Propaganda und Bekenntnisdruck: Herr und Frau Knätschrich als Negativfolien der Volksgemeinschaft während des Winterhilfswerks 1933/34

Gehorsam ist für die Mehrzahl nicht nur Tugend, sondern Lust. Dem dient die Erziehung, das Rechts- und Strafsystem, dem dient die hierarchische Struktur unserer wichtigsten Institutionen, namentlich die Verwaltung als zentrale Herrschaftsform der Moderne. Gehorsam koordiniert menschliches Handeln, schafft Verlässlichkeit, Sicherheit und Systemvertrauen, entlastet von Verantwortung. Jede Herrschaft basiert auf dem allgemeinen Interesse an Gehorsam, an Fügsamkeit gegenüber abstrakten Werten, gegenüber dem Willen von Organisationen und Personen (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1985, 122). Gehorsam ist ein Bindemittel jeglicher sozialen Beziehung, jeder darauf aufbauenden wirtschaftlichen oder politischen Organisation. Im Schatten des Gehorsams werden systemische Unterschiede grau. Demokratien und Diktaturen gründen gleichermaßen auf dieser problemvermindernden Lust der Mehrzahl, mögen die Rituale von Zustimmung, Teilhabe und Strafe auch andere sein.

Stimmt dies, so stellen sich vor allem zwei Fragen: Wie wird Gehorsam hervorgerufen, nicht nur einmal, sondern dauerhaft? Und wie geht man mit denen um, die nicht gehorchen wollen, deren Fügsamkeit sich dem Joch der Herrschaft entziehen möchte? Diesen Fragen gilt es im Folgenden an einem historischen Beispiel detailliert nachzugehen. Nach der Machtzulassung der NSDAP durch konservativ-nationalistische Eliten gab es 1933 viele Möglichkeiten des Gehorsams, anfangs teils erzwungen, zunehmend aber freiwillig, ja lustvoll. Die historische Analyse konzentriert sich meist auf die politische Sphäre, auf die damalige Bekämpfung und Ausschaltung der politischen Opposition, die Etablierung eines Einparteien- und Führerstaates, die zunehmende Monopolisierung der medialen Öffentlichkeit, die erzwungene Gleichschaltung und die abwägend-willige Selbstgleichschaltung der meisten Institutionen bis Sommer 1933. Hier setzt nun die kleine Fallstudie an, bei der Etablierung und Umsetzung der Winterhilfe, die dann als Winterhilfswerk institutionalisiert wurde. Wir werden uns dazu auf die öffentliche Propaganda konzentrieren, deren Ziel es war, Geld und Sachleistungen für vom NS-Regime definierte soziale Zwecke zu mobilisieren. Wir werden uns aber zugleich der Frage widmen, wie der offenbare Unwillen vieler, zumal bürgerlicher, zahlungskräftigerer Kreise abgeschliffen wurde. Dazu dient auch eine bisher in der Forschung nicht beachtete Karikaturenserie um das fiktive Ehepaar Knätschrich, das als Negativfolie für ein gehorsames Gemeinwesen und der vom NS-Regime propagierten Volksgemeinschaft diente. Gewiss, positive, agitierende und vor allem integrierende Propaganda dominierte. Doch in dieser Serie wurde der Öffentlichkeit die vermeintliche Amoralität und der Egoismus des Nicht-Gehorchens vor Augen geführt. Die Serie präsentierte bürgerliche „Asoziale“, „Gemeinschaftsfremde“ als Negativbespiele: Verachtet, sozial ausgegrenzt, auf Besitz und Dünkel setzend, wurden die Knätschrichs öffentlich vorgeführt. Unausgesprochen blieben die stets denkbaren Folgen ihres Handelns: Die „Volksgenossen“ hatten sich abzugrenzen, mittels Bekenntnisdruck ihr eigenes Tun zu reflektieren, gehorsam und letztlich willig das Richtige tun. Auch im Alltag galt die klassische Sentenz der zuvor entwickelten hypermodernen Schachstrategie, dass „die Drohung […] bekanntlich stärker als deren Ausführung“ ist (A[ron] Nimzowitsch, Mein System, 2. verb. Aufl., Berlin-West 1965, 13).

Propaganda als Grundelement modernen Gesellschaften

Analytische Distanz zum Gegenstand ist allerdings geboten, um nicht in die freudig verfolgten Engführungen der Propagandadiskussion zu geraten. Gängige Vorstellungen vom „schönen Schein“ des NS-Regimes oder plakative Dualismen wie „Verführung und Gewalt“ eröffnen wichtige Zugänge, verkennen jedoch, dass Propaganda ein Grundelement jeder modernen Gesellschaft ist (Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München und Wien 1991; Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt: Deutschland 1933-1945, Berlin-West 1986). Modernes Leben ist Leben im propagandistischen Umfeld. Das bedeutet nicht, den Gewaltcharakter der NS-Propaganda in Abrede stellen zu wollen, im Gegenteil. Erst in der vergleichenden empirischen Analyse zeigen sich ihre Spezifika. Das NS-Regime war von Anbeginn eine Mobilisierungsdiktatur, ihr Versprechen einer aktiven Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ein siegträchtiges Alleinstellungsmerkmal, denn die auch in der SPD diskutierten Konzepte gewannen innerparteilich keine Mehrheit (Nikolaus Kowall, „Arbeit und Brot“ – die sozioökonomische NS-Propaganda vor 1933, Wirtschaftsdienst 103, 2023, 406-412).

Arbeit und Brot: Parole im sozialdemokratischen und nationalsozialistischen Umfeld (Ulk 60, 1931, Nr. 24, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 7, 1932, 1273)

Die unter dem Slogan „Arbeit und Brot“ geführten Kampagnen der Arbeitsbeschaffung, des Arbeitsdienstes, der „Arbeitsschlacht“, der „Erzeugungsschlacht“, etc. blieben vielfach hinter den Versprechungen zurück, doch ihre propagandistische Propagierung war für die willige Akzeptanz der Gewalt- und Terrorwelle seit Februar 1933 ebenso wichtig wie die Angst vor persönlichen Nachteilen und der Hass gegen den „Marxismus“, die „Demokratie“ und rassisch definierte Minderheiten. Die Winterhilfe war seit September 1933 ein weiteres Element dieser gesellschaftlichen Mobilisierung für den Abbau von Arbeitslosigkeit und „Not“: „NS-Staat und NS-Volksgemeinschaft nötigten jeden und jede zu irgendeiner Positionierung zum Mittun oder Abweichen. Dieser erzeugte Bekenntnisdruck stellte gerade ein Kennzeichen dieser plebiszitär abgesicherten gesicherten Diktatur dar“ (Uwe Danker, Grandioses Scheitern oder kluger Pragmatismus? Entnazifizierung in der britischen Zone – betrachtet mit nüchterner Distanz, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 93, 2021, 287-342, hier 327).

Bevor wir zur Winterhilfepropaganda, insbesondere aber zur Serie um das Ehepaar Knätschrich kommen, sind noch einige Worte zur Propaganda selbst erforderlich. Zuerst eine historische Genealogie: Propaganda im engeren Sinne war kein Produkt des Nationalsozialismus, sondern entstand in demokratischen Gesellschaften, vorwiegend in Großbritannien, Frankreich und den USA im späten 19. Jahrhundert. Verstanden als Massenbeeinflussung war Propaganda eng verwoben mit modernem Marketing, mit dem Anpreisen von Waren und Meinungen. Sie war Teil eines demokratischen Massenmarktes, dem Wettbewerb unterschiedlicher Produkte und Parteien. Eine Verengung auf den politischen Sektor erfolgte insbesondere während des Ersten Weltkrieges. Die Narrative der Westmächte, vor allem aber erst der britischen, dann der US-amerikanischen Propaganda, verwandelten den Krieg imperialer Großmächte mit kleinen und jeweils interessengeleiteten Eliten in einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Kultur/Zivilisation und der Barbarei. Das Deutsche Reich war auf diese Auseinandersetzung kaum vorbereitet, verlor den Krieg an der Propagandafront rasch; und das trotz umfassender Reflektionen über Sinn und Ziele des Krieges seit 1915 und einer nachfolgenden Professionalisierung der eigenen Nachrichtengebung, Bildproduktion und auch Zensur. Die westlichen Narrative dienten 1918/19 zudem der Rechtfertigung der harschen und letztlich politisch kontraproduktiven Bedingungen des Versailler Friedensvertrages, hatten demnach Folgewirkungen weit über die Konfliktlinien des Weltkrieges hinaus.

Gängige Propagandabilder: SA-Aufmarsch am Münchener Siegestor am 9. November 1933 bzw. Rede des Reichskanzlers Adolf Hitler beim Erntedankfest auf dem Bückeberg am 1. Oktober 1933 (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1529 (l.); ebd., 1445)

Propaganda wurde seither als öffentliche Macht anerkannt, theoretisiert und als Mittel gesellschaftlicher Beeinflussung weiter verfeinert (Walter Lippmann, Public Opinion, New York 1922; Edward L. Bernays, Propaganda, New York 1928). Neue Medien, neue Werbemethoden der Zwischenkriegszeit, vor allem breit gestreute, multimediale, zielgruppenspezifische und zentral gesteuerte Werbekampagnen ließen die Bedeutung dieser neuen Kommunikationsformen erahnen. Obwohl die deutschen Wahlkämpfe der Weimarer Republik und auch der Präsidialdiktatur noch vielfach altbacken daherkamen, erschien Propaganda sowohl als ein unverzichtbares Mittel gegen die nationalsozialistische Gefahr, als auch als Ressource für den Wiederaufstieg des Deutschen Reiches zur imaginierten Größe vergangener Zeit. Gerade die Systemsprenger auf der linken und rechten Seite verwandten besondere Aufmerksamkeit auf die Gewinnung von Massenunterstützung durch neue Kommunikationstechniken. Nationalsozialistische Propaganda war ein Kind demokratischer Herrschaftstechniken, muss zugleich aber breiter verstanden werden als es die propagandistischen Selbstinszenierungen des NS-Regimes während des 1. Mai, des Erntedankfestes oder der verschiedenen NS-Gedenktage (30. Januar, 20. April oder 9. November) scheinbar nahelegen.

Propaganda: Worthäufigkeiten im Korpus der Zeitungsdatenbank Zeitpunkt.NRW und des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache

Propaganda ging weit über „Verführung“ und „Manipulation“ hinaus. Dies belegt schon eine einfache Wortzählung sowohl in digitalisierten Tageszeitungen als auch im breiteren Textkorpus des Digitalen Wörterbuches der Deutschen Sprache. Propaganda war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein zunehmend üblicher Begriff für eine Alltagsrealität. Der französischen Soziologe Jacques Ellul (1912-1994) hat seine Analysen der Propaganda in den 1950er und frühen 1960er Jahren darauf aufgebaut. Im angelsächsischen Sprachraum wurden und werden sie bis heute diskutiert, nachdem 1965 eine erste Übersetzung seines 1962 erschienenen Buches „Propagandes“ [Mehrzahl!, US] im renommierten New Yorker Verlag Alfred A. Knopf erschienen war. Seit 1960 Teil des vertriebsstarken Verlages Random House, war Knopf eine wichtige Drehscheibe für die Rezeption europäischer Literatur und Theorie in den USA. Eine deutsche Übersetzung liegt erst seit 2021 vor (Jacques Ellul, Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, Frankfurt/M. 2021). Jacques Ellul wurde hierzulande kaum rezipiert, obwohl sein umfangreiches Oeuvre zentrale Fragen der technischen Moderne und der Konsumgesellschaft anregend und zugleich provozierend erörtert. Seine Werke haben ein spezielles Flair, seine rechtswissenschaftliche Grundbildung, insbesondere aber seine theologischen Interessen bieten gleichermaßen Stringenz wie philosophische Weite. Ellul gehörte der französischen Resistance an und war zugleich ein Gerechter unter den Völkern, ein Ehrentitel der viel zu wenigen (Ulrich Teusch, Wer war Jacques Ellul? (2021) (https://multipolar-magazin.de/artikel/wer-war-jacques-ellul).

Propaganda war für Ellul eine Notwendigkeit der technischen Moderne. In seinem 1954 erstmals erschienenen, 1964 ins Englische übersetzten Werk „The Technical Society“ hieß es bereits programmatisch: „Technik ist nicht ein isoliertes Element in der Gesellschaft […], sondern hängt mit jedem Faktor im Leben des modernen Menschen zusammen“ (Jacques Ellul, The Technological Society, New York 1964, xxvi). Propaganda erschien ihm als eine für das gesellschaftliche Leben unabdingbare Humantechnologie (Ebd., 216). Dass sie leitende Ziel sei Effizienz und Funktionalität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, sie erlaube Koordinierung und Orientierung. Für Ellul war das kein Grund zu moralisierender Klage, sondern Teil realistischer Selbstverortung. Das Problem sei nicht der irreführende Dualismus von Diktatur oder Demokratie, sondern die Reduktion des Menschen auf eine Art Tier, „gebrochen, um bestimmten bedingten Reflexen zu gehorchen“ (Ebd., 375). Wie anders aber sollte der moderne Verkehr funktionieren, dieses Aufeinandertreffen völlig unbekannter Dinge und Wesen?

Auch Elluls Propagandabuch kreist um das Grundproblem der Effizienz der technischen Gesellschaft und ihrer Folgen für das Individuum. Propaganda verstand der französische Soziologe als eine wissenschaftsbasierte rationale Kommunikationsform, die auf ein Massenpublikum mit einem möglichst breiten Arsenal von Medien ziele, um Wirksamkeit zu erzielen. Dazu müsse sie an bestehende Prädispositionen anknüpfen, die anvisierten Menschen möglichst gut kennen. Wirksame Propaganda müsse den kulturellen Kontext präzise mit einbeziehen, denn nur so könne Aufmerksamkeit garantiert und Dauer/Wandel bewirkt werden. Die politische und gesellschaftliche Dienstbarkeit der Kulturwissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, ist daher kein Zufall. Ellul verstand den Einzelnen als „einen schrecklich formbaren, plastischen Menschen, der seiner selbst ungewiss ist, stets bereit, sich zu unterwerfen“ (Ellul, 2021, 17 (ich zitiere nach der Paginierung des mir vorliegenden E-Books)). Dafür gäbe es gute Gründe, der Einzelne würde in einer technischen Gesellschaft die Vorteile des Gehorsams rational einschätzen. Maschinenarbeit und Musizieren basieren gleichermaßen darauf. Propaganda „ist dazu aufgerufen, Probleme zu lösen, die durch die Technik erzeugt wurden, auf Unverträglichkeiten zu reagieren, das Individuum in die technologisierte Gesellschaft zu integrieren. Propaganda ist weit weniger politische Waffe eines Regimes (was sie natürlich auch ist) denn Wirkung einer technologisierten Gesellschaft, die den ganzen Menschen einschließt und dazu tendiert, ihn vollständig zu durchdringen“ (Ebd., 18). Menschen würden aus freien Stücken gehorchen, da sie ansonsten gegen ein System fremdgesetzter Regeln und Sachzwänge ankämpfen müssten. Innerhalb eines gegebenen Rahmens schaffe dieser Gehorsam – und die darauf zielende Propaganda – aber sehr wohl einen Freiraum.

Propaganda in einer modernen Welt sei berechenbar und berechnend, ihr Einsatz evaluierbar und wandelbar, um möglichst wirksam zu sein. Sie richte sich an die Masse, spreche den Einzelnen jedoch niemals in seiner Individualität an. Der Einzelne wisse, dass er Teil einer Masse, einer Gruppe sei, dass er sich zu ihr zu stellen habe. Er teile Mythen und Narrative, sei daher emotional berührbar, könne impulsiv und überschwänglich reagieren. Er sehe sich stets als Teil einer breiteren Strömung, ihm bekannter Moden. Die von Fremden vorgegebene Frühlingsfarbe oder der Schnitt der Wintermäntel kann daher Ausdruck seiner Selbst sein, Erhebung aus der Masse in der Masse. Pointiert formulierte Ellul: „Der Mensch der Masse ist ein »Untermensch«, der sich aber für einen »Übermenschen« hält“ (Ebd., 25).

Um Wirkung zu erzielen, müsse Propaganda möglichst total sein. Das bedeute den Einsatz aller verfügbaren (oder bezahlbaren) Medien für einen Zweck. Sporadische Aktivitäten seien keine Propaganda. Erst der orchestrierte Einsatz unterschiedlicher Medien erlaube, den Einzelnen unterschiedlich und doch gleichartig anzusprechen: „So gelingt es, Denken und Fühlen pausenlos auf Trab zu halten: der Mensch und die Menschen, denn berücksichtigt werden muss auch, dass sich derlei Mittel nicht alle gleichermaßen an dasselbe Publikum richten“ (Ebd., 28). Totale Propaganda ziele darauf, „den ganzen und alle Menschen zu erreichen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben. Sie liefert ihm ein umfassendes Modell zur Erklärung der Welt und unmittelbare Handlungsmotive zugleich. Wir sehen uns hier einer Gestalt mythischer Ordnung gegenüber, die die Person im Ganzen zu fassen sucht“ (Ebd.). Das Ziel sei „nahezu Einstimmigkeit“ (Ebd., 29), sei Marktbeherrschung, sei es im wirtschaftlichen oder politischen Wettbewerb. Propaganda agiere in der Gegenwart, wolle diese prägen und beherrschen. Dazu würde, ja müsse sie „die Geschichte ihren Bedürfnissen entsprechend neu schreiben“ (ebd., 31). Das mag uns an das Wahrheitsministerium in George Orwells Dystopie „1984“ erinnern, doch es sei durchaus notwendig alte Verkehrszeichen oder Begriffe zu vergessen. Fletchern wird Rösen, Zarizyn Stalingrad, Berlin Germania, Karl-Marx-Stadt Chemnitz Studenten Studierende, Kiew Kijiv. Eins, zwei, drei, im Sauseschritt / Läuft die Zeit; wir laufen mit!

Anknüpfungsfähige Vorpropaganda: Wahlaufruf zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 und nationalsozialistisches Heldennarrativ 1933 (Der Welt-Spiegel 1932, Nr. 31 v. 31. Juli, 1 (l.); Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1075)

Jacques Elluls Analyse ist natürlich nuancenreicher als diese groben Striche. Zwei weitere Punkte scheinen mir zur genaueren Analyse der Winterhilfe 1933/34 und der darin eingebetteten Karikaturenserie um Herrn und Frau Knätschrich jedoch noch erwähnenswert. Erstens bedarf nach Ellul jede aktive Propaganda einer Art Vorpropaganda. Der plötzliche Schock wirke, doch er wirke nicht dauerhaft. Wirksame Propaganda erfordere einen Vorlauf, habe „den Menschen auf eine bestimmte Handlung hin vorzubereiten, ihn für bestimmte Einflüsse empfänglich zu machen, ihn in den Stand zu versetzen, zu gegebener Zeit in wirksamer Weise, ohne Aufschub und ohne zu zögern, an der Bewegung teilzunehmen“ (Ebd., 50). Das könne auf zwei Arten erfolgen, nämlich einerseits durch konditionierte Reflexe, also eine erwartbare Reaktion auf Worte, Bilder, Personen oder Tatsachen, die dann für ein neues Ziel genutzt werde. Anderseits sei es Ziel der Vorpropaganda „Erzählungen, Mythen zu erschaffen, in denen der Mensch ein Zuhause findet und die an seinen Sinn fürs Heilige anknüpfen“ (Ebd., 50). Sie sollen für Gutes, Gerechtes, Wahres stehen, denn dafür setzen sich Menschen ein und in Bewegung.

Zweitens hat Ellul zwischen vier verschiedenen Kategorien der Propaganda unterschieden, die hier nur zu nennen sind, die wir im Rahmen der Winterhilfe und auch der Knätschrich-Serie aber allesamt wiederfinden werden. Politische sei von soziologischer Propaganda zu trennen – und gerade letztere könne die Rationalität der Propaganda fürs Mitmachen, für die eigene Integration erklären. Ellul unterschied ferner zwischen agitierender und integrierender Propaganda – und es ist offenkundig, dass die Konsolidierung der NS-Herrschaft auf die (für die Mehrzahl) integrierende Wirkung des moralisch hochstehenden „Volksgenossen“ angewiesen war, während das blökende Ja zur Einheitsliste der Reichstagswahl am 12. November 1933 zwar ein Agitationserfolg war, die Dauer des Regimes aber keineswegs sicherte. Ellul unterschied weiterhin zwischen vertikaler und horizontaler Propaganda, also zwischen Hitler- oder Goebbelsrede einerseits und der breit gefächerten Erziehung zum deutschen „Volksgenossen“ anderseits. Schließlich trennte Ellul rationale von irrationaler Propaganda. Damit trug er dem schon während der NS-Zeit allseits sichtbaren Bezug auf „Tatsachen“ Rechnung, denn Propaganda gründet nur selten auf offenkundigen Lügen. Doch just die als Andock- und Merkpunkte für den Einzelnen erforderlichen Tatsachen, also „rationale“ Argumente, verkehren sich in propagandistischer Form meist in ihr Gegenteil: „Weit davon entfernt, die Individuen zu einem selbstständigen Urteil, zu einer eigenen Meinung zu ermächtigen, werden sie von der Vielzahl an Informationen daran gehindert, paralysiert. Sie können unmöglich dem Spinnennetz der Information entkommen, das heißt, sie sind gezwungen, auf der Ebene der ihnen gelieferten Tatsachen zu verharren. Sie sehen sich außerstande, ihre Präferenz, ihr Urteil in einem anderen Bereich, bei anderen Themen zu formulieren“ (Ebd., 114-115).

