Gierige Käufer und unlautere Geschäfte. Aufstieg und Ende des Gella- und Hydra-Handels im Kaiserreich

Eine moderne Konsumgesellschaft etablierte sich in Deutschland im späten 19. Jahrhundert. Sie gründete nicht allein auf leistungsfähigen Handels- und Produktionsstrukturen, sondern auch auf der zuvor erfolgten rechtlichen Liberalisierung, insbesondere den Garantien von Freizügigkeit, Gewerbe- und Vertragsfreiheit. Der alte Obrigkeitsstaat wurde zurückgedrängt, Wirtschaft und Gesellschaft gewannen bisher unbekannte Prägekraft. Die Folge war ein neuer, allumfassender Aggregatszustand: „Die ganze Neubildung mußte die Mehrzahl aller Menschen zu etwas psychologisch anderem machen; sie mußten nun Tag und Nacht sinnen, billig einzukaufen, teuer zu verkaufen; am meisten trat dieses für die Händler ein. Ihr Erwerbstrieb, ihre Energie mußte bedeutend wachsen. Der kluge, der findige, der pfiffige und rücksichtslose kam voran, machte große Gewinne“ – so resümierte es Gustav Schmoller (1838-1917), der führende Nationalökonom um die Jahrhundertwende (Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, T. 2, Leipzig 1904, 497).

Liberales Recht und die Chancen der entstehenden Massenmärkte ermöglichten eine große Zahl neuer Betriebsformen des Handels. Manche davon, etwa Wanderlager oder Bazare, blieben zeitgebunden, gingen in andere Absatzformen über. Andere, wie Kauf- und Warenhäuser, Konsumgenossenschaften und Versandgeschäfte, Automaten und Filialbetriebe, prägen mit leichten Häutungen noch unsere Gegenwart. Sie stießen allesamt nicht nur auf Begeisterung, sondern mobilisierten auch erbitterten Widerstand; meist von denen, die ihre Marktanteile bedroht sahen, die zugleich aber ihre soziale Stellung in der Mitte der Gesellschaft verteidigten. Das Kaiserreich war daher eine Zeit harter Auseinandersetzungen um die Konturen des Neuen, um die Ausgestaltung der sich rasch ausweitenden Markt- und Konsumgesellschaft.

Die Auswirkungen dieser Debatten werden bis heute von der Geschichtswissenschaft unterschätzt. Kombattanten waren eben nicht nur Vertreter des liberalen und sozialdemokratischen Deutschlands, sondern konservative und „populistische“ Interessenvertreter des Kleinhandels, die sich häufig an altem Recht, tradierten Werten und vermeintlich überholten Gesellschaftsmodellen orientierten. Sie waren Modernisierungsverlierer, gewiss. Doch auch ihr stupender Antisemitismus darf nicht vergessen machen, dass viele ihrer Argumente heutzutage von „linken“ Globalisierungs- und Kapitalismuskritikern fortgesponnen werden, dass ihre Botschaften politisch nicht eindeutig der „Rechten“ zuzuordnen sind. Es gab ja schon im Kaiserreich argumentative Überlappungen zwischen dem Antikapitalismus der Sozialdemokratie und dem der „Mittelstandsbewegung“; und die antisemitische Grundeinstellung breiter Teile des etablierten Bürgertums war offenkundig. Doch nicht nur deshalb waren die mittelständischen Kritiker der Konsumgesellschaft keine reinen Reaktionäre. Ähnlich den Gewerkschaften, die ihren Kampf gegen den vermeintlich freien, die bestehenden Machtunterschiede ignorierenden Arbeitsvertrag im berechenbaren Streik und mit dem Ziel tarifvertraglicher Einigungen verfolgten, kämpften sie um die Konturen der modernen Konsumgesellschaft zumeist auf dem Boden des Rechts.

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Justitia und die Konsumgesellschaft: Auszug aus einer Werbung für Wasmuths Hühneraugenpflaster (Fliegende Blätter 101, 1894, Nr. 2558, Beibl. 1, 2)

Im Kern ging es der breitgefächerten Mittelstandsbewegung um die Einschränkung der Gewerbefreiheit. Diese sei zu rasch eingeführt worden, die Mehrzahl habe sich an die damit verbundenen Veränderungen nicht anpassen können. Anfangs, also in den 1870er und 1880er Jahren, wurden vorrangig Verbote gefordert, schienen ihnen Wanderlager, Arbeiterkonsumgenossenschaften, Beamtenwarenhäuser oder aber Filialbetriebe doch unmoralisch und verwerflich. Derartige Agitation zielte selbstbezüglich auf direkte Wettbewerber, hätte im Erfolgsfalle jedoch die Konturen der Wirtschafts- und Sozialverfassung des Kaiserreichs zum Einsturz gebracht, die seit der „zweiten Reichsgründung“ 1878/79 ja grundsätzlich bis heute gelten. Verbotsforderungen verstummten auch später nicht, doch die eigentlichen Debatten – und das wussten auch die sich zunehmend in Interessenverbänden organisierenden Mittelstandsvertreter – gingen um neue rechtliche Instrumente zur Gestaltung des Wandels, zur Abfederung der Liberalisierungsfolgen. Um die Jahrhundertwende war es eine offene Frage, ob das geltende Recht mit dem Tempo der Konsumgesellschaft mithalten konnte. Unvorhergesehenes musste offenbar eingehegt werden, der Markt wurde zum rechtlichen Kampfplatz, der Konsument zu einem potenziell schützenswerten Akteur.

Beispiele hierfür lassen sich einfach aneinanderreihen: Das privatwirtschaftliche Vertragsrecht wurde durch das Abzahlungsgesetz von 1894 neu gefasst – und damit eine der wichtigsten Formen des Einkaufes von Gebrauchsgütern der weniger bemittelten Bevölkerungsschichten. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von 1896 regelte die seit langem üblichen, nun aber intensivierten Ausverkäufe und führte neue Rechtstatbestände von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr ein. Der Hausierhandel wurde 1896 neu geregelt, das Genossenschaftsgesetz abermals verändert. Parallel wurde das Privat- und Handelsrecht nach langen Debatten kodifiziert, so durch das Handelsgesetzbuch von 1897 und das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900. Auch die Sozialgesetzgebung schuf Ordnung beim Einkauf, beispielsweise durch die sich nun langsam verringernden Ladenöffnungszeiten.

Die Mittelstandsvertreter waren verbalradikal, doch sie verwiesen immer wieder auf ihre Orientierung an Thron und Altar, an eine sittlich fundierte monarchische Herrschaft. Das waren implizite Selbstverpflichtungen. Entsprechend wurden gegen die neue Konkurrenz, im Einklang mit der rechtsstaatlichen Fundierung des Kaiserreichs, Gesetze und Verordnungen eingefordert – mochten diese auch den bisherigen Rechtsrahmen sprengen. Diese grundsätzlich systemkonforme Haltung zeigte sich auch in den die Jahrhundertwende kennzeichnenden Debatten über Sondersteuern für das Wandergewerbe, Konsumgenossenschaften und Filialbetriebe, schließlich auch für Warenhäuser (vgl. Uwe Spiekermann, Warenhaussteuer in Deutschland. Mittelstandsbewegung, Kapitalismus und Rechtsstaat im späten Kaiserreich, Frankfurt a.M. et al. 1994). Damit transformierte man die Kontroverse über die Konturen der Konsumgesellschaft auf die abstrakte Ebene von Geld, von Angebot und Nachfrage. Die populistischen Kritiker akzeptierten damit das Finanzwesen als Kern des Kapitalismus und die Steuerpolitik als Kern moderner staatlicher Herrschaft.

Der Gella- und Hydrahandel: Struktur und Entstehung

Wie also ging man im Kaiserreich mit neuen, sich rasch etablierenden Veränderungen im Konsumgütermarkt um? Das kann man wie im Brennglas an einer sich kaum drei Jahre hinziehenden Debatte über den Gella- und Hydrahandel nachverfolgen (vgl. kompakt hierzu bereits Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 433-436). Unter diesem Begriff ist er heute vergessen, doch er war eine der ersten kommerziellen Anwendungen sogenannter Schneeballsysteme, auf die bis heute recht unterschiedliche Vertriebssysteme unter modischen Begriffen wie „Multi-Level-Marketing-System“ oder „Strukturvertrieb“ aufgebaut werden. Auch im Finanzsystem sind sie beliebt und berüchtigt, wie der Fall des Wirtschaftskriminellen und Finanzmaklers Bernie L. Madoff vor einigen Jahren unterstrich (Diana B. Henriques, The Wizard of Lies. Bernie Madoff and the Death of Trust, New York 2017).

Der Gella- und Hydrahandel war eine sich 1899 im Deutschen Reich etablierende Vertriebsweise, durch die man mittels Kaufs von Gutscheinen höherwertige Gebrauchsgüter zu äußerst niedrigen Preisen erhalten konnte. Er verdeutlichte die rasche Ökonomisierung und Abstrahierung des Massenmarktes mit Uhren, Fahrrädern, Kleidung, Schuhen, Stahlwaren, Zigarren und anderem mehr. Doch bevor wir näher auf den historischen Kontext eingehen, sollten wir uns vor Augen führen, wie dieses Vertriebssystem funktionierte.

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Bezugsschein und Coupons des Münchener Warenhauses Hydra 1899 (Stadtarchiv München, Gewerbeamt 215)

Der hier gezeigte, nicht übertragbare Bezugsschein des Warenhauses Hydra wurde dem Käufer für einen Coupon ausgehändigt, den er für zwei Mark erwerben konnte. „Für diesen Coupon hat er die Berechtigung, sich eine Urkunde zu erwerben, an der 6 weitere Coupons sitzen, wofür er 12 M. zu zahlen hat. Diese 6 Coupons kann er das Stück mit 2 M. weiter verkaufen und erhält so die dafür gezahlten 12 M. zurück. Sobald die von ihm verkauften 6 Coupons bei dem betreffenden Unternehmer einkaufen und je durch eine neue Urkunde eingetauscht sind, von welchen jede natürlich gleichfalls 12 M. kostet und je gleichfalls enthält, erhält A. nunmehr einen Gegenstand im Werte von 20 bis 50 M. Der Käufer A. hat also thatsächlich einen Gegenstand im Werte von 20-50 M. für 2 M. erhalten“ (Vorwärts 1899, Nr. 152 v. 2. Juli, 6). Konsumgüter konnten also zu einem Spottpreis erworben werden, der dafür erforderliche Aufwand schien gering. Ein bisschen Antichambrieren, ein wenig den Freundeskreis bearbeiten, mehr schien nicht nötig. Die Nachfrage nach Coupons und Bezugscheinen war entsprechend groß. Über das Münchener Warenhaus Hydra hieß es im Juli 1899: „Der Besuch dort ist ein sehr lebhafter, die Besucher dieses Geschäftes gehören sowohl dem Mittelstande, der größte Teil aber dem Arbeiterstande an“ (Stadtarchiv München, Gewerbeamt 215).

