eine Ware, mit der man putzen, säubern, imprägnieren konnte. Die einschlägigen Handbücher benannten die Hauptgruppen: „Theils sind es Lösungen von Wachs oder wachsähnlichen Stoffen in Terpentinöl, theils eine Art von überfetteten Wachsseifen, entstanden durch theilweises Verseifen des Wachses durch Pottasche“ (Gustav-Adolf Buchheister, Handbuch der Drogistenpraxis, Bd. 2, 3. verm. Aufl., Berlin und Heidelberg 1898, 277; Karl Dieterich, Bohnerwachs, in: Ewald Geissler und Josef Moeller (Hg.), Real-Enzyclopädie der gesamten Pharmazie, 2. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 3, Berlin und Wien 1904, 115).

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Vor der allgemeinen Geltung des Begriffs Bohnerwachs: Die Parquetbohne (Berliner Tageblatt 1893, Nr. 565 v. 5. November, 16)

Wir haben es also schon im späten 19. Jahrhundert mit einem Markt zu tun, der geringe Zugangshürden hatte, denn die Produktion übernahm und verfeinerte häusliche Praktiken. Zudem wurden die Häuser der Jahrhundertwende immer häufiger mit einfacher zu pflegenden Stein-, Steinholz-, Linoleum- und Parkettböden versehen, die allesamt gewichst und gebohnert werden konnten und mussten. Während die Drogisten lediglich lokale, selten auch regionale Märkte mit ihren Angeboten versorgten, traten seit den späten 1890er Jahren vermehrt Lack- und Schuhwichseproduzenten in den Markt ein, bauten regionale, in selten Fällen auch schon nationale oder gar erste internationale Vertriebsstrukturen auf. War anfangs der Name des Produzenten Marker des Angebotes, so bedienten sie sich nunmehr vermehrt allgemeiner Markennamen, erst mit engem Bezug zur Pflege selbst – Parket-Rose –, dann auch solche mit chemisch-wissenschaftlichem Anspruch, etwa Cirine. Sie entwickelten also neue Markenidentitäten, gründeten sie auf einem niedrigen Preis oder aber auf besonderen Eigenschaften: Parket-Rose sollte beispielsweise auch nass wischbar sein, Cirine war flüssig und daher gleichmäßiger aufzutragen.

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Markenartikel vor dem Ersten Weltkrieg (Kölner Local-Anzeiger 1905, Nr. 213 v. 6. August, 1 (l.); Der Bazar 59, 1913, 85)

Mit diesen kurzen Strichen ist der Boden skizziert, auf dem ein Produkt wie das Bohnerwachs Wichsmädel entwickelt und erfolgreich vermarktet werden konnte. Primär war, wie bei jedem Marktangebot, die Gewinnabsicht der Anbieter. Es war aber auch Quintessenz einer schon lange vor den 1920er Jahren begonnenen Haushaltsrationalisierung, in dem der Markt zuvor häusliche Tätigkeiten übernahm, in dem zugleich andere Baumaterialien und Wohnungskonstruktionen das Putzen schon erleichtert hatten. Die Fron der Hausarbeit wurde eben nicht nur von den betroffenen Frauen als Problem empfunden. Der Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing (1872-1933) fasste dieses Dilemma in prägnante Worte: „Unsere Frauen altern und verblühn, leisten eine Arbeitsmenge, die kein Mann zu leisten vermochte und erreichen doch nichts, als dass alle dieses, Kochwirtschaft, Hauswirtschaft, Kinderpflege ganz unrationell, unzweckmässig und dilettantisch geübt wird, als dass sie mit all ihrer undifferenzierten, planlosen Wirtschafterei sich und andern das Leben vergällen. Zumal der Vormittag und der frühe Morgen in den Familienhaushalten der ‚weniger Bemittelten‘ ist eine kleine Privathölle. Ein ewiges Schruppen, Kratzen, Bohnern, Umkramen und Umräumen. Ein Tollhaus knarrender, kreischender, wetzender Geräusche. Dazwischen Zurufe und Menschenstimmen. Wenn dann schliesslich die rasselnden Privatmaschinen der Familienhaushalte leidlich in Gang kamen, wenn genug geklopft, gewischt, geruckt und geschruppt ist, dann ist der halbe Tag herum. Die Sonne steht in Mittag; die Arbeitskraft ist verbraucht, die Seele müde und stumpf“ (Der Lärm, Wiesbaden 1908, 63).

Bohnern und Wichsen

Während die Mehrzahl der Bohnerwachse und Reinigungsmittel lediglich noch wenigen Spezialisten und Sammlern bekannt ist, besitzt Wichsmädel einen relativen Ausnahmestatus. Es gab bis vor einigen Jahren eine eigene Website resp. eine liebevoll gemachte Facebookseite. Einschlägige T-Shirts sind weiterhin zu kaufen. Original-Blechdosen, die in diesem Segment ansonsten für 10 bis 15 Euro zu haben sind, kosten mit Wichsmädel-Konterfei 60 Euro und mehr. Selbstverständlich werden derartige populärkulturelle Entwicklungen im offiziösen Kulturleben gespiegelt, dann aber mit Verweis auf die vermeintliche Frauenfeindlichkeit von Warenzeichen und Verpackung gebrochen (Reklame. Verführung in Blech, hg. v. GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig 2020, 102-103). In der Berichterstattung über eine Reklame-Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum war Wichsmädel 2020 ein wichtiger Quell der Heiterkeit und Aufmerksamkeitsökonomie.

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Vermeintlicher Kult – T-Shirt-Angebote mit variiertem Wichsmädel-Warenzeichen (Ebay)

Das gängige Anspringen auf den vermeintlichen Kultartikel Wichsmädel sagt allerdings mehr über uns als unsere Vorfahren aus. Sprachwandel wird kaum mehr reflektiert, Bedeutungstransfers werden selten thematisiert. Beim Wichsen ergötzen sich viele an der Ziel-, nicht an der Ausgangsbedeutung. Das Adjektiv bezeichnete eine Bewegung, das Bohnern des Bodens, das schmückende Bürsten und Kämmen von Bart und Haar, das Auf und Ab der Bürste bei der Schuhpflege. Neben den Reinigungsartikeln wurden während und auch nach dem Kaiserreich Haar- und vor allem Schuhwichsen angepriesen. Das lag an einem Moment des Innehaltens, an dem Verteilen der Grundmasse, an dem Einziehen und Versteifen der Auftragsmasse. Bohnern war eng damit verbunden, dann aber vor allem beim beherzten Kampf mit dem Fleck, mit dem am Ende stehenden Resultat: „Die Bohnermassen werden ähnlich den Polituren mittelst eines weichen Ballens auf dem Fussboden, Leder oder Linoleum etc. vertheilt und dann so lange gerieben oder gebürstet, bis ein glänzender Wachsüberzeug entstanden ist“ (Buchheister, 1898, 278). Dass dabei auch Hilfsmittel wie die Bohnerbürste verwandt wurden, ist nicht nur jedem Putzenden geläufig.

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Schuhwichse als gängiges Angebot (Vorwärts 1902, Nr. 292 v. 14. Dezember, 15)

Wichsen und bohnern waren vor dem Ersten Weltkrieg gängige Alltagsworte, das Reichspatentamt ließ Eintragungen im Warenverzeichnis „Wichse“ zu (Deutscher Reichsanzeiger 1896, Nr. 232 v. 29. September, 9). Doch während des Krieges – also kurz vor der Etablierung des Markennamens Wichsmädel – wurde das lange bestehende Wortfeld auf die gängige Masturbation der Soldaten des Kaisers ausgeweitet (Sascha Bechmann, Sprachwandel – Bedeutungswandel. Eine Einführung, Tübingen 2016, 236). Hinzu kamen Dienstleistungen in Feldbordellen oder aber einschlägige Dienstleistungen in der Etappe oder der Heimatfront. Das erfolgte verschämt, in der Alltagssprache, erst in den 1920er Jahren in realistischen Schilderungen der Fronterfahrungen. Wichsen war negativ besetzt, entsprach es doch nicht dem gerne hochgehaltenen Bild des tapferen und sittenstrengen deutschen Soldaten.