Rationale Propaganda: Der Rückgang der Arbeitslosigkeit 1932/1933 (Illustrierte Technik 11, 1933, H. 15, V)

Elluls Analyse der Propaganda liefert ein Rüstzeug für eine genauere Untersuchung der NS-Propaganda. Sie erlaubt eine detaillierte Fallstudie, ermöglicht aber auch den Vergleich mit anderen Propagandaregimen, von früheren und heutigen Propagandismen. Das NS-Regime war trotz atavistischer Mythen ein modernes Herrschaftssystem, das die Errungenschaften des technischen Zeitalters recht virtuos nutzte, um seine ideologischen, aggressiv-mörderischen Ziele zu verwirklichen. Dazu bedurfte es, wie in jeder effizienten Gesellschaft, sozialer Kohäsion. Bekenntnisdruck und Gewalt waren Teil dieser Effizienzsteigerung, Mordbereitschaft bedarf allerdings anderer Propagandismen als die Akzeptanz von Frauen in Führungspositionen. Das wird die Analyse der nicht gehorsamen und spendenunwilligen Knätschrichs zumindest tendenziell einfangen können.

Krisenbewältigung und Winterhilfe

Diese Studie ist Teil der „Neuentdeckung der Zeitung in der zeithistorischen Forschung“ (vgl. Christian Kuchler, NS-Propaganda am Kiosk?, in: Ders. (Hg.), NS-Propaganda im 21. Jahrhundert, Köln, Weimar und Wien 2014, 27-39, hier 29). Die langsame Erschließung dieser zunehmend digitalisierten Massenquelle erlaubt neuartige Einblicke in die öffentliche und veröffentlichte Sphäre. Texte, Zeichnungen und Bilder treten gleichermaßen hervor, auf Massenmedien wie Kino, Radio und den Buchmarkt wird stetig verwiesen (vgl. zu letzteren Andreas Martin, Medieneinsatz und Propaganda zum Winterhilfswerk im Dritten Reich, in: Jürgen Wilke (Hg.), Massenmedien und Spendenkampagnen, Köln, Weimar und Wien 2008, 161-232, hier 201-226). Die Lektüre der Tages- und Wochenpresse erlaubt einen direkten Einblick in den Alltag während der NS-Zeit, allerdings gebrochen durch die Prismen der Presseanweisungen, der ideologisch enggeführten Berichterstattung und der Zensur. Unser direkter und zugleich gebrochener Einblick erlaubt demnach eine präzise Analyse der gängigen Alltagspropaganda, lässt uns unterhalb der großen Propagandainszenierungen blicken. Die strukturellen Defizite dieser Massenquelle (und dieser Studie) sind offenkundig. Wir verbleiben vielfach in der Binnenwelt der Propaganda, mag es auch vereinzelt möglich sein, deren immanente Widersprüche auszuloten. Versteht man Propaganda jedoch als einen zentralen Modus im Leben in der technischen Moderne, kann man mit ihrer Analyse in Massendruckwerken vielfach mehr erreichen als mit der Suche nach dem Bewusstsein des Einzelnen. Ist es wirklich wahrscheinlich, dass den Propagandawelten grundsätzlich andere Binnenwelten gegenüberstanden? Ist die Aufgabe geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktion die realistische Analyse des Hauptgeschehens oder aber das hoffnungsheischende Schöpfen im seichten Gestade des Ausnahmehandelns weniger? Ellul präsentierte eine realistische Gesamtsicht, mochte er selbst auch französische Juden vor der Deportation gerettet haben (Ellul Jacques). Er war die Ausnahme, doch er wollte die Mehrzahl verstehen. Um sehen zu können, gilt es hinzuschauen.

Private Unterstützung der sozialdemokratischen Winterhilfe für Arbeitslose und Kritik an der unzureichenden Unterstützung während der Massenarbeitslosigkeit (Vorwärts 1931, Nr. 569 v. 5. Dezember, 3 (l.); Der wahre Jacob 54, 1933, Nr. 4, 4)

Winterhilfe war keine nationalsozialistische Erfindung. Sie entstand dezentral im Winter 1930/31, als Folge der rasch auf über drei, dann über vier Millionen steigenden Zahl der Arbeitslosen. Eine Arbeitslosenversicherung wurde erst 1927 institutionalisiert, finanziert durch Beiträge von Arbeitnehmern, Arbeitgebern und Zuschüssen der Kommunen und des Nationalstaates. An die Stelle der dezentralen kommunalen Fürsorge trat ein System von reichseinheitlichen Leistungsansprüchen. Die Arbeitslosenversicherung besaß allerdings keine Reserven, war zugleich unterfinanziert, schon 1929 betrug ihr Defizit 270 Mio. RM, 1930 gar 731 Mio. RM. Leistungsabbau war die politische Konsequenz, anfangs noch mitgetragen von den Sozialdemokraten. Im März 1930 zerbrach jedoch die große Koalition unter Hermann Müller (1876-1931) an der Höhe der Beitragssätze und des Reichszuschusses (Ulrike Kluge, Die Weimarer Republik, Paderborn et al. 2006, 250-254, 316-319). Damit endete die parlamentarische Demokratie, begann unter Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970) eine auf die Prärogative des Reichspräsidenten gründende und krisenverschärfende Deflationspolitik. Die Massenarbeitslosigkeit war teils strukturell bedingt, ihr Anwachsen Folge der Überproduktion in den USA, des Platzens der auf billigem Geld basierenden Spekulationsblase 1929, des Abzugs der US-Kredite. Die exorbitante Höhe der Massenarbeitslosigkeit im Deutschen Reich war jedoch Ergebnis der deutschen Politik der Präsidialkabinette, die einerseits auf die Selbstheilungskräfte des Marktes setzten, anderseits aber im Massenelend ein funktionales Argument für ein Ende der Reparationszahlungen sahen (vgl. Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010, 200-271).

Im Winter 1931/32 wurden die lokalen Hilfsaktivitäten intensiviert, da viele Arbeitslose aus den zeitlich befristeten Zahlungen der Arbeitslosenversicherung herausausfielen und auf stetig reduzierte kommunale Fürsorge angewiesen waren, zunehmend aber auch keinerlei Ansprüche mehr besaßen. Die damalige Winterhilfe wurde vornehmlich von den freien Wohlfahrtsverbänden, also Arbeiterwohlfahrtsverbände, Innere Mission, Caritas und Deutsches Rotes Kreuz, und den Kommunen finanziert. Sie entfalteten eine umfangreiche Agitation, um die Not vorrangig mit Sachspenden zu begrenzen. Parallel setzten erste reichsweite Initiativen ein, insbesondere die Frachtbefreiung der Reichsbahn für Hilfslieferungen und erste Verbilligungsscheine für Heizmaterialien, Kartoffeln und Brot, ab Ende 1932 dann auch für Fleisch. Die Winterhilfe minderte die Not, das Spendenaufkommen – 42 Mio. RM 1931/32 (Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Kronberg/Ts. und Düsseldorf 1978, 453) – und die Reichshilfen – 35 Mio. RM 1932/33 (Verbilligtes Fleisch – verbilligte Kohlen, Neueste Zeitung 1932, Nr. 300 v. 22. Dezember, 1) waren jedoch auch nicht ansatzweise ausreichend. Ende 1932/33, also kurz vor der Machtzulassung der NSDAP, war die Winterhilfe ein kontroverses öffentliches Thema. Die SPD forderte eine massive Erhöhung der Reichszuschüsse auf 400 Mio. RM, drang damit aber nicht durch. Bruno Rauecker (1887-1943), Regierungsrat in der Reichszentrale für Heimatdienst, betonte an der Jahreswende: „Winterhilfe ist zu einer gebieterischen nationalen Pflicht geworden. In allen Teilen unseres Vaterlandes haben daher die Organisationen der privaten Wohlfahrtspflege zu tätiger Mitarbeit aufgerufen: überall werden Kräfte mobilisiert, Hilfsquellen erschlossen, um zur Linderung der Not breiter Volksschichten angesetzt zu werden (Winterhilfe und Volksgemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1933, Nr. 1. v. 3. Januar, 1-2, hier 1). Rauecker, der seine Stellung schon bald aus politischen Gründen verlieren sollte, sprach von einer „Gemeinschaft zwischen Regierung und Volk, zwischen Führung und freiwilliger Mitarbeit […]. Keiner darf an der Abwehrfront gegen Not und Elend fehlen!“ (Ebd., 2)

Die NSDAP war Teil der dezentralen Winterhilfe, die im Juni 1932 institutionalisierte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) stellte neben die zahlreichen Suppenküchen der SA eine weiter ausgreifende Dachorganisation. Sie sollte ab dem 3. Mai 1933 für alle Fragen der Volkswohlfahrt und Fürsorge im Deutschen Reich zuständig werden (Herwart Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34, 1986, 341-380). An die Stelle der vielgestaltigen Hilfsaktivitäten der freien Wohlfahrtsverbände trat im Spätsommer 1933 dann das „Winterhilfswerk des deutschen Volkes“, das im September 1933 vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) vorgestellt und Anfang Oktober offiziell vom Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) eröffnet wurde. Goebbels als formaler Leiter bediente sich zur Durchführung der NSV als „Treuhänderin“. Die Spenden waren eine ergänzende Nothilfe, die deutlich gesenkten Fürsorgesätze der Zeit der Präsidialdiktatur wurden beibehalten, nicht erhöht.

Fürsorge im Zeichen des Kreuzes: Spendenaufruf für ein lokales Winterhilfswerk 1931 (Grafinger Zeitung 1931, Nr. 269 v. 21. November, 4)

Das Winterhilfswerk spiegelte die für den NS-Staat übliche Unterminierung der rechtlich verbindlichen und allgemein gültigen sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik. Die sozialdemokratische Opposition erfasste die Transformation recht präzise: „1. Die laufenden bürokratischen sozialpolitischen Leistungen werden abgebaut (Krankenkassen, Arbeitslosenunterstützung, Wohlfahrtspflege der Gemeinden) und daneben eine Reihe von Einzelaktionen mit großer propagandistischer Aufmachung unter Selbstfinanzierung durch Sammlungen aufgebaut (Winterhilfe, Aktion für Mutter und Kind). Auf diese Weise werden gleichzeitig die Partei und ihre Nebenorganisationen mit immer neuen behördlichen Funktionen ausgestattet und der alte behördliche Apparat zurückgedrängt. 2. Nebenher läuft die Ersetzung der früheren individuellen Hilfeleistung durch Kollektivaktionen mit hauptsächlich propagandistischen Zielen.“ Ziel sei es „die Partei und ihre Organe immer mehr mit der Gesellschaft und dem Staat zu verflechten und ihre Leistung und Bedeutung in den Augen der Öffentlichkeit zu haben“, allerdings sei dieses Anfang 1934 „noch nicht gelungen“ (Zitate n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 42).

Die Propaganda für die nationalsozialistische Winterhilfe konnte demnach auf vielgestaltige Vorläufer und Maßnahmen zurückgreifen. Dies erleichterte ihre Arbeit, denn eine Vorpropaganda war kaum mehr erforderlich. Hauptaufgaben waren die Steigerung der Spendeneinkünfte und die Koppelung von Hilfsaktivitäten mit der Politik der NSDAP und der von ihr gestellten Regierungen. Wie stark man dabei anfangs auf Arbeit anderer zurückgreifen konnte, zeigt nicht zuletzt der Begriff des Winterhilfswerkes selbst. Man findet ihn bereits während der Inflationszeit für lokale Hilfswerke (Westfälische Neueste Nachrichten 1922, Nr. 284 v. 5. Dezember, 6; Rhein- und Ruhrzeitung 1923, Nr. 445 v. 30. November, 2; Münchner Neueste Nachrichten 1923, Nr. 345 v. 20. Dezember, 13). Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise entstanden neuerlich lokale Winterhilfswerke, dieses Mal jedoch stärker durch die Kommunen (Velberter Zeitung 1930, Nr. 294 v. 28. Oktober, 7; Münchner Neueste Nachrichten 1930, Nr. 332 v. 6. Dezember, 7). All das war Teil der oben schon erörterten Winterhilfsaktionen. Auch einzelne Unternehmen trugen schon früh freiwillig ihr Scherflein bei: Die Belegschaft der Porzellanfabrik Tirschenreuth leistete etwa freiwillig Überstunden, deren Lohn wurde dann dem Coburger Winterhilfswerk gespendet (Coburger Zeitung 1931, Nr. 258 v. 3. November, 3). Diese notmildernden Initiativen waren nicht nur Vorläufer, sondern zugleich unausgesprochener Teil der nationalsozialistischen WHW-Propaganda seit Oktober 1933. Nothilfe war allseits akzeptiert, so dass der Appell des NS-Staates Gehorsam auch bei denen fand, die dem Regime reservierter gegenüberstanden.

Das Winterhilfswerk verkörperte im Sinne der neuen Machthaber eine völkische Opfergemeinschaft. Es ging um „Nationale Solidarität“, „blutmäßig ewig begründet“, in bewusster Abgrenzung zur „internationalen marxistischen Solidarität“, so der NSDAP-Parteivorsitzende (Adolf Hitler, „Wir wollen die lebendige nationale Solidarität des deutschen Volkes aufbauen!“, in: Führer-Reden zum Winterhilfswerk 1933-1936, Berlin 1937, 4-5, hier 4). An die Stelle von staatlich garantierten Rechten trat Unterstützung im Einklang mit politischem Wohlverhalten (Florian Wimmer, Die völkische Ordnung von Armut. Kommunale Sozialpolitik im nationalsozialistischen München, Göttingen 2014, insb. 131-153). Die im späten 19. Jahrhundert intensivierte Abkehr von der Privatwohltätigkeit wurde damit ansatzweise umgekehrt (Florian Tennstedt, Wohltat und Interesse. Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes, die Weimarer Vorgeschichte und ihre Instrumentalisierung durch das NS-Regime, Geschichte und Gesellschaft 13, 1987, 157-180, hier 157). Aufgrund ihrer Dauerpräsenz während des Winterhalbjahres war das WHW zugleich einer der wichtigsten, wahrscheinlich aber der wichtigste Trommler für die Volksgemeinschaftsideologie. Es zielte auf gesellschaftliche Integration, zumal des Bürgertums und der Arbeiterschaft, war Ausdruck des stets offensiv propagierten „Sozialismus“ der NSDAP und lenkte NS-Aktivisten nach dem Ende der „nationalen Revolution“ auf fordernde und beschäftigende Tätigkeitsfelder. Dazu bediente es sich einer zwar ebenfalls angelegten, in Umfang, Intensität und Totalität aber bisher nur aus Wahlkämpfen bekannten Propaganda.

Empathie, Gemeinsinn, Opfer: Totale Propaganda für die Winterhilfe

Vor mehr als neunzig Jahren kam Propaganda noch direkt, noch ungebrochen daher. Der Begriff war positiv besetzt, das Nebeneinander von Propaganda und Volksaufklärung erschien logisch, nicht nur bei den akademischen Eliten mit ihrem steten Drang nach wissensbasierter Optimierung und Massenführung. Für den angestrebten Gleichklang verwandte die teils im Reichstag residierende Leitungsgruppe der Winterhilfe eine breite Palette unterschiedlicher Formen, um Spenden zu akquirieren, systemische Integration und Gehorsam zu gewährleisten, das Publikum auf eine Aufgabe zu lenken. Wir gehen diese nun Punkt für Punkt durch, wissend, dass Einzelinstrumente nicht die monumentale Wucht des Orchesters widerspiegeln. Darmstadts Bürgermeister Karl Wilhelm Haug (1904-1940), zugleich Gauführer des Winterhilfswerks in Hessen-Nassau, betonte entsprechend: „Es gibt keinen im weiten Vaterland, der sich der Größe und der Wucht des Winterhilfswerks entziehen kann“. Der „unablässige Appell“ sei jedoch Ausdruck der bedrückenden Not und des unbeschreiblichen Elends, daher unbedingt geboten (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Die Struktur des Winterhilfswerks war an sich überschaubar. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt führte, die Organisationen der NSDAP, der noch verbliebenen freien Wohlfahrtsverbände, der Behörden und der Wirtschaftsverbände unterstützten. Unter dem Motto „Kampf gegen Hunger und Kälte“ wurden monatliche Haus- und Straßensammlungen durchgeführt, ebenso allmonatliche Eintopfessen. Weit wichtiger waren faktische Zwangsabgaben, einerseits von der Einkommensteuer, anderseits von Körperschaftssteuer. Dafür erhielten Beschäftigte, Selbständige und Unternehmen (Tür-)Plaketten, durch die sie von weiteren Spenden entbunden waren. Hinzu kamen umfassende Sachspenden, anfangs vor allem Anteile an der eingebrachten Ernte, zudem Abgaben von Handwerkern, Groß- und Kleinhändlern. Hinzu trat eine Lotterie, Wohlfahrtsmarken und zahlreiche weitere, vor Ort zu entwickelnde und durchzuführende Veranstaltungen. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Kleinrentner erhielten ergänzende finanzielle Zuwendungen, Sachspenden, verbilligte Nahrungsmittel und Heizmaterialien, hinzu traten Notspeisungen, Wärmestuben, aber auch Freikarten für kulturelle Aktivitäten. Im typisch nationalsozialistischen Superlativ war all das „die grandioseste soziale Organisation dieses Jahres“ (Josef Goebbels, Das deutsche Volk – eine große Not- und Brotgemeinschaft, in: Julius Streicher (Hg.), 1933. Das Jahr der Deutschen, Berlin 1934, 217-226, hier 226). Der verwaltende Sozialstaat trat in den Hintergrund, das propagandistisch nutzbare Winterhilfswerk in den Vordergrund.

Emotionale Standardpropaganda

Grundbedürfnisse: Hunger und Kälte gemeinsam brechen (Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 4 (l.); Märkischer Landbote 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 4)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte von Beginn an Bildklischees, die möglichst breite Schichten ansprachen und nicht explizit nationalsozialistisch waren. Kernpunkte war die Benennung der Not durch Verweis auf allseits nachvollziehbare Grundbedürfnisse. Der Grundtenor des Kampfes gegen Hunger und Kälte wurde aber zugleich in einen Handlungsrahmen gestellt. Brot und Kohle waren die Gegenmittel, Nothilfe par excellence. Jeder nutzte sie, fast jeder konnte sie bezahlen, selbst Bezieher kleiner Einkommen. Andere Anzeigen verwiesen auf positive Folgen einer Spende: Sie schützte die Grundzelle der Gemeinschaft, die Familie, hielt gesellschaftliche Desintegration und mögliche Kriminalität in Grenzen. Dies war horizontale Propaganda par excellence.

Kinder als propagandistischer Blickfang (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 255 v. 1. November, 4 (l.); Calwer Tagblatt 1933, Nr. 254 v. 31. Oktober, 3)

Dieses emotionale Anknüpfen an Grundbedürfnisse und ihre Befriedigung wurde durch den Einsatz von Kinderbildern gezielt unterstützt. Brot, Milch und Kartoffeln dienten dem Gedeihen, dem Wachstum der nächsten Generation, damals zumeist als Zukunft verstanden. Anders als im Ersten Weltkrieg gab es während der Weltwirtschaftskrise keine größeren Entwicklungsrückstände der Schulkinder – ein Ausdruck gezielten Verzichts und gezielter Förderung trotz immenser Not. Die emotionale Standardpropaganda konnte auf einen gesellschaftlichen Konsens setzen, auf Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe als Erziehungsideal, als Ausdruck eines entwickelten Menschen. Wer konnte gegen derartige Hilfe sein? Wer wollte sein Herz und seine Börse verschließen? In einfacher Form appellierten diese Zeichnungen an den Sinn fürs Heilige, an ein Zuhause für alle, an Gutes, Gerechtes, Wahres (Ellul, 2021, 50).

Parolen: Appelle für die Winterhilfe

Und doch unterschied sich die Winterhilfe-Propaganda von Beginn an von damals gängigen Spendenkampagnen: Dafür stehen beispielhaft die zahlreichen agitierenden Parolen. Sie standen in einer Reihe mit den um Zustimmung zum Völkerbundaustritt und zur Einheitsliste der NSDAP bemühten Parolen bei der Reichstagswahl am 12. November 1933. Die Leistungen des „Volkskanzlers“ Adolf Hitler wurden darin verdichtet hervorgehoben, der merkliche Abbau der Arbeitslosigkeit betont, vor allem aber die zunehmende Einheit des deutschen Volkes beschworen. Parolen argumentierten nicht, zielten auf den unmittelbaren Eindruck und Reflex. Allerdings gab es auch zahlreiche warnende, ja drohende Parolen: Neinsager wurden als Landesverräter beschimpft, damit Bekenntnisdruck aufgebaut. Allerdings bauten auch die Parolen Brücken, denn man konzedierte Verärgerung über den doch langsamen wirtschaftspolitischen Aufbau. Doch gemeinsam würde man weiter durchstarten, nur Geduld.

Bekenntnisdruck während der Reichstagswahl und Volksabstimmung am 12. November 1933 (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 264 v. 11. November, 3 (o.) und 4)

Die im Oktober einsetzende agitierende Parolenpropaganda für die Winterhilfe unterstrich zweierlei: Zum einen koppelte sie die mit Standardklischees werbende Kampagne fest an die federführende Einheitspartei, etwa durch die Verbindung von NSDAP-Liedgut mit Kampagnenparolen: „Die Reihen fest geschlossen zum Kampf gegen Hunger und Kälte, für Arbeit und Brot“ (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 269 v. 16. November, 4). Zum anderen erlaubten viele Parolen auch, den Bekenntnisdruck auf die Spendenbereitschaft auszuweiten: Plakativ hämmerte es: „Keine faulen Ausreden! Spende zum Kampf gegen Hunger und Kälte!“ (Schwarzwald-Wacht 1933, Nr. 263 v. 10. November, 2). Derartiger Parolendruck ebbte langsam ab, machte sich bei Kauf und Tragen der Plaketten und Abzeichen aber stets bemerkbar: „Jeder muß die Hausplakette erworben haben!“ (Wilhelmsburger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 7). Es handelte sich gleichermaßen um politische und soziologische Propaganda.