Blicken wir genauer hin, so werden die Tücken des Vertriebssystem deutlich. Für den erfolgreichen Erwerb der begehrten Ware waren nicht nur insgesamt 1 plus 6 plus 6 mal 6, also 43 Coupons von unterschiedlichen Personen zu kaufen. Auch die sechs Käufer der zweiten Runde mussten nun versuchen, ihrerseits je sechs weitere Käufer zu finden. Aus der Perspektive des einen Käufers handelte es sich wiederum um den Erwerb von 43 Coupons. Aus der Perspektive des Gesamtabsatzes aber erhöhte sich die Zahl der im Umlauf befindlichen Coupons um 6 mal 36, also auf 216. Es traten also Kaskadeneffekte auf, die zwingend dazu führten, dass es nach kurzer Zeit nicht mehr genügend Interessenten für die einschlägigen Coupons geben konnte. In der neunten Runde wären immerhin mehr als 10 Millionen Coupons im Umlauf. Prosaisch gefasst: „Das Hydra-System […] überträgt die Regel der geometrischen Progression auf den Handelsverkehr“ (Das Hydra-System, Allgemeine Zeitung [München] 1901, Nr. 165 v. 16. Juni, Beil., 1).

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Zeitgenössische Visualisierung des Schneeballeffektes (Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 303 v. 8. November, 3)

Die Lawine kam daher rasch zum Stillstand: „Wenn aber keine Coupons mehr gekauft werden, werden diese auch nicht mehr dem Unternehmer zur Einlösung geschickt werden, da dies nur durch Zahlung von weiteren 12 M. geschehen könnte. Unzählige Coupons wandern jetzt als wertlose Papierfetzen herum, für welche der schlaue Unternehmer zwei Mark pro Stück erhalten hat, ohne je in die Lage zu kommen, auch nur den größeren Teil wieder einzulösen und die entsprechenden Werte dafür auszahlen zu müssen“ (Vorwärts 1899, Nr. 152 v. 2. Juli, 6). Der monetäre Verlust des Käufers betrug in diesem Falle 14 Mark, nämlich die addierten Preise für Coupon und Bezugsschein.

Ein Blick auf den Bezugsschein zeigt allerdings, dass dies nur bei Passivität des Käufers zutraf. Der Käufer konnte sich den Couponwert aber auch zusammenrechnen lassen und dann eine Ware erhalten, die – nach Auskunft des Anbieters – dem Wert des eingesetzten Kapitals entsprach. Der aktive Käufer bekam also durchaus einen Gegenwert für seinen Einsatz, allerdings nicht den begehrten Artikel zum Spottpreis. Der Verkäufer selbst hatte ein Interesse an einer schnellen Entwicklung des Handels, da die Zahl potenzieller Käufer so rasch zunahm. Auch daher verfielen die Coupons nach einer gewissen Zeit – hier nach 100 bzw. 150 Tagen – und zwar zugunsten des Verkäufers, wenn der Käufer nicht zuvor seine Ansprüche geltend machte.

Das Vertriebssystem dürfte als Gutscheinhandel wohl zu Beginn des letzten Drittels der 1890er Jahre in Frankreich und der Westschweiz entstanden sein. Es diente anfangs vornehmlich dem Absatz von Uhren (Warenvertrieb mittels Gutscheinen, Handel und Gewerbe 7, 1899/1900, 370-372, hier 371). Über Klein- und Mittelstädte Elsass-Lothringens und Badens verbreitete sich das neue System dann im ganzen Deutschen Reich, parallel erweiterte sich das Warenangebot. Angesichts der raschen Verbote des Gutscheinhandels in der Schweiz kann es sich durchaus um Ausweichbewegungen gehandelt haben (so Eingabe der Centralstelle „Die Uhr“ an den Reichstag v. 20. Februar 1900, Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 49), doch schon aufgrund der raschen Ausweitung möglicher Käufer handelte es sich um ein strukturell mobiles und ortsübergreifendes System. Seine prononcierteste Ausprägung erhielt es jedoch 1899 in mehreren Großstädten.

Namensgeber war einerseits die Berliner Vertriebsgesellschaft Gella, deren Konzept wohl aus England stammte. Noch bekannter wurde anderseits das Warenhaus Hydra, das in mehreren Großstädten Dependancen eröffnete. Es ist unklar, ob die Firmenbesitzer wussten, dass sie schon früher im Finanzsektor praktizierte Schneeballsysteme weiterentwickelt hatten. Das gewiss bekannteste stammte von der Münchener Schauspielerin und Wirtschaftskriminellen Adele Spitzeder (1832-1895), deren Münchener Privatbank von 1869 bis 1872 bis zu 32.000 Bürger um Kapital brachte (Dirk Schumann, Der Fall Adele Spitzeder 1872. Eine Studie zur Mentalität der „kleinen Leute“ in der Gründerzeit, Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 58, 1995, 991-1026). Der seltener, aber immer wieder verwandte Dachbegriff Schneeballsystem ging dagegen auf die Schneeballkollekten zurück (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 169). Deren Grundprinzip war, dass jemand eine geringe Summe spendete, unter der Maßgabe, dass zwei seiner Bekannten die gleiche Summe gaben und diese wiederum ebenso vorgingen. So konnten in kurzer Zeit auch größere Summen gesammelt werden. Mangels Kontrolle war bei derartigen Kollekten dem Missbrauch jedoch Tür und Tor geöffnet (Gella und Hydra, Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 208 v. 4. August, 2). Sie galten daher seit den frühen 1890er Jahren als nicht genehmigte und damit rechtswidrige Lotterien (Deutsche Juristenzeitung 1, 1896, 202). Auch Bettelbriefe nach dem Schneeballprinzip reichten historisch weiter zurück. Kollekten und Briefen war gemeinsam, dass die Kaskaden mangels finanzieller Anreize sehr rasch abebbten, zumal Nichtstun in diesen Fällen Geld sparte, da es nicht ausgegeben wurde. Man musste lediglich mit dem moralischen Dilemma fertig werden, Hilfe verweigert zu haben. Das war beim Gella- und Hydrahandel anderes, denn dieser wurde vom Erwerbstrieb in Gang gesetzt und in Bewegung gehalten.

Gella & Hydra oder rasche Marktbereinigung vor Ort

Eine öffentliche Debatte über den Gella- und Hydrahandel setzte Mitte 1899 ein. Sie konzentrierte sich auf die beiden namensgebenden Firmen und die Metropolen Berlin und München. Verhandelt wurde jedoch nicht nur eine neue Vertriebsform des Handels, sondern auch die Gefährdungen der Kommerzialisierung des Alltags, „denn der Reiz, für wenige Mark einen wertvollen Gegenstand erwerben zu können, überwiegt selbst bei aufgeklärten Leuten die Bedenken, und wenn diese erst einen Gutschein in Händen haben, dann sind sie rettungslos dem Unternehmer verfallen“ (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 6, 1900, 170).

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Der gierige Käufer auf der Suche nach Abnehmern seiner Gutscheine (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 32, 6)

Die Berliner Gella Vertriebsgesellschaft mbH wurde Ende Mai 1899 ins lokale Gesellschaftsregister eingetragen, ihr Gesellschaftervertrag datiert vom 15. Mai 1899: „Gegenstand des Unternehmens ist: Der Vertrieb von Waaren in beliebiger Anzahl von Gattungen; die Gesellschaft ist eine bestimmte Zeit nicht beschränkt. Das Stammcapital beträgt 21.000 M. […] Geschäftsführer ist Kaufmann Siegfried Hertz zu Berlin“ (Berliner Börsen-Zeitung 1899, Nr. 246 v. 29. Mai, 21). Für die sozialdemokratische Parteizeitung Vorwärts handelte es sich um eine „sehr raffinierte Finanzoperation“ zu Lasten „der ärmeren Bevölkerungsklassen […], welches den genialen, es ausübenden Finanzgenies bei nicht (vielleicht auch trotz) rechtzeitiger Warnung der namentlich in Betracht kommenden weniger bemittelten Klassen große Summen in die Tasche spielen wird“ (Vorwärts 1899, Nr. 152 v. 2. Juli, 6). Dagegen präsentierte das linksliberale Berliner Tageblatt die Fährnisse und Gefahren des Systems anfangs eher in humoristischer Weise (vgl. hierzu Gella und Hydra, Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 208 v. 4. August, 2). Vorgeführt wurden sie am Beispiel eines wohlsituierten Bürgers, der einen Koffer voller Toilettengegenstände billigst erstehen wollte. Er fand sich nach Kauf der Coupons in der Rolle eines Verkäufers wieder, „der nun plötzlich gezwungen ist, seinen Freunden einzureden, daß ohne den Besitz einer Nähmaschine, eines Theaterglases oder eines Kettenarmbandes ihr Leben ein verfehltes sei, und daß sie diese Dinge vernünftigerweise nur auf dem Wege des ‚Gella-Systems‘ erlangen könnten.“ Seine detailliert geschilderten Erfahrungen waren Abbitten auf seine eigene Gier, zumal als er die Käufer seiner Coupons anzuhalten hatte, ihrerseits die Coupons an weitere Käufer abzusetzen. Freundschaften zerbrachen, Schroffheit beherrschte das einst harmonische Beziehungsgeflecht. Am Ende zählte der fiktive Bürger 62 Personen, die ihn „als die Quelle ihres Unheils betrachten“ (Gella und Hydra, Berliner Tageblatt 1899, Nr. 358 v. 17. Juli, 2). Die billige Ware hatte offensichtlich hohe soziale Kosten. Dann doch lieber im Fachhandel kaufen.