Im Glucksen über Wichsmädel Bohnerwachs spiegeln sich nicht nur Restbestände spätpubertärer Unaufgeklärtheit, sondern auch Vorstellungen über Frauen als Objekt männlicher Sexualphantasien. Die Wichsmädel-T-Shirts unterstreichen, dass man daraus einen kleinen ironischen Nischenmarkt etablieren kann. Dem ging jedoch eine stete, meist unreflektierte Präsenz des Wichsmädels in populären Darstellungen zur Geschichte der Reklame voraus (Klaus Pressmann (Hg.), Email-Reklame-Schilder von 1900 bis 1960 […], Zürich 1986, 256; Eugen Leitherer und Hans Wichmann, Reiz und Hülle. Gestaltete Warenverpackungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Basel 1987, 216; Kuh von links, Der Spiegel 1994, Nr. 23, 190). Sprachwandel ist eben höchst ambivalent, werden bestimmte Alltagsworte nicht nur einfach vergessen, sondern auch gleichsam ausgegrenzt, weil man sich nicht dem Ruch der Sexualisierung resp. der Frauenfeindlichkeit aussetzen möchte. Das gilt ähnlich auch für das „Putzen“, wenngleich dessen sexuelle Aufladung seit dem späten 19. Jahrhundert eher zurückgetreten ist.

Die Lack- und Farbenfabrik Wilhelm Süring

Wichsmädel wurde seit Ende 1919 angeboten – und das als Folge der Konversion eines Rüstungsbetriebes in einen zivilen Markenartikelanbieter. Es handelte sich um die Dresdener Firma Wilhelm Süring, die sich als Lackproduzent schon vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht hatte. Die Firma entstand 1841 als Handwerksbetrieb, Carl Wilhelm Süring zeichnete noch ein Jahrzehnt später als „Wagenlackirer“ (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1851, Nr. 76 v. 17. März, 14), baute seinen Betrieb jedoch aus, stellte in den 1850er Jahren Lackierer auch für „Bau- und Möbel-Arbeit“ ein (Dresdner Anzeiger und Tageblatt 1856, Nr. 141 v. 20. Mai, 6). 1866 gründete Süring dann gemeinsam mit dem Kölner Kaufmann Ferdinand Funhoff eine „Lacksiederei“ (Dresdner Anzeiger 1866, Nr. 306 v. 2. November, 1; ebd. 1867, Nr. 12 v. 12. Januar, 2). Später trat an dessen statt Alfred Bruno Angermann in die Firma ein (Adressbuch und Warenverzeichnis der Chemischen Industrie des Deutschen Reiches Bd. 1, Berlin 1888, 220). Das Verhältnis der Partner scheint freundlich gewesen zu sein, denn er fungierte als Trauzeuge bei der zweiten Hochzeit von Sürings gleichnamigem Sohn 1896. Carl Wilhelm Süring (1851-1915) folgte seinem Vater als Firmenchef und gründete nach dem Ausscheiden Angermanns im April 1902 die „Lack- und Farbenfabrik mit Dampfbetrieb“ Wilhelm Süring in Dresden (Deutscher Reichsanzeiger 1902, Nr. 94 v. 22. April, 18). Sein Sohn Karl Friedrich Wilhelm Süring (1883-1962) wurde damals technischer Leiter. All das war erfolgreich. 1909 errichtete Süring im Vorort Dresden-Reick neue, größere Produktionsstätten (Deutscher Reichsanzeiger 1909, Nr. 223 v. 21. September, 12; Dresdner Nachrichten 1909, Nr. 37 v. 6. Februar, 9). Sein Sohn wurde Ende 1914 Teilhaber, nach dem Tode des Vaters im April 1915 dann Alleineigentümer der auf Lacke und Firnisse spezialisierten chemischen Firma (Farben-Zeitung 20, 1915, 371; Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1915, Nr. 201 v. 22. April, 5; Farben-Zeitung 20, 1915, 830).

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Ein Rüstungsproduzent voller Tradition (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 601 v. 27. November, 4 (l.), ebd. 1918, Nr. 39 v. 22. Januar, 8)

Der neue Inhaber stellte Süring in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung, wollte die Firma „nach den bisherigen, bewährten Grundsätzen weiterführen“ (Farben-Zeitung 20, 1915, 914). Doch er wechselte zugleich den Prokuristen aus (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 115 v. 19. Mai, 8). Weiteres folgte. Zum einen errichtete Karl Friedrich Wilhelm Süring neben der bereits bestehenden Zweigniederlassung in Berlin weitere in München und dann auch Nürnberg (Münchner Neueste Nachrichten 1917, Nr. 139 v. 18. März, 10; Deutscher Reichsanzeiger 1920, Nr. 180 v. 3. August, 9). Das bedeutete Nähe zu den Militärbehörden in Bayern und Preußen und eine Erweiterung des Vertriebsnetzes über die sächsische Kernregion hinaus. Zum anderen aber richtete der neue Firmeninhaber die Firma schon während des Krieges auf den zivilen Nachkriegsmarkt aus.

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Verbindende Dachmarke: Der SÜ-Ring (Deutscher Reichsanzeiger 1915, Nr. 127 v. 31. Mai, 16 (l.); Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1)

Seit 1915 etablierte Süring mit dem SÜ-Ring eine neue Dachmarke in unterschiedlichem Design, mit denen das sich durch Heereslieferungen und Rohstoffmangel rasch verändernde Angebot werblich verbunden werden konnte. Die Analyse der nicht zahlreichen Quellen spiegelt das Bemühen um eine einheitliche Außendarstellung, doch angesichts wiederholt veränderter Einzelelemente gelang dies nur ansatzweise (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 263 v. 7. November, 10; ebd. 1916, Nr. 295 v. 15. Dezember, 9; Dresdner Neueste Nachrichten 1918, Nr. 271 v. 4. Oktober, 10).

Parallel sicherte sich Süring Warenzeichen für seine wichtigsten Zivilangebote. Der Emaillelack Ringolin machte den Anfang, gefolgt von der Bronzefarbe Ringos-Aluminium und weiteren Speziallacken wie Ringolit, Sürings-Wetterlack und -Wetterhart sowie einer Universalfarbe (Deutscher Reichsanzeiger 1916, Nr. 97 v. 25. April, 18; ebd. 1917, Nr. 259 v. 31. Oktober, 17; ebd. Nr. 284 v. 30. November, 18; ebd. 1919, Nr. 211 v. 16. September, 15; ebd. 1918, Nr. 151 v. 29. Juni, 26).

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Neue Markenprodukte mit Qualitätsimage (Das Echo 42, 1923, 4790 (l.), ebd., 4932)

Diese unternehmerische Strategie wurde ergänzt durch den Kauf neuer Patente (Kunststoffe 8, 1918, Nr. 23, Anzeigen, 2) und eine überraschend aktive Werbung für die in Haushaltsgrößen angebotenen Produkte. In den damaligen Dresdner Adressbüchern fällt seine Seitenrandwerbung unmittelbar auf. 1919 und dann 1923 wurden die Betriebsstätten in Dresden-Reick erweitert, zudem Häuser für die Beschäftigten erbaut.

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Ein breites Sortiment, inklusive Wichsmädel-Bohnerwachs, und die Produktionsstätten der Lackfabrik Wilhelm Süring (Adressbuch, 1921, IX (l.); Deutsche Luftfahrer-Zeitschrift 22, 1918, Nr. 11/12, 45)

Und Wichsmädel Bohnerwachs? Dieser war Teil der Diversifikationsbestrebungen Sürings nach dem Ende des Weltkrieges. Er wurde vorrangig als Einzelprodukt beworben, war jedoch immer auch Teil des Gesamtsortiments.

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Wichsmädel als Teil einer Markenstrategie mit Angeboten für den Kleinabsatz (Sport im Bild 27, 1921, 1245 (l.); Das Echo 42, 1923, 4789)

Etablierung der Marke Wichsmädel

Vor diesem unternehmerischen Hintergrund überrascht es kaum, dass auch die Markenetablierung im Umfeld des Süring-Rings erfolgte. Die kniende Frau begann ihr Bohnerwerbewerk zwar schon Ende 1919 (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 478 v. 25. November, 3), doch das Warenzeichen wurde erst 1922 warenrechtlich geschützt.