Der vereinzelte Mensch als Schreckensvorstellung (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7)

Doch der Tenor der Propaganda veränderte sich, integrative und soziologische Propaganda gewannen rasch die Oberhand. Das Winterhilfswerk, die Nationale Volkswohlfahrt, sie boten Mitmachmöglichkeiten unter dem damals zeitweilig nicht mehr möglichen Parteieintritt. Wer ehrenamtlich mitarbeitete, verpasste nicht den Anschluss an die neue Zeit, hielt das Zukunftsbanner fest in seinen Händen. Dazu diente auch die Chimäre des „Sozialismus der Tat“, die den „Marxismus“ verdammte, den Anhängern der Arbeiterbewegung aber gleichwohl etwas bot. Schließlich hatten Sozialdemokraten diesen Begriff lange an das eigene Banner geheftet (Das Ergebnis des Parteitags, Die Gleichheit 28, 1917, Nr. 3 v. 9. November, 17-18, hier 17; Freiheit 1920, Nr. 216 v. 9. Juni, 2; Vorwärts 1926, Nr. 549 v. 21. November, 3), galt vielen Genossen gar der Einkauf in der Konsumgenossenschaft oder der Alkoholverzicht als „Sozialismus der Tat“ (Vorwärts 1930, Nr. 313 v. 8. Juli, 6; Wilhelm Sollmann, Sozialismus der Tat, Berlin 1926). Auch die Winterhilfe der SPD stand vielerorts unter diesem dann von den Nationalsozialisten gekaperten Begriff (Volksstimme [Hagen] 1931, Nr. 24 v. 29. Januar, 8): „Sozialismus der Tat ist, wenn du dein Brot mit den Armen brichst“ (Volksblatt [Detmold] 1931, Nr. 145 v. 25. Juni, 2). Ähnliches galt für die KPD, die dergestalt den Aufbau in der UdSSR und den Fünfjahresplan titulierte (Bergische Volksstimme 1931, Nr. 78 v. 2. April, 5; ebd., Nr. 80 v. 4. April, 4). Nehmen wir also Abstand zu den vermeintlich klaren Linien der Zeit, blicken wir auf Überlappungen, die diese Propaganda instrumentell nutzte.

„Sozialismus der Tat” oder Abbau rechtlich garantierter Fürsorgeansprüche (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 233 v. 10. Oktober, 8)

Nationalsozialistischer „Sozialismus der Tat“ war eine Chiffre für fremdbestimmten Aktivismus zugunsten von Arbeitern, von Rentnern und Notleidenden. Er hatte wenig gemein mit einem rechtsbasierten Sozialstaat, hängte Anspruchsbedürftige vielmehr an den Tropf der Parteiorganisation. Das spiegelte sich in weiteren Parolen, die etwa die Familie als Hort gegen den „Bolschewismus“ positionierten. Selbsthilfe auf Grundlage von Blutsbanden, völkische Verantwortung allein für rassisch Gleiche – das hatte mit Solidarität, sozialer Umverteilung und Rechtsansprüchen kaum etwas zu tun.

Schreckgespenst Bolschewismus, Volkshort Familie (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 4)

Die Parolenpropaganda ebbte gegen Ende des Jahres zunehmend ab. Die Reichstagswahl hatte bei einer Wahlbeteiligung von 95,2 Prozent 92,1 Prozent Zustimmung ergeben. Das NS-Regime sah darin nicht zu Unrecht eine Bestätigung, verwies in der Folge immer wieder auf die neue Einigkeit der Deutschen. Gemeinschaftsvorstellungen drangen nun vor: „Ein Volk von Brüdern trotz allen Stürmen!“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 7). Zugleich aber forderte man eine geistige Wende, eine Selbstbesinnung für den „Volksgenossen“: „Eßt keinen Bissen Brot / ohne Opfer für die Not! Jeder arme Volksgenosse soll der Ehrengast der Nation sein!“ (Barop-Hombruchsches Volksblatt 1933, Nr. 284 v. 4. Dezember, 6)

Sachspenden als Ausdruck der Hilfsgemeinschaft

Das schöne Bild der Hilfe: Private Kinderspeisung eines Berliner Textilunternehmens (Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1523)

Die Winterhilfe ermöglichte zahlreiche direkte Belege für aktive Hilfe. Sie wurde in Bilder umgesetzt, Abbilder der Entschlossenheit der NS-Regierungen, die Not zu wenden. So schuf man Vertrauen, motivierte zu einer „beispiellosen Opferbereitschaft und Spendenfreudigkeit“ (Winterhilfe, Illustrierter Beobachter 8, 1933, 1350). Gespeiste, freudig zulangende, die Zukunft verkörpernde Kinder waren ein gern gewähltes Motiv, schulische Ergänzungsangebote und Notspeisungen suggerierten existenzielle Sicherheit, vielleicht eine Zukunft. Derart integrierende und horizontale Propaganda knüpfte nicht nur ein Band zwischen Spendern und Machern, sondern auch eines zwischen Spendern und Spendenempfängern. Die Hilfe kam offenkundig an, zauberte den Kleinen ein Lächeln ins Antlitz. Solche Bilder waren zugleich rationale Propaganda, war doch der Ertrag der eigenen Spende scheinbar direkt sichtbar.

Jedem ein Bett: Aufbereitete Matratzen, desinfiziert und „vergast“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2)

In den ersten Monaten der Winterhilfekampagne nahmen Bilder solcher reziproken Gaben einen breiten Raum ein. Entsprechend bedeutsam waren Sachspenden. Das obere Foto stammte aus einer der vielen lokal eingerichteten Werkstätten des Winterhilfswerkes. Dort wurden Kleider, Schuhe, Bettzeug, Möbel und Matratzen begutachtet, repariert und im Wortsinne zugeschnitten. In Frankfurt/M. waren ca. 500 Personen beschäftigt, meist für eine geringe Entschädigung und Essen. Besser als herumzuhocken. In den Nähstuben der NS-Frauenschaft oder der NSV arbeiteten die meisten unentgeltlich. Eine Spende ohne Geldzahlung (Täglich 500 Paar Schuhe, 150 Pfund Wäsche, Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 2). In den einschlägigen Zeitungsberichten standen die Koppelwirkungen im Vordergrund, kamen durch Sachspenden doch viele Arbeitslose wieder in Lohn und Brot, hatten wieder einen geringen Unterhalt. Spenden halfen augenscheinlich die niederliegende Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Begrenzte Sicherheit für den Winter: Kartoffelspenden für Bedürftige (Neueste Zeitung 1933, Nr. 258 v. 18. November, 8)

Propagandistisch wichtiger noch waren die umfangreichen Lebensmittelspenden. Kartoffeln, damals mit Abstand wichtigstes Nahrungsmittel, wurden wieder und wieder aus dem Umland in die Städte gebracht, wo darbende Zeitgenossen die ihnen zustehenden zwei Zusatzzentner erwartungsfroh und dankbar in Empfang nahmen („Wir haben die Kartoffeln gern für Euch gesammelt!“, Neueste Zeitung 1933, Nr. 276 v. 25. November, 9; Edmund Hahn, Auf Kartoffelfahrt für das WHW, Neueste Zeitung 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Neben die Bilder traten Berichte und auch Schüleraufsätze, denn kostenlose Arbeit der Schulkinder half Transport- und Vertriebskosten zu begrenzen (… in keiner Not uns trennen …, Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die berufsständischen Organisationen wirkten im Hintergrund gezielt auf ihre Mitglieder ein, Landwirte, Einzelhändler und Bäcker spendeten vielfach publikumswirksam ihre Massengüter. Arbeitslose, Fürsorgeempfänger und Rentner standen willig für verbilligte Roggenbrote oder für Brotgutscheine an (3-Pfund-Brot für 30 Pfennig, Neueste Zeitung 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 3). Symbolisch noch stärker aufgeladen wurde am Jahresende die Verteilung von Fleisch. Viehhändler spendeten Lebendvieh (Weihnachtsspende des Viehhandels, Neueste Zeitung 1933, Nr. 295 v. 18. Dezember, 4), Metzger offerierten Frischfleisch. Auch wenn die Masse der Weihnachtsgaben gekauft wurde, die Winterhilfe Teil des Geldkreislaufs war, standen Bilder von Spendern und Empfängern immer wieder in den Zeitungen – und zeigten, dass etwas getan wurde, dass die neue Regierung den Selbstbehauptungswillen der Deutschen verkörperte.

Fleisch für Weihnachten: Schweinehälften und arbeitslose Empfänger im oberschlesischen Gleiwitz (Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 8)

Die neue Sichtbarkeit der Spender (und Nichtspender)

Die Winterhilfe war eine Massenorganisation mit etwa ein bis anderthalb Millionen Helfern und einer hohen zweistelligen Millionenzahl von Spendern. Die Chance, dass der Einzelne in der Masse untergehen konnte, seinen Beitrag nicht leisten musste, war grundsätzlich hoch, zumal das Hilfswerk nominell freiwillig war. Hiergegen wirkte die Propaganda. Sie präsentierte nicht nur die Aktivitäten der Winterhilfe, sondern machte auch die Spender grundsätzlich sichtbar. Private Spendengaben wurden öffentlich – und damit ebenso die Nichtgabe.

Selbstkennzeichnung als Helfer: Abzeichen und Sammelplakette (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 255 v. 6. November, 4; ebd. 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12)

Dazu dienten einerseits Abzeichen, anderseits die schon erwähnten Türplaketten. Die Bürokratie übernahm, ihr gegenüber schien Gehorsam angebracht: „Spender, die monatlich einen bestimmten und angemessenen Beitrag zeichnen, erhalten […] eine kleine Palette, mit der Aufschrift ‚Wir helfen‘, die sie an ihrer Wohnungstür befestigen können und die sie von weiteren Sammlungen befreit. Die Plakette wechselt von Monat zu Monat in Farbe und Aufdruck“ (Plaketten für die Spender, Calwer Tagblatt 1933, Nr. 239 v. 13. Oktober, 2). Abzeichen wurden ab Oktober 1933 ergänzend verkauft, zwanzig Pfennig das Stück. Mottonadeln machten den Anfang, doch die NSV besserte nach, investierte in Design und Form (Wolfgang Gatzka, WHW-Abzeichen. Ein Führer durch das interessante Sammelgebiet der Serien des Winter-Hilfs-Werks von 1933 bis 1945, München 1981). Im Dezember 1933 wurde während der Straßensammlung als erstes Motivabzeichen eine Christrose verkauft, 16 Millionen wurden hergestellt und abgesetzt. Sie schmückte, wurde offen getragen, zeigte den Sammlern somit, wer noch nicht gespendet hatte. Seither kamen immer wieder neue, immer wieder andere Abzeichen auf, entstand eine Sammlerszene für die letztlich ca. 8000 Abzeichen. Dieser Wechsel war Teil der Alltagspropaganda, erlaubte immer wieder neue Narrative und Themenstellungen, umrahmte das Immergleiche des Spendens immer wieder neu. Zugleich aber machte es Spender sichtbar, visualisierte das Mitziehen, die Teilhabe. Wer jedoch während der Straßensammlungen kein Abzeichen trug, wer keine Türplakette besaß, wurde von den zahllosen Sammlern immer wieder angegangen, wurde in Listen erfasst, hatte Rückfragen zu beantworten. Der freiwillige Helfer, der von Tür zu Tür ging, musste sich erst einmal selbst rechtfertigen, seine Listen, seine Hausbücher waren Ausdruck seiner Redlichkeit, der Präzision seiner Sammlung. Doch zugleich gewann die NSV so einen Überblick über die Spendenbereitschaft der Einzelnen, der Hausgemeinschaft, der Nachbarschaften. Rationale Verfahren einer arbeitsteiligen Gesellschaft erforderten Anpassung und Gehorsam.

Im Kontrollblick: Türplakette des Winterhilfswerks für den Monat Dezember und freiwilliger Helfer bei der Haussammlung (Neueste Zeitung 1933, Nr. 10 v. 12. Januar, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5)

Die Winterhilfe nutzte anfangs zudem die seit langem bekannte und auch übliche Namensnennung in gedruckten Spendenlisten in den Zeitungen: Tue Gutes und sprich darüber. Das galt insbesondere für ergänzende Spenden, mit denen man sich hervorheben konnte, die man zahlte, um Zweifel zu zerstreuen. Das galt später insbesondere für Unternehmen, auch wenn deren prozentuale Belastung durch die seit Juni 1933 bestehende „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft“ auf ein nicht allzu bedrückendes Maß reduziert werden konnte. Und doch, Spenden konnten verglichen werden, konnten freundliche, aber auch drängende Rückfragen nach sich ziehen. Hinzu traten lokale und regionale Ehrenzeichen, gesonderte Anstecker, nach Spendenhöhe voneinander abgestuft. Vorreiter fanden sich immer, denn „Lindern der Not muß zur Wahrheit für alle werden“ (Heidelberger Volksblatt 1933, Nr., 247 v. 30. Oktober, 3).

Der Vergleich setzte Dynamik frei, auch zwischen den unterschiedlichen NS-Organisationen, die jeweils bestimmte Straßensammlungen durchzuführen hatten. Jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihren Beitrag zu leisten, nicht nur „Opferwillen“, sondern auch „Arbeitswillen“ (Student und Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 289 v. 16. Dezember, 3) zu demonstrieren. Innerhalb der aktiven Gruppen gab es einen Wettbewerb der einzelnen Sammler, denn hohe Erträge mündeten in Lob und Ehrerbietungen. Das galt ebenso für herausragende Leistungen, etwa den Aktivismus der Besatzung des Fischdampfers „Horst Wessel“, der als „Beweis nordischen Menschentums und germanischer Weltanschauung“ präsentiert wurde (Beispiel wahrhaft deutschen Idealismus, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 279 v. 29. November, 2). Wer wollte sich nicht positiv von seinen Volksgenossen abheben, schon früh dem Führer entgegenarbeiten? Jede/r konnte mitarbeiten, war in einen imaginären Wettstreit eingebunden: Eine mithelfende Erstklässlerin dichtete: „Hemdchen, Rock und Bettbezug / wird da hergestellt im Flug. / Munter regen sich ihre Hände, / daß sich Vieler Schicksal wende“ (Gerda Hartmann, Winterhilfe, Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Mutter hatte gewiss geholfen, zeigte allen das abgedruckte Gedicht ihrer Gerda. Sichtbarkeit erhöhte die Propagandawirkung erheblich, denn ein stabiles Gleichgewicht war in einer heterogenen Gesellschaft kaum möglich. Die stetig steigenden Erträge des Winterhilfswerkes gründeten auf dieser propagandistisch geschürten Präsenz der Anderen. Auch Herr und Frau Knätschrich konnten sich dieser Sichtbarkeit nicht entziehen, standen daher als Negativfolien der Volksgemeinschaft im Rampenlicht der Propaganda.

Gemeinschaftsaktionen für die Winterhilfe

Weihestätte auf dem Rathausmarkt in Hamburg (damals Adolf-Hitler-Platz) (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 25. Januar, 6 (l.); Hamburger Fremdenblatt 1934, Nr. 17 v. 18. Januar, Abendausg., 3)

Das Winterhilfswerk schuf regelmäßig virtuelle Ereignisse, um diese propagandistisch zu nutzen, soziologisch, integrativ, horizontal. Ein markantes Beispiel dafür war eine Opfersäule auf dem Hamburger Rathausplatz, in deren Opferschale „allabendlich 3 Stunden lang ein Opferfeuer“ lodern sollte. Das passte zur erhabenen Feuermystik des Regimes, zu Fackelzügen und Bücherverbrennungen. Doch selbst die gelenkte Presse konnte nicht verhindern, dass mehr über die misslungene Benzinführung als über das so wichtige Opfer berichtet wurde, nachdem das Anzünden am Silvesterabend recht kläglich scheiterte. Es dauerte zwei Wochen bis man in der Schale zehn große Petroleumfackeln zusammengestellt hatte, die dann wahrlich Nacht für Nacht je drei Stunden brannten. Das Thema aber war gesetzt, ein wenig Schadenfreude störte nicht die Spendenbereitschaft.

Winterpfennige rollen gegen die Not (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3)

Historisch weiter zurück griffen Heidelberger NSV-Mitglieder. Sie präsentierten den „Winterpfennig“ mannshoch, rollten ihn durch Heidelbergs Innenstadt. Ziel war es, Käufer für eine Zusatzspende beim Einkaufen zu motivieren, sei es durch Aufrunden, sei es durch die Kleingeldspende in eigens aufgestellten Büchsen. Eine Woche vor Rosenmontag hieß es: „Riesige Winterhilfsplaketten wurden von Männern in altdeutschen, oberbayerischen Trachten durch die Straßen der Stadt gerollt. Den rollenden Plaketten ging eine Trommlerschar von Hitlerjungen voraus, die die nötige Aufmerksamkeit auf den Propagandazug lenkten. Herren in Uniform der Freiheitskriege und der Landsknechte mit der Sammelbüchse verkauften die duftigen Spitzenrosetten. Auch Damen in reizenden Rokokokostümen boten die Plaketten zum Verkauf; ihnen konnte man natürlich noch weniger widerstehen“ (Heidelbergs Propagandazug für die Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 29 v. 5. Februar, 3). Ähnliches gab es in vielen Städten, mal rollten die Jungs von der Hitler-Jugend den Winter-Pfennig, mal war er Teil von Autocorsos (Schwerter Zeitung 1934, Nr. 25 v. 30. Januar, 11; Oberschlesien im Bild 1934, Nr. 4 v. 4. Januar, 4). Das galt ähnlich auch für die SA, deren Männer gerne neue Aufgaben wahrnahmen, nachdem ihr Schlagwerk kaum mehr nachgefragt, kaum mehr erforderlich war. Pferdefuhrwerke und Lastwagen holten die Sachspenden vor Ort ab, ein Trompeter informierte über die Ankunft, so wie ansonsten die Glocke des Altwarenhändlers.

Sachspendensammlung der SA für das Winterhilfswerk in Berlin 1933 (Streicher (Hg.), 1934, 445)

Selbstverständlich verbreitete sich die Winterhilfepropaganda auch in der kommerziellen Werbesphäre: Schaufensterdekorateure rangen um den schönsten Entwurf, größere Geschäfte reservierten damals immer häufiger gesonderte Schaufenster für die Propaganda des NS-Regimes. Sie hoben den Opfergedanken hervor, stellten die Sammlungen nach, enthielten vielfach lediglich die Standardmotive, nun allerdings in Plakatgröße.

Schaufensterwerbung für den „Winterpfennig“, eines Zusatzopfers beim Einkauf (Neueste Zeitung 1933, Nr. 280 v. 30. November, 7)

Die Winterhilfeaktivisten setzten weitere propagandaträchtige Ideen spendenwirksam um. Den Winterpfennig gab es auch als Siegelmarke für Briefe, ebenso Wohlfahrtsmarken: „Dein Briefzoll für die Bedürftigen“ (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 9). Da durften stimmungsvolle „Weihnachtsgabenkarten“ nicht fehlen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 292 v. 14. Dezember, 4). Kurz vor Weihnachten begann auch die Winterhilfslotterie, die zwar nur relativ geringe Gewinne ausschütte, die aber breit propagiert wurde und deren Gewinner gerne vorbildhaft lächelten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 298 v. 21. Dezember, 3; Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 20 v. 13. Januar, 12).

Viele Aktionen hatten nur begrenzten Erfolg, wurden dennoch präsentiert, dienten der integrativen Propaganda: Man denke an den Zwillingspfennig, bei dem ein Pfennig des Käufers vom Verkäufer verdoppelt wurde (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5). Gerade in den ersten Monaten stellten sich auch viele Sportvereine und Schausteller in den Dienst der Winterhilfe, denn dadurch erreichten sie größere Resonanz für Boxwettkämpfe, Fußballspiele und Radrennen (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5; zur Kritik solcher Aktionen s. Steinfurter Kreisblatt 1933, Nr. 282 v. 1. Dezember, 6). Zielgruppe um Zielgruppe wurde anvisiert, dabei der Rückbezug auf die Einheit im Ersten Weltkrieg nicht gescheut. In den Schulen durfte gegen Opfergaben wieder genagelt werden, die Schilder waren mit einem werbenden HJ-Emblem versehen (Neueste Zeitung 1933, Nr. 259 v. 4. November, 1). Und zugleich lagen in den Postämtern große Opferbücher aus, in die man sich für 50 Pfennig und mehr eintragen konnte (Neueste Zeitung 1934, Nr. 14 v. 17. Januar, 3). Immer weitere Bereiche des öffentlichen Lebens, des Amüsements und der Wochenendvergnügungen wurden von der Winterhilfswerkpropaganda in Beschlag genommen. Die weitgehend zerschlagene Opposition verstand diese immer wieder variierte, immer wieder erneuerten Aktivitäten als Widerhall abnehmender Spendenwilligkeit. Sie verkannte, dass das NS-Regime lediglich den Ansprüchen einer totalen Propaganda zu entsprechen suchte.