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Soziale Kosten des Gella- und Hydrahandels in der Karikatur (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 32, 6)

Derweil sah sich die Redaktion des Vorwärts gemüßigt, eine freundliche, aber bestimmt gehaltene Entgegnung der Gella auf ihre Warnung zu veröffentlichen. Und es war in der Tat gewährleistet, dass ein Käufer sein Kapital nicht verlieren musste, wenn es ihm nicht gelang, genügend Käufer zu gewinnen. In diesem Fall konnte er andere, preiswertere Waren im Gegenwert des Einsatzes erhalten: „Aber selbst wenn es dem Inhaber eines Coupons und einer Urkunde nicht gelingt, einen einzigen der der Urkunde beigegebenen Coupons zu veräußern, so hat er nicht einen wertlosen Papierfetzen in der Hand, sondern ihm steht, wie in Nummer VII der Gebrauchsanweisung der Gesellschaft ‚Gella‘ hervorgehoben ist, in diesem ungünstigsten Falle das Recht zu, die Coupons selbst zu erfüllen und gegen Zahlung von 2 Mark für den Coupon + 12 Mark für die Urkunde + 72 Mark für die Erfüllung der sechs zur Urkunde gehörigen Coupons, im Ganzen also von 86 Mark, aus Abteilung A einen Gegenstand im Werte von 72-90 Mark zu entnehmen. Daneben erhält er noch sechs Urkunden nebst dazu gehörigen Coupons und somit die Möglichkeit, durch Verkauf derselben den Warenpreis zurückzugewinnen“. Die Kaufleute verwiesen auf die ökonomische Rationalität ihrer Geschäftsbedingungen: „Der Nutzen der Gesellschaft ergiebt sich somit nicht aus der Spekulation auf die Entwertung ihrer Coupons, sondern wie bei jedem kaufmännischen Geschäft aus der Differenz zwischen dem Einkaufspreis und dem Verkaufspreis ihrer Waren (Vorwärts 1899, Nr. 158 v. 9. Juli, 6).“ Doch das war formal gedacht, ging nicht auf die andere Erwartung der Käufer ein. Diesen schien es offenbar nicht lohnend, relativ kleine Beträge wieder einzusammeln oder aber mit zusätzlichem Kapital Waren zu erwerben, die sie mit geringerem Aufwand direkt hätten kaufen können.

Das Gella-System unterstrich, dass der Preis und die Kosten einer Ware unterschiedliche Dinge waren. Selbst das Schnäppchen war teuer, rechnete man den Aufwand des Couponerwerbs, des eigenhändigen Vertriebs der Scheine, die Kontrolle über deren weiteren Absatz und die entgangenen Zinsen für das eingesetzte Kapitel mit ein. Der Aufwand für die Rückerstattung des Grundpreises des Coupons konnte ebenfalls Kosten verursachen, und teils wollte man andere Waren gar nicht haben, mochten sie auch wertmäßig kompensieren. Der Gellahandel spielte also virtuos mit Kostenkalkulationen: Er suggerierte enorm billige Ware, schuf eine vertragliches Sicherheitsnetz für den Käufer, setzte aber darauf, dass dieses von vielen Käufern nicht genutzt wurde. Abstrakt gesprochen: Konsumgesellschaften charakterisierten eben nicht nur mikroökonomische Kalkulationen über Geldausgaben und eine möglichst effiziente Bedürfnisbefriedigung, sondern sie sind immer auch von den mit Kaufakten verbundenen Opportunitäts-, also Marktnutzungskosten, abgängig. Auch ohne entsprechendes ökonomisches Wissen richtet sich eine große Mehrzahl nach derartigen Kostenkalkülen; und dies kann man im Geschäftsleben wiederum nutzen. Anders lässt es sich nicht erklären, dass sich rasch ein Markt für verbilligte Coupons ausbildete, obwohl diese doch im Prinzip von jedem Besitzer zu Waren im Gegenwert eingelöst werden konnten.

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Neue Märkte deutlich verbilligter Coupons des Warenhauses Gella (Berliner Tageblatt 1899, Nr. 341 v. 9. Juli, 9)

Vor dem Hintergrund ihrer transparenten und auch verständlich gehaltenen Geschäftsbedingungen war es kein Zufall, dass sich die Gella-Gesellschaft auch gegen öffentliche Warnungen des Berliner Polizeipräsidenten vernehmlich zu Wort meldete. Ihr Geschäftsbetrieb sei juristisch einwandfrei, würden die Käufer doch deutlich auf bestehende Risiken hingewiesen, ihnen auch Alternativen bis hin zum Einkauf bei „anderen Ladengeschäften höheren Ranges“ (Berliner Tageblatt 1900, Nr. 391 v. 4. August, 5) offeriert, um den Wert der Coupons auszugleichen. Auf diese Weise gewann das neue Unternehmen weitere Publizität und Aufmerksamkeit. Das galt auch für eine Privatklage gegen Karl Keller, Redakteur des Berliner Tageblattes, der sich der Warnung des Berliner Polizeipräsidenten vor dem Gella- und Hydrahandel angeschlossen hatte (Vorwärts 1900, Nr. 240 v. 14. Oktober, 5; Berliner Tageblatt 1900, Nr. 526 v. 16. Oktober, 5). Er wurde freigesprochen, verbunden mit einer Bekräftigung der erfolgten Warnung: „Wenn sich die Gella-Gesellschaft in ihren Prospekten an die Minderbegüterten wende und in ihren Reklamen mit fetter Schrift verkünde, daß man für 2 M. eine Nähmaschine, für 4 M. eine Klassiker-Bibliothek, für 6 M. ein erstklassiges Fahrrad und andre Gegenstände ‚für einen minimalen Bruchteil des Wertes‘ erwerben könne, so spekuliere sie auf die Leichtgläubigkeit des nicht geschäftsgewandten Publikums und die Presse ist berechtigt, davor zu warnen“ (Vorwärts 1901, Nr. 4 v. 5. Januar, 6; Berliner Börsen-Zeitung 1901, Nr. 7 v. 5. Januar, 6). Eine Verurteilung der Gella Vertriebsgesellschaft war dies jedoch noch nicht. Es war vielmehr auch eine Warnung vor den Trieben ärmerer Konsumenten, die Waren besitzen wollten, ohne über das nötige Kapital hierfür zu verfügen und die deshalb auf Angebote eingingen, deren Kosten schwer übersehbar waren.

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Neue Märkte deutlich verbilligter Coupons des Warenhauses Gella (Berliner Tageblatt 1899, Nr. 341 v. 9. Juli, 9)

Das Warenhaus Hydra, das Anfang Juli 1899 in der Mitte Berlins die Tore öffnete, verfolgte ein leicht modifiziertes Geschäftskonzept. Die Zahl der angebotenen und der Preisstufen lag deutlich höher (Die Dummen werden nicht alle, Vorwärts 1899, Nr. 153 v. 4. Juli, 5). Wie Abzahlungs-, Partiewaren- und die Mehrzahl der Warenhäuser zielte es explizit auf Käufer aus der Arbeiterschaft und dem unteren Mittelstand. Wie die Gella Vertriebsgesellschaft bot sie Waren nicht zum freien Verkauf an, sondern präsentierte sie in einer Musterausstellung, „d. h. mehrere Schaufenster und das Innere des Ladens sind mit Gegenständen gefüllt, die durch das ‚Hydra-System‘ erworben werden können. Der Andrang war in den letzten Tagen ein so gewaltiger, daß der Straßenverkehr vor dem Hause zeitweilig gelenkt wurde. Die an den Waaren angehefteten Preise mußten natürlich die Passanten in den Irrthum versetzen, daß die Sachen nahezu verschenkt würden und ohne Weiteres gegen Zahlung des Betrages zu kaufen wären. So sind z. B. ein Eisschrank und ein aus 40 Theilen bestehendes Tafelservice mit einer Mark ausgezeichnet, sechs silberne Theelöffel im Etuis mit 50 Pfennigen, ein Reisekoffer aus braunem Segeltuch mit 10 Pfennigen.“ Abermals wurden Warnungen laut und „eine Verschärfung gesetzlicher Bestimmungen“ gefordert: Aber „der Hydra ‚unlauterer Wettbewerb‘ wachsen stets an Stelle des eitlen abgeschlagenen Hauptes ein Dutzend neuer Köpfe“ (Das Gella-System macht Schule, Volkszeitung 1899, Ausg. v. 6. Juli).

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Rascher Erfolg: Stellenanzeige des Berliner Warenhauses Hydra (Vossische Zeitung 1899, Nr. 307 v. 4. Juli, 23)

Das Warenhaus Hydra machte anfangs gute Geschäfte, schon nach wenigen Tagen musste das Personal erweitert werden. Doch vier Wochen später hatte sich die Szenerie gewandelt: „Selbst die verlockendste Anpreisung verfängt nicht mehr. […] Das Publikum denkt aber: ‚Nicht geschenkt!‘“ (Volkszeitung 1899, Ausg. v. 31. Juli).

Auch Hydra versandte Berichtigungen, klagte gegen Warnungen und vermeintlich unwahre Berichte (Volkszeitung 1899, Nr. 359 v. 3. August, 5; Vorwärts 1899, Nr. 180 v. 4. August, 5; Volkszeitung 1899, Ausg. v. 15. September). Durchschlagende Wirkung hatte dies nicht. Das Warenhaus wurde Mitte August an neue Investoren verkauft, der Gründer Leopold Behrend beantragte kurz darauf die Insolvenz (Volkszeitung 1899, Ausg. v. 2. September). Er hatte seit 1893 ein Netzwerk von „Special-Restegeschäften“ aufgebaut, das durch die Vorgaben des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb illegal wurde. Er ging zum Großhandel über, hatte Finanzierungsprobleme, die auch mittels der Hydra-Gründung überwunden werden sollten. Am Ende standen Verbindlichkeiten von drei Millionen Mark zu Buche (Vorwärts 1900, Nr. 206 v. 3. September, 5).