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Wichsmädel-Warenzeichen: Die kniende und bohnernde Frau (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 66 v. 18. März, 1 (l.); Warenzeichenblatt 29, 1922, 645)

In der Sammler- und Museumsliteratur wird das Kernmotiv ohne verlässliche Belege auf den Graphiker Ludwig Hohlwein (1874-1949) zurückgeführt (etwa  Sylke Wunderlich, Das grosse Buch der Emailplakate, München 1997, 73; Margaret Horsfield, Der letzte Dreck. Von den Freuden der Hausarbeit, Berlin 1999, 231; Reklame, 2020, 103 sowie auch im entsprechenden Ausstellungsflyer des Grassi-Museums). Zudem wird um resp. ca. 1915 als Entstehungsjahr des Entwurfs angegeben. Beide Angaben scheinen mir hochgradig fraglich zu sein, sind eher Teil einer selbstreferentiellen Kulturszene, in der der spätere Nationalsozialist Hohlwein auch heute als Künstler mit einer lediglich „durchaus streitbaren politischen Orientierung“ präsentiert wird (Patrick Rössler, Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag, arthistoricum.net: Ludwig Hohlwein zum 140. Geburtstag), in der Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit unzureichend beachtet werden.

Während des Ersten Weltkrieges waren Fettprodukte wie Bohnerwachs abseits des Militärbedarfs jedenfalls strikt rationiert, war Schuhwichse eine seltene Ausnahme mit Ersatzmittelqualität. Sürings zahlreiche Anzeigen zum Ankauf von Rohwaren für seine Lacke und Firnisse unterstreichen dies indirekt. Auch in der unmittelbaren Übergangszeit war Bohnerwachs selten, erst 1920 begann sich die Versorgungslage langsam zu entspannen (Wiener Illustrierte Zeitung 29, 1920, H. 20 v. 15. Februar, 20). Zahlreiche Hausfrauen waren  zwischenzeitlich wieder zur häuslichen Herstellung von Bohnenwachs übergegangen; vorausgesetzt, sie konnten sich entsprechende Rohmaterialien organisieren.

Für einen Lack- und Firnisproduzenten wie Wilhelm Süring war die Produktion von Bohnerwachs technisch unproblematisch. Das galt auch für den recht frühen Markteintritt. Man hatte zuvor gewiss umfangreiche Erfahrung im Umgang mit kriegsbedingten Ersatzmitteln machen können, denn insbesondere das Terpentin als wichtigstes Lösungsmittel wurde damals durch Benzol, Solventnaphtha oder hydrierte Naphtaline substituiert (Süddeutsche Apotheker-Zeitung 60, 1920, 292; allgemein Carl Ebel, Die Fabrikation von Schuhcreme und Bohnerwachs, Halle a.d.S. 1930). Wichsmädel Bohnerwachs passte auch deshalb in Sürings Diversifikationsstrategie, weil die Zahl der Konkurrenten Anfang der 1920er Jahre noch klein war (Adressbuch der Farben-, Lack- und Firnis-Industrie […], IV. Ausg., Berlin 1921, 368). Die Eigenwerbung klang selbstbewusst: „Wichsmädel-Bohnerwachs in vornehmen dreifarbig bedruckten Dosen, anerkannt beste Qualitätsware, monatliche Leistungsfähigkeit 75.000 Dosen“ (Ebd., 452).

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Scherenschnitte als Mode der 1910er und frühen 1920er Jahre (Berliner Leben 26, 1923, Nr. 9, 19 (l.); ebd. Nr. 7, 20)

Der Scherenschnitt der knienden und bohnenden Frau passte auch in die neuerliche Mode dieses in Europa im späten 18. Jahrhundert künstlerisch entwickelten Genres, ebenso ihre nicht unmodische Erscheinung mit zurückgebundenem Haar und kurzen, breiten Absätzen. Wichtiger dürften für Süring ökonomische Aspekte gewesen sein – die in kulturwissenschaftlichen Museen ja nur selten beachtet werden. Werbung ist ein Mittel zur Erzielung von Gewinn – und man muss nicht Bazon Brocks emphatischen Kunstbegriff folgen, um zu verstehen, dass Ästhetik und Design vorrangig Mägde des Marktes sind und als solche auch analysiert werden müssen, um nicht in Ästhetizismus oder glucksende Fehleinschätzungen abzugleiten.

15_Deutscher Reichsanzeiger_1923_01_30_Nr025_p21_Ebd_05_09_Nr107_p01_Putzmittel_Bohnerwachs_Wichsfrau_Wichsdiener_Wichsmaedel_Wilhelm-Suering_Dresden

Absicherung des semantischen Terrains durch Defensivzeichen (Deutscher Reichsanzeiger 1923, Nr. 25 v. 30. Januar, 21 (l.); ebd., Nr. 107 v. 9. Mai, 1)

Erstens besetzte die Dresdener Firma mit „Wichsmädel“ nicht nur das semantische Feld, sondern sicherte es auch durch Defensivzeichen ab. „Wichsfrau“ und „Wichsdiener“ wurden als 1923 als Warenzeichen eingetragen, so dass es für Wettbewerber kaum möglich war, weitere Wichskomposita zu etablieren. Der 1922 eingetragene Bohnerwachs „Bohnerliesel“ der Märkischen Wachsschmelze Becher & Rechnitz unterstrich, dass solche Befürchtungen nicht unbegründet waren (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1002). Dieser semantischen Sicherung diente zudem die im Herbst 1921 erfolgte Umbenennung der einschlägigen Dresdener Produktionsstätten in Wichsmädelwerke (Wiesbadener Tagblatt 1921, Nr. 495 v. 30. Oktober, 4). Die Sicherung der Markenrechte dauerte auch danach an, denn das die Blechdosen zierende Warenzeichen wurde erst am 28. Juli 1923 beantragt und am 7. Januar 1924 dem Wichsmädelwerk Wilhelm Süring erteilt (Warenzeichenblatt 31, 1924, 196).

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Ausweitung der Markenfamilie: Wichsmädel-Schuhglanz (Deutscher Reichsanzeiger 1922, Nr. 94 v. 22. April, 1 (l.); Das Echo 42, 1923, 4816)

Zweitens erweiterte die Firma spätestens 1922 die Produktpalette der unter dem Warenzeichen Wichsmädel verkauften Waren. Wichsmädel Schuhglanz war eine Schuhcreme, die ebenfalls in drei verschiedenen Dosen angeboten wurde. Produktionstechnisch dürfte das keine Probleme bereitet haben, unterschied sich die Herstellung beider Produkte doch nur geringfügig. Das gewählte Warenzeichen zeigte abermals eine Frau in Bewegung, dieses Mal beim Schuhputzen. Das erfolgte in halb gebückter Haltung, teils mit angewinkelten Knien. Die auf Knien bohnernde Frau agierte auch hier wie im richtigen Leben, nämlich aufrecht (Warenzeichenblatt 29, 1922, 1001).

Markteinführung mit begrenzten Mitteln

Wichsmädel Bohnerwachs war ein Drogerieartikel. Diese Selbstbegrenzung folgte der damaligen, vor der Raum- und Sortimentsentwicklung der Selbstbedienungsläden noch üblichen Spezialisierung des Fachhandels. Wie andere Angebote Sürings war Wichsmädel ein Qualitätsprodukt, dessen Vorzüge von ausgebildeten Drogisten gut präsentiert werden konnten – anders als vom Lebensmittelhändler mit seinen anderen Fertigkeiten. Feste Preise und wechselseitig verlässliche Gewinnspannen boten Ausgleich für die Mühewaltung. Der Absatz erfolgte anfangs parallel zum Vertrieb der Lacke und Farben, doch schon Anfang der 1920er Jahre baute Süring ein reichsweites Vertreternetz auf, um Wichsmädel in möglichst vielen Drogerien zu listen. Die Läden bildeten zugleich eine wichtige Werbesphäre, denn hier fand man Emailleschilder, wurde Proben und später Wertmarken verteilt und wieder eingelöst. Doch diese Vertriebsarten sind kaum mehr zu rekonstruieren.