Weihnachtsopfer in christlicher und kommerzieller Tradition

Wir wissen bereits, dass die propagandistische Präsentation der Spendenforderungen keiner Vorpropaganda bedurfte, denn diese hatten Parteien, die freien Wohlfahrtsverbände und zahllose Kommunen mit ihren lokalen Aktivitäten bereits geleistet. Sie umzudefinieren war leicht, denn konkurrierende Aktivitäten waren abseits privater Hilfe kaum vorhanden – auch wenn es noch zwei Jahre dauern sollte, bis dem Winterhilfswerk auch offiziell ein Exklusivrecht für die Sammlung von Oktober bis März eingeräumt wurde. Am Jahresende 1933 konnte die Propaganda für das Winterhilfswerk zudem von der doppelten Tradition des Weihnachtsfestes zehren: Als christliches Hochfest verwies es auf die Armut von Jesus, Maria und Josef, auf die Pflicht zur Spende für unschuldig in Not geratene. Als Wirtschaftsfaktor war Weihnachten spätestens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in den Städten zu einem süßen, mit Konsumgütergaben zelebrierten Gabentauschzwang mutiert. Sachspenden nahmen die Form von Pfundspenden an, denn der Sehnsucht nach Bescherung nicht nur der Kinder musste entsprochen werden. Dafür nutzte das Winterhilfswerk vielfach Fotos einschlägiger Weihnachtsfeiern, setzte aber vorrangig auf massenhaft verbreitete und stetig wiederholte Zeichnungen. Wie die Standardklischees gründeten sie auf Narrativen abseits der NS-Ideologie, auf geteilten Mythen.

Geschenke und Bescherung für alle (Neckar-Bote 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 5 (l.); Harburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 68 v. 20. Dezember, 2)

Die Klischees unterstrichen unausgesprochen, dass es nicht um nichtssagende Geschenke der urbanen Konsumkultur ging, sondern um elementare Gaben, um „Nahrung, Kleidung und Wärme für die Winterkälte“ (Weihnachten in jedem deutschen Haus!, Der Landbote 1933, Nr. 284 v. 5. Dezember, 5). Die Propaganda reicherte die Weihnachtsbilder gezielt mit weiteren Inhalten an: Weihnachten spiegele „Volksnot“ und dagegen musste im gängigen Jargon dieser Zeit gekämpft werden. Standen alle zusammen, so war deutsche Weihnacht möglich, das Zusammenstehen um den einenden Baum. Mochten die Spenden und Gaben auch noch klein sein, so konnten sie doch die Depression brechen, ein neues Weihnachtsgefühl bewirken. Immer „noch ist Hunger, Kälte, Not, überall aber Glaube! Glaube an den Nächsten, an die Brüder, an die Schwestern, Glaube an den Volksgenossen, der für ihn mit dem Leben eintrat. Und wenn jetzt die Lichter aufglänzen in den Straßen, in den Häusern, überall, so braucht keiner mehr mit Bangen an das Fest denken, so soll keiner mehr bitter vor all der Freude stehen, denn in jedem deutschen Haus wird Weihnachten sein“ (Die Winterhilfe zu Weihnachten!, Die Glocke 1933, Nr. 290 v. 16. Dezember, 11). Weihnachten war die „erste große Etappe“ in einem langwährenden Kampf, die Sprache verwies zurück auf die „Liebesgaben“ des Weltkrieges, auf das Augusterlebnis der wehrhaften Nation. Die Sprache klang warm, war aber bereits militärisch durchzogen, Vorbote des Kommenden mit dem „Volksopfer“ 1944/45 als ultimative Gabe der letzten Habseligkeiten. Noch war davon nicht die Rede, noch ging es um „eine selbstverständliche Pflicht […], damit auch diese armen Volksgenossen ihr Weihnachtsfest haben“ (Neckar-Bote 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 4).

Opfer als weihnachtliche Pflicht (Hakenkreuzbanner 1933, Nr. 356 v. 14. Dezember, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 290 v. 12. Dezember, 3)

Kerzen und Tannenzweige prägten viele Propagandamotive, das Opfer wurde gefordert, christliche Traditionen halfen. Für Weihnachten konstitutive Bildwelten, etwa Stall und Herberge, wurden vom nationalsozialistischen Hilfswerk genutzt. Wer konnte, sollte zeitlich befristete Patenschaften für Kinder Bedürftiger übernehmen, Kleidung und Nahrung für die in der Obhut ihrer Eltern verbleibenden Kleinen stellen. Dies sei „deutscher Sozialismus“: „Der Nationalsozialismus führt den Menschen zum Menschen, den Volksgenossen zum deutschen Volksgenossen und bejaht damit die unauflösliche Verbundenheit dazu, die eines Blutes sind“ (Patenschaft für das Winterhilfswerk, Heidelberger Volksblatt 1933, Nr. 293 v. 21. Dezember, 3). Dies bedeutete natürlich nicht nur Zusammenhalt, sondern auch gezielten Ausschluss, auch wenn Juden – vornehmlich mit Rücksicht auf das Ausland – erst nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze 1935 aus dem Hilfswerk ausgegrenzt wurden ([Werner] Hütwohl, Familienfürsorge nach nationalsozialistischen Grundsätzen, Herner Anzeiger 1934, Nr. 131 v. 8. Juni, 6; Aufbau der Jüdischen Winterhilfe, Jüdische Allgemeine Zeitung 15, 1935, Nr. 42, 1). Im Umfeld längst laufender Judenverfolgung brüstete man sich 1933/34 der „Großzügigkeit“, hatte man doch – so die rationale Propaganda – allein in Groß-Berlin 11.041 Juden unterstützt (Bergisch-Märkische Zeitung 1934, Nr. 181 v. 4. Juli, 5).

Christliche Bezüge: Sammelbüchsen als Adventskerzen und Verweis auf den Bruder (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 3 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 289 v. 11. Dezember, 5)

Die Winterhilfswerkpropaganda nutzte im Dezember 1933 christliche Symbole, weil diese Vorpropaganda im Ellulschen Sinne bildeten, zugleich aber noch gängige Emotionen hervorriefen. Adventskerzen und Sammelbüchsen verschwammen, die Parole „Laß Deinen Bruder nicht Hungern“ verwies auf das Gebot der Nächstenliebe. Die zweite Phase des Winterhilfswerkes wurde Ende 1933 sowohl vom nationalsozialistischen Reichsbischof der „Deutschen Christen“ Ludwig Müller (1883-1945) gefeiert als auch vom katholischen Erzbischof Adolf Bertram (1859-1945) begrüßt (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 304 v. 30. Dezember, 9; Heidelberger Volkszeitung 1934, Nr. 4 v. 5. Januar, 12). Dieser geborgte Segen lag aber auch an der noch in den Anfängen liegenden Organisation des Winterhilfswerks selbst. Die christlichen Bezüge wurden in den Folgejahren zunehmend gekappt.

Antreiben zur Selbstverpflichtung: Institutionalisierung des Opfers

Opfer als Selbstverpflichtung, als Ergänzung der Arbeit (Hamburger Anzeigen und Nachrichten 1933, Nr. 72 v. 27. Dezember, 12)

Ende Dezember 1933 wurde eine neue Phase des Winterhilfswerkes eingeläutet. Unter dem alten Leitgedanken, dem Kampf gegen Hunger und Kälte, hieß es nun „Aufwärts aus eigener Kraft“. Man habe, so Joseph Goebbels, einen ersten Sieg erreicht, doch nun sei der Helm wieder festzubinden: „Das neue Jahr soll nicht mit Böllerei und ausgelassenem Toben begrüßt werden, sondern mit dem frohen Bekenntnis zur Volksgemeinschaft. Diesem Bekenntnis müßt ihr durch freudige Opfer Ausdruck geben“ (Aufwärts aus eigener Kraft, in: Streicher (Hg.), 1934, 449-450, hier 450). Das Winterhilfswerk habe viel erreicht, doch noch nicht genug: „Kälte und Hunger drohen weiter, darum müssen wir auch weiter helfen und opfern“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 300 v. 23. Dezember, 12). Gedacht als Maßnahme im Krisenwinter, wurde das Winterhilfswerk fest institutionalisiert, auf Dauer gestellt.

Erinnerung und Aufforderung (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 22 v. 7. Februar, 1; ebd., Nr. 30 v. 21. Februar, 5)

Plaketten, Abzeichen und Parolen änderten sich, nicht aber der Opferzwang: „Opfert für Deutschlands Herz, für deutsche Familie“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 15 v. 18. Januar, 2). Die Zahl der Beschäftigten war von 11,5 Mio. im Januar 1933 auf 13,5 Mio. Menschen im Januar 1934 gestiegen, die Zahl der Arbeitslosen von 6,0 Mio. auf 3,8 Mio. gesunken (Detlev Humann, »Arbeitsschlacht«. Arbeitsbeschaffung und Propaganda in der NS-Zeit 1933-1939, Göttingen 2011, 11*, 16*). Das war beachtlich, 1936 sprach man auch international vom nationalsozialistischen „Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Dieses wurde von der Produktionsgüter- und Rüstungsindustrie hergerufen, während der Lebensstandard von 1928 auch 1938/39 kaum erreicht wurde. 1934 wurde vom Winterhilfswerk jedenfalls noch die bittere Not im nationalsozialistischen Deutschland beschworen: „Eine neue Kältewelle hat eingesetzt. […] Verzweifelt schaut so manche deutsche Mutter ihre Kinder an. Sie frieren, sie bitten um Brot. Aber sie kann ihren Hunger nicht stillen, sie hat kein Brot, sie kann sie nicht vor der grimmigen Kälte schützen, sie hat keine Kohlen, um das Zimmer zu heizen, sie hat keine Kleidung, kein Bett für die Aermsten. Deutsche Volksgenossen! Helft den deutschen Müttern und befreit sie von ihren Sorgen“ (Märkischer Landbote 1934, Nr. 20 v. 24. Januar, 2).

„Volkskanzler“ Hitler beim Beschwören und Reichsminister Goebbels beim Nageln (Ruhr- und Emscherzeitung 1933, Nr. 322 v. 22. November, 5 (l.); Streicher (Hg.), 1934, 415)

Propaganda für das NS-Regime

Die Winterhilfe bespielte die gesamte Klaviatur der von Ellul näher reflektierten Propaganda. Dazu gehörte auch die politische Propaganda. Neben den vielen kleinen und mittleren Funktionsträgern ragten vor allem der Reichskanzler Hitler und sein Reichspropagadaminister Joseph Goebbels heraus. Das konzidierte auch die sozialdemokratische Auslandspresse, mochte sie den Berliner Gauleiter auch als „Wotans Mickymaus“ verbrämen (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 1). Die NS-Granden waren Chiffren, Konstrukte von Visualisierungstechniken, Projektionsflächen in einer kommunikationstechnisch konstruierten, darin aber nicht aufgehenden Welt.

Kontinuität des Opfers mit neuen Motiven (Bergheimer Zeitung 1934, Nr. 19 v. 2. Februar, 2 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 293 v. 15. Dezember, 4)

Goebbels unterstützte das Winterhilfswerk mit Reden, vor allem aber mit öffentlicher Präsenz. Die zunehmend gleichgeschaltete Presse strickte zugleich am Führermythos: Ein notleidendes Mütterchen soll gesungen haben: „Doch mit dem Frühling kam ins Land / ein Retter aus der Not, / Der reichte jedem gern die Hand, / wer Arbeit schafft und Brot. // Auch bis zur dunklen Kammer drang / der frohe Ruf der Massen, / Da ward der Alten nimmer bang, / sie konnt‘ das Glück nicht fassen. // Die Winterhilfe brachte schnell: / ihr Kleider, Speis‘ und Trank. / Da ward die dunkle Kammer hell / vor Rührung und vor Dank. // Ein Ofen wurde beigeschafft, / und für den Winter Kohlen. / Kein Volksgenosse frieren darf, / Der Führer hat’s befohlen“ (Helmut Müller, Für die Winterhilfe!, Neueste Zeitung 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 9). Kanzler Hitler erschien öffentlich als erster Soldat in einer Schlacht gegen Hunger und Kälte, Not und Elend: „Wir geben wieder Glaube und Hoffnung in manches verzweifelte Herz, wir wollen nichts sein als Sozialisten der Tat. Die deutsche Volksgemeinschaft entsteht daraus“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4).

Das Winterhilfswerk als nationalsozialistisches Gemeinschaftswerk (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 286 v. 7. Dezember, 6 (l.); Hannoverscher Kurier 1933, Nr. 543/544 v. 19. November, 27)

Zugleich durchfurchten die Insignien der NSDAP eine wachsende Zahl von Propagandaklischees. Das Hakenkreuz wurde immer wieder präsentiert, koppelte Spenden mit der Zustimmung für das Regime. Dazu halfen auch die zahlreichen Winterhilfskonzerte der SA-Standarten oder auch der Leibstandarte Adolf Hitler (SS im Dienste des Winterhilfswerks, Der Landbote 1933, Nr. 288 v. 9. Dezember, 5). Zugleich verband sich die Sammelaktivität nicht nur mit den deutschen Bewohnern des Reiches. Die Sammlung für den Bund der Auslandsdeutschen am 26. Januar 1934 öffnete den Blick auf die deutsche Diaspora in China, Brasilien, Argentinien und anderswo. Zugleich aber lenkte die Propaganda den Blick auf den europäischen „Volkstumskampf“, insbesondere nach Siebenbürgen oder ins Sudetenland, präsentierte „Deutsche Kinder, die vor Hunger sich nicht mehr außerhalb des Hauses bewegen können“ (Deutsche Winterhilfe, Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 18 v. 23. Januar, 6). Die Winterhilfe-Propaganda war auch Vorpropaganda für Kommendes.

Knätschrich – Wortfeld und Motive einer Propagandaserie

Die Propaganda für das Winterhilfswerk kam positiv daher, agitierte für Werte und Haltung, für das Opfer und die unabdingbare „nationale Solidarität“. Am Beispiel der Parolen, der Sichtbarkeit der Spender und Nichtspender, an den Imperativen und Ausrufungszeichen wurde jedoch auch die andere, drohende, auf Bekenntnisdruck zielende untergründige Botschaft der Propaganda sichtbar. Spendenunwillen gab es, doch er wurde erst einmal verwaltungstechnisch ausgehebelt. Gegen Zwangsabzüge von Einkommens- und Körperschaftssteuer gab es keine rechte Handhabe, denn auch die deutsche Justiz gehorchte den neuen Machthabern, sprach zunehmend Recht in deren Sinne. Propaganda ermöglicht aber andere, subtilere Formen der Einflussnahme und Ausgrenzung. Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich präsentierte eine Negativfolie für den regimetreuen Volksgenossen, legte zugleich aber den Grund für mögliche verschärfte Maßnahmen gegen Bürger, die ihrer vermeintlichen Pflicht gegenüber der Volksgemeinschaft nicht oder nur unzureichend nachkamen.

Wer das Wort „Knätschrich“ sucht, wird allerdings überrascht sein: In der Datenbank Archive.org finden sich ebenso wie im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache keine Treffer, auch die Suchmaschine Google liefert nur drei (10. Januar 2025), die allesamt auf Zeitungsausgaben mit der nun näher vorgestellten Propagandaserie verweisen. „Knätschrich“ ist also ein ausgestorbenes Wort, fast gänzlich vergessen. Die Macher der Kampagne schufen ein Kunstwort, das zwar an gängige Bezeichnungen meckernder, mit ihren Mitmenschen im Kniest liegender Menschen anknüpfte, das als solches aber Herrn und Frau Knätschrich bereits als Fremdkörper der Volksgemeinschaft benannte, seine Negation gleichsam in sich selbst trug.

„Knätschrich“ war eine Substantivierung des vor allem in Nord- und Westdeutschland bekannten Adjektivs „knätschig“, das durch die Synonyme „beleidigt“, „griesgrämig“, „miesepetrig“, ‚mürrisch“ und „weinerlich“ auch denen verständlich wird, die niederdeutsche Sprachtraditionen kaum mehr kennen. Knätschig war lautmalerisch, verwies auf das Zerdrücken von Boden oder das Geräusch gedrückten, nicht voll ausgebackenen Brotes oder Kuchens (Fr[iedrich] Woeste, Wörternich der westfälischen Mundarten, Norden und Soltau 1882, 134; [Georg] Autenrieth, Pfälzisches Iditikon, Zweibrücken 1899, 77). Es bezeichnete auch das Gequengel eines Kindes, sonore Weinerlichkeit und Selbstmitleid (knätschig – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele | DWDS). Kurzum – „Knätschrich“ spiegelte rein sprachlich die nationalsozialistische Machtzulassung, war nämlich ein früher Beleg für die sich nun entwickelnde nationalsozialistisch konnotierte Sprache. Auch die „Winterhilfe“, der darin integrierte „Eintopf“ und dann vor allem das „Winterhilfswerk“ wurden mit dem NS-Regime verwoben, anderen Traditionen zum Trotz. Ellul vermerkte treffend: „Die Wörter müssen zu »Kugeln« werden und treffen“ (Ellul, 2021, 67).

Die Karikaturserie um Herrn und Frau Knätschrich setzte eine Woche nach der Reichstagswahl am 18. November 1933 ein, war integraler Bestandteil der Winterhilfepropaganda, folgte auf die Agitation für den Austritt aus dem Völkerbund. Sie bestand aus zwölf Motiven, konzentrierte sich auf den imaginierten Massentypus konservativ-liberaler Bürgerlichkeit, zielte aber auf Widerständigkeit jeder Art. Das Ehepaar im gesetzten Alter wurde lediglich dreimal gemeinsam präsentiert. Herr Knätschrich polterte in fünf, Frau Knätschrich nörgelte in vier Karikaturen. Viermal sah der Leser auch einen kleinen, teils mit Halsband geschmückten Schoßhund, der angesichts parallel laufender pronatalistischer Familienpropaganda gleichermaßen relativen Wohlstand, Verschwendungssucht und fehlende Frugalität symbolisierte. Die Einzelmotive erschienen an sich wöchentlich, zumeist am Wochenende. Die ersten und die letzten sechs Zeichnungen bildeten jeweils eine Einheit, klar voneinander abgegrenzt durch unterschiedliche Schriftarten und die spätere Verwendung eines lenkenden Slogans. Diese Trennung spiegelte zwei unterschiedliche Phasen der Winterhilfe, die erste auf das Weihnachtsfest ausgerichtet, die zweite auf die nun dauerhaft institutionalisierte „Selbsthilfe“ der „deutschblütigen“ Mehrheitsbevölkerung. Zwischen beiden Phasen gab es eine Pause von etwa drei Wochen. Typisch für die NS-Propaganda war, dass eine präzise Taktung nicht gelang, dass sie in unterschiedlichen Medien zu unterschiedlichen Terminen einsetzte und endete. Die an sich klare, durch meist vorhandene Zahlen unterstrichene Reihenfolge wurde häufig nicht eingehalten. Einzelne Zeichnungen wurden mehrfach wiederholt, allerdings ohne klare Taktung. Die letzten sechs Motive wurden seltener verwandt, der Abdruck franste teils aus. Zugleich aber gab es kein einheitliches Ende der Serie, die nach Mitte Februar 1934 nur noch sporadisch verwandt, aber bis Anfang März gedruckt wurde (Märkischer Landbote 1934, Nr. 51 v. 1. März, 6; Marbacher Zeitung 1934, Nr. 52 v. 3. März, 3). Man mag dies auf Koordinierungsschwierigkeiten sowohl des federführenden Reichministeriums für Volkaufklärung und Propaganda als auch der organisatorisch zuständigen NSV zurückführen. Dies verkennt jedoch, dass auch spätere NS-Kampagnen wie etwa der DAF um Tobias Groll kaum einmal die präzise Umsetzung privatwirtschaftlicher Werbekampagnen erreichten – und dies trotz einer zunehmend strikten Lenkung der Presse. Die Propaganda wirkte, doch sie wirkte keineswegs so perfekt wie manch inszenierte Realität glauben machte. Auch der Nürnberger NSDAP-Reichsparteitag und das erste Erntedankfest auf dem Bückeberg waren bekanntermaßen voller propagandistischer Makel, Defizite, gar unfreiwilliger Komik.

Motive 1 und 2: Frau Knätschrich am Kleiderschrank und Herr Knätschrich und Frau Amanda (Stolzenauer Wochenblatt 1933, Nr. 271 v. 18. November, 5 (l.); Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 273 v. 21. November, 6)

Die Einzelmotive der Knätschrichserie dockten an einzelne Schwerpunkte der WHW-Propaganda an, stellten ihre Protagonisten jedoch als geldgierige und besitzhörige Egomanen vor. Frau Knätschrich, ebenso wie ihr Gatte stets mürrisch und abweisend, besaß zahllose Kleider und Schuhe, doch dieser exklusive Zierrat konnte ihre Unförmigkeit kaum überdecken. Der korpulente Körper beider Eheleute unterstrich die Selbstbezüglichkeit ihres Lebens, das zwischen teuren Kleidern und einer Abmagerungskur in sudetendeutschen Badeorten oszillierte. Angefressen von der Rückfrage des Dienstmädchens, vom Appell in der Zeitung, verweigerten sie sich der Mithilfe. Der Opferruf verpuffte, auch wenn es nur um eine kleine Gabe ging: „Dein Leben ist noch immer licht. / Du bist vor Tausenden gesegnet. / Vergiß im Glück den Bruder nicht, / Wenn er Dir leidgebeugt begegnet. / Sei Mensch und Christ und reih‘ Dich ein / Bei denen, die für groß und klein / Ihr Opfer bringen“ (Gerh. Schulte, Wo ist Dein Opfer?, Langenberger Zeitung 1933, Nr. 272 v. 20. November, 4). Die Serie basierte auf einer Ikonographie des wohlsituierten aber hartherzigen Bürgers, die in der Figur des (jüdischen) Kapitalisten und des (jüdischen) Plutokraten sowohl auf der linken als auch der völkisch-rechten Seite eine lange Vorgeschichte aufwies. Die Knätschrichs standen zugleich im Wettbewerb des Wandels, des von Systembrechern immer wieder erwarteten neuen Menschen. Bilder junger, gläubiger Zeitgenossen, Vertreter der Idee von Deutschlands Wiedergeburt, ließen die Knätschrichs als Ausgeburten des Alten, des Überholten erscheinen. Die beiden Anfangsmotive waren jedoch nicht eliminatorisch, sondern voller Verwunderung, dass es so etwas noch gäbe. Abgrenzung, ein verwundertes Lächeln dürfte bei den meisten Betrachtern gewiss gewesen sein. Zweifelhaft jedoch, ob die Betroffenen selbst ihr Handeln überdenken würden.