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Pleitegeier über dem Warenhaus Hydra (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 32, 6)

Hydra Warenhäuser wurden auch an anderen Orten gegründet, gewissermaßen in Analogie zu den zuvor unterhaltenen Restegeschäften. Ihre Leitung lag in der Hand von Louis Grand, dem Schwager des Firmeninhabers Behrend. In München traf der Betrieb auf deutlich stärkeren Widerstand durch ortsansässige Kaufleute, aber auch durch die Obrigkeit – hier hatte der Landtag kurz zuvor in einer Gewerbesteuernovelle die reichsweit höchsten Warenhaussteuern beschlossen (Spiekermann, 1994, 97-105). Das im Zentrum von München gelegene Warenhaus war jedenfalls nur kurze Zeit in Betrieb, mochte es in seinen Schaufenstern auch mit Preisen locken, die „unmöglich“ (Wendelstein 1899, Nr. 166 v. 25. Juli, 3) schienen. Es ist unklar, warum die Staatanwaltschaft gegen den Inhaber Louis Grand ermittelt hatte, doch mit der Schließung des Betriebes kam er einem behördlichen Eingreifen zuvor (Volkszeitung 1899, Ausg. v. 4. August). Die liberale Allgemeine Zeitung vermerkte volksseelennah: „Es ist daher nur mit Genugthuung zu begrüßen, daß diesem Treiben bereits nach kurzer Zeit hier ein Ende gemacht worden ist“ (1899, Nr. 209 v. 30. Juli, 6). Die Polizeidirektion München warnte anschließend vor dem Schneeballsystem als solchem und Stand Gewehr bei Fuß, um „die öffentliche Strafverfolgung der Verkäufer sogenannter Gutscheine jederzeit herbeizuführen“ (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 67, 1900, 6628). Es sollte sich allerdings rasch zeigen, dass die Gerichte diese Vertriebssysteme keineswegs einschränken konnten. Dennoch schlossen auch weitere Filialen des Warenhauses Hydra nach nur kurzem Bestehen, so etwa in Hannover (Warenvertrieb mittels Gutscheinen, Handel und Gewerbe 7, 1899/1900, 425-426, hier 426).

Das Fazit der Gegner der neuen Vertriebsform war demnach hoffnungsfroh: „Die Vertreibung der Gella-Gutscheine geht nach uns von allen Seiten gewordenen Nachrichten so zurück, dass […] der Schwindel an der eigenen Liederlichkeit ein unrühmliches Ende finden wird“ (Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 25, 1900, 154). Doch das war voreilig, denn mit dem nur kurzen Bestehen der namensgebenden Firmen Gella und Hydra war das Vertriebssystem keineswegs am Ende. Und auch die eliminatorischen Wünsche, „dass allenthalben derartige Unternehmungen sofort unterdrückt würden“ (Deutsche Uhrmacher-Zeitung 23, 1899, 617) ließen sich im Rahmen des geltenden Rechts nicht verwirklichen.

Ausweitungen: Schnellballsysteme im Uhren- und Fahrradhandel

Die nach dem Niedergang des Warenhauses Hydra noch hoffnungsfrohe Stimmung der Wettbewerber kippte daher Anfang 1900: „Die Beunruhigung, in die vielerorts unsere Kollegen durch das Gutschein-Verkaufs-System versetzt worden sind, dauert leider noch an, und es muß bedauerlicherweise sogar konstatirt werden, daß das Uebel noch weiter um sich frißt und immer größere Gebiete zu ergreifen droht“ (Deutsche Uhrmacher-Zeitung 24, 1900, 63). Diese Stellungnahme des Deutschen Uhrmacher-Bundes war repräsentativ für zahlreiche etablierte Kräfte im Gebrauchsgüterhandel, die nun erst vergegenwärtigten, dass Gella und Hydra lediglich Vorboten einer zweiten, deutlich umfangreicheren Entwicklungsphase des neuen Vertriebssystems waren. Gewiss, in größeren Städten gab es nach wie vor Waren- und Kaufhäuser auf Basis des Gella- und Hydrahandels. Doch auch hier war eine Konzentration auf wenige, häufig nur eine Warenart feststellbar. So wurden in Düsseldorf sogenannte Fortunabücher ausgegeben, um Anzüge zu den bekannten Spottpreisen erwerben zu können (Gella und Hydra, Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 208 v. 4. August, 2).

Die zweite Phase wurde vor allem von Versandgeschäften getragen, bediente sich der Post, nutzte nur selten lokale Standorte. Wir sehen also eine weitere Abstrahierung des Warenvertriebs. Gab es in der ersten Phase noch Schaufenster und Verkaufsläden, hatte man Umgang mit Vertriebspersonal und konnte die Waren noch direkt begutachten, so traten nun Prospektabbildungen an die Stelle der Warenmuster, substituieren Adressen die Läden, ersetzten Namen reale Personen. Dies lag in der Logik eines Vertriebssystems, das auf schriftlichen Verträgen und Geschäftsbedingungen gründete und bei dem die Vorstellung einer billigst zu erwerbenden Ware handlungsauslösend war. Die deutlich abgeschwächte Materialität des Handelsgeschäfts legte auch eine Begrenzung auf wenige Warengruppen nahe. Fahrräder und Uhren dominierten den Handel, wenngleich auch Kleidung bzw. Genussmittel abgesetzt wurden. Es handelte sich um Güter des Alltagsbedarfs, um etablierte Konsumgüter, die um die Jahrhundertwende auch von Arbeitern, Handwerkern und Bauern massenhaft gekauft wurden.

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Der Preis als irreleitender Indikator eines Einkaufes, Karikatur 1899 (Lustige Blätter 14, 1899, Nr. 32, 6)

Bevor wir uns wenige Beispiele genauer anschauen, sollten wir uns allerdings einen Blick auf die unmittelbaren Reaktionen der Wettbewerber erlauben. Sie dachten eben nicht in Entwicklungslinien modernen Handels, reflektierten kaum die mit der Ökonomisierung des Absatzes einhergehende Reduktion von Käufen auf Geldtransaktionen. Für sie war Warenabsatz nicht eine Interaktion von Käufern und Waren, sondern geprägt von einem fachlich ausgewiesenen Mittelmann, einem Händler, der das jeweils passende Produkt empfahl, der auch dafür sorgte, dass das Budget des Käufers nicht von Käufen und unschicklichen Konsumwünschen gesprengt würde. Das Schneeballsystem war für sie „Massenschädigung“, ein Bruch mit den gewachsenen Beziehungen von Menschen in einer geordneten Wirtschaft mit klaren Rollen und Kompetenzen. Für sie lag darin „ganz gewöhnliches Anreißerthum“ und es schien ihnen schlicht unlauter, „daß jeder, der für ein ihm ganz fremdes Geschäft, für dessen Zuverlässigkeit und für die Güte von dessen Waren er nicht die geringste Bürgschaft hat, Kunden heranzieht, sich zum gewöhnlichen Schlepper erniedrigt“ (Gella und Hydra, Düsseldorfer Volksblatt 1899, Nr. 208 v. 4. August, 2 – auch für die Zitate zuvor). Jeder „anständige und ehrenwerte Mensch“ würde das neue Vertriebssystem zurückweisen, würde er über die Folgen nachdenken: „Ein solcher Vertrieb ist […] in hohem Grade unmoralisch und er findet nur statt, weil und wenn der Verkäufer sein wahres Wesen in seinen Ankündigungen so geschickt zu verdecken versteht, dass selbst Leute von guter Urteilskraft und Rechenkenntnis sich darüber täuschen lassen“ (Die rechtliche Beurteilung des Gella- und Hydra-Systems, Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 181). Derartige Bewertungen spiegelten das Aufbrechen fester Einkaufsmuster und gleichsam garantierter Beziehungen von Händler und Käufer. Der Konsument emanzipierte sich von derartigen Bindungen, zerschlug so die imaginäre Welt des „Leben und leben lassens“, in der man sich wechselseitig einen für das Auskommen nötigen Ertrag zubilligte und nicht einseitig seinen Vorteil suchte. Für die mittelständischen Händler war der Gella- und Hydrahandel dagegen „ein trauriges Zeichen unserer Zeit“, „Unfug“ unreeller Geschäftsleute, die sich zynisch vor Augen führten, dass die Welt betrogen werden will (Düsseldorfer Volksblatt 1900, Nr. 221 v. 12. August, 2). Sie reflektierten nicht, dass in einer Konsumgesellschaft Geldwert und Kosten dominieren und Moral einen klaren, meist sozialen Mehrwert erbringen muss, um Kaufakte zu beeinflussen.

Blicken wir zuerst auf den Uhrenhandel. Die mechanischen Instrumente setzten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, veränderten die Taktung des Alltags. Sie waren zugleich ein Renommiergut, sei es als möglichst „goldene“ Taschenuhr oder aber als repräsentative Standuhr. Ab Mitte des 19. Jahrhundert traten neben den lokalen Uhrmacher heimindustrielle Produzenten, die insbesondere im Schwarzwald und der schweizerischen Romandie angesiedelt waren. Sie belieferten meist Großhändler, doch seit Ende des 19. Jahrhundert integrierten Versandhändler Uhren in ihre Kataloge, etablierten sich zunehmend spezialisierte Anbieter. Letztere wurden zum eigentlichen Träger des „Gutscheinhandels“ mit Uhren jeglicher Art. Eines davon war das Versandhaus Engler & Co. aus dem thurgauischen Kreuzlingen. Dessen Anzeigen tönten vielversprechend: „Wer ohne Geld in den Besitz einer wertvollen Uhr gelangen will, sende seine genaue Adresse mit Retourmarke an die Reklameabteilung des Uhren-Versandhauses Engler & Co. in Kreuzlingen“ (Der Gellacouponhandel, Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 26, 1901, 76-77, hier 76 – auch für das Folgende). Tat man dies, so erhielt der potenzielle Kunde drei Briefe, zwei davon luden zu Preisrätseln ein. Wichtiger aber war der erste Brief, in dem es einladend hieß: „Ohne Geld können Sie in den Besitz einer wertvollen Uhr gelangen, wenn sie nachstehend erklärte kleine Arbeit nicht scheuen. – Gewiss befinden sich ja in ihrem Bekanntenkreisen Personen, die auch den Wunsch haben, mit der Kleinigkeit von nur 50 Rappen an einer Preisbewerbung teilzunehmen. Sie erhalten nun mitfolgend zehn Formulare mit einem Preisrätsel und einem Rückschein für die Lösung, diese verteilen Sie nur an solche Leute, welche Freude und Interesse daran zeigen und Ihnen nach erfolgter Erklärung die Beteiligung bestimmt zusagen. Sobald dann jeder von den 10 Mitbewerbern die Lösung samt den verlangten Briefmarken uns eingesandt hat, erhalten Sie von uns ohne weitere eine wertvolle Uhr umsonst.“ Das Grundprinzip blieb bestehen, die Ausführung jedoch variierte. Engler & Co. waren Billiganbieter. Andere Firmen forderten mehr Geld für die Coupons: So sollte man etwa 80 Pfennig einsenden, erhielt damit die Chance, fünf weitere Coupons à 80 Pfennig zu kaufen, um diese weiterzuverkaufen und schließlich eine Uhr im Wert von 30 Francs zugesandt zu bekommen (vgl. Petition des Central-Verbandes der Deutschen Uhrmacher v. 10. Februar 1900, Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 25, 1900, 34). Das Resultat war bemerkenswert: „Anfänglich […] erregte das Hydrasystem eine förmliche Spielwut unter dem Publikum, welches durch die Neuheit der Sache und den in Aussicht gestellten Gewinn gereizt wurde“ (Finger, Ist das sog. Hydrasystem eine strafbare Ausspielung?, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 403-404). Doch auch im Uhrenhandel kam das System rasch an seine Grenzen, obwohl die Anbieter ebenfalls Garantien gaben, durch die man einen gewissen Gegenwert für nicht genutzte Coupons erhielt. Doch der Vertragspartner war fern, die Rückforderung kostete Aufwand und Porto. Für die Versandgeschäfte war ein Marktkollaps zugleich weniger einschneidend als für stationäre Geschäfte. Sie schalteten ihre Anzeigen resp. verteilten ihre Flugblätter halt an anderen Orten, wo sie vielfach neuerlich auf freudige Begeisterung stießen (Volkszeitung 1899, Ausg. v. 13. August, s.p.). Wichtig war auch, dass diese Art des Geschäftsbetriebes große Datenmengen generierte, also Adressen und Informationen über die Käufer, die später wieder genutzt werden konnten, die aber auch Handelsgut für Versandgeschäfte anderer Branchen bildeten. Der Gella- und Hydrahandel schuf demnach weitere gewinnträchtige Märkte abseits des reinen Warenabsatzes.