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Aufbau eines reichsweiten Vertriebsnetzes für Wichsmädel-Bohnerwachs (Berliner Tageblatt 1921, Nr. 95 v. 26. Februar, 10 (l.); Hamburger Anzeiger 1921, Nr. 48 v. 27. Februar, 7)

Anders ist dies bei gedruckten Anzeigen. Sechs Aspekte kennzeichnen die Werbung von Wichsmädel Bohnerwachs vor der Hyperinflation 1923.

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Arbeitserleichterung und Eigentumsbewahrung (Münchner Neueste Nachrichten 1919, Nr. 526 v. 27. Dezember, 11; ebd. 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10)

Die Markteinführung erfolgte seit Herbst 1919 erstens im Bannstrahl des SÜ-Rings, also der Dachmarke Wilhelm Sürings. Sie war Teil der Erweiterung des Markenportfolios. Zweitens gab es abseits vom SÜ-Ring und der bohnernden Frau keine verbindliche Markenführung. Deutlich wird dies etwa an der Nutzung skurriler Werbefiguren, auf die aber in der Folgezeit nicht wieder zurückgegriffen wurde. Offenkundig bestand kein systematischer Werbeplan. Wichsmädel war ein beworbenes Produkt ohne eigentliche Markenidee.

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Warenzeichen, Gedicht und Bildelemente bei der Markteinführung (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 106, v. 23. April, 9 (l.); ebd., Nr. 102 v. 18. April, 12; Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 203 v. 1. Mai, 17 (r.))

Mit der Benennung und werblichen Ausgliederung der Wichsmädelwerke (parallel zum Bezug neu erbauter Produktionsstätten) emanzipierte sich die Marke drittens ab Herbst 1921 von den Werbemitteln Wilhelm Sürings. Der Produzent trat hinter das Produkt zurück, ermöglichte diesem eine virtuelle Eigenexistenz – wenngleich in vorrangig kleinen Anzeigen. Dabei setzte man vorrangig auf den Wiedererkennungseffekt der knienden und bohnernden Frau, während der SÜ-Ring verschwand (Duisburger General-Anzeiger 1921, Nr. 178 v. 9. Oktober, 7; Westfälische Zeitung 1921, Nr. 244 v. 29. Oktober, 5).

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Übergang zwischen SÜ-Ring und Wichsmädelwerk (Die Woche 23, 1921, Nr. 44 v. 5. November, s.p.)

Diese Emanzipation der Marke ging einher mit Variationen des Namenszuges und unterschiedlichen Größen der bohnernden Frau. Das Grundmotiv erschien stetig, doch die relative Langeweile des nur einen Motivs wurde ansatzweise aufgebrochen (Wiesbadener Tagblatt 1922, Nr. 247 v. 28. Mai, 4; General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1922, Nr. 11327 v. 27. Mai, 13).

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Experimente mit dem Warenzeichen (Die Woche 24, 1922, Nr. 24 v. 17. Juni, s.p.)

Parallel veränderte man die Position der Werbedame, spiegelte das Zeichen, veränderte moderat die Proportionen, auch die Haarpracht.

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Bohnern von links nach rechts, aber auch von rechts nach links (Der Welt-Spiegel 1922, Nr. 50 v. 10. Dezember, 5)

Viertens setzte man beim Vertrieb von Wichsmädel vielfach auf Werbelyrik, während appellative Slogans wie etwa „Für Möbel, hol Wichsmädel“ nicht weiterentwickelt wurden. Schon oben wurden erste Gedichte sichtbar. Sie chargierten zwischen versuchter Leichtigkeit und der Vermittlung zentraler Werbebotschaften, so etwa: „Kennen Sie Wichsmädel schon? / Das Bohnerwachs? Die Sensation? / Das Wachs, das hart und fest? / Das sich nachwischen läßt? / In Qualität sich immer gleicht / Und noch einmal so lange reicht, / Als wenn man weiches Kriegswachs nimmt? / Noch nicht? Versuchen Sie’s bestimmt!“ (Dresdner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 102 v. 18. April, 12) In solchen lyrischen Ergüssen wurden männliche und weibliche Perspektiven eingenommen, die Friedensqualität hervorgehoben, die leichte Anwendung, der Beitrag des Bohnerwachses zu einem schönen Heim, zu einer sparsamen Haushaltsführung: „Wichsmädel ist die Bohnermasse, / die Friedensware erster Klasse. / Sehr leicht gib damit jeder / Linoleum und Leder, / Parkett und Möbeln Eleganz / Und lang anhaltend hohen Glanz. / Wer nun meint gescheit zu sein, / Kauft Wichsmädel-Wachs nur ein!“ (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 179 v. 4. Mai, 5)

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Deutsche Werbelyrik – bar jeder Kunst (Hamborner Volks-Zeitung 1922, Nr. 138 v. 21. Mai, 5 (l.); Kölnische Zeitung 1923, Nr. 302 v. 1. Mai, 7)

Obwohl diese Gedichte ungelenk und teils unfreiwillig komisch wirken, obwohl sie bar jedes Gefühls für die Möglichkeiten deutscher Sprache waren und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Erguss professioneller Werbetexter, wurden derartige Gedichte doch bis zur Weltwirtschaftskrise geschaltet, vielfach auch als Teil größere Anzeigen (Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 107 v. 7. Mai, 2; Mittelbadischer Courier 1928, Nr. 108 v. 8. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 79 v. 3. April, 5). Aus Sicht der Produzenten und Händler müssen sie also wirkmächtig gewesen sein.

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Werbung um die solventeren Kreise (Erzgebirgischer Volksfreund 1921, Nr. 131 v. 8. Juni, 3)

Fünftens kennzeichnete die Markeinführung schließlich eine doppelte Qualitätsorientierung. Einerseits verwiesen die Anzeigen vielfach auf die „besseren“ Hausfrauen und die „besseren“ Geschäfte. Die Kundinnen wurden in einfachen Textanzeigen entsprechend adressiert, die „gnädige Frau“ war auch zu Beginn der Weimarer Republik noch Zielpublikum (Leipziger Tageblatt 1921, Nr. 155 v. 1. April, 3; Badische Presse 1921, Nr. 161 v. 8. April, 3; Hamburger Nachrichten 1921, Nr. 247 v. 31. Mai, 5). Parallel kommunizierten die Anzeigen ein Qualitätsversprechen, priesen ein überlegenes Produkt „aus edelsten Rohfetten mit gutem Terpentinsalz“ in Vorkriegsqualität. Wichsmädel verwies auf die gute alte Zeit vor dem Weltenbrand, seine Werbung zielte in Zeiten der Mangelversorgung und politischen Unsicherheit auf Haltepunkte im eigenen Heim. Das Bohnerwachs war reine Ölware, hatte einen milden, angenehmen Geruch, verlieh dem Boden Glanz, doch immer noch Griffigkeit. Es schützte Boden und Möbel, frischte auf, war zugleich aber hart, konservierend und sparsam (Münchner Neueste Nachrichten 1920, Nr. 433 v. 18. Oktober, 10; Gartenlaube 1922, Nr. 41 v. 12. Oktober, s.p.). Das klang wie ein Wunschzettel des verarmten und verarmenden Mittelstandes.

Weitet man den Blick über die Einzelanzeigen hinaus, fällt neben der im Vergleich zur Konkurrenz recht hohen Zahl von Annoncen deren saisonale Verteilung auf. Wichsmädel-Werbung begleitete die Kunden zwar durch das Jahr, doch die meisten Anzeigen finden sich zwischen März und Mai, also zu Zeiten des Frühjahrsputzes bzw. eines umfassenderen Hausputzes. Zugleich handelte es sich bei den Anzeigen der ersten Jahre um eine überraschend einseitige Flankierung des lokalen Verkaufs durch Werbemaßnahmen des Produzenten. Während bei vielen anderen Konsumgütern die Händler aktiv und an die lokalen Besonderheiten angepasst Werbung schalteten, dabei Klischees nutzen und variierten, fehlten solche dezentralen Bemühungen. Die Werbung für Wichsmädel wurde von Dresden aus bestimmt, dazu ergänzende Werbemittel geliefert, etwa Kassenblöcke mit Wichsmädel-Signet, Postkarten mit Eindrucken, selbst Rationierungskarten (s. die einschlägige Facebookseite resp. die Facebookseite von Christian Grobie Menz, der auch die Markenrechte von Wichsmädel besitzt).