Motive 3 und 4: Eintopfgericht und Am Stammtisch der Mißvergnügten (Neueste Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 12 (l.); Der Landbote 1933, Nr. 285 v. 6. Dezember, 4)

Die Knätschrichs, im dritten und vierten Motiv als solche nicht benannt, lebten in ihrem eigenen Milieu, verkehrten nur standesgemäß, sahen weniger begüterte Mitbürger lediglich als Hilfsmittel ihres eigenen Komforts. Eintopf erscheint ihnen als Zumutung, nicht als Chance, die Grenzen des Alltags zu durchbrechen, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft, der Volksgemeinschaft, zu verstehen. Dünkel, Heuchelei, das Messen mit zweierlei Maß – das waren die für sie und ihre Bekannten offenbar angemessenen Attribute. Der Stammtisch des Herr Knätschrichs stand in einer langen Bildreihe, die von Provinzialität, Ignoranz und Bierseligkeit bis hin zur Reaktion reichte. Diese Stereotype bestanden seit der Biedermeierzeit, finden sich gleichermaßen bei liberalen, linken, völkischen und nationalsozialistischen Zeichnern. Kritikwürdig war die Abgeschlossenheit dieser kleinen Welt, die sich nicht dem Neuen widmete, keinen Blick für den Nächsten hatte. Den Knätschrichs käme nicht in den Sinn, sich an ihren Privilegien zu erfreuen, am Porzellan, am regelmäßigen Schoppen Wein. Für sie war die äußere unbekannte Welt eine Bedrohung, Veränderung eine Gefahr. Sie kämen nicht auf die Idee, dass andere sie als „Deserteur[e] der Volksfront“ einschätzen würden, ausgestattet mit fehlender „Gebefreudigkeit“ (Am Sonntag wieder Eintopfgericht, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6). Stattdessen waren sie misanthropisch, trauten dem Neuen nicht, meckerten, nörgelten, haderten. Die ersten sechs Motive der Serie zielten allesamt auf eine Einheitsfront der Abwehr, auf eine Negativfolie von Menschen, die sich nicht eingliedern, die nicht mitmachen, mitmarschieren wollten. Das erleichterte der Mehrzahl Gehorsam und Folgsamkeit, erhöhte aber zugleich die Abscheu vor derartigen „Gemeinschaftsfremden“. Die Propaganda lenkte und lockte: „Morgen Eintopfgericht! Aber nicht mit solchen Gesichtern wie hier bei der Familie Knätschrich, die die neue Zeit immer noch nicht erfaßt hat“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 80 v. 8. Januar, 12).

Motive 5 und 6: Frau Knätschrich’s [sic!] Kaffeekränzchen und Herr Knätschrich beim Einkauf (Billstedter-Zeitung und Horner Zeitung 1934, Nr. 1 v. 2. Januar, 7 (l.); Der Grafschafter 1933, Nr. 297 v. 19. Dezember, 10)

Weihnachten rückte näher, auch Herr und Frau Knätschrich pflegten in der fünften und der sechsten Karikatur die Rituale dieser Zeit. Geselligkeit war angesagt, Geschenke für die Lieben wurden gekauft. Doch derart traute Innerlichkeit gab es nicht im Hause Knätschrich. Die Dame kaufte eine teure Torte, backte sie nicht selbst. Der Herr gab fast ein durchschnittliches Monatsgehalt für Einkäufe aus – doch zugleich war ihm der Pfennig für die Winterhilfe überbürdend, eine unverschämte Forderung. Frau Meyer, gleichermaßen bürgerliche Matrone, schwieg zu den Klagen ihrer Freundin, am Kaffeekränzchen, dem weiblichen Pendant zum männlichen Stammtisch, seit langem Ort von Klatsch, Tratsch, Gehässigkeit und übler Nachrede. Von der auch möglichen Vertrautheit und Gemütlichkeit war in der Karikatur nichts zu sehen. Kaffeekränzchen waren offenkundig nichts für richtige Frauen, die im Leben standen, gebärfähig, mitfühlend, gütig. Eine solche Frau war die Verkäuferin, eine erste Vertreterin des realen völkischen Lebens, die vor dem zahlungskräftigen Kunden nicht kuschte, sondern ihn an die Belange anderer erinnerte. Die Resonanz blieb aus, doch der Widerspruch zur Mehrzahl schien dem Betrachter offenkundig: So bin ich nicht! Ich hätte etwas abgegeben, wäre ich so reich. Ich gebe wenigstens etwas, denn ich habe verstanden, dass ich Teil eines Ganzen bin, angewiesen auf die nationale Solidarität meiner Volksgenossen.

Motive 7 und 8 (Märkischer Landbote 1934, Nr. 18 v. 22. Januar, 5 (l.); Hildener Rundschau 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 7)

Drei Wochen waren vergangen, doch Knätschrichs änderten sich nicht. Im zweiten Teil der Serie blieben die Eheleute jedoch nicht mehr allein, sondern wurden mit den konträren Einschätzungen ihrer Umgebung, ihrer Mitmenschen konfrontiert. Die Einzelmotive waren nun mit Gedichten, dann auch Slogans umrahmt. Sie waren in Schreibschrift gehalten, präsentierten nicht nur die propagandistisch erwünschte Reaktion auf die Knätschrichs, sondern visualisierten damit das einfache Volk, echoten das vielbeschworene Volksempfinden. Der Tenor wurde im siebten Motiv gesetzt, anschließend situativ variiert: „Mit Abscheu wird in Stadt und Land / der Knätschrich’sche Geiz genannt. / O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich.“ Die negative Zweisamkeit der angeprangerten Geizkragen gab es nur im Eingangsmotiv, wurde in den folgenden Karikaturen aufgebrochen. Während im ersten Teil der Serie die Knätschrichs selbst zu Worte kamen, waren sie nun still, während der Chor des Volkes ertönte: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ Der Betrachter konnte nicht mehr an sich halten, reagierte spöttisch, rückfragend, gewiss ablehnend. Besitz und soziale Stellung zählten nicht mehr länger, entscheidend war die Tat, das Eintreten für die Belange der Volksgemeinschaft: „Voll Wut schreit Knätschrich, bleich wie Kreide: / ‚Das Winterhilfswerk macht mich pleite!‘ / Die Sekretärin geht hinaus / Und denkt bei sich: ‚So siehste aus!‘“ Das ist integrierende, horizontale Propaganda. Die Knätschrichsche Negativfolie schuf eine neue virtuelle Gegengemeinschaft der Guten, die mit kleiner Münze gegenhielten, damit einen regimetreuen Unterschied machten. Das Alte, Morsche wurde unterminiert, dem Neuen so der Weg bereitet. Die Spende, der Gehorsam, waren kein Zwang mehr, sondern Votum für eine lichtere Zukunft, in der Menschen wie die Knätschrichs abstarben, nicht mehr ernst genommen wurden. „Das ist das Geheimnis der Propaganda: den, den die Propaganda fassen will, ganz mit den Ideen der Propaganda zu durchtränken, ohne daß er überhaupt merkt, daß er durchtränkt wird“ (Joseph Goebbels, Die zukünftige Arbeit und Gestaltung des deutschen Rundfunks, in: Helmut Heiber (Hg.), Joseph Goebbels. Reden 1932-1945, Bd. I, Düsseldorf 1971, 82-107, hier 95).

Motive 9 und 10 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 9 v. 12. Januar, 8 (l.); Schwerter Zeitung 1934, Nr. 23 v. 27. Januar, 4)

Die Motive 9 und 10 präsentierten Herrn Knätschrich, teils bedrängt, teils bedrückt. Am Beginn stand eine doppelte Fanfare: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ war zu lesen – und zugleich ertönte die Trompete eines jungen Nationalsozialisten, der zur Sammlung einlud. Knätschrich kannte keine Selbstzucht, kein Zurückstecken in der Gemeinschaft. Ihm fehlte jede Ahnung von Kameradschaft, von kämpferischer Männlichkeit. Er war eine aufgeschwemmte Memme, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen: „Tönt Winterhilfstrompetenton / Wird’s Knätscherich ganz schwammig schon / Er diente nie im deutschen Heer / Und giebt auch sonst nicht gern was her“. Doch Knätschrich hatte ein schlechtes Gewissen, ein Alb belastete ihn. Das war selbstgemacht und ungemein bedrückend. Ein Ungeheuer verfolgte ihn bis in den Schlaf, raubte ihm Gelassenheit, Ruhe und Zuversicht: „Herr Knätschrich macht ein schwer Geschnauf, / Ein dicker Kerl sitzt auf ihm drauf; / Der spricht: ‚Wir sind uns doch bekannt, / Der ‚Eigennutz‘ bin ich genannt!“ Wie einfach wäre es, diesen Alb loszuwerden. Gemeinnutz stärkte doch den Einzelnen, machte ihn froh, bettete ihn ein, ließ ihn Wurzeln schlagen. Herr Knätschrich hätte dazu die Chance, denn sein Volk reichte ihm die Hand, lud ihn ein zu gemeinsamer Hilfe. Ein bedauerlicher Mensch, so wohl die Reaktion des Betrachters. Doch selbst verschuldet. Ich werde nie ein solcher Knätschrich, ich bin Teil einer starken Gemeinschaft, in der man sich wechselseitig stützt.

Motive 11 und 12 (Heidelberger Volksblatt 1934, Nr. 12 v. 16. Januar, 4 (l.); Westfälische Landeszeitung 1934, Nr. 36 v. 6. Februar, 15)

Die beiden letzten Motive waren wieder Frau Knätschrich gewidmet, nun nur noch eine bepelzte Spottfigur: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein [sic!] Knätscherich!“ Selbst Kinder, aktiv sammelnde Hitler-Jungen, kannten sie, kannten diesen Typus, waren schon weiter. Die Dame war unnahbar, materialisierter Geiz, einzig ihr Hündchen hielt ihr die Stange. Sie könnte Vorbild sein, großmütterlich, Helfer der Jugend. Doch dazu müsste sie in sich gehen, sich ändern, sich integrieren. So war sie eine böse zischelnde Alte, nicht mehr: „Kieck Max, da kommt Frau Knätscherich; Na, Mensch, die Alte kenne ich! / Jetzt paß mal auf, wie die gleich zischt: ‚Ich gebe nischt!‘“ Die beiden Jungen waren aktiv, traten für andere ein. Das war das neue Deutschland. Nicht aber Frau Knätschrich, die nicht einmal den Winterpfennig zahlte. Anna, ihr Dienstmädchen, war aus anderem Holze. Trotz eines nur kleinen Einkommens schloss sie ansatzweise die Bresche, die ihre Herrin untätig schlug: „Beim Einkauf sieht Frau Knätschrich gern / Die Sammelbüchse nur von Fern. / Da sagt die Anna so für sich: ‚Wenn sie nichts spendet – spende ich!‘“ Dieses letzte Motiv der Serie band den Betrachter direkt ein, präsentierte ein Vorbild, eine berechtigte Erwartung an alle: Egal, in welcher Situation Du bist, Du kannst einen Unterschied machen, Du kann das Richtige tun, mag es auch Dein Umfeld beschämen. Du bist mehr, mit Dir zieht die neue Zeit. Was aber nur mit der Knätschrich machen? Ignorieren?

Bewertende Überschriften: Herr Knätschrich als schlechtes Beispiel, die Knätschrichs als „Saboteure der Volkshilfe“ (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 79 v. 5. Januar, 7 (l.); General-Anzeiger für das gesamte rheinische-westfälische Industriegebiet 1933, Nr. 327 v. 30. November, 3)

Dieses strukturelle Problem jeder Propaganda, jeder modernen Gesellschaft, löste die Serie nicht auf. Die Einzelmotive präsentierten Fehlverhalten, schlechte Beispiele, Saboteure durch Nichtstun. Die Karikaturen setzten auf ein Absterben des Alten, auf den Frühling des Neuen. Sie setzten auf das Pflichtgefühl des Einzelnen, auf dem Genügenwollen, der Freude, gar Lust am Gehorsam. Die Serie wurde zumeist ohne Zusätze abgedruckt, positive Appelle, etwa „Gebt reichlich der Winterhilfe“, waren die Ausnahme (Mettmanner Zeitung 1933, Nr. 282 v. 2. Dezember, 7). Die Propaganda setzte auf den Einzelnen, seine Schwäche erschien als Stärke, bildete sie doch ein moralisches Erheben über den Geiz und die Selbstbezüglichkeit der Knätschrichs.

Kommunizierende Karikaturen (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1934, Nr. 101 v. 31. Januar, 18)

Die Redaktionen spielten kaum mit dem Bildmaterial, kommunizierende, nebeneinander stehende Motive bildeten eine seltene Ausnahme. Ab und an wurden einzelne Motive mehrfach abgedruckt. Am häufigsten findet man das Kaffeekränzchen, gefolgt vom Einstiegmotiv der Kleidersammlung. Herr Knätschrich war weniger wohlgelitten, auch wenn das Einkaufsmotiv in einem Falle gleich vierfach abgedruckt wurde (Münsterländische Volkszeitung 1933, Nr. 348 v. 17). Man nahm die Karikaturen wahr, dachte sich seinen Teil. Korrekturen gab es nur beim nunmehr vom Duden als richtig akzeptierten „Idioten-Apostroph“ im fünften Motiv. Spätere Abdrucke präsentieren die Unterzeile korrekt, ohne Apostroph (Marbacher Zeitung 1934, Nr. 14 v. 18. Januar, 7).

Bekenntnisdruck weitergedacht: Angedrohte Gewalt gegen Meckerer, Nörgler, Miesmacher (Bremer Zeitung 1934, Nr. 137 v. 19. Mai, 9)

Der Grund für diese Zurückhaltung im Umgang mit der Serie dürfte ihre untergründige Botschaft gewesen sein: Wir kennen Euch, wir verachten Euch, wir kriegen Euch, wenn ihr Euch nicht ändert. Die Bildsprache war eindeutig, präsentierte wohlhabende Bürger als Negativfolien der Volksgemeinschaft. Der Bekenntnisdruck war offenkundig, die harte Hand des Staates, der Partei, hatte jedoch noch nicht zugeschlagen. Der propagandistisch „Röhm-Putsch“ genannte Mord an ca. 100 Menschen Ende Juni/Anfang Juli 1934 zielte jedoch nicht nur auf die für das Machtgefüge bedrohliche Spitze der SA, sondern galt auch einer Vielzahl konservativer, dem NS-Regime kritisch gegenüberstehender Personen, darunter der frühere Reichskanzler Kurt von Schleicher (1884-1934). Schon im Mai 1934 hatte Goebbels eine reichsweite Kampagne gegen sog. Meckerer, Nörgler und Miesmacher eingeleitet, gerichtet gegen Leute wie Herrn Knätschrich. Die eklatanten Finanzprobleme des Deutschen Reichs konnten damals kaum mehr übertüncht werden, die wirtschaftliche Erholung geriet in Gefahr. Das wirkte sich auch auf die nächste Runde des Winterhilfswerkes aus: Ein Aufruf an alle Haushaltungen in Harburg-Wilhelmsburg setzte einen neuen Ton: „Deutscher Volksgenosse! Erst der nationalsozialistische Staat wird diese fahnenflüchtigen und egoistischen, nur auf ihre Ichsucht eingestellten Menschen, die es heute ebenso gibt wie damals, indem sie nur Rechte für sich beanspruchen, aber Pflichten und Volksgemeinschaft nicht kennen, auf die Dauer als Staatsbürger nicht anerkennen. Beim vergangenen Winterhilfswerk des Deutschen Volkes 1933/34 haben wir gegen diese volksschädlichen Elemente noch nichts unternommen, doch im kommenden WHW wird dieses endlich werden. Es wird in diesem Winter für die Volksgenossen, die ihrer Pflicht der Volksgemeinschaft gegenüber nachgekommen sind, zur Erinnerung an gemeinsames Handeln zur Bekämpfung der Not eine Urkunde auch dann gegeben, wenn sie im vergangenen WHW ihrer Pflicht nicht voll nachgekommen sind, dies aber im kommenden Winter entsprechend nachholen“ (zit. n. Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 521). Eine zweite Folge der Knätschrich-Serie gab es nicht. Der Bekenntnisdruck war offenbar, der Gehorsam mündete in höhere Spenden, während zugleich die in der Serie angelegte Konfrontation zwischen Volksgemeinschaft und Spendenunwilligen zunahm (Jan Ruckenbiel, Soziale Kontrolle im NS-Regime. Protest, Denunziation und Verfolgung, Köln 2003).

Gestalter der Propagandaserie

Anzeigen und Werbeplakate der Winterhilfe wurden von führenden Werbegraphikern und Agenturen ihrer Zeit gestaltet. Beispielhaft dafür steht der nationalsozialistische Grafiker Ludwig Hohlwein (1874-1949), der bis heute vor allem als vermeintlicher Vater der deutschen „Reklamekunst“ und als prägender Akteur der Markenartikelwerbung auch der 1920er Jahre gilt. Die Propaganda für das Winterhilfswerk war ein Gemeinschaftswerk von Künstlern, NS-Staat und der NSV zum wechselseitigen Nutzen. Hohlweins hier nicht näher vorgestellte Winterhilfswerkplakate knüpften an die gängige Bildsprache der Werbung an. Das diente nicht nur der Integration der Unschlüssigen und Abwartenden, sondern stellte die gemeinsame Anstrengung in ein Kontinuum deutscher Geschichte (Birgit Witamwas, Geklebte NS-Propaganda. Verführung und Manipulation durch das Plakat, Berlin und Boston 2016, 130-151, 154-159, 243, 250). Die Winterhilfe war demnach kein Bruch, sondern ein Anknüpfen an deutsche Traditionen der Fürsorge und des Gemeinsinns.

Auch für die Knätschrich-Serie hatte das Propagandaministerium mit Werner Hahmann einen der führenden Karikaturisten der Weimarer Republik gewonnen. Er wurde als Sohn des Chemnitzer Fabrikanten Franz Hahmann und seiner Frau Marie, geb. Weigel, am 1. Dezember 1883 in Chemnitz geboren und evangelisch getauft. Nach dem Realschulbesuch studierte er ab 1900 Architektur erst an der Gewerbeakademie in Chemnitz, dann an den Technischen Hochschulen in Dresden und München (Bundesarchiv Lichterfelde (BA) R 4901/13265, Nr. 3518). Hahmann arbeitete im erlernten Fach, machte sich 1910 selbständig, war in München, Hamburg und Dresden tätig. Parallel studierte er Malerei und Graphik an der Kunstgewerbeschule Dresden und der Pariser Academie Julian. Er wechselte 1913 das Berufsfeld, war seitdem in Berlin als Maler und Graphiker tätig (https://cp.tu-berlin.de/person/729). Während des Weltkrieges wurde er verwundete, erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse, schied schließlich als Leutnant aus dem Heeresdienst aus (BA R 4901/13265, Nr. 3518).

Hahmann hatte bereits seit 1913 freiberuflich für die Karikaturzeitschrift „Kladderadatsch“ gezeichnet, deren politische Ausrichtung sich während des Krieges deutlich radikalisierte und die seit 1919 vornehmlich Positionen der völkisch-nationalistischen DNVP vertrat. Hahmann wurde 1914 fest angestellt – und eine seiner bis heute immer wieder reproduzierten Zeichnungen visualisierte massenwirksam die Dolchstoßlegende (Kladderadatsch 72, 1919, Nr. 48, 13). Während der Weimarer Republik bekämpfte er KPD, SPD und die demokratische Mitte, trat außenpolitisch für einen strikten Revisionismus ein. 1919 etablierte er sich zudem akademisch, anfangs als Assistent an der Berliner Technischen Hochschule im Freihandzeichnen. 1924 folgte die Habilitation, seit Dezember 1924 lehrte er als Privatdozent. Zuvor hatte er 1920 die fünfzehn Jahre jüngere Hermine Klöver geheiratet, wobei die Ehe kinderlos blieb. Hahmann war seit 1924 zudem regelmäßiger politischer Zeichner für die DVP-nahe Magdeburgische Zeitung, 1928 erschienen „originale“ Karikaturen auch in der nationalen Westfälischen Zeitung (Werner Hahmann, Die Karikaturen der Magdeburgischen Zeitung, Magdeburg 1925).

Nebenerwerb mit völkischen Motiven: Vier apokalyptische Reiter über Deutschland (Westfälische Zeitung 1928, Nr. 79 v. 2. April, 7)

Im Kladderadatsch agitierten zu dieser Zeit Kollegen wie Oskar Garvens (1874-1951), Arthur Johnson (1874-1954) oder Hans Maria Lindloff (1878-1960) bereits im Brackwasser völkischen Opposition und der NSDAP. Das galt auch für Hahmann, der unter dem Pseudonym Mooritz zudem für die NSDAP-Karikaturzeitschrift Die Brennessel zeichnete (Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus, Berlin und Boston 2013, 81). 1933 begrüßte er die Machtzulassung der NSDAP, rechtfertigte den Terror der SA, den Judenboykott, verhöhnte Emigranten wie den Kritiker Alfred Kerr (1867-1948) und in die Flucht gezwungene Politiker vornehmlich der SPD. Am 21. September 1933 erfolgte dann die Ernennung des zuverlässigen Parteigängers zum außerordentlichen Professor an der TH Berlin.