Ähnliche Vertriebssysteme entwickelten sich im Fahrradhandel. Hier standen französische Vorbilder Pate, die Anbieter wiesen deutlich andere regionale Schwerpunkte auf, wobei Mittel- und Westdeutschland hervortraten. Auch hier lockte das Versprechen, für beispielsweise nur acht Mark ein „anerkannt tadelloses Fahrrad“ zu erwerben (Volkszeitung 1899, Nr. 349 v. 28. Juli, 5). Der weitere Ablauf folgte den vorgegebenen Mustern.

Der lokale Kampf gegen das Schneeballsystem

Die neue Vertriebsform zielte also auf die Abschöpfung von lokaler Kaufkraft. Die ansässigen Händler, die schon gegen die Versandgeschäfte vergeblich agitiert hatten – nutzten diese doch Strukturentscheidungen der Reichspost der 1870er Jahre (Spiekermann, 1999, 296-298) – begannen ihren Kampf entsprechend vor Ort. Es galt die Käufer aufzuklären, ihnen die Folgen ihres Handelns vor Augen zu führen.

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Aufklärung des kaufenden Publikums: Flugblatt des Vereins gegen Unwesen im Handel und Gewerbe für Norddeutschland vom Juli 1899 (Staatsarchiv Hamburg 331-3 Politische Polizei S 6750, Bd. 2)

Einschlägige Flugblätter wurden von zahlreichen Händlervereinigungen und bürgerlichen Vereinen gegen unlauteren Wettbewerb verteilt. Darin artikulierten sie nicht nur die strukturellen Probleme der Schneeballsysteme, sondern auch ihre Vorstellungen eines angemessenen, und das hieß rücksichtsvollen, nicht von Gier getriebenen Kaufverhaltens. Die lokalen Händlervereinigungen hatten zumeist lokale Tages- und Wochenzeitungen auf ihrer Seite, waren diese doch auf regelmäßige Annoncen angewiesen. Abseits des publizistischen Flankenschutzes standen jedoch auch Strafanzeigen auf Grundlage vermeintlicher Vergehen gegen die Reichsgewerbeordnung, das Bürgerliche Gesetzbuch oder das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Sie stammten beispielsweise von „in ihren Lebensinteressen durch das Schneeballsystem aufs Tiefste geschädigten Fahrradhändler[n]“, die dringlichst baten, jeden entsprechenden Gutschein „zur polizeilichen oder gerichtlichen Anzeige zu bringen“ (Rosenheimer Anzeiger 1900, Nr. 174 v. 3. August, 3).

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Eine Chance für Minderbemittelte: Werbung der Fahrrad-Werke Riesenfeld für ihr Absatzsystem (Rosenheimer Anzeiger 1900, Nr. 188 v. 21. August, s.p.)

Wie schon Gella und Hydra, nutzten die derart angeprangerten Unternehmen jedoch die Chance, die von den lokalen Händlern geschaffene Publizität aufzugreifen und in Interesse für ihre Angebote umzumünzen. Sie konnten dabei, wie oben die Fahrrad-Werke Riesenfeld, zurecht darauf verweisen, dass ihr Betrieb rechtens sei und viele Vorwürfe ihrer Wettbewerber haltlos. Diese fühlten sich herausgefordert und entsprechend wurden die Strafanzeigen häufig über mehrere Instanzen durchgefochten. Im Falle der Fahrradwerke Riesenfeld zogen sich die Prozesse über fast ein Jahr hin (Unlauterer Wettbewerb, Allgemeine Zeitung 1900, Nr. 256 v. 17. September, 13; Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 147). Die Wettbewerber sahen Verstöße gegen das geltende Recht, während die Fahrradwerke auf ihre Geschäftsbedingungen verwiesen, die nachvollziehbar darlegten, dass „nach ihrem System ein Fahrrad um 8 M. 50 Pf. erworben werden kann, jedoch nicht unter allen Umständen erworben werden muß“ (Das Hydra- oder Schneeballensystem bei den Riesenfeld-Fahrradwerken, Allgemeine Zeitung [München] 1901, Nr. 4 v. 4. Januar, 6). Dennoch kam es zu einem Teilerfolg der Kläger, denn in diesem Falle musste das unvollständige Bezugsheft kostenpflichtig zurückgenommen werden, konnte also nicht durch andere Waren abgegolten werden. Dies wurde auch von der Revisionsinstanz, dem Amtsgericht München, bestätigt. Die Verurteilung erfolgte allerdings auf dem höchst brüchigen Terrain des Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 BGB: „Die Absicht des Beklagten war offensichtlich die, dem gemeinen Mann die guten Seiten des Vertrages möglichst vor Augen zu stellen und ihn so über die schlechte Seite hinwegzutäuschen. Diese Geschäfte entsprächen aber nicht den im Volke herrschenden Anschauungen über die gute Sitte“ (Das neue Bürgerliche Gesetzbuch und der Hydra-Schwindel, Allgemeine Zeitung [München] 1901, Nr. 110 v. 21. April, 6). Hier wurde nicht Recht gesprochen, sondern moralisch verurteilt – und das nachdem 1900 die Lex Heinze, also eine Verschärfung des Strafgesetzes zur Bekämpfung vermeintlicher „Unsittlichkeit“ (und zur Ermöglichung umfassender Zensur) nach vehementem Widerstand des liberalen und sozialdemokratischen Deutschlands gescheitert war.

In den meisten Verfahren musste die Anklage jedoch fallengelassen werden. Dies wurde dann werblich genutzt. Der Bonner Versandhändler Jean Duell ließ etwa in Bingen Flugblätter verteilen, in denen es hieß: „‘Auf mit frischem Muth! Laut Beschluß des Königlichen Obersten Landgerichts in München vom 10. August 1900 theile ich meiner werthen Kundschaft mit, daß der Verkauf meiner […fett, US] Gutscheine auch im Königreich Bayern gesetzlich gestattet ist, und bitte ich, dieses Circular weiter zu geben‘“ (Gutschein-Unwesen, Deutsche Uhrmacher-Zeitung 25, 1901, 18). Schon zuvor hatte er mehrfach Anzeigen „Zur Aufklärung!“ geschaltet, in denen er die Rechtmäßigkeit seines Unternehmens hervorhob und sich von Denunziationen gegen ihn abgrenzte (Der Wurm krümmt sich, Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 179). Der Karlsruher Uhrmacher Carl Faller reagierte auf die Warnungen des Bezirksamtes mit Plakataktion an Litfaßsäulen (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 110). Die lokalen Auseinandersetzungen führten also aus Sicht der mittelständischen Wettbewerber zu keinem Erfolg, konnten insbesondere die weitere Expansion der Schneeballsysteme nicht stoppen. Auch Versuche der lokaler Händlervereinigungen, ihrerseits Couponsysteme aufzulegen, erwiesen sich als Fehlschlag (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 73). Daher sammelten die Wettbewerber seit Frühjahr 1900 ihre Kräfte auf regionaler und nationaler Ebene, um die Rechtslage zu ihren Gunsten zu wenden.

Eine Bewegung für den Verbot des Gella- und Hydrahandels

Den Handels- und Gewerbekammern als Interessenvertretern von Industrie und Handel kam dabei anfangs eine wichtige Rolle zu. Ab Mai 1900 sprachen sich zahlreiche Handelskammern für ein „Verbot des Handels mit Gutscheinen“ aus (Warenvertrieb mittels Gutscheinen, Handel und Gewerbe 7, 1899/1900, 455). Vorausgegangen waren umfangreiche Erörterungen vor Ort, mit sehr unterschiedlichen Empfehlungen: Aufklärung der Käufer, Strafanzeigen gegen Gella- und Hydrahändler, vorrangig aber Eingaben und Petitionen zur Änderung des bestehenden Rechts. Das sei erforderlich, da „in der deutschen Gewerbegesetzgebung […] leider keine Bestimmung [bestehe], die eine Handhabe zum Einschreiten bieten könnte“ – so die Handelskammer Rottweil (Warenvertrieb mittels Gutscheinen, Handel und Gewerbe 7, 1898/99, 370-372, hier 372). Wie diese Gewerbeordnungsnovelle aussehen sollte, wurde nicht gesagt; nicht zuletzt, weil auch eine größere Zahl von Handelskammern dem Staat als Regulierungsinstanz des Handels misstrauten.