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Abebbende Qualitätswerbung vor dem Werbestopp 1923/24 (Berliner Tageblatt 1923, Nr. 13 v. 9. Januar, 18)

Neue Facetten, späte Ordnung: Werbung für Wichsmädel nach der Hyperinflation

Die bisherige Analyse der Süringschen Werbung mag zu der Annahme verleiten, dass diese gleichsam nebenher, mit linker Hand betrieben wurde. Dem steht entgegen, dass Wichsmädel schon nach wenigen Jahren ein reichsweit etablierter Markenartikel war (Deutsches Markenartikel-Adressbuch 1932/33, Hamburg 1932, 319). Zudem steht bei der Analyse der Werbung der 1920er Jahre stets die zweite „goldene“ Hälfte des Jahrzehnts im Vordergrund, charakterisiert durch wirtschaftliches Wachstum, neue Visualisierungs- und Markentechniken und eine moderate Amerikanisierung, verkörpert etwa durch auch während der NS-Zeit erfolgreichen Vollagenturen wie Dorland. Doch die Veränderungen sind angemessen zu gewichten. Das mich im „Magazin“ anblickende Dienstmädel verkörpert den Übergangscharakter der Zeit besser als etwa avantgardistische Werbung amerikanischer Automobil- oder Elektrogerätehersteller, wie etwa Chrysler oder Frigidaire.

Wilhelm Süring war ein werbeaffines Unternehmen in einer Branche mit nur begrenzter Publikumswerbung. Die Wichsmädel-Werbung entwickelte sich vor dem Hintergrund steter Werbeanstrengungen auch abseits der Anzeigenwerbung. Wilhelm Süring unterstützte 1921 etwa Reklamewettbewerbe der Leipziger Messe, etablierte dadurch enge Kontakte zum Bund Deutscher Gebrauchsgraphiker (Leipziger Tageblatt und Anzeiger 1921, Nr. 310 v. 2. Juli, 5). Wichsmädel-Dekorationen zierten die sächsische Hauptstadt während eines umfassenden Schaufensterwettbewerbes von nicht weniger als 142 Drogisten, gewannen dort fünf Preise (Dresdner Nachrichten 1921, Nr. 461 v. 30. September, 4). Nach der wirtschaftlichen Konsolidierung folgten erfolgreiche Teilnahmen an Geschäftswagenumzügen oder an hauswirtschaftlichen Ausstellungen (A. Dossmann, II. Dresdner Geschäftswagenschau, Seidels Reklame 9, 1925, 307). Dem heutigen Glucksen über Wichsmädelprodukte zum Trotz wurde das Bohnerwachs als modernes Produkt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Frankfurter oder aber Stuttgarter Küche präsentiert, also von Ikonen der damaligen Haushaltsrationalisierung („Der neuzeitliche Haushalt“, Münsterische Anzeiger 1927, Nr. 1073 v. 19. Oktober, 2).

Man kann also von einer Markenpräsentation auf der Höhe der damaligen Zeit ausgehen. Das wurde auch von dritter Seite bestätigt. Das Bohnerwachs war 1930 Teil der Anzeigenkampagne des Bamberger Tageblatts (Seidels Reklame 14, 1930, H. 6, 8). In München gewann er 1931 einen der Anzeigenpreise für gelungene Werbung in den Münchner Neuesten Nachrichten – der damals wichtigsten bayerischen Tageszeitung (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 5). Die Zeitungsredaktion selbst war stolz auf derartige Annoncen, zählte Wichsmädel zu „den wesentlichen Namen, die als Markenartikel in Deutschland überhaupt bekannt sind“ (Münchner Neueste Nachrichten 1931, Nr. 290 v. 25. Oktober, 9). Auch aus der Sicht hauswirtschaftlicher Expertinnen gab es Lob und Empfehlungen. Untersuchungen der Leipziger Versuchsstelle für Hauswirtschaft des Reichsverbandes Deutscher Hausfrauenvereine empfahlen Wichsmädel (wie auch Cirene, Perwachs und die Büdo-Waren) als gutes und erprobtes Produkt, klar besser als billige Hausiererware (Wittener Tageblatt 1931, Nr. 222 v. 22. September, 3).

In diesen Hintergrund ist die Wichselmädel-Werbung der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einzuordnen. Auch nach der Hyperinflation blieb das Warenzeichen der knieenden bohnernden Frau das zentrale Werbeelement. Doch nun wurde es über mehrere Jahre mit zahlreichen Bild- und Textelementen ergänzt und variiert. Dies ermöglichte auf verschiedene Zielgruppen einzugehen. Von einem organischen Wandel hin zu neuen Standards kann man nicht reden, vielmehr von vielfältigen, eher unkoordinierten Einzelmaßnahmen, in denen jeweils bestimmte werbliche Elemente hervorgehoben wurden. Die bohnernde Frau kniete zwar weiterhin, wurde aber in die Welt aufrecht agierender Frauen überführt.

Erstens warben die Wichsmädel-Werke ab 1924 in zahlreichen vorher nicht bedachten Zeitschriften, insbesondere in den neuartigen Magazinen nach meist amerikanischem Vorbild. Während altbekannte Karikaturzeitschriften noch mit eher traditioneller Werbung bestückt wurden, erforderten die neuen, durch ganzseitige Fotos geprägten Magazine neue Werbemotive, um aufzufallen.

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Neues Werbeumfeld Karikaturzeitschriften bzw. Magazine (Fliegende Blätter 161, 1924, 583 (l.); K.E.-Magazin 1, 1925, Nr. 2, 127)

In den Anzeigen finden sich Warenzeichen, Grafiken und Texte zu einem neuen Ganzen verbunden. Das mich anfangs irritierende Dienstmädchenmodell präsentierte eben nicht nur die Blechdose, sondern lobte auch die Qualität des Bohnerwachses, appellierte an ihre das Magazin lesende gnädige Frau, „verlangen Sie aber ausdrücklich Wichsmädel!“ (Uhu 1, 1924/25, Nr. 8, XIII). Diese Vorteile wurden in anderen Anzeigen offensiv propagiert, der wachsende Marktdruck führte zu einer klareren und nachvollziehbareren Argumentation, die auch Hilfe für die Drogisten war.

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Argumente für den Kauf von Wichsmädel (Uhu 1, 1924/25, Nr. 7, XIII)

Es blieb jedoch bei Einzelmotiven. Das zeigt sich etwa an einer Werbegrafik von Paul Simmel (1887-1933), einem der bekanntesten deutschen Illustratoren und Karikaturisten, der auch andere Markenartikel propagierte, etwa Maizena oder Kukirol-Hühneraugenpflaster. Sein Blick in die Drogerie gibt einen Eindruck der verschiedenen Dosen und der Werbung im Inneren eines Ladens. Aber dies war nicht der Beginn einer größeren Kampagne, sondern blieb Einzelstück.

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Paul Simmel als Wichsmädel-Propagandist (Das Magazin 1, 1924/25, Nr. 9, 109)

Daneben lassen sich Mitte der 1920er Jahre zweitens eine Reihe von Anzeigen finden, in denen Bildelemente, Werbetexte und Warenzeichen in werbetechnisch professioneller Art verbunden wurden. Nach der erfolgreichen Markteinführung investierte Wilhelm Süring offenbar gezielt in neue Werbemotive. Die folgende Anzeige stammt beispielsweise vom Dresdener Reklameatelier Hannemann (Das Plakat 11, 1920, H. 7, XI; ebd. H. 11, VI).