Zu dieser Zeit dürften auch die Ausschreibungen für die Propagandaserie stattgefunden haben. Die geschäftstüchtige und – wie ihr Mann, der Reichstagsabgeordneter der Staatspartei und spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963) – pekuniär während der NS-Zeit sehr erfolgreiche Werbetexterin Elly Heuss-Knapp (1881-1952) „gestaltete im Herbst 1933 für das Propagandaministerium ‚Werbung‘ für die Winterhilfe: Sie erstellte zwölf Entwürfe, ehe das Projekt stockte, da ‚unterdessen die Propaganda für die Reichstagswahlen eingesetzt‘ hatte (Theodor Heuss, In der Defensive. Briefe 1933-1945, hg. u. bearb. v. Elke Seefried, München 2009, 192, Anm. 12, Schreiben Heuss-Knapp an Toni Stolper, 7.11. 1933, BA N 1221, Nr. 488; zur Biographie s. BA R 9361-V/22131, insb. 6-8). Es ist möglich, letztlich aber nicht belegt, dass es sich bei den Texten und dem Slogan der Knätschrich-Serie um ein Werk der späteren Erfolgstexterin für Nivea, Wybert und andere führende Markenartikel gehandelt hat (vgl. beispielhaft Eckart Sackmann und Siegmund Riedel, Elly Heuss-Knapp: internationale Werbung für Gaba und Wybert, Deutsche Comicforschung 21, 2025, 58-74). Einprägsame Originalität wies jedoch einzig der Slogan „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“ auf. Die in der Serie verwandte Sprache legt eine Konzeption im Spätsommer 1933 nahe, da im ersten Teil der Serie durchweg von „Winterhilfe“ die Rede war, noch nicht vom „Winterhilfswerk“, wie im zweiten Teil. Das entsprach der begrifflichen Findungsphase im Reichspropagandaministerium, dessen Leiter noch bei der Vorstellung des WHW am 13. September von Winterhilfswerk, Winterhilfsaktion und Winterhilfe sprach (Goebbels, 1934, 217-226).

Typähnlich: Matronenhafte Opernsängerin (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 46, 6)

Karikaturist Hahmann nutzte für die Serie Personen in dem für ihn typischen Stil. Eine Frau Knätschrich recht ähnliche Dame findet sich auch im Kladderadatsch. Er zeichnete ferner kurz vor Weihnachten eine Propagandakarikatur für WHW-Sachspenden: Die Geschenke des als Weihnachtsmann verkleideten deutschen Michels waren Kartoffeln, Brot, Eintopf, Kleidung und Schuhe (Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 50, 1). Die weitere Karriere Hamanns ist für unsere Fragestellung weniger wichtig, obwohl sie recht typisch für nationalsozialistische Künstler war. Hahmann wurde am 1. November 1938 als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule Berlin verbeamtet, lehrte im angestammten Felde erst an der Fakultät für Bauwesen, ab 1942 an der Fakultät für Architektur. Schon im August 1945 „übertrug ihm der kommissarische Senat die Geschäfte des Dekans für die Fakultät II für Architektur“, ab dem 1. April 1946 wurde der nationalsozialistische Karikaturist Ordinarius für Freies Zeichnen und Malen an der Fakultät für Architektur an der Technischen Universität Berlin, für die bis 1947 auch als gewählter Dekan agierte. Hahmann wurde 1954 emeritiert und die einschlägige Webseite der TU Berlin, von der diese Angaben stammen, erwähnte die antisemitischen Hetzwerke des hochgeschätzten Ordinarius ebenso wenig wie die Winterhilfeserie um die Knätschrichs (Catalogus Professorum – TU Berlin).

Werner Hahmann: Architekt, Gebrauchsgraphiker, Maler, Antisemit, NS-Karikaturist, und von 1933 bis 1954 Professor für Freies Zeichnen und Malen an der TH bzw. TU Berlin – und eines seiner gängigen Werke (Universitätsarchiv Technische Universität Berlin 601, Nr. 235; Kladderadatsch 86, 1933, Nr. 52, 3)

Kontinuitäten der Propaganda

Wir könnten unsere Analyse dabei belassen. Doch dann wären wir dem inspirierenden Ansatz Jacques Elluls nicht gerecht geworden. Propaganda, auch Bekenntnisdruck aufbauende, steht nicht allein, ist Teil eines breiteren semantischen und visuellen Feldes. Die Knätschrich-Kampagne war nationalsozialistisch, doch sie gründete auf einer weit zurückreichenden, in nahezu allen Aspekten des Lebens präsenten Bildtradition der hartherzigen und geizigen Bürger, der Wohlhabenden ohne Herz. Dies gilt für die christliche Tradition, für die Armutsbekämpfung und Fürsorge. Dies gilt aber auch und gerade für die bisher nur ansatzweise untersuchten Bildwelten der Arbeiterbewegung (Lachen Links 2, 1925, 50; ebd. 3, 1926, 200).

Sozialkritik am gesetzten Bürgertum als Thema sozialdemokratischer und kommunistischer Agitation (Lachen Links 2, 1925, 76 (l.); Die Rote Fahne 1931, Nr. 238 v. 25. Dezember, 11)

Herr und Frau Knätschrich waren Teil einer nicht nur nationalsozialistischen Kritik am bürgerlichen Spießer, an all den Verzagten, die sich um ihr eigenes Wohlergehen kümmerten, nicht aber um Not und Bedrängnis der Anderen. Sie standen zugleich für eine Kritik an den Alten, den Gesetzten, die an dem Ihren festhielten – während die Jugend dynamisch nach vorne schritt, Neuland gewann, für die Weltrevolution stritt oder auch für ein völkisches Morgen.

Druck und Lenkung: Besserverdienende abseits der imaginierten Volksgemeinschaft (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 295 v. 17. Dezember, 3)

Und doch war die Knätschrich-Kampagne mehr als eine an sich beliebige Episode im Deutungskampf um den Geldbeutel, um die Aufgabe der Begüterten in Gesellschaften voll offenkundiger Ungleichheiten. Sie war auch Referenzpunkt für eine stete Folge nationalsozialistischer Kampagnen gegen die nicht mitziehenden Bürger. Vorrangig unterstützt vom Reichspropagandaministerium entstanden immer wieder neue, gleichwohl konzeptionell epigonenhafte Propaganda-Kampagnen und Einzelbilder voller Bekenntnisdruck (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175).

Fortschreibung der Knätschrich-Kampagne: Herr und Frau Spießer von Gerhard Brinkmann 1940 (Der Gemeinnützige 1940, Nr. 287 v. 12. April, 3 (l.); Der Führer am Sonntag 1940, Nr. 46 v. 24. November, 3)

Kurz nach Kriegsbeginn entwickelte beispielsweise der NS-Humorist und -Karikaturist Gerhard Brinkmann (1913-1990) eine wesentlich breiter greifende Kampagne über Herrn und Frau Spießer, die allen Bürgern vor Augen hielt, wie sie sich nicht benehmen sollten, um sich nicht der Lächerlichkeit und dem Ausschluss aus der Volksgemeinschaft preiszugeben. Brinkmann schuf dadurch sanften Bekenntnisdruck, die sein NS-Karikaturistenkollege Emmerich Huber (1903-1979) in der parallel laufenden Kampagne über die mustergültige Familie Pfundig flankierte. Wesentlich schärfer war die 1941/42 laufende NS-Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich. Mehrere führende NS-Karikaturisten, aber auch mehrere Pressezeichner attackierten zunehmend ausgrenzend die potenziellen Verräter der deutschen Volks- und Kriegsgemeinschaft. Dabei war die (kaum mögliche) Verweigerung des steten Opfers für das Kriegswinterhilfswerk nur eine von vielen strukturell verräterischen und selbstausgrenzenden Handlungen. Auch die beiden folgenden Zeichnungen der Pressezeichner Walter Schulz und Gerda Schmidt, regionale Ergänzungen der Serie um Herr Bramsig und Frau Knöterich, hatten klare Bezüge zur früheren Knätschrich-Kampagne Werner Hahmanns. Zahlreiche Einzelzeichnungen folgten, auch die 1943/44 laufende „Liese und Miese“-Serie kritisierte die immer noch fehlende Opferbereitschaft der Frau Miese (Oldenburgische Staatszeitung 1944, Nr. 56 v. 27. Februar, 6).

Fehlende Opferbereitschaft bei Frau Knöterich und Herrn Bramsig (Lippische Staatszeitung 1941, Nr. 345 v. 16. Dezember, 5 (r.); General-Anzeiger für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das westfälische Münsterland 1942, Nr. 30 v. 31. Januar, 3)

Man kann diese Kampagnen als integrierende, den selbst definierten Volksfeind lächerlich machende und ausgrenzende Propaganda verstehen, als indirektes Eingeständnis eines während der NS-Zeit kontinuierlich bestehenden Dissenses vieler Bürger. Wichtiger scheint mir jedoch, die Knätschriche, Spießer, Bramsige und Knöteriche als Teil eines bis heute währenden, lange vor dem Nationalsozialismus einsetzenden Propagandanarrativs zu verstehen. Man denke etwa an „Konterrevolutionäre“ in der DDR, die vehemente Kritik der „Spießer“ durch die „Studentenbewegung“, an die Ausgrenzung der „Müslis“ während der Kohlära, an „Covidioten“ oder Putinversteher. Der so wichtige, für jedes Gemeinschaftsengagement an sich wichtige Gehorsam möglichst aller, er war und ist eben immer gefährdet durch Neinsager, Meckerer, Rückfragende, Egoisten. Und was könnte man alles schaffen, wenn alle an einem Strick ziehen würden: „Wenn nur die Leute nicht wären! / Immer und überall stören die Leute. / Alles bringen sie durcheinander” (Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1955-1970, Frankfurt a.M. 1971, 128). Doch moderne Gesellschaften basieren eben auf Wahlmöglichkeiten, auf Unterschieden, auf die jede soziale Situation charakterisierende Option von „Loyalty“, „Voice“ oder „Exit“. Das ist Teil einer realistischen Weltsicht, an der die umfassende Propaganda des Alltags immer wieder abprallt, mag sie auch mächtig sein und Einfluss haben.

Abseits der Propaganda: Ergebnisse, Ineffizienz und Betrug der Winterhilfswerksammlungen

Abschließend noch ein nüchterner Blick auf das Winterhilfswerk, abseits der Propaganda. Eine zeitgenössische Analyse kam zu dem Ergebnis, dass inklusive der Familienmitglieder anfangs 16 bis 19 Millionen Personen Leistungen des WHW erhielten, also mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung (Kurt Werner, Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung des Winterhilfswerks, Nationalsozialistischer Volksdienst 1, 1933/34, 98-106, hier 99). Gerade Sachleistungen wurden massiv gesteigert, die Kartoffellieferungen vervierzehnfachten sich von 37.600 Tonnen 1932/33 auf 456.400 Tonnen 1933/34. Die Gesamtleistungen wurden damals auf etwa 300 Mio. RM geschätzt, also etwa 1,3 Prozent des Volkseinkommens. Dies bedeutete allerdings nur monatlich sieben RM für Bedürftige bzw. drei RM für alle Bezugsberechtigten. Spätere Berechnungen kamen 1933/34 auf Gesamteinnahmen von insgesamt 358,14 Mio. RM, darunter Sachspenden in Höhe von 126,98 Mio. RM. Die propagandistisch besonders herausgehobenen Reichsstraßensammlungen resp. die Eintopfspenden waren mit 14,40 resp. 25,13 Mio. RM nicht herausragend, die vielfach zwangsweisen Lohn- und Gehaltsspenden lagen mit 48,93 Mio. RM deutlich darüber, ebenso die Spenden von Unternehmen und Institutionen mit 33,66 Mio. RM (Ralf Banken, Hitlers Steuerstaat. Die Steuerpolitik im Dritten Reich, Berlin und Boston 2018, 386). Kontrastiert man die Propagandabilder mit den Ergebnissen, so war die permanente Mobilisierung im Sinne des Regimes ebenso wichtig wie der nicht unbeträchtliche pekuniäre Ertrag. Dieser lag deutlich über der Winterhilfe 1932/33, so dass der zeitgenössische Eindruck eines dynamisch gegen die Not agierenden NS-Regimes durchaus berechtigt war. Allerdings betraf dies kaum die propagandistisch eingeforderten Spenden im öffentlichen Raum, sondern einerseits die steuerlichen Zwangsabgaben, anderseits die Sachspenden, die vor allem auf das Drängen der neuen landwirtschaftlichen und industriellen Organisationen zurückzuführen waren. Die Belastung war unterschiedlich verteilt, Unternehmen waren begünstigt, der Mittelstand trug überdurchschnittliche Lasten.

Zur Einordnung der Winterhilfe 1933/34 ist auch ein Blick auf die Folgejahre erforderlich. Einerseits nahm die Bedeutung der Sachspenden erst relativ, dann auch absolut deutlich ab. 1938/39 lagen sie mit 113,8 Mio. RM knapp unterhalb der Einnahmen 1933/34 (Banken, 2018, 386), sanken während des Krieges dann massiv, da Lebensmittelspenden in der Rationierungswirtschaft kaum mehr möglich waren, da gesonderte Hilfswerke v.a. Kleider- und Rohstoffspenden übernahmen. 1938/39 betrugen die Geldeinnahmen aber bereits 631,6 Mio. RM, dem fast dreieinhalbfachen der 184,3 Mio. RM 1933/34 (Martin, 2008, 190). Die Ergebnisse der Reichsstraßensammlungen lagen 1938/39 um mehr als das fünffache über denen von 1933/34, erreichten während des Krieges 1942/43 dann das mehr als siebenundzwanzigfache des Ausgangswertes. Auch die propagandistisch massiv propagierten Eintopfessen erzielten 1942/43 das mehr als dreizehnfache Ergebnis von 1933/34. Anders ausgedrückt: Die Propaganda 1933/34 erntete während der Kriegszeit ihre Früchte, hatte Gehorsam und Integration unterstützt, ohne die eine effiziente Kriegsführung kaum möglich gewesen wäre. Direkter Bekenntnisdruck gewann während des Krieges an Bedeutung, Negativfolien wie die Knätschrichs, Spießer, Bramsig und Knöterich leisteten dafür und für hohe Spendenerträge einen wichtigen Beitrag.

Neue Opfer für neue sozialpolitische Arbeitsfelder (Werben und Verkaufen 23, 1939, 240 (l.); Schwarzwald-Wacht 1944, Nr. 67 v. 20. März, 3)

Das Winterhilfswerk konzentrierte sich zu dieser Zeit bereits auf ganz andere soziale Aufgaben, insbesondere in der Familien- und Gesundheitspolitik. Obwohl die Arbeitslosigkeit sank, die durchschnittliche Lebenshaltung niedrig aber doch gesichert war, nahmen Einnahmen und Ausgaben des Winterhilfswerkes stetig zu, wurden immer neue Aufgaben im Sinne der völkischen und pronatalistischen NS-Ideologie erschlossen. Während des Krieges gab es neue Aufgaben an der „Heimatfront“, sei es in der Kindesbetreuung, der Versorgung Verwundeter und Alleinstehender, dann vieler „Bombenopfer“. Dies bedeutete aber immer auch eine Konzentration auf Hilfsbedürftige im Sinne des NS-Regimes. Damit begann das WHW schon 1933 (Neueste Zeitung 1933, Nr. 281 v. 1. Dezember, 3). Die Hierarchien von Not und Bedürftigkeit waren fluid, boten effiziente Machtmittel insbesondere gegenüber allen nicht Gehorchenden. Festzuhalten ist zugleich, dass Winterhilfswerk und NSV zu den zentralen sozialpolitischen Institutionen des NS-Regimes wurden. Mehr als 17 Millionen Deutsche waren Mitglieder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt; nur die Deutsche Arbeitsfront zählte während der NS-Zeit mehr Mitglieder.

Vier weitere Punkte sind für die Bewertung der Propaganda wichtig. Erstens war das Winterhilfswerk insbesondere in den Anfangsjahren relativ ineffizient, auch wenn die Verwaltungskosten offiziell bei lediglich ca. einem Promille lagen (Die Leistungen des Winterhilfswerks, Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 163). Der Umgang mit den Sachspenden war kostenträchtig, trotz unentgeltlicher Leistungen von Reichsbahn und Reichspost. Die Instandsetzung von Kleidern, Matratzen und Betten verschlang trotz ehrenamtlicher Hilfe „ungeheure Summen“ (Was das Winterhilfswerk heute leistet, Neueste Zeitung 1934, Nr. 4 v. 6. Januar, 4), so dass diese Aufgaben zunehmend abgebaut wurden. Das galt auch für die Verpackung und Verteilung von Weihnachtsgaben, so dass Bescherungen zunehmend zentralisiert wurden. Gleichwohl blieben die Verwaltungskosten hoch, denn die Beschäftigtenzahl wuchs, ebenso Qualifikation und Einkommen.

Hinzu traten zweitens beträchtliche Probleme mit dem Missbrauch und der Veruntreuung der Spendengelder. Offiziell sollte das WHW „mit den saubersten und anständigsten Verwaltungsmethoden durchgeführt“, sollten Fehlgriffe „mit den härtesten und drakonischsten Strafen belegt“ werden (Goebbels, 1934, 220). In einem chronisch korrupten System war das inhaltsleere Rhetorik, mochten zahlreiche öffentlich kommunizierte Bestrafungen auch das Gegenteil suggerieren. Die Unterminierung des Vertrauens in das durch „unlautere Elemente“ (Neueste Zeitung 1933, Nr. 291 v. 13. Dezember, 5) geprägte WHW war offenkundig, wirkte sich aber kaum auf das Handeln der Zwischeninstanzen aus (Die genaue Durchführung des Winterhilfswerkes, National-Zeitung 1933, Nr. 217 v. 15. September, 7). Höhe und Verwendung der Spenden waren unabhängig nicht zu überprüfen, viele Aktivitäten dienten nicht der Linderung von Not, sondern höchst persönlichen Zwecken. Die stete Wiederholung der Warnungen vor Missbrauch war ein indirektes Eingeständnis eines strukturellen Problems dieser Hilfsorganisation (Gegen Mißbrauch des Winterhilfswerks, Ostdeutsche Morgenpost 1933, Nr. 331 v. 1. Dezember, 6).

Kult des Ergebnisses: Präsentation der Ergebnisse des WHW 1933/34 (Buersche Zeitung 1934, Nr. 277 v. 10. Oktober, 2)

Dem wurde drittens mit rationaler Propaganda begegnet, mit der ritualisierten Präsentation von Spendenergebnissen und Rechenschaftsberichten auf allen Ebenen. Dies mutierte zu einem Kult des Details, etwa wenn das Hindenburger Winterhilfswerk Beifall erheischend von 400 Christbäumen, 100 Zentnern Zucker in Pfundtüten, 17 Zentnern Fleisch und 2500 Schuhen berichtete, die unentgeltlich verteilt worden seien (Ausgezeichnete Leistungen des Hindenburger Winterhilfswerkes, Der oberschlesische Wanderer 1934, Nr. 13 v. 16. Januar, 6). Die öffentliche Präsentation der Sammelergebnisse mutierte zu einem propagandistischen Ritual, das vor allem die stets höheren Erträge, die Erreichung aller Ziele, die Geschlossenheit und Einmütigkeit des Dorfes, der Stadt, des Gaues und der Nation verkündete (Jeversches Wochenblatt 1933, Nr. 301 v. 27. Dezember, 3). Die Normwelt wurde propagandistisch für wahr erklärt, denn Rückfragen waren kaum möglich, rechtliche Überprüfungen Ausnahmen. So konnte man behaupten: „Es gibt keine Rücksicht auf politische Zugehörigkeit, auf Konfession und Rasse“ (Die Erfolge des Winterhilfswerks, Mittelbadischer Kurier 1933, Nr. 275 v. 25. November, 4). Die Nennung von Tatsachen war Teil der allgemeinen Propaganda.

Diese Probleme wurden viertens innerhalb großer Teile der Bevölkerung, insbesondere aber von der aus dem Ausland berichtenden sozialdemokratischen Opposition klar gesehen. Letztere berichtete – ohne öffentliche Resonanz – von lokalen Verfehlungen, vereinzelter Widerständigkeit, dokumentierte die kargen Leistungen der Nothilfe, wenngleich aus distanzierter Sicht. Ja, es mochte stimmen, dass die Arbeitslosen auf das verwiesen wurden, „was aus einer in jedem Falle unzulänglichen, zufälligen und unkontrollierten Schnorrerei übrig“ (Morgen Eintopfgericht, Sozialdemokrat 1933, Nr. 229 v. 30. September, 1-2, hier 2) blieb – doch wenig war besser als nichts. Wahrscheinlich berechtigt hieß es – etwa aus Ostsachsen: „Die Sammlungen bringen die Menschen zur Verzweiflung“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1, 1934, 46). Doch das hieß noch lange nicht, dass sich die Sache totlaufen würde, hoffte man doch auf Widerständigkeit, die just durch Propaganda, durch den ausgeübten Bekenntnisdruck unterminiert wurde. Die sozialdemokratischen Berichte präsentierten zudem widersprüchliche Einschätzungen: Einerseits hoben Gewährsmänner regelmäßig und durchaus zurecht hervor, „die Mehrleistungen der Wohlhabenden stehen in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen und ihrer Leistungsfähigkeit“ (Ebd., 534). Anderseits hieß es aus Sachsen: „Der Druck auf die sogenannten ‚Bessersituierten‘ bei den Spenden für die Winterhilfe ist sehr groß.“ (Ebd., 521). Die unter hohem persönlichem Risiko erstellten und übermittelten Berichte unterschätzten generell die soziologischen, integrativen, horizontalen und auch rationalen Dimensionen der einschlägigen Propaganda. Aus der Distanz mochte es sich um Klassenherrschaft und Repression handeln; dennoch aber gehorchte die Mehrzahl, war bereit zu Opfer und Gabe, fügte sich den Vorgaben, weil dies ein besseres Leben erlaubte als das Dagegenhalten: „O, Volksgenosse hüte dich, / Und werde nie ein Knätscherich!“

Statt eines Fazits

Blicken wir zurück auf Ellul: Für ihn war Propaganda eine Realität, war Gehorsam ein notwendiges und vielfach wohlbegründetes Element modernen Lebens. Sein Denken war jedoch dialektisch, geschult an seiner intensiven Auseinandersetzung mit marxistischen Schriften in den 1930er Jahren: Propaganda und Gehorsam waren und sind demnach ubiquitäre Elemente moderner technischer, moderner Konsumgesellschaften. Doch zugleich musste und muss der Einzelne darin nicht aufgehen. Ellul sah die eigentliche Aufgabe in einer reflektierten Distanz zu den „techniques“ und „propagandes“, zum daraus gewobenen Produktions- und Konsumtionsregime. Der Mensch habe sich aus der Natur befreit, bemühe sich heute aber, diese nicht zu zerstören. Er habe sich aus der ständischen Enge und von den strikten Vorgaben der ehedem alltagsdominanten Religion befreit, lebe aber dennoch als Individuum in einem gesellschaftlichen und ethisch-religiösen Rahmen. Ebenso gelte es, sich aus dem Käfig der Technologie und des Konsumerismus zu befreien, Distanz und Souveränität zu gewinnen, um sich selbst zu finden und zu bewahren. Dazu ist Realismus erforderlich: “Nothing is worse in times of danger than to live in a dream world” (Jacques Ellul, Propaganda. The Formation of Men’s Attitudes, New York 1973, xvi). Die vorliegende Studie ist Teil eines solchen Realismus.