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Öffentliche Warnung vor rechtlich zulässigen Vertriebsformen (Rosenheimer Anzeiger 1900, Nr. 200 v. 9. April, 4)

Entsprechend wurde die eigentliche Bewegung für eine gesetzliche Regelung – und das hieß fast durchweg ein Verbot – von den zahlreichen Branchenverbänden zumal der Uhrmacher und -händler getragen. Sie versuchten zugleich genauere Informationen über den „Gutscheinhandel“ zu gewinnen. Es blieb bei Einzelfällen, doch diese gaben immerhin Eindrücke von beträchtlichen Erfolgen des neuen Vertriebssystems. Der Versandhändler Gustav Lehmann aus dem sächsischen Oberloschwitz versandte „innerhalb Jahresfrist 6000 Stück Uhren-Bezugsscheine à 6 Mk., meistens an minderbemittelte Leute, Dienstboten, Tagelöhner, Fabrikarbeiter“ (Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 26, 1901, 195). Ein Aufruf des Schweizerischen Gewerbevereins Mitte 1900 ergab die Zusendung von Coupons im Nominalwert von 6897,50 Franken von 16 verschiedenen Firmen, die von den Besitzern offenbar als wertlos erachtet wurden (Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung 16, 1900, 537). Das Schneeballsystem war ein Massenphänomen.

Die Branchenvereine fordern Schutz, forderten Staatshilfe, manifestierten so ihre tradierte Vorstellung vom Staat als gerechtem Makler. Dabei wurde immer wieder auf die Schweiz verwiesen, hatten dort doch zahlreiche Kantone Verbote ausgesprochen (Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung 15, 1899, 758; Gegen den Gutscheinhandel, Allgemeine Zeitung [München] 1900, Nr. 358 v. 29. Dezember, 2). Im Deutschen Reich war dieses angesichts der Grundsatzentscheidungen der Reichsgewerbeordnung nicht einfach möglich, konnten regionale Verordnungen doch Reichsgesetze nicht aushebeln (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 49-50). Beschränkungen der Bundesstaaten, so etwa die badische Maßregel, den Vertrieb der Gutscheine abseits des Wohnortes der Händler als genehmigungspflichtiges Wandergewerbe zu definieren, führten zu nichts (Gegen den „Gutscheinhandel“, Mitteilungen des ZVDK 11, 1900/01, Nr. 9, 6; Bekanntmachung. Den Uhrenhandel betreffend v. 31. März 1900, Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 25, 1900, 74). Die Branchenverbände kontaktierten lokale, regionale, bundesstaatliche und auch nationale Instanzen. Dort luden sie ihre Forderungen ab, manifestierten so Handlungswillen und Ohnmacht zugleich. Beides mündete in eine Sprache, die von Biologismen dieser Zeit getränkt und vielfach xenophobisch und rassistisch war.

Naturmetaphern wurden bemüht, „überschwemmten“ die Bezugsscheine doch das Deutsche Reich, „überfluteten“ es (Eingabe an das Königlich Württembergische Ministerium des Innern, Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 25, 1900, 83-84, hier 84). Relevanter aber schien, dass der Gella- und Hydrahandel den imaginierten Volkskörper befallen hatte: „Wie eine Epidemie hat sich dieses Uebel verbreitet und nur wenige Gegenden giebt es, die noch verschont geblieben sind“ (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 61). Auch für die deutschen Uhrmacher schien es sich um eine Krankheit zu handeln, nicht abheilend „bis alle Theile Deutschlands nach einander von ihr befallen werden“ (Deutsche Uhrmacher-Zeitung 24, 1900, 76). Gegen derartige „Seuchen“ forderten die Branchenverbände „Absperrmassregeln“ (Handels-Zeitung für die gesamte Uhren-Industrie 7, 1900, 170). Als Erfolge der eigenen Agitation deutlich wurden, war der Verbandsanwalt beglückt über „die radikale Vernichtung des Gutscheinhandels“ und resümierte, „eine Sumpfpflanze, welche das Feld ehrlicher Arbeit zu überwuchern drohte, ist der Ausrottung verfallen, und ein weiteres Gebiet, welche die Industrieritter des unlauteren Wettbewerbes mit Beschlag belegt hatten, ist für die ehrliche Arbeit zurückerobert worden“ (Henschel, Das Ende des Hydra-Schwindels, Deutsche Uhrmacher-Zeitung 25, 1901, 82-83, hier 83). Derartige Biologismen waren um die Jahrhundertwende weit verbreitet, nicht nur aufgrund des modischen Sozialdarwinismus. Sie waren Metaphern der Bewegung, prägten farbenfrohe Darstellungen des absterbenden Kapitalismus und der Klassenkämpfe, der Lebensreform und des Heimatschutzes, der Feminisierung der Gesellschaft und der sozialen Hygiene. Man mag dies als Hinweise auf deutsche Sonderwege oder gar Vorboten des Nationalsozialismus lesen, doch finden sich entsprechende Metaphern auch bei der Beschreibung der Schneeballsysteme in der Schweiz und in Frankreich. Sie erscheinen eher als Ausdruck aggressiv gewendeter Ratlosigkeit und eines Gefühls des Ausgeliefertseins. Die von den Branchenverbänden praktizierte Selbsthilfe schien nicht auszureichen. Hilfe, vom Arzt oder anderen, schien notwendig.

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Vorsprechen von Mittelstandsvertretern beim preußischen Finanzminister Johannes von Miquel (Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 40, 10)

Taschenspielertricks: Die Umdeutung der Schneeballsysteme als Glücksspiel durch das Reichsgericht

Ende 1900 waren die mittelständischen Maßregeln in einer Sackgasse angelangt. Der immer wieder adressierte Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) musste eingestehen, daß „die Strafgesetze z. Z. keine ausreichende Handhabe zu bieten scheinen, um gegen Gewerbetreibende, welche sich das System zu Nutze machen, mit Erfolg vorzugehen“ (Handel und Gewerbe 8, 1900/01, 195). Ein Antrag der Zentrumsabgeordneten Adolf Gröber (1854-1919), Ernst Lieber (1838-1902) und Franz von Pichler (1852-1927) forderte zwar ein Verbot des Gutscheinsystems, wurde im Reichstag jedoch nicht beraten (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 67, 1900, 9447). Möglich schien eine Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, doch die einschlägigen Debatten sollten sich bis 1909 hinziehen.

Eine Vielzahl staatlicher Behörden warnte vor dem Gella- und Hydrahandel, so etwa Baden, Württemberg, Preußen, Sachsen und Braunschweig. Sie machten den Händlern Mut zu Klagen, obwohl sie eigentlich hätten wissen sollen, dass diese nur in Ausnahmefällen Erfolg haben konnten. Dies war typisch für die „Mittelstandspolitik“ der nationalliberal-konservativen Regierungen. Sie kamen den Forderungen des tradierten Mittelstandes verbal durchaus entgegen, scheuten aber weitere Eingriffe in die Gewerbefreiheit. Das war verantwortungsvoll im Sinne der gewerblichen Fortentwicklung und Modernisierung des Deutschen Reiches. Doch es war immer auch unehrlich gegenüber den mittelständischen Interessenvertretern. Diese wussten darum, zumindest 1900/01 (Deutsche Uhrmacher-Zeitung 24, 1900, 230). Trotzdem forderten sie weiter Verbote, für die es keine Mehrheiten gab.

Und doch: Der Gella- und Hydrahandel endete 1901. Grund hierfür war eine Art juristischer Posse, nämlich der Umdefinition der Schneeballsysteme von einer neuen Vertriebsform zu einem Glücksspiel, einer vom Zufall abhängigen Ausspielung. So urteilte der erste Strafsenat des Reichsgerichts in einer Entscheidung vom 14. Februar 1901 (zur Begründung s. Warenvertrieb durch Gutscheinhandel, Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 68, 1901, 1917-1919; Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 26, 1901, 86-88). Als Glücksspiel war der Gella- und Hydrahandel plötzlich genehmigungspflichtig, doch derartige Genehmigungen wurden nicht erteilt.

Diese Entscheidung überraschte viele Zeitgenossen, doch sie lag in der argumentativen Logik der Mittelstandsvertreter, die nicht von einem aktiven, auf seinen Vorteil bedachten Konsumenten ausgingen, sondern von einem Käufer, der beim Handelsstand Rat suchte und seiner Fachkompetenz vertraute. Für sie war es nicht denkbar, dass sich denkende Menschen aus guten Gründen gegen sie entschieden. Sie mussten vielmehr verführt worden sein, getrieben von unangemessener Gier. Entsprechend warnten die mittelständischen Aktivisten. In dem oben im Ausschnitt dokumentierten Flugblatt des Vereins gegen Unwesen im Handel und Gewerbe für Norddeutschland hieß es schon im Juli 1899: „Verbrennt Euch nicht die Finger! – Nieten sind es, Nieten, welche Ihr bei diesem Geschäftsspiel, genannt Coupon-Verkaufs-System, zieht. Die Hamb. Stadtlotterie hat schwerlich soviele Nieten aufzuweisen“ (Staatsarchiv Hamburg 331-3 Politische Polizei S 6750, Bd. 2). Auch die Handelskammer Leipzig vermerkte in einer Eingabe an das sächsische Innenministerium vom 23. April 1899: „Die ganze Sache gewinnt den verführerischen Reiz eines Glücksspiels, und zwar wird sie naturgemäß, wie das Lotto, ihre hauptsächliche Verbreitung in den weniger bemittelten Schichten der Bevölkerung finden“ (Warenvertrieb mittels Gutscheinen, Handel und Gewerbe 7, 1899/1900, 425-426, hier 426). In mehreren letztlich gescheiterten Klagen gegen Gella- und Hydrahändler versuchten lokalen Staatsanwälte, den Tatbestand des Glücksspiels geltend zu machen, ohne damit aber Erfolg zu haben (Ist das Gella, Hydra-, Schneeballsystem eine Lotterie?, Leipziger Uhrmacher-Zeitung 7, 1900, 274).