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Zwischen Hausfrau und Dienstmädel (Weißeritz-Zeitung 1925, Nr. 292 v. 17. Dezember, 4)

Die Heterogenität der Wichselmädel-Werbung deutet allerdings auf Auftragsvergaben an unterschiedliche Graphiker sowie wohl auch an unterschiedliche Werbeagenturen. In diesen Motiven fand sich war die bohnernde Frau immer wieder, doch die Hauptfiguren, die Hausfrau und auch die Dienstmädchen, standen nun aufrecht, entsprachen den sich langsam emanzipierenden Frauen dieser Zeit.

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Qualitätsdiskurs und Warengespräch (Dresdner Nachrichten 1926, Nr. 275 v. 14. Juni, 15 (l.); Badische Presse 1929, Nr. 204 v. 3. Mai, 9)

Die unterschiedlichen Motive unterstrichen zugleich die zunehmende Abkehr von Dienstmädchen und den wachsenden Zwang auch vieler bürgerlicher Frauen ihr Heim selbst zu putzen. Gleichzeitig wurde das Ideal der Hausgehilfin hochgehalten, dabei zugleich auf das Produkt übertragen.

Aufrecht stehende Dienstmädchen präsentieren Wichsmädel (Hörder Volksblatt 1926, Nr. 217 v. 16. September, 4 (l.); Berliner Tageblatt 1926, Nr. 421 v. 6. September, 10)

Dennoch gelang es den Wichsmädelwerken nicht, eine einheitliche Werbesprache abseits des Warenzeichens zu etablieren. Modernere und jüngere Frauenbilder wurden ergänzt, sollten der Marke ein zeitgemäßeres Image verleihen, vor allem aber auch jüngere Hausfrauen ansprechen. Ob diese Wendung gegen die typische Alterung fast jeder Marke gelungen ist, ist unklar.

Die kokette Tochter wirbt für Wichsmädel in lokalen Drogerien (Generalanzeiger für Bonn und Umgebung 1926 v. 12660 v. 29. Oktober, 21)

Unterentwickelt: Lokale Werbung für Wichsmädel

Im Vergleich mit anderen Konsumgütern, etwa den frühen Backpulvern, den in Drogerien und Apotheken vertriebenen cannabishaltigen Asthmazigaretten oder Massenartikeln wie dem Eierkonservierungsmittel Garantol blieb die lokale Werbung der Drogisten unterentwickelt (Ausnahme Hörder Volksblatt 1922, Nr. 40 v. 16. Februar, 3). Sie verließen sich großenteils auf die vor allem gegen Mitte und Ende der 1920er Jahre breit gestreuten Werbevorlagen und Anzeigenkampagnen der Dresdener Wichsmädelwerke. Vor Ort, in den noch so zahlreichen kleinen, lokalen Blättern, warben lokale Anbieter erstens zu Zeiten, in denen der Werbeelan des Herstellers erlahmte, namentlich während der Inflationszeit.

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Dezentrale Werbung durch Drogeristen (Bramstedter Nachrichten 1923, Nr. 5208 v. 4. April, 4)

Zweitens integrierten Drogisten Wichsmädel vornehmlich bei saisonalen Anzeigen, zumeist beim Hausputz im Frühjahr. Einzelne Annoncen gab es, doch sie blieben seltene Ausnahmen.

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Werbung vor Ort durch eine lokale Drogerie (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 223 v. 23. September, 4 (l.); Godesberger Volkszeitung 1926, Nr. 46 v. 25. Februar, 4)

Drittens nutzen lokale Anbieter Wichsmädel, um den Bohnerwachs als Teil einer breiten, ja umfassenden Angebotspalette des eigenen Geschäftes zu präsentieren. Der Markenartikel diente dabei als Ensembleteil, im Mittelpunkt stand jedoch die Auswahl des Ladens. Die Einzelangebote dürften davon profitiert haben, doch im Sinne des Herstellers war die parallele Werbung für Konkurrenzprodukt nicht ideal.

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Bohnerwachs Wichsmädel als Teil der gängigen Angebotspalette für Fußbodenpflege (Hörder Volksblatt 1924, Nr. 285 v. 4. Dezember, 5 (l.); Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 121 v. 25. März, Landwirtschaftl. Beil., 6; ebd. 1928, Nr. 117 v. 19. Mai, Unterhaltungsbeil., 8 (r.))

Konsolidierte Marktstellung und langsames Verschwinden

Der Bohnerwachs Wichsmädel dürfte aufgrund seiner intensivierten und vielfältigeren Werbung seine Marktstellung bis in die späten 1920er Jahre gehoben haben. Doch dies ist eine begründete Annahme, keine sichere Quintessenz. Das gilt auch für die Annahme, dass die Marktstellung seit den späten 1920er Jahren tendenziell sank; auch wenn das Produkt bis weit in die DDR-Zeit weiter produziert wurde. Fünf Entwicklungen sind hervorzuheben.

Erstens wurde das Produkt selbst moderat modernisiert. Schon die Anzeigen verwiesen darauf, nannten sie doch mal französisches, später dann amerikanisches Terpentinöl als wichtiges, wohlriechendes Lösemittel. Die Reintegration des Deutschen Reiches in die globale Wirtschaft dürfte dann jedoch weitere Auswirkungen gehabt haben, denn damals nutzte man zunehmend billigere und teils mit anderen Verfahrenstechniken hergestellte Lösungsmittel. Ebenso nahm die Zahl preiswerter Importwachse zu (B. Edburg, Bohnermasse, bzw. Bohnerwachs, Drogisten-Zeitung 40, 1925, 344-347).

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Ein neuer flüssiger Bohnerwachs mit einer aufrechten Hausfrau © Christian Grobie Menz, Wichsmädel | Facebook

Wichsmädel dürfte davon betroffen gewesen sein, entweder durch den Einsatz entsprechender Rohware, sicher aber durch günstigere Angebote der Konkurrenz. Dass man in Dresden nicht beim Alten verharrte zeigte sich 1926, als die Wichsmädelwerke unter gleichem Namen einen flüssigen Bohnerwachs einführten, der von einer nun aufrecht stehenden Frau genutzt wurde. Das war eine Reminiszenz an die wachsende Zahl einfacher zu pflegender Stein- und Linoleumfußböden.

Die Preise blieben nach der Währungskonsolidierung erwartbar stabil, auch wenn man 1926 die anfangs gültigen Preise für die gängige ¼ Dose von 75 auf 85 Pfennig erhöhte. Während der Weltwirtschaftskrise reduzierte man den Preis erst sehr spät. Ab April 1931 wurde er auf 70 Pfennig gesenkt (Dortmunder Zeitung 1931, Nr. 154 v. 1. April, 15), wobei einzelne Drogerien weiter zu alten Preisen verkauften (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1931, Nr. 157 v. 15. Juni, 10). Eine weitere Preisreduktion auf 63 Pfennig erfolgte im März 1932; abermals zogen nicht alle Verkäufer mit – im klaren Gegensatz zu verbindlichen Regeln der Preisbindung (Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1932, Nr. 148 v. 3. Juni, 10). Als gewisse Kompensation boten die Wichsmädelwerke spätestens seit 1930 Wertmarken an, also Zugaben, die während der NS-Zeit dann untersagt wurden (Solinger Tageblatt 1932, Nr. 65 v. 17. März, 11). Dies spiegelt den damals üblichen Preisdruck in der Abwärtsspirale der Deflationspolitik.

Zweitens intensivierte sich in dem späten 1920er Jahren die redaktionelle Textwerbung, also das Schalten von thematischen Kurztexten, um bestimmte Eigenschaften von Wichsmädel hervorzuheben. Diese begannen schon nach der Hyperinflation, die gefetteten Überschriften lauteten etwa: „Hausfrauen! Pflegt den Fußboden!“ oder „Hausfrauen! Der Geldbeutel merkt’s!“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1924, Nr. 424/5 v. 2. Oktober, 5; Castroper Zeitung 1925, Nr. 293 v. 17. Dezember, 6). Bemerkenswert war nicht nur die relative Abkehr von der gnädigen Frau, sondern auch der Kampagnencharakter derartiger Anzeigen. Die „kluge Hausfrau“ (Vorwärts 1926, Nr. 460 v. 30. September, 8) wurde beschworen, die „billige und minderwertige Wachse“ (Frankenberger Tageblatt 1926, Nr. 220 v. 1. Oktober, 3) zurückweisen würde, denn „Billig gekauft ist schlecht gekauft“ (Deutsche Allgemeine Zeitung 1927, Nr. 151 v. 31. März, 5).