Ellul hat sich keine Illusionen über die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen derartiger Beiträge gemacht: „In fact, I always apply a motto: ‚Think globally, act locally.‘ […] By thinking globally I can analyze all phenomena, but when it comes to acting, it can only be local and on a grassroots level if it is to be honest, realistic, and authentic” (Jacques Ellul, Perspectives on Our Age. Jaques Ellul Speaks on His Life and Work, Toronto 1981, 27). Wer ein großenteils propagandistisch ausgerichtetes Wissenschaftssystem verändern möchte, muss selber anderes, vielleicht gar besseres bieten, darf nicht im gängigen Einerlei aufgehen. Er darf sich aber auch keinerlei Illusionen hingeben, dass damit das technologische, konsumtive oder wissenschaftliche System bewegt oder aber systemisch verändert werden kann. Das geschieht heutzutage andernorts, sei es in Form eines technik- und konsumfeindlichen Neoluddismus, sei es in imaginären technologischen Optimierungsvisionen eines modifizierten Menschen, angepasst an fortgeschrittene Technologie (Sean Fleming, The Unabomber and the origins of anti-tech radicalism, Journal of Political Ideologies 27, 2022, 207-225, insb. 211-214). Wir glätten unsere Falten, statt sie als Ausdruck unseres Lebens, unserer Vergänglichkeit zu verstehen, daraus unsere ureigenen Schlüsse zu ziehen.

Die vorliegende, gewiss langwierige Analyse der nationalsozialistischen Propaganda für das Winterhilfswerk 1933/34 scheint von solch allgemeinen Fragen weit entfernt zu sein. Doch sie verdeutlicht – so hoffe ich – die Mechanismen einer modernen technischen Gesellschaft, um Gehorsam gegenüber bestimmten, systemisch definierten Zwecken hervorzurufen. Diese waren großenteils nicht ahuman, zielten im Gegenteil auf eine direkte Unterstützung für dringend Hilfsbedürftige. Doch sie trugen weiteres in sich, die Desintegration rechtsstaatlicher Prinzipien, die Ausgrenzung von Menschen aus dem recht willkürlich definierten Kern der Gesellschaft, die Stärkung und Forcierung einer expansiven, teils eliminatorischen Politik. Das war für eine nicht ganz kleine Zahl von Zeitgenossen offenkundig, während sich die Mehrzahl dafür nicht interessierte, dies nicht sah, nicht wissen wollte, es duldend akzeptierte, gar willig vorantrieb. Die Studie spiegelte die Propaganda selbst, dass stete Ja, das Nein gegenüber Außenseitern wie Herrn und Frau Knätschrich. Die Propaganda hob das Gute hervor, ohne aber mögliche Folgen des Ungehorsams zu verschweigen – insofern war sie bei aller Einseitigkeit und Lenkung überraschend transparent. Sie zielte auf die Schaffung einer neuen völkischen Identität, in der das Grundproblem der Moderne, dass Dinge so, aber auch anders angegangen werden können, zugunsten der einen richtigen Methode, zugunsten des Führerwillens beantwortet wurde. Gängige, positiv besetzte Flaggenworte wurden genutzt, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe, Verantwortungsbereitschaft, nationale Solidarität, Gemeinschaft. Man integrierte Ideen der Gegner, nahm ihnen zugleich das Wort, führte sie als Gefahr, als Negativfolie vor. Die Gefahren einer derartigen Identitätspolitik sind offenkundig, auch wenn sie bis heute viele fasziniert. Derartige Propaganda abstrahiert von breiten Teilen der „Wirklichkeit“, mögen wir uns für sie auch nicht interessieren, sie nicht sehen, von ihr nichts wissen wollen, sie duldend akzeptieren und gar willig vorantreiben.

Geschichtswissenschaft soll – wohlverstanden – den Menschen vertraut machen mit seiner Lage in der Welt. Sie gründet auf dem Phantasievorrat der Menschheit, erlaubt Einblicke, zeigt (historische) Problemlagen und Lösungsmöglichkeiten auf. Das kann kritisches Abwägen und praktisches Handeln fördern – auch wenn wir wissen: „Geschäftige Torheit ist der Charakter unserer Gattung“ (Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten [Abschnitt 2], in: Ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, 183-200, hier 186).

Uwe Spiekermann, 25. Januar 2025

Leistungskampf und NS-Betriebsgemeinschaft: Die Abenteuer des Tobias Groll

Tobias Groll war ein Strichmännchen, eine Bannerfigur des nationalsozialistischen Leistungskampfes vor dem Zweiten Weltkrieg. Zwanzig vierbildrige „Abenteuer“ spiegelten damals Herausforderungen des betrieblichen Alltags, zeichneten ein Idealbild gemeinsamer Arbeit und kameradschaftlichen Miteinanders. Sie waren eingebettet in den 1936 einsetzenden Leistungskampf der deutschen Betriebe. Die Comicstrips begleiteten und lenkten die Arbeitsintensivierung während des Vierjahresplanes, während der forcierten Umstellung der deutschen Wirtschaft auf Kriegsbedarf. Getragen von der Deutschen Arbeitsfront präsentierten die Abenteuer des Tobias Groll zugleich möglichen Lohn für all die Mühsal: Nicht nur das Leben, auch der Arbeitsalltag sollte schöner, gar schön werden, umrahmt von vielfältigen Angeboten für Geselligkeit und Fortbildung, für Hygiene und eine völkischen Betriebsgemeinschaft. All das würde gelingen, wenn man sich, wie letztlich Tobias Groll, in den Dienst für die gemeinsame Sache stellte, Teil der deutschen Leistungsgemeinschaft wurde. Die Comicstrips waren plakative Mahnungen, eröffneten Möglichkeiten des Einreihens. In ihnen wird zugleich die Vielgestaltigkeit nationalsozialistischer Alltagspropaganda deutlich, handelte es sich doch um Massenbeeinflussung abseits des großen Gepränges, der nationalen Weihetage, der Betriebsappelle und Führerreden. Tobias Grolls Abenteuer waren kleine Helfer gegen den täglichen Zweifel, gegen Widerstände im Inneren der Einzelnen. Sie waren eintröpfelnde Propaganda in kleiner Münze, als solche kaum bedeutsam, im Ensemble aber ein wichtiges Element des Alltagslebens und des willigen Mitmachens während der NS-Zeit.

Kampf und Leistungskampf: Dynamisierende Sprache

Die kleine Serie wird verständlich, führt man sich die veränderten Rahmenbedingungen des Arbeits- und Alltagslebens vor Augen: Die Zerschlagung der Betriebsverfassungen und der Gewerkschaften seit 1933, den Bedeutungsgewinn der Deutschen Arbeitsfront, die zunehmende Arbeitsintensivierung nach Abbau der Arbeitslosigkeit, die veränderte Stellung der betrieblichen Sozialpolitik. All das gilt es näher zu beleuchten, bevor wir Tobias Groll und seine Abenteuer genauer analysieren. Falls Sie gleich zu den Bildgeschichten vorstoßen wollen, so können Sie natürlich auch herunterscrollen.

Herunterscrollen ist Teil unserer heutigen Sprache – und wäre vor einem Jahrhundert nicht verstanden worden. Wir müssen uns eingangs daher umgekehrt auf die andere Sprache von Tobias Grolls Zeit einlassen, die nicht nur euphemistisch Ausgrenzung, Raub, Mord und Vernichtung ummäntelte, sondern auch die Interessengegensätze des Lebens im Begriff des Kampfes bündelte. Das hing teils mit den Besonderheiten der deutschen Sprache zusammen, denn Zusammensetzungen und Ableitungen bieten immense Möglichkeiten kreativer Wortschöpfungen (Wolf Schneider, Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache, 4. Aufl., München und Zürich, 1987, 45-52). Kampf war einerseits zentral für den nationalsozialistischen Sprachgebrauch. Zugleich aber spiegelte dieses Wort schon lange zuvor die Kontingenzerfahrung der Moderne, also das Grundbewusstsein, dass Sachverhalte nicht einfach mehr gegeben sind, sondern so oder auch anders verstanden und behandelt werden können. Unterschiede münden in den Konflikt, in den Kampf.

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Kampf als Schlüsselbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts (erstellt auf Basis des Wortkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache, DWDS.de)

Weiter auszuführen würde uns auf Abwege führen, allerdings auf breite. Die 1870er Jahre waren hierzulande vom Kulturkampf geprägt, parallel waberte der darwinistische Kampf ums Dasein langsam ins soziale Leben. Der Reichstag schien vom Parteienkampf, vom neuartigen Wahlkampf geprägt, in den Grenzregionen des neuen Reiches nahmen Nationalitätenkämpfe an Schärfe zu. Aufstrebende Kräfte mobilisierten im Sinne von Klassen- und Geschlechterkampf. Nicht nur sprachlich drang das Kämpfen in die Worte ein: Feuer- und Brandbekämpfung wurden modernisiert, Seuchenbekämpfung mittels neuartiger Impfstoffe möglich. Die Ernten konnten dank Schädlingsbekämpfung sicherer werden, der bürgerliche Garten gewann durch regelmäßige Unkrautbekämpfung. Auch Freizeit und Konsumsphären waren von Kampfesmetaphern erfüllt. Der Wettkampf um den Kunden war entbrannt, der Ringkampf stand für den Kampf um den Sieg im zunehmend kommerzialisierten Sport.

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Qualität und Schönheit als Hilfsmittel im Kampf ums Dasein (Über Land und Meer 103, 1910, 445 (l.); Wiener Bilder 3, 1898, Nr. 33, 15)

Der Erste Weltkrieg brachte nicht nur Leid und Tod mit sich, sondern spiegelte sich auch in zahllosen neuen Worten. Das galt nicht nur für Kämpfer der eigenen Truppen, auch für Komposita wie Einzelkämpfer, Nahkampf, Grabenkampf, Stellungskampf, Straßen- oder Häuserkampf, mit denen die Intensität des wechselseitigen Massakrierens eingefangen wurde, während der Luftkampf anfangs noch an die althochdeutschen ritterlichen Kämpen und die Tugenden des Zweikampfes zu erinnern schien. Dieser Mythos des ehrsamen Kampfes war tief eingewurzelt, fand seinen Widerhall in der Kriegslyrik dieser Zeit: „Sorge flieht, und Not wird klein, / Seit der Ruf geschah. / Mag ich morgen nimmer sein – / Heute bin ich da!“ (Hermann Hesse, Nachtgefühl auf Vorposten, Die Woche 17, 1915, 141)

Das Kriegsende war sprachlich jedoch kein Einschnitt, denn während der Barrikadenkämpfe des Kampfes um die Republik reimte sich nicht nur der Pulverdampf gefällig. Begriffe wie Weihnachtskämpfe, Ruhrkampf, Ruhreisenkampf sowie die zahllosen Kampfbünde – von dem der Deutschen Architekten bis hin zu dem gegen den Bolschewismus, später auch den Faschismus – kennzeichnen bis heute die zerklüftete, widerstreitende, kaum auf breitem Einvernehmen gründende Weimarer Republik. Das galt aber auch für den Kampf gegen die Pfunde angesichts neuer Körperideale oder des Kampfes im Massensport der Zeit, im Boxkampf und Kampfsport, bei Olympiakämpfern, Fünf- und Zehnkämpfern.

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Kampf auf allen Seiten (Die Leuchtrakete 11, 1933, Nr. 10, 2 (l.); Der Rote Stern 8, 1931, Nr. 5, 7)

Für die nationale Opposition, die völkischen Gruppen, dann für die NS-Bewegung war Kampf sprachlich auch nach 1918 weiterhin Alltag, wurde der Kampf um den Staat kriegsgemäß geführt – und dies galt ebenso für linkssozialistische und kommunistische Akteure in und außerhalb des Reichsfrontkämpferbundes. Der „Messerkampf“ (Jugend 35, 1930, 370) war für sie alle Lebenserfahrung, auch wenn sich die bedächtigere Eiserne Front in ihrem Freiheitskampf stärker zurückhielt. Der Bürgerkrieg seit Beginn der Präsidialregime und die Machtzulassung der NSDAP durch ihre nationalistisch-konservativen Bündnispartner bedeuteten gleichwohl noch keinen Höhepunkt der Begriffsverwendung. Das NS-Regime blickte eben nicht nur zurück auf Hitlers „Mein Kampf“, auf die vergangene Kampfzeit und den Kult der alten Kämpfer. Stattdessen wurde seit 1933 der Kampfesbegriff auf das Alltagshandeln übertragen, für die anstehenden Aufgaben gar geweitet (ahistorisch: Mark Dang-Anh, Kampf, in: Heidrun Kämpfer und Britt-Marie Schuster (Hg.), Im Nationalsozialismus, Göttingen 2022, 413-444).

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Kampf gegen Hunger und die Roten (Baruther Anzeiger 1936, Nr. 5 v. 1. Oktober, 6 (l.); Völkischer Beobachter 1939, Nr. 176 v. 25. Juni, 28)

Dabei übernahm das NS-Regime einerseits Kampfesmetaphern der Arbeiterbewegung, führte die Rhetorik linker und linksextremistischer Parteien fort. Zugleich aber wandelten sich die Gegenspieler, denn Klassenkampf konnte es in der neuen Volksgemeinschaft nicht mehr geben. An dessen Stelle traten abstrakte Gefährdungen, wie etwa Hunger oder Arbeitslosigkeit, zugleich aber die erklärten Feinde der NSDAP und der von ihr angestrebten Rassengemeinschaft. Das galt für den „Marxismus“, den „Bolschewismus“ und das „Judentum“. Ähnliches galt für Begriffe, die den Kampf unmittelbar positiv besetzten. Man kämpfte für Nahrungsfreiheit, für ein besseres, den Adel der Arbeit ehrendes Leben. Ebenso wie bei den Linksparteien war Kampf jedoch nicht stillzustellen. Kampf galt eben als elementar, als überindividuelles Schicksal, als Grundbedingung im nicht stillzustellenden Rassenkampf. Der Einzelne hatte sich dem anzupassen, konnte mitkämpfen oder sich volksvergessen abducken. Dadurch definierte der Einzelne selbst seine Stellung zur Volksgemeinschaft. Um seinen Beitrag wurde geworben, im Falle des Zuwiderhandelns der „Gemeinschaftsfremde“ dagegen exkludiert, in einem Akt völkischer Notwehr letztlich gar ausgemerzt. Die Gemeinschaft war aber nicht nur naturwüchsig unverrückbar, sondern zugleich fordernd: Es ging ihr um einen Beitrag für die Volksgemeinschaft, um Leistung für Alle: „Maßgebend allein ist für uns die Feststellung, welchen Wert diese Leistung der Gesamtheit, dem Volksganzen gebracht hat“ (W[ilhelm] Börger, Neue Werte!, Der Führer 1933, Nr. 8 v. 8. Januar, 7).

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Im Einklang mit der Volksgemeinschaft: Leistungssteigerung und Leistungsfähigkeit durch Kolapräparate (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1060 (l.); Stuttgarter Neues Tagblatt 1936, Nr. 330 v. 17. Juli, 14)

Gewiss wurden derartige Semantiken im Alltag nur gebrochen angewandt und realisiert. Doch sie waren zugleich ideologische Grundlage „einer ständigen ‚Kämpferei‘ im Zusammenhang mit Kampagnen, die die verschiedenen nationalsozialistischen Ämter und Reichsstellen, z.T. unabgestimmt und miteinander konkurrierend, mit großem Aufwand in Gang setzten“ (Jürgen Reulecke, Die Fahne mit dem goldenen Zahnrad. Der „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ 1937-1939, in: Detlev Peukert und ders. (Hg.), Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, 245-269, hier 248). Das betraf nicht zuletzt Tobias Groll, unseren Comicstriphelden. Er stand im Leistungskampf der deutschen Betriebe, einer in den Analysen der NS-Zeit häufig übergangenen Massenkampagne zur Mobilisierung der arbeitenden Bevölkerung vor und während des Krieges.

Institutionalisierter Leistungskampf

Der Begriff des Leistungskampfes drang 1935 vor. Zu dieser Zeit hatte die 1933 ausgerufene Arbeitsschlacht zu einem mächtigen Abbau der Arbeitslosigkeit geführt, der durch geänderte statistische Aufnahmekriterien nochmals gewaltiger erschien. Arbeitsdienst und Arbeitsbeschaffung zielten vor allem auf Arbeit an sich: Bei den frühen Infrastrukturmaßnahmen wurde vielfach auf arbeitssparende Maschinen verzichtet, sollte die Arbeit doch auf viele Schultern verteilt werden. Dies erlaubte Koppeleffekte, verstärkte die seit Ende 1932 ohnehin wirkenden Erholungstendenzen der deutschen Wirtschaft und mündete in ein seinerzeit international breit diskutiertes „deutsches Wirtschaftswunder“ (Hans E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936). Seither ging es wirtschaftlich immer weniger um die Extensivierung, sondern zunehmend um die Intensivierung der Arbeit. Der Fokus verschob sich von der Arbeitstätigkeit zum Arbeitsertrag. Es galt nun eine höhere Produktivität und höhere Leistungen zu erzielen – wie schon während der breit gefächerten Rationalisierungs- und Amerikanisierungsdebatten in den späten 1920er Jahren.

Den Anfang machte 1935 die Deutsche Studentenschaft, also der seit 1931 nationalsozialistisch dominierte Zusammenschluss der Allgemeinen Studentenausschüsse. Sie plädierte für einen Reichsleistungswettkampf von Studenten und Dozenten, zielte auf „Gemeinschaftsarbeit für unser deutsches Volk“ als „Mittel der geistigen Leistungssteigerung“. Es ging um die Lenkung des Geistes auf völkische Themen wie Landesplanung, Volksdeutsche Arbeit, Auslandskunde, Kulturpolitik, Deutsche Geschichte und Vorgeschichte, Rassenhygiene, Gesundheitswesen, Deutschen Sozialismus, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Judenfrage, Presse, Film, Rundfunk, Theater, Musik, Dichtung, usw. (Wettkampf des Geistes, Jeversches Wochenblatt 1935, Nr. 225 v. 26. September, 7). Die Leistung des Einzelnen sei Teil einer völkischen Gesamtanstrengung, erhalte ihren Wert nur aus dem Nutzen für das Kollektiv, für den nationalsozialistischen Staat. Dieser völkische Utilitarismus bedeutete einen klaren Bruch mit den (vielfach auch nur auf dem Papier stehenden) Grundprinzipen der Humboldtschen Universität. Akademiker sollten sich im „Lebens- und Machtkampf, den unser Volk in der Gegenwart auszutragen hat“ einbringen. Das würde Studenten- und Dozentenschaft über die antisemitischen, politischen und antifeministischen Maßnahmen hinaus weiter sieben: „Schwätzer, Nichtskönner, Intriganten haben wir genug“ (Könner und Schwätzer, Hannoverscher Kurier 1935, Nr. 573 v. 8. Dezember, 32).

Leistungskampf wurde seither zu einem zentralen politischen Schlagwort, das immer breiteren Gruppen aufgebürdet, teils aber auch willig angenommen wurde. Der Leistungskampf des Landvolkes bezweckte „Bauern und Landwirte zu noch stärkerem Einsatz im Kampfe um die Nahrungsfreiheit anzuspornen“ (Wer wird der beste Bauer?, Jeversches Wochenblatt 1937, Nr. 127 v. 4. Juni, 1). Immer neue Leistungskämpfe hielten die Parteiorganisation auf Trapp, insbesondere die SA. Wichtiger noch wurde der „Leistungskampf der Jugend“ (Nachrichten für Stadt und Land 1935, Nr. 73 v. 15. März, 10), zu dem der 1934 begonnene Reichsberufswettkampf mutierte.