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Das 1895 eingeweihte Gebäude des Reichsgerichtes in Leipzig (Library of Congress, LC-DIG-ppmsca-00967)

Auch deshalb wurde das Reichsgerichtsurteil von den Gegnern des neuen Vertriebssystems begeistert aufgenommen: „Endlich! riefen wir aus und ‚Gott sei Dank‘ fügten wir hinzu, denn nunmehr brauchen wir nicht mehr zu befürchten, dass das Hydra-Ungeheuer, welches augenblicklich nur noch schwache Lebenszeichen von sich gab, später sich wieder neugestärkt erheben werden. Das System ist tot, mausetot“ (Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 161). Der Sieg schien vollständig, denn man glaubte, „daß infolge dieses Urteils sich die Leute wohl vorsehen und diesen Handel nicht mehr betreiben werden, und die Mühe, Strafantrag zu stellen, den Kollegen ersparen“ (Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 26, 1901, 85).

Das Urteil des Reichsgerichts vom 14. Februar 1901 rückte das Schneeballsystem von der Sphäre des freien Kaufs in die einer Ausspielung. Der Erwerb von Waren hing somit nicht von der Zahlung eines Preises ab, sondern „vom Zufall“ (Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 164). Zwar sei der einzelne Käufer grundsätzlich in der Lage, diesen auszuschließen, doch angesichts der durchschnittlichen Befähigung der Personen sei dies nur eine abstrakte Möglichkeit. Das Urteil entsprach einem anthroposkeptischen Denken, reduzierte den Käufer auf eine schwache und verführbare Person, getrieben von Erwerbsdrang, nicht fähig, die Logik des Schneeballsystems zu durchschauen. Doch dieses Urteil traf auf substanzielle Kritik bei führenden Juristen des Kaiserreichs.

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Franz von Liszt, führender Staatsrechtler und Kritiker des Reichsgerichtsurteils vom 14. Februar 1901 (Der Welt-Spiegel 1906, Ausg. v. 26. Juli, 3)

Hermann Staub (1856-1904), der führende Kommentator des 1897 erlassenen Handelsgesetzbuches, kritisierte vor allem den angewendeten Begriff des Zufalls. Die Gewinnung von Couponkäufern sei vielmehr abhängig von individueller Tätigkeit und rationalem Kalkül: „Nicht der Zufall, sondern seiner persönlichen Tüchtigkeit vertraut er, […]. Ob es ihm sicher gelingen wird, vier Personen zum Kauf zu bewegen, weiß er allerdings nicht. Aber nichts ist verfehlter, daß nur derjenige Erfolg ein nicht zufälliger ist, der sicher ist“ (Ist das sog. Hydrasystem eine strafbare Ausspielung?, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 193-195, hier 194). Der Straf- und Völkerrechtler Franz von Liszt (1851-1919) teilte diese Skepsis, verwies aber stärker noch auf die verfehlte Konstruktion des Schneeballsystems als einer Ausspielung, die zudem von der bisherigen Rechtsprechung abweiche (Ist das sog. Hydrasystem eine strafbare Ausspielung?, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 195-196). Preußische und bayerische Gerichte teilten diese Auffassung (Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 147). Zeitweilig wurde daher versucht, die schwammigen Generalklauseln des 1896 erlassenen Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs heranzuziehen, sei doch der Schneeballhandel „in hohem Grade unmoralisch“ ([Albert] Groschuff, Ueber das sog. Gella- und Hydrasystem, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 277-278, hier 278), eine Spekulation auf den Nachteil der spät einsteigenden Käufer. Rechtspraktiker wandten sich daher gegen zu viel rechtswissenschaftliche Abstraktion (und damit vermeintlich „jüdische“ Interpretationskunst), forderten stattdessen den freien Blick auf die soziale Realität: „Berechnet ist die Ausspielung nach dem Hydrasystem aber offenbar für das ärmliche Publikum, das, wie es sich alle möglichen Sachen auf Abzahlung aufschwatzen läßt, […] die Coupons in der leichtfertigen und durch nichts zu rechtfertigenden Annahme kauft, es werde sie schon wieder an Personen los werden, die sich ihrerseits ebenfalls Bezugsscheine zu lösen gewillt sind“ (Lehmann, Ist das sog. Hydrasystem eine strafbare Ausspielung?, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 328).

Die Debatte endete damit nicht. Der liberale Liszt betonte die freisetzende wirtschaftliche Energie des neuen Systems: Das „Wesen des Hydrasystems besteht darin, daß durch das Versprechen hoher Provisionen freiwillige Geschäftsagenten aus den Kreisen des Publikums gewonnen werden sollen, um für gangbare Artikel einen Massenabsatz zu erzielen“ (Ist das sog. Hydrasystem eine strafbare Ausspielung?, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 404-405, hier 404). Das aber könne man nicht als Glücksspiel bewerten. Denn es handele sich um Gegenstände des Massenabsatzes, die entsprechend große Verbreitungskreise hätten. Zudem sei es nicht Aufgabe des Reichsgerichtes, die Moralität des Schneeballsystems zu bewerten. Dagegen hob der Leipziger Reichsgerichtsrat Karl von Braun (1832-1903) hervor, dass gerade die Einordnung als Glückspiel die wirtschaftliche Dimension des Schneeballsystems berücksichtige, handele es sich doch um „eine Spekulation auf die Spiellust und Gewinnsucht des großen Publikums“ (Ein letztes Wort zur Hydrafrage, Deutsche Juristen-Zeitung 6, 1901, 453-454, hier 453), nicht aber um eine beidseitig verstandene Agententätigkeit.

In der Gerichtspraxis setzte sich die Auffassung des Reichsgerichtes durch, nicht zuletzt, weil die meisten Richter den Staat als Schutzinstanz und die Käufer als eine schutzbedürftige Masse verstanden. Die Beurteilung des ersten Strafsenats des Reichsgerichtes wurde im Oktober auch von dessen zweitem und viertem Strafsenat bestätigt (Die Strafbarkeit des Hydrasystems, Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 298; Vorwärts 1901, Nr. 243 v. 17. Oktober, 6). Bis dahin hatte der Gella- und Hydrahandel deutlich abgenommen, auch wenn bis zur Jahresmitte keineswegs ausgemacht schien, dass die neue Rechtsdeutung übernommen wurde. Doch im Mai verurteilte das Landgericht Berlin den erfolgreichen Fahrradhändler Willy Schlawe als Veranstalter eines nicht genehmigten Glücksspiels, obwohl die Verteidigung die Gutachten Staubs und Liszts offensiv ins Feld führte (Vorwärts 1901, Nr. 105 v. 7. Mai, 10). Man wischte ihre Bedenken als blinden Formalismus weg, der die individuellen Gefährdungen und volkswirtschaftlichen Folgen der Schneeballsysteme nicht sehen wollte (Das Hydra-System, Allgemeine Zeitung [München] 1901, Nr. 165 v. 16. Juni, Beil., 1).

Die Agonie des Gutscheinhandels dauerte noch Monate. Immer wieder neue Variationen der Grundstruktur mussten juristisch bekämpft werden, etwa der kurzfristig erfolgreiche Berliner Modebazar Hecht, dessen billigste Stoffe die holde Weiblichkeit Berlins temporär anzogen (Vorwärts 1901, Nr. 102 v. 3. Mai, 10). Der Jahresumsatz betrug etwa eine Million Mark, doch im März 1903 wurde der Inhaber, Paul Hecht, schließlich zur Höchststrafe von 3000 Mark verurteilt. Die Gerichte nutzten aber auch 1901 immer noch andere Rechtskonstruktionen, um erfolgreich Exempel zu statuieren. Der Berliner Uhrenhändler Blaustein, der goldene Damenuhren für 2,50 Mark anpries, wurde im Mai 1901 noch auf der fragilen Grundlage des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb verurteilt (Vorwärts 1901, Nr. 116 v. 21. Mai, 4; Allgemeines Journal der Uhrmacherkunst 26, 1901, 178). Aber das waren allesamt Nachhutgefechte. Aufgrund des Reichsgerichtsurteils von 1901 gelang es letztlich, „diese moderne Hydra zu töten“ (Herm[ann] Pilz, Der Hydraschwindel und sein Ende, Leipziger Uhrmacher-Zeitung 8, 1901, 75-76, hier 75).

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Das Schneeballsystem als Thema der Populärkultur: Persiflage 1899 (Jugend 4, 1899, 520)

Das gelang auch, weil einzelne Staatsanwaltschaften nun gegen die Käufer vorgingen, die sich nun mit Verfahren wegen Beihilfe zum illegalen Glücksspiel konfrontiert sahen. Auch das hatte Vorläufer: Im bayerischen Fürth hatte die Kriminalpolizei schon Ende 1900 1400 Käufer vernommen, die in den Adresskarteien eines Solinger Versandgeschäftes standen (Rosenheimer Anzeiger 1900, Nr. 266 v. 22. November, 2). Nun aber erfolgten entsprechende Verhöre unter der Drohung eine Strafe von einer Mark Nachsteuer und sechs Mark Reichstempelsteuergebühr (ja, die deutsche Amtssprache ist schön) pro Coupon. In einem 1902 in Dortmund durchgeführten Prozess gegen das Versandhaus Excelsior aus dem schweizerischen Chaux-de-Fonds betraf dies nicht weniger als 320 Personen (Leipziger Uhrmacher-Zeitung 9, 1902, 346).

Die staatlichen Stellen setzten ihre Warnungen vor Schneeballsystemen auch 1902 und 1903 fort (Warenvertrieb durch Ausspielung, Badische Presse 1903, Nr. 298 v. 20. Dezember). In den stark betroffenen Konsumgüterbranchen verblieb Unbehagen: „Der mit Coupons nach dem Gella- und Hydra-System betriebene Schwindel ist zwar von der Oberfläche verschwunden, scheint aber im Geheimen hier und da noch weiter gepflegt werden“ (Hydra-Schwindel, Deutsche Uhrmacher-Zeitung 27, 1903, 138). Wiederholt wurde auf „ausländische Gewerbetreibende“ verwiesen – meist aus der Schweiz –, die „weniger urteilsfähige Kreise“ mit immer neuen Variationen in ihren Bann ziehen würden (Warenvertrieb durch Ausspielung, Vorwärts 1903, Nr. 296 v. 19. Dezember, 4). In derart untergründiger Form blieben Schneeballsysteme präsent. Im Handel sollte sie allerdings erst nach der Hyperinflation wieder aufkommen, wenngleich auf einem deutlich niedrigeren Niveau als um die Jahrhundertwende (Die Uhrmacherkunst 49, 1924, 503; Deutsche Uhrmacher-Zeitung 48, 1924, 541; Die Uhrmacher-Woche 33, 1926, 4; Friedrich Huth, Das Schneeballsystem im Warenhandel, Der Materialist 47, 1926, Nr. 37, 3).