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Transfer vom Dienstmädchen auf das Bohnerwachsprodukt (Mittelbadischer Kurier 1927, Nr. 126 v. 1. Juni, 4)

Die höhere Qualität wurde immer wieder beschworen, auch von unabhängigen Ratgebern geteilt (Die Umschau 33, 1929, 100). Wichtiger aber war einerseits der Einbezug des Urteils der Hausfrau, das durch den immer wieder betonten angenehmen Geruch des Terpentins sinnennah propagiert wurde (Frankenberger Tageblatt 1927, Nr. 77 v. 1. April, 7; Flörsheimer Zeitung 1929, Nr. 68 v. 13. Juni, 2; Bonner Zeitung 1929, Nr. 331 v. 5. Dezember, 10; Berliner Volks-Zeitung 1930, Nr. 230 v. 17. Mai, 5). Andererseits schufen die Textanzeigen die Imagination des Produktes als Helfers im Alltag und beim „Großreinemachen“ (Badische Presse 1927, Nr. 245 v. 28. Mai, 4; Durlacher Tagblatt 1928, Nr. 71 v. 23. März, 3), wurde das Dienstmädchen also zunehmend ersetzt. Textanzeigen waren flexibel, schufen neue Bezüge, präsentierten Wichsmädel als Vorreiter zukünftiger Arbeitserleichterung, banden auch das einkaufende Fritzchen in die Werbewelt mit ein (Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 58 v. 9. März, 4; Vorwärts 1930, Nr. 212 v. 8. Mai, 11).

Drittens nahmen die Wichsmädelwerke seit 1928 Abstand von bebilderten Anzeigen. Sie vertrauten auf Schlagzeilen, kurze Texte und dem weiterhin verwandten Warenzeichen. Der stets ähnliche und schon zuvor angelegte Aufbau – oben eine fette Schlagzeile, rechts die kniende Frau – bewirkte Aufmerksamkeit durch direkte Ansprache, lenkte dann auf die schon zuvor erwähnten Themen.

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Die imaginären Frauen Hausmann und Neumann (Dresdner Nachrichten 1928, Nr. 564 v. 30. November, 5 (l.); Durlacher Tagblatt 1929, Nr. 57 v. 8. März, 4)

Hier war die ordnende Hand von Werbeprofis erkennbar, zumal derartige Anzeigen reichsweit parallel geschaltet wurden (Hausmann etwa auch in Riesaer Tageblatt 1928, Nr. 279 v. 30. November, 16; Badische Presse 1928, Nr. 562 v. 30. November, 4). Allerdings spiegelten auch diese Motive den wachsenden Preisdruck, denn die mit einem höheren Preis verbundene höhere Qualität des Wichsmädels musste immer wieder hervorgehoben werden.

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Sparsamkeit dank Qualität (Annener Zeitung 1928, Nr. 132 v. 1. November, 5; Dresdner Nachrichten 1929, Nr. 136 v. 21. März, 15)

Derartigen Anzeigen wurde schließlich durch variable Schrifttypen und durch immer wieder veränderte Texte eine gewisse Dynamik verliehen.

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Feste Struktur mit variablen Elementen (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13085 v. 30. März, 3 (l.); Durlacher Tagblatt 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 6)

Viertens war man sich der geringeren werblichen Kraft derartiger Anzeigen offenbar bewusst – und beantwortete sie mir der parallelen Schaltung unterschiedlicher Anzeigen. Zum einen redaktionelle Textanzeigen oder aber ein Werbegedicht, zum anderen eine der typischen schwarz unterlegten Anzeigen mit der knienden Frau, wie sie schon Mitte der 1920er Jahre verwandt wurde (Annener Zeitung 1927, Nr. 65 v. 2. Juni, 2; Rheinisches Volksblatt 1928, Nr. 105 v. 3. Mai, 6; ebd. 1929, Nr. 57 v. 8. März, 3: Stadtanzeiger für Castrop-Rauxel und Umgebung 1930, Nr. 107 v. 8. Mai, 4).

Fünftens endete 1930 die stete Innovation der Wichsmädel-Werbung. Das mag mit anderen Schwerpunkten in der Produktpalette von Wilhelm Süring zu tun gehabt haben, denn die Automobilbranche bot mit Poliermitteln und Autolacken neue Geschäftsfelder (Das Süring-Spritz-Lackierverfahren für Automobile, Dresden s.a. [1929]). Zugleich muss man aber von einem relativ gefestigten Absatz für Bohnerwachs ausgehen, der durch intensivierte Werbung nicht mehr wesentlich beeinflusst werden konnte. In diesem Fall war es einfacher, die bestehenden Motive als Erinnerung zu wiederholen und mit abnehmenden, aber immer noch gewinnträchtigen Umsätzen zu leben. Parallel nahm die absolut geschaltete Zahl von Anzeigen seit 1930 beträchtlich ab.

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Letzte Variationen des Grundmotivs (General-Anzeiger für Bonn und Umgebung 1928, Nr. 13100 v. 19. April, 3; Wittener Tageblatt 1928, Nr. 104 v. 3. Mai, 4)

Entsprechend verwundert es nicht, dass Wichsmädel Bohnerwachs während der NS-Zeit mit zuvor entwickelten Formen und Themen beworben wurde. Die mit dem Fettplan 1933 einsetzende Bewirtschaftung vieler Rohstoffe und die Verteuerung von Importen durch schon zuvor massiv erhöhte Außenzölle führten dazu, dass Markterfolge nur durch Qualitätsänderungen und/oder Kämpfen um die Rohmaterialien möglich gewesen wären. Einfacher war gewiss, das ohne Anstrengung mögliche Bohnern mit Wichsmädel zu beschwören (Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12).

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Kontinuität während der NS-Zeit (Badische Presse 1938, Nr. 103 v. 14. April, 8; Schwerter Zeitung 1939, Nr. 65 v. 17. März, 12)

Wichsmädel blieb auch während der NS-Zeit eine führende Bohnerwachsmarke, deren Warenzeichen man nicht nur in Tageszeitungen und Drogerien, sondern auch in Adressbüchern und Telefonverzeichnissen finden konnte.

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Alltagspräsenz von Wichsmädel (Amtliches Fernsprechbuch für den Bezirk der Reichspostdirektion Leipzig 1938/39, Branchen, 37; Amtliches Fernsprechbuch für Berlin 1941, T. 2, 250)

Bei Süring trat mit Ernst Wilhelm Süring im 1939 ein weiterer Stammhalter als Prokurist in das Geschäft ein (Dresdner Nachrichten 1939, Nr. 359 v. 3. August, 5), die Hundertjahresfeier wurde nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion ruhig begangen (Riesaer Tageblatt und Anzeiger 1941, Nr. 181 v. 5. August, 3). Unter sowjetischer Besatzung, auch während der DDR-Zeit konnte sich Wilhelm Süring lange als Familienbetrieb behaupten, wurde erst 1972 verstaatlicht. Als VEB Lackfabrik Dresden wurde er dann Teil des Dresdner Kombinats Elaskon, dessen Nachfolger bis heute Schmierstoffe produziert.

Abschied von Wichsmädel

Der globale Markt für Haushaltsreiniger beträgt gegenwärtig knapp 41 Mrd. € und wird in Zukunft wohl weiter wachsen (Statistica.com). Multinationale Konzerne wie Proctor & Gamble, Unilever und Henkel prägen und bestimmen ihn – in enger Kooperation mit den führenden Handelskonzernen. Wichsmädel Bohnerwachs war ein frühes Produkt dieser insbesondere im Felde der Konsumgeschichte unterschätzten Branche. Über die Großkonzerne wissen wir einiges, wenig aber über die Vorgeschichte der heutigen oligopolistischen Märkte. Am Ende dieses kleinen, durch eine eigenartige Anzeige in einem Magazin der 1920er Jahre angeregten Beitrages, will ich deshalb mit Seitenblicken auf das Marktsegment enden, erklärt dies doch auch die abnehmende Bedeutung des Dresdner Bohnerwachses Wichsmädel.