Es handelte sich um einen Wettbewerb für noch nicht Volljährige in der beruflichen Ausbildung. Die Deutsche Arbeitsfront hatte die Federführung, die Hitler-Jugend kooperierte. Gleichwohl handelte es sich um eine der vielen Übernahmen aus anderen politischen Lagern: Seit 1925 hatte der etwa 300.000 Mitglieder starke liberale Gewerkschaftsbund der Angestellten einen solchen Wettbewerb durchgeführt, der spätestens seit 1928 auch breitere Resonanz hervorrief (Deutsche Reichs-Zeitung 1930, Nr. 15 v. 20. Januar, 5; Westfälische Zeitung 1928, Nr. 238 v. 10. Oktober, 7). Dieser Reichsberufswettbewerb der Angestelltenjugend stand bereits unter nationalen Vorzeichen: „Tüchtige Arbeit ist der beste Dienst am Vaterland“ (Kölner Lokal-Anzeiger 1928, Nr. 518 v. 11. Oktober, 3). Unternehmen und auch viele Ministerien unterstützten ihn als Teil einer Qualifizierungsoffensive, 1930 übernahm gar der sozialdemokratische Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt (1864-1943) die Schirmherrschaft (Essener Allgemeine Zeitung 1930, Nr. 22 v. 22. Januar, 3). Parallel startete die Katholische Kaufmännische Vereinigung einen eigenen „Reichsberufswettkampf“, ebenso der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband (Münsterische Zeitung 1931, Nr. 332 v. 2. Dezember, 3). Bessere „berufliche Leistungsfähigkeit“ (Lippische Post 1930, Nr. 22 v. 27. Januar, 6) war ein parteiübergreifendes Ziel – und daran knüpfte man an.

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„Adel der Leistung“: Jungarbeiterin der Metallindustrie, Jungapotheker beim Fahnenappell (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 23, 4 (l.); Deutsche Apotheker-Zeitung 52, 1937, 245)

Seit 1934 stand der Reichsberufswettkampf offensiv im Dienst des NS-Staates, war Ausdruck des vielbeschworenen Willens zum Sozialismus, wurde Jahr für Jahr erweitert. Mit Beginn des Vierjahresplans galt der Elan der Jugend vermehrt der Aufrüstung, galt es doch fehlende devisenträchtige Rohstoffe durch „gesteigerte Leistung und verdoppelten Pflichteifer“ zu substituieren (Reichsberufswettkampf 1937 im Zeichen des Vierjahresplanes, Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 232 v. 3. Oktober, 6). Neben berufspraktische und theoretische Fertigkeiten traten zudem weltanschauliche und geschlechtsspezifische Anforderungen: Hauswirtschaftliche Kenntnisse für die Frauen, Wehrsport für die Männer, abzuleisten bis ins Alter von 35 Jahren: „der totale Mensch soll die totale Leistung vollbringen“ (Die Leistung allein entscheidet, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 323 v. 29. November, 11).

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Leistungsorientierung im Einzelhandel: Tengelmann und die Konsumgenossenschaften (Der deutsche Volkswirt 8, 1933/34, Nr. 12/13, Sdr.-Beil., 16 (l.); Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 5, 32)

Für die Deutsche Arbeitsfront (DAF) war dies Teil einer immer ausgefächerteren Erfassung der Arbeitskräfte (Rüdiger Hachtmann, >Volksgemeinschaftliche Dienstleister?< Anmerkungen zu Selbstverständnis und Funktion der Deutschen Arbeitsfront und der NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«, in: Detlef Schiemchen-Ackermann (Hg.), ‚Volksgemeinschaft‘: Mythos, wirkmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ‚Dritten Reich‘?, Paderborn et al. 2012, 111-131). Die nationalsozialistische Organisation war nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 10. Mai 1933 mit dem Ziel eines vermeintlichen Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit gegründet worden. Die DAF war kein Rechtsnachfolger der Gewerkschaften, sondern stand für eine andere, eine völkisch-nationalsozialistische Pazifierung des Klassenkonfliktes und der wirtschaftlichen Gegensätze. Aufgrund verpflichtender Mitgliedschaft hatte sie Mitte 1933 bereits sieben bis acht Millionen Mitglieder, bis 1938 mehr als 23 Millionen. Damit war sie die größte Organisation der NSDAP, weit größer als die Einheitspartei selbst. Trotz einer anfangs eher ständischen Arbeitsverfassung, wurde sie zunehmend ein innerbetrieblicher Machtfaktor, offerierte Rechtsberatung und Betreuungsprogramme, organisierte die Berufsbildung und förderte die Gesundheitsfürsorge. Mit der Übernahme des Vermögens der Gewerkschaften besaß sie bereits 1933 ein vielgestaltiges Wirtschaftsimperium, Konsumgenossenschaften oder die Volksfürsorge wurden Teil davon. Auch durch die verpflichtenden Mitgliedbeiträge war die DAF die finanzstärkste NS-Organisation. Mit der 1933 gegründeten Organisation „Kraft durch Freude“ gewann sie neue Gestaltungskraft innerhalb der Betriebe, manifestierte dadurch ihren Anspruch, die Freizeit der meisten Deutschen zu organisieren. Und mit dem Volkswagenwerk schuf sie 1937 einen nach amerikanischen Vorbildern gestalteten Automobilkonzern zur Massenmotorisierung (und für Rüstungszwecke), plante großzügigen Wohnungs- und Siedlungsbau und vieles mehr. 44.000 hauptamtliche Beschäftigte und ca. 1,3 Millionen Ehrenamtliche verkörperten damals das offizielle Versprechen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, eines artgemäßen Lebens in relativem Wohlstand.

Leistungskampf der deutschen Betriebe

Unserer Serienheld Tobias Groll war Teil dieser breit gefächerten Leistungskämpfe. Er wurde zu einem Gesicht einer neuen, 1936 einsetzenden Kämpferei, dem Leistungskampf der deutschen Betriebe (vgl. allgemein Matthias Frese, Betriebspolitik im »Dritten Reich«. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933-1939, Paderborn 1991; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989). Dieser war von Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) angestoßen worden, als er am 29. August 1936 eine neue Auszeichnung verfügte, die Ehrenbezeichnung „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“. Diejenigen Betriebe, „in denen der Gedanke der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft […] auf das vollkommenste verwirklicht“ (Rhein- und Ruhrzeitung 1936, Nr. 242 v. 2. September, 2) worden sei, würden am Maifeiertag eine Urkunde erhalten und dürften ehrenhalber ein Jahr lang eine goldene DAF-Fahne mit goldenen Fransen führen. So weit, so klar. Überraschend aber war, dass dieser Kampf nicht von den eigentlich zuständigen Wirtschaftsorganisationen resp. den 1933 eingesetzten Treuhändern der Arbeit, sondern von der DAF veranstaltet und ausgestaltet werden sollte (vgl. Matthias Frese, Nationalsozialistische Vertrauensräte. Zur Betriebspolitik im „Dritten Reich“, Gewerkschaftliche Monatshefte 43, 1992, 281-297; Sören Eden, Die Verwaltung einer Utopie. Die Treuhänder der Arbeit zwischen Betriebs- und Volksgemeinschaft 1933-1945, Göttingen 2020, insb. 143-151).

Für den Reichsleiter der NSDAP und Leiter der DAF Robert Ley (1890-1945) bot dies eine lang erhoffte Chance, den Einfluss der Partei in den Betrieben zu vergrößern, Unternehmen und ihre Belegschaften stärker gleichzuschalten und zugleich die DAF zum entscheidenden sozialpolitischen Akteur zu machen (Reulecke, 1981, 246). Die schwammige Zielsetzung einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft wurde in ihrem Sinne in eine soziale, technische und wirtschaftliche Dimension aufgefächert: „Es wird dabei u.a. der Geist der Betriebsgemeinschaft gewertet, weiterhin die technischen Voraussetzungen, unter denen die Leistungen zustande kommen und schließlich die wirtschaftlichen Bedingungen und ihre Ergebnisse“ (Der Totalitätsanspruch der DAF., Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Der Leistungskampf sollte entfacht werden, seine Resultate aber dem deutschen Volke und der deutschen Wirtschaft insgesamt zugutekommen. Ley wies von Beginn an jede Ähnlichkeit mit „Antreibersystemen“ in Ost und West zurück – vornehmlich also dem Taylorismus/Fordismus der USA und der 1935 einsetzenden sowjetischen Stachanow-Bewegung. Deutsche Arbeit sei Ausdruck eines kulturell hochstehenden und leistungsbereiten Volkes, sie müsse in einem Rahmen erfolgen, der Arbeitsfreude erhalte und fördere, der zugleich die Arbeitskraft und die völkische Reproduktion sicherstelle (zur ideologischen Einordnung s. Franz Horsten, Die nationalsozialistische Leistungsauslese, Würzburg 1938; Achim Holtz, Nationalsozialistische Arbeitspolitik, Würzburg 1938; Karl Arnhold, Menschenführung im Betriebe, Berlin und Wien 1941; Richard Bargel, Neue deutsche Sozialpolitik, Berlin 1944). Die Deutsche Arbeitsfront konnte dadurch ihrem programmatischen Anspruch einer Besserstellung der Arbeiter und Angestellten durch eine gezielte betriebliche Sozialpolitik Taten folgen lassen – und zwar durchaus zu Lasten und auf Kosten des Einflusses der Unternehmensleitungen und der staatlichen Bürokratien (Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975, 126). Da die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe mitbewertet wurde, erhielt die DAF Zugang zu betriebsinternen Daten (Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, 6. erw. u. aktualisierte Auf., München 2001, 110).

Doch schon der stetig ausgeweitete Reichsberufswettkampf hatte gezeigt, dass die „Kämpferei“ nicht übers Knie gebrochen werden konnte. Die sozialdemokratische Exilpresse vermerkte völlig zurecht, dass die Beteiligung 1936/37 recht gering blieb, dass auch viele Großbetriebe dieser Art des Kampfes reserviert begegneten (Dreißig Musterknaben – Muster ohne Wert, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 207 v. 30. Mai, 8). Zugleich war für viele Arbeiter klar, dass das Streben nach der goldenen Fahne nicht nur ein Kampf gegen vermeintliche innerbetriebliche „Faulenzer“ und „Drückeberger“ war, sondern sozialpolitische Fortschritte eng an erhöhte Arbeitsleistungen geknüpft wurden (Grundsätzliches zur faschistischen Sozialpolitik, Neuer Vorwärts 1937, Nr. 215 v. 25. Juli, 8). Zudem war die Verbindung zu dem im September 1936 verkündeten Vierjahresplan allzu offensichtlich. Es ging um eine „Mobilmachung für den Vierjahresplan“ (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 68).

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Güldene Fransen, gelbes Rad: Die Goldene Fahne für NS-Musterbetriebe und Vergabe des Siegeszeichen mit Theo Hupfauer und Adolf Hitler (sitzend) (Der Schulungsbetrieb 5, 1938, n. 204 (l.); Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 4)

Gleichwohl unterschätzt eine derartige Engführung auf den Kampf von Arbeit und Kapital die Anstrengungen der DAF um größeren Einfluss. Sie setzte sich 1937 gegen führende Unternehmen und insbesondere das Reichswirtschaftsministeriums durch, die ein Ende des Leistungskampfes forderten, damit aber scheiterten. Zudem kostete der Leistungskampf: Bis 1938/39 erhöhten sich die Lohnkosten in der Industrie nicht zuletzt durch sozialpolitische Maßnahmen um ca. 6,5 Prozent (Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, 2. Aufl., Opladen 1978, 252). Und zugleich knüpfte die DAF mit der Idee öffentlich ausgezeichneter Musterbetriebe an US-amerikanische Vorbilder Marketingmaßnahmen deutscher Unternehmer während der Weimarer Republik an (Karin Hartewig, Kunst für alle! Hitlers ästhetische Diktatur, Norderstedt 2018, 169). „Musterbetriebe Deutscher Wirtschaft“ waren damals Garanten deutscher Wertarbeit. Die DAF stellte sich zudem in die bis weit ins Kaiserreich zurückreichende Tradition betrieblicher Sozialpolitik, die auf eine enge Bindung zwischen Belegschaft und Unternehmen setzte, die Arbeiterbewegung so außen vor lassen wollte. Und nicht nur bei Krupp oder Carl Zeiss war man sich 1936/37 bewusst, dass man die Sonderkonjunktur der Aufrüstung nur mit zusätzlichen Arbeitskräften bewältigen konnte – und dafür waren innerbetriebliche Sozialleistungen ein wichtiger Faktor.

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Kernelemente des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Harburger Anzeigen und Nachrichten 1937, Nr. 40 v. 16. November, 6)

Die DAF unterstützte den neuen betrieblichen Wettbewerb, indem sie die Bewertungskriterien klärte und ihn propagandistisch unterstützte. Während 1936/37 vor allem um die Auszeichnung als „NS-Musterbetrieb“ gerungen wurde, gab es im Folgejahr relative klare, auf die Breite der gewerblichen Wirtschaft zielende Bewertungsmaßstäbe. Der nun explizit als „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ ausgelobte Wettbewerb begann auf regionaler Ebene, wo um Gaudiplome „für hervorragende Leistungen“ gerungen wurde. Dazu mussten die Betriebsführer sich bis zum 1. August bei der DAF anmelden, anschließend einen umfangreichen Fragebogen ausfüllen. Danach wurde der Betrieb anhand von fünf Kriterien bewertet: Die Erhaltung und Gewährung des sozialen Friedens, die Erhaltung und Steigerung sowohl der Volkskraft als auch der Arbeitskraft, eine gesteigerte Lebenshaltung und Wirtschaften im Einklang mit den politischen Zielen des NS-Regimes. Man rang dabei aber nicht nur um Urkunden, sondern auch um vier von der DAF etablierte Leistungsabzeichen über vorbildliche Berufserziehung, Arbeit auf dem Gebiet der Volksgesundheit, die Förderung von Siedlungs- und Wohnungsbau sowie der Unterstützung der DAF-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“. Die Gausieger qualifizierten sich für die Reichsebene, die mit neuerlichen Prüfungen verbunden war. Parallel gab es vielfältige innerbetriebliche Aktivitäten, Appelle, Leistungspräsentationen und Selbstbeschwörungen. Am 1. Mai schließlich wurden sowohl auf Gau- als auch auf Reichsebene die errungenen Diplome und Ehrenzeichen überreicht. Sie konnten auf Plaketten im Betrieb angebracht, aber auch in Werbung und Geschäftskorrespondenz genutzt werden.

Selbstverständlich handelte es sich bei alledem nicht um einen fairen Leistungswettbewerb: Proporz zwischen Gauen und Branchen bestimmte die Auswahl, die gängige Günstlingswirtschaft und Kungelei innerhalb der DAF schlugen auf das Ergebnis durch. Innerbetrieblich setzte der Wettbewerb vielfach Dynamik frei, verblieb vielerorts aber auch an der Oberfläche von Parolen und Sprechblasen. Insgesamt nahm der Leistungsdruck innerhalb der Betriebe zu, die politische Einvernahme, aber auch das von Tobias Groll dann im Detail durchdeklinierte Arsenal sozialpolitischer Maßnahmen. Zugleich darf man nicht ausblenden, dass der Leistungskampf eine immanent rassistische Dimension hatte, Teil der Judendiskriminierung und -verfolgung war. Jüdische Arbeitnehmer durften der DAF nicht angehören, sie blieben organisationslos, da entgegen anfänglicher Verlautbarungen keine Ersatzorganisation anerkannt wurde (Zur Frage der Organisation der jüdischen Arbeitnehmer, Informationsblätter 1, 1933, Nr. 16, 4). Robert Ley vermerkte von Beginn an: „Wir stehen im Leistungskampf. Nicht der Jude gehört zum auserwählten Volk“ (Dortmunder Zeitung 1936, Nr. 523 v. 9. November, 5). Und 1938 entschied das Arbeitsgericht Leipzig, dass man jüdische Mitarbeiter bei Teilnahme am Leistungskampf entlassen dürfe, da deren Beschäftigung die Chancen auf eine Auszeichnung entscheidend mindere (Betriebe mit jüdischen Beschäftigten im Leistungskampf, Israelitisches Familienblatt 40, 1938, Nr. 32, 11). Leistungskampf war praktizierter Antisemitismus, „Juden stören im Leistungskampf“ (Westfälische Neueste Nachrichten 1938, Nr. 183 v. 8. August, 4).

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Leistungsabzeichen der Deutschen Arbeitsfront (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 113 v. 28. April, 12 (l.); Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 154 v. 5. Juli, 4)

Diese Verrechtlichung von Unrecht war dem „deutschen Sozialismus“ immanent, der von den führenden DAF-Repräsentanten dröhnend propagiert wurde, um die als strukturell unzuverlässig geltende Arbeiterschaft für die Ziele des Regimes einzunehmen ([Theo] Hupfauer, Auf Vormarsch zum Sozialismus, Unser Wille und Weg 7, 1937, 364-366). Dabei schloss man nicht ohne Erfolg an autoritäre Traditionen an, nutzte zudem den selbstbewussten Stolz auf „deutsche Qualitätsarbeit“ (Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Neuauflage Münster 2015, 373-380). Der Leistungskampf deutscher Betriebe war Teil der politischen Neutralisierung der Arbeiterschaft – und dass, obwohl den meisten Beschäftigten klar war, dass die Beschwörungsformeln Propaganda waren und die Enge der eigenen Lebenshaltung weiterhin spürbar blieb. „Deutscher Sozialismus“ war Teil einer künstlich geschaffenen und durchaus integrativen Volksgemeinschaftsideologie. Die Zerschlagung von Gewerkschaften und Parteien, von Presseorganen und Buchverlagen bedeutete zugleich ein Zerschlagen von Gegennarrativen zur NS-Ideologie. Distanz zum Regime konnte daher sehr wohl mit Zustimmung zu einer verbesserten betrieblichen Sozialpolitik einhergehen (Ian Kershaw, Alltägliches und Außeralltägliches: ihre Bedeutung für die Volksmeinung 1933-1939, in: Peuckert und Reulecke (Hg.), 1981, 273-292, insb. 278, 285, 287). Der Leistungskampf der deutschen Betriebe verdichtete nämlich nicht nur die Arbeit, sondern verhieß auch individuelle Besserstellung und sozialen Aufstieg, zernierte damit auch die teils noch bestehenden sozialdemokratischen und katholischen Milieus. Die Abenteuer des Tobias Groll sollten die wachsende Heimatlosigkeit des Einzelnen gezielt aufgreifen.

Der Leistungskampf der deutschen Betriebe spielte entsprechend mit integrativen Zukunftsverheißungen einer gerechten und mehr als auskömmlichen nationalsozialistischen Konsumgesellschaft. Sie schien möglich, doch sie musste erkämpft und erarbeitet werden: „Der Nationalsozialismus lehrt einen männlichen Sozialismus. Wir versprechen kein bequemes Leben und maßen uns nicht an, das Paradies herbeizuzaubern, sondern wir wissen, daß alles, was der Mensch an Gütern gewinnen will, vorher durch ihn oder andere erarbeitet werden muß. Einem Volke wird nichts geschenkt, sein Lebenserfolg liegt einzig und allein in seiner mühsamen Arbeitsleistung. Daraus folgert der Grundsatz, daß – je höher ein Volk entwickelt ist – um so größer seine Ansprüche an das Leben sind – desto größer auch eine Leistung sein müssen“ (Auf zum zweiten Leistungskampf!, Volksstimme 1938, Nr. 1 v. 1. Juli, 1-2, hier 1). Der Leistungskampf verhieß ein besseres Leben – und dieses Aufstiegsversprechen wirkte bis weit in den Krieg hinein; die Ratenzahlungen für den geplanten Volkswagen oder das Eiserne Sparen unterstrichen dies.

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Der Glaube an die Masse: Mobilisierungszahlen 1937 (Gelsenkirchener Zeitung 1937, Nr. 313 v. 15. November, 7)

Der Leistungskampf deutscher Betriebe war schließlich auch ein Plebiszit über das NS-Regime und seine Politik. Entsprechend wichtig wurde die reine Anzahl der nominell ja freiwillig teilnehmenden Betriebe. Das galt auch für die Preisträger: Die Zahl der NS-Musterbetriebe war von dreißig 1937 auf 103 im Folgejahr gestiegen (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 116 v. 1. Mai, 5). Schrieb man anfangs noch zurückhaltend von der „November-Aktion der Deutschen Arbeitsfront“ (Oberbergischer Bote 1937, Nr. 267 v. 13. November, 12), so berichtete man später markig von einer stetig wachsenden Zahl teilnehmender Betriebe. Auch Drohungen waberten: „Wer sich aus diesem Leistungskampf ausschließt, vergeht sich an unserer Volks- und Leistungsgemeinschaft“ (Hier spricht die Deutsche Arbeitsfront!, Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 201 v. 29. Juli, 9). Gleichwohl nahm 1937/38 die Mehrzahl der Betriebe nicht teil, darunter auch Großunternehmen wie Siemens oder die Gutehoffnungshütte (Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, 480-481). Man glaubte, dies nicht nötig zu haben – oder die Teilnahme schien zu teuer.

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Moralischer Druck: Appell zur Teilnahme am Leistungskampf der deutschen Betriebe (Nachrichten für Stadt und Land 1937, Nr. 202 v. 30. Juli, 11)

Bei der Neuauflage 1938/39 wurde die Teilnahme daher moralisch weiter aufgeladen: Sie galt als „Gradmesser dafür, wieweit sich jeder deutsche Betrieb aus innerer Verpflichtung gegenüber Führer und Volk in die vorderste Front des Nationalsozialismus stellt und die Ziele des Führers an seinem Platz und unter Ausnutzung seiner Möglichkeiten zu seinen eigenen Zielen Macht“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 165 v. 19. Juli, 4). Die DAF weitete den Kreis der adressierten Betriebe bewusst aus, verlieh nun auch ein fünftes Leistungsabzeichen für vorbildliche Kleinbetriebe (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1938, Nr. 200 v. 27. Juli, 6). Die Teilnehmerzahl von zuvor ca. 84.000 sollte mehr als verdoppelt werden.

Eingefordert wurde ein Bekenntnis der Unternehmer und selbständiger Gewerbetreibender für das Regime – und zugleich lockte man sie. Robert Ley sprach von einem neuartigen edlen Wettbewerb, einer neuen Form der Menschenführung, „die aus unserem Volke weit mehr herausholen wird, als es die Peitsche und Antreibung jemals vermögen. Es ist der Weg der nationalsozialistischen Erziehungsarbeit, der Aufklärung, des Ansporns, des Einsatzes“ (Rechenschaftsbericht, in: Der