Der Gella- und Hyrahandel als Marker einer Konsumgesellschaft

Der Gella- und Hydrahandel war populär. Viele Millionen Konsumenten setzten sich  mit diesem Vertriebssystem auseinander, teils nutzten sie es. Es war ein gern aufgegriffenes Thema im publizistischen Massenmarkt: Viele Tageszeitungen präsentierten sich als Hüter der öffentlichen Moral und kaufmännischer Ehrsamkeit, obwohl sie parallel auch  Anzeigen der Gella- und Hydrahändler veröffentlichten. Es gab Widerhall in der Populärkultur, sei es durch Persiflagen in der zeitgenössischen Publizistik, sei durch es als Chiffre für komplexe Verpflichtungssysteme, in denen man sich schließlich verheddern müsse (Politische „Gella“ und „Hydra“, Lustige Blätter 15, 1900, Nr. 47, 7). Schneeballsysteme blieben in Form von Bettelbriefen weiter alltäglich. Immer wieder neu, immer wieder anders, wie etwa die „ewigen“ Gebetsbriefe dieser Zeit unterstreichen (Das Schneeballsystem, Vorwärts 1905, Nr. 42 v. 18. Februar, 9). Zeitgenössische Diagnostiker, wie der Publizist Karl Kraus (1874-1935), interpretierten Schneeballsysteme daher als typisches Element der Moderne. Nachrichtendienste schienen nach ähnlichen Prinzipien zu funktionieren, denn sie brachten an sich gleiche Güter – hier Nachrichten – über Verbreitungsmedien – hier Zeitungen – in immer weitere Teile der Welt: „Die fünfzigfache zweite Hand reicht sie einer tausendfachen dritten Hand weiter“ (Die Fackel 4, 1902/03, Nr. 101, 4-6, hier 5). Beschleunigung durch Abstraktion, das erst bot Raum für Imaginationen wie Marken oder Warenvorstellungen, für kommerziell zu nutzende und zu schaffende Bedürfnisse und Wünsche.

Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt sind, der sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland etablierten Konsumgesellschaft. Der Gella- und Hydrahandel stand für den Übergang vom tradierten Käufer zum preisbewussten Konsumenten. Er verdeutlichte die Dynamik eines freien Handels, aber auch die Fährnisse des Marktes. Er generierte dadurch Fragen nach dem Konsumentenschutz und der Rolle des Staates und des Justizwesens in einer Konsumgesellschaft. Er verwies auf die rasche Abstraktion der Konsumkultur seit der Jahrhundertwende, erlaubte aber auch einen Blick auf die Kritiker dieser Kommerzialisierung des Sozialen, des Alltagslebens.

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Der imaginierte Konsument: Anzeige des KaDeWe 1912 (Berliner Volks-Zeitung 1912, Nr. 11 v. 7. Januar, 13)

Fassen wir derart zusammen. Der Gella- und Hydrahandel war ein klarer Bruch mit der tradierten, seinerseits ja erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Versorgungsstruktur des ladengebundenen Kleinhandels kleiner und mittlerer Händler. Letztere orientierten sich an Käufern, ihnen grundsätzlich bekannten Kunden, die sie bedienten und denen sie gegen auskömmliche Handelsspannen passgenaue Offerten machten. Der Gutscheinhandel bedurfte ihrer nicht. Er setzte auf Konsumenten, die nicht gemäß Herkommen und Gewohnheit kauften, sondern sich von sozialen Beziehungen emanzipiert hatten, die sich an Preisen orientierten und Preisdifferenzen zu nutzen wussten. Der Gella- und Hydrahandel wäre ohne diese vorherige Ökonomisierung nicht möglich gewesen, er nutzte sie aus, war ihr Ausdruck und Beschleuniger. Gleichwohl war er ein Übergangsphänomen, denn er gründete auf der Bereitschaft und Fähigkeit der Konsumenten, für günstige Preise aktiv zu werden, als Agent der Handelsfirma zu fungieren. Die damit verbundenen möglichen Kosten schienen vielen beherrschbar, doch die Grenze des Einsatzes und die damit verbundenen Risiken mussten viele erst lernen. Selbstreflexive Konsumenten hätten die offenkundigen Kosten der Schneeballsysteme von Anfang an gesehen, hätten daher zurückhaltender agiert als die der Jahrhundertwende.

Diese janushafte Erscheinung des Käufers/Konsumenten verweist auf die beträchtlichen Probleme des Konsumentenschutzes zu Beginn der Konsumgesellschaft. Wen sollte man schützen? Und wenn ja, wie? Der Staat und auch Gerichte befanden sich in einem grundsätzlichen Dilemma, denn die Gella- und Hydrahändler konnten mit vollem Recht behaupten, dass sie systemkonforme Mittel für ein beidseitig faires Geschäft anwandten. In konsequenter Fortführung der liberalen Umgestaltung des deutschen Wirtschaftsrechtes agierten sie auf Grundlage privater Verträge, deren Inhalte sie in ihren Prospekten und Geschäftsbedingungen nachvollziehbar niederlegten. Sollte sich der Staat dort einmischen, in die freie Absprache freier Bürger? Ein Konsument vermochte doch die Folgen seines Tuns zu überblicken. Das wurde bestritten, nicht nur von Wettbewerbern, sondern auch von den meisten staatlichen Repräsentanten. Sie blickten über den Vertragstext hinaus, auf die vermeintliche Verführungskraft der Waren, auf die Gier nach Besitz. All dies stand in der langen Tradition der Luxusdebatten über Schicklichkeit und Angemessenheit des Konsums, die im langen 19. Jahrhundert wieder und wieder geführt wurden. Musste man nun nicht endlich loslassen von derartig bürgerlichen Ordnungsvorstellungen, von bevormundender Moral? War das nicht Teil wahrer Emanzipation gerade weniger solventer Mitbürger? Sollte man sie nicht das Abenteuer Freiheit auskosten lassen? Es war bezeichnend, dass nicht Regierungen und Parlamente den Gella- und Hydrahandel stoppten, sondern Gerichte. Das entsprach der zunehmenden Verrechtlichung des Alltags, in dem der Händedruck vom Vertrag abgelöst worden war, in dem vieles nur noch in Rahmengesetzen festgelegt wurde, um es der Regelungskraft der Bürger und der Gerichte abzutreten.

Der Gella- und Hydrahandel unterstrich den Wandel der Konsumkultur des Kaiserreichs, ihre Abstraktion und Entmaterialisierung. Paradox gesprochen: Je wichtiger auch an sich nicht notwendige Dinge wurden, um so allgemeiner wurden sie präsentiert und imaginiert, als Platzhalter für Wünsche und Bedürfnisse, als vermeintliche Notwendigkeiten eines guten, sicheren, gesunden und erfolgreichen Lebens. Der Gella- und Hydrahandel setzte an die Stelle der Ware den Coupon, den Gutschein. Versprechungen überbrückten die Zeitspanne vom Kauf des ersten Coupons bis hin zum Erhalt der begehrten und doch so billigen Ware. Das öffnete Vorstellungsräume, die beim tradierten Direktkauf so nicht bestanden. Die Debatte über Schneeballsysteme war damit auch Nachklang zu dem erbitterten Ringen um das Börsengesetz 1896, bei dem der zeitüberbrückende Terminhandel zwar grundsätzlich erlaubt, der „spekulative“ Getreideterminhandel 1897 aber verboten wurde.

Wie die Agrarier sahen sich auch die Vertreter des ladengebundenen Handels an konkrete Waren und Abläufe rückgebunden, wollten die Spekulation minimieren, ihre Stellung in der Absatzkette beibehalten. Die Debatte über den Gella- und Hydrahandel war für die Vertreter der mittelständigen Wettbewerber eine von vielen, in denen sie sich gegen ihre scheinbar wegbrechende Stellung in der Konsumgesellschaft wandten. Sie führten diese Debatten mit heißem Herz, voller Hetze und mit Schaum vor dem Mund. Sie schufen sich Feinde, stritten dagegen wie Siegfried gegen den Drachen, voller Bekennermut, an mannhaftem Kampf und Ausrottung interessiert. Sie waren Hefe im Gärbottich der Moderne, den man nicht schönfärben sollte. Antikapitalismus, Antisemitismus, Antirationalismus prägten die Debatten, machen sie schwer erträglich – vielleicht, weil sie mit deutlicherer Sprache all das sichtbar machen, was auch vielen heutigen Debatten zugrunde liegt. Die mittelständischen Wettbewerber verteidigten aggressiv ihre Vorstellung vom Zusammenleben, vom gedeihlichen Miteinander in Wirtschaft und Gesellschaft. Entsprechende Fragen werden auch heute gestellt, wenngleich kaum mehr von diesen sozialen Gruppen. Schließlich waren die mittelständischen Vertreter keineswegs die Modernisierungsverlierer, zu denen sie gleichermaßen von Liberalen und Sozialdemokraten abgestempelt wurden. Sie wussten, dass sie sich nur selbst helfen konnten, dass sie den Schaum von ihrem Munde wegwischen und ihre Betriebsstrukturen ändern mussten, um weiter erfolgreich arbeiten und leben zu können. Das taten sie, unwillig Wege beschreitend, die ihnen ihre erfolgreichen Gegner wiesen. Vermehrte Rabatt(mark)en, Zugaben und Preisausschreiben folgten.

Aus heutiger Sicht war der Gella- und Hydrahandel nicht mehr als eine kurze Episode. Doch die Kernfragen, die darin verhandelt wurden, sind auch heute noch aktuell: Die Stellung des Käufers/Konsumenten im Konsumgütermarkt, die Rolle von Regierungen, Parlamenten und Gerichten als Schutzmächte und Akteure, die Ausgestaltung moderner Konsumgesellschaften – und auch der Umgang mit Gier und Unlauterkeit. Das rasche Ende des Gella- und Hydrahandel hat diese Fragen jedenfalls nicht stillstellen können.

Uwe Spiekermann, 10. Januar 2020

Ein Gedanke zu „Gierige Käufer und unlautere Geschäfte. Aufstieg und Ende des Gella- und Hydra-Handels im Kaiserreich

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