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Wachsende Zahl von Konkurrenzprodukten (Warenzeichenblatt 31, 1924, 597 (l.); ebd., 766)

Bereits seit den frühen 1920er Jahren nahm die Zahl der Wettbewerber deutlich zu. Angesichts eines sich reetablierenden Marktes und der Abkehr von Wohnungen mit Lehm- oder Holzboden wuchs der Markt für Reinigungsmittel in der Zwischenkriegszeit deutlich an – und schuf angesichts der langen Nutzungsdauern von Wohnungen (und Fußböden) damit zugleich die Voraussetzungen für weitere Absatzsteigerungen von Bohnerwachs bis in die 1960er Jahre. Der vermehrte Wettbewerb prägte jedoch bereits das Marktumfeld von Wichsmädel in den 1920er und 1930 Jahren. Die Zahl lokaler Angebote von Drogerien nahm ab, die der Markenartikel zu. Sie hatten vermehrt einnehmende Warenzeichen, wie etwa der mit Welpen beworbene Bohnerwachs „Drilling“ oder der an die Legende von den Heinzelmännchen erinnernde „Gnom“ Bohnerwachs (Die Woche 24, 1922, Nr. 10 v. 11. März, III).

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Modernere Werbeansprachen (Westdeutsche Landeszeitung 1927, Nr. 89 v. 31. März, 8 (l.); Bergische Zeitung 1933, Nr. 258 v. 3. November, 12)

Die Werbung für Bohnerwachs wurde modernisiert, etwa durch Einsatz von gezeichneten Werbefiguren wie dem Raben der Loba-Beize oder aber die modernen Schrifttypen der „Gefest“-Reklame der dann von Henkel übernommenen Thompson-Werke. Henkel dominierte den Markt der Wasch- und Reinigungsmittel jedoch nicht nur ökonomisch und technologisch. Der Düsseldorfer Konzern prägte auch neue Werbebilder und Konsumnarrative, die das Bild der Hausfrauen und des Putzens deutlich veränderten.

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Kniend, doch adrett: Die moderne VIM-Hausfrau (Volksstimme 40, 1929, Nr. 68, 13 (l.); Der oberschlesische Wanderer 1929, Nr. 103 v. 3. Mai, 7)

Bohnerwachs verblieb im Schlagschatten derartiger Veränderungen. Preiswertere Produkte wie Wachseifen gewannen Marktanteile, doch Wachslösungen in Terpentin oder anderen nichtpflanzlichen Lösungsmitteln blieben dominant (Gustav A. Buchheister, Handbuch der Drogisten-Praxis, Bd. 2, 11. neubearb. Aufl., hg. v. Georg Ottersbach, Berlin 1933, 416). Zahlreiche Marken bestanden parallel, meist mit regionalen Schwerpunkten. Die Preisbindung ermöglichte überdurchschnittliche Gewinne, die langsame Aufteilung des Marktes zwischen Drogerien und vermehrt auch Lebensmittelhändlern milderte wirtschaftliche Kämpfe zwischen den Anbietern. Nationale Markenprodukte bestanden, neben Wichsmädel sei an Cirene, Sigella, Cefka oder Tunix erinnert (Marktüberblick bei Klockhaus, 1934, BV 46). Doch ihre Werbung konnte mit der Henkels weder in der Quantität noch in der werblichen Vielfalt konkurrieren. Sie blieb sekundär, unterschied sich strukturell kaum von der für Wichsmädel (vgl. für Globella Fliegende Blätter 163, 1925, Nr. 4170, II).

Bohnerwachs war ein stetig präsentes Reinigungsmittel, unambitiös, Beiklang zu einem Leben, in dem Putzen Alltagsfron blieb, doch keine Alltagspräsenz hatte. Das traf sich mit den Zielsetzungen der Haushaltsrationalisierung: „Der Ablauf des täglichen Lebens soll reibungslos erfolgen, ohne daß wir Hausfrauen, die wir uns Hilfskräfte nur noch in bescheidenstem Maße leisten können, in einem Springen und Rennen bleiben, in ewigem Staubwischen und Reinemachen, in ständigem Suchen und Hervorzerren nach verräumten oder ungünstig untergebrachten Gebrauchsgegenständen. Um das zu erreichen, brauchen wir Häuser und Wohnungen, bei deren Bau und Einrichtung von vornherein daran gedacht wird, daß hier Menschen täglich essen, schlafen, sich erholen – und daß wir Frauen hier arbeiten wollen, um das Essen, Schlafen und Sich-Erholen einer Anzahl von Menschen täglich von neuem zu ermöglichen“ (Erna Meyer, So wollen wir wohnen, Scherl’s Magazin 7, 1931, 466-470, 480).

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Abkehr vom knienden Putzen (Berliner Tageblatt 1928, Nr. 447 v. 22. September, 11)

Boden- und Oberflächenpflege mutierten zu einem wichtigen Feld der Haushaltstechnisierung – obwohl der eigentliche Durchbruch erst ab Mitte der 1950er Jahre erfolgte, als neue Reinigungsmittel und Kunststoffe das Bohnern und den Einsatz der Bohnermaschinen zunehmend begrenzten. Mitte der 1920er Jahre war das noch anders, der Odem der Arbeitserleichterung beflügelte auch den maschinellen Einsatz von Bohnerwachs. Die Maschinen waren vielfach noch nicht ausgereift, noch war nicht klar, ob die Walzen parallel oder senkrecht zum Boden stehen sollten, ob Staubsauger und Bohnermaschinen zu koppeln waren, ob rotierende Drehköpfe oder einfache Walzenapparate sinnvoller seien (Mangold, Reinigungstechnik im Hause, Die Umschau 32, 1928, 403-405, 407, hier 405, 407). Allen Geräten gemein war – neben ihrem relativ hohen Preis –, dass sie der Arbeitserleichterung dienten, dass sie versprachen, das kniende Putzen zu beenden: Ziel war die aufrechte Frau – femina erecta! Die neuen Maschinen erlaubten Bohnern im Stehen, das weiterhin erforderliche Nachputzen wurde als einfach zu bewältigende Bagatelle verniedlicht.

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Die Suggestion der kinderleichten Hausarbeit: Eine Blockermaschine und der Protos-Bohnerapparat (Illustrierte Technik für Jedermann 6, 1928, H. 22, IX (l.); ebd. 5, 1927, 413)

Hausarbeit wurde so – zumindest in der Werbung – zu dem Vergnügen, das auch schon in Wichsmädel-Werbung anklang. Nicht umsonst hieß eines der frühen Erfolgsmodelle „Hobby“ (Zeitbilder 1929, Nr. 4 v. 27. Januar, 8). Doch die Werbewelt dieser Bohnermaschinen war noch verhalten und ernst, vergleicht man sie mit den beschwingten Bildern der Wirtschaftswunderzeit.

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Fröhliche Hausfrauen, neue Verpackungen, alter Dreck (Frankfurter Illustrierte 1958, Nr. 36, 21 (l.); Hamburger Abendblatt 1960, Nr. 83 v. 7. April, 22)

Mit diesen wahrhaft aufrechten Frauen möchte ich mich verabschieden. Diese Frauen hatten sich vom Boden erhoben, tanzten spielerisch durch ihre Wohnung, bohnerten scheinbar mühelos im Handumdrehen. Nichts erinnerte mehr an die Alltagsfron des Wichsmädels, an die abhängige Lage eines Dienstmädchens. Die Irritation des Namens war gewichen, die Welt erschien glatt, gefällig und glänzend. Einzig der Dreck, der blieb und kam immer wieder. Und wir müssen uns ihm stellen, ob aufrecht oder auf den Knien.

Uwe Spiekermann, 3. Februar 2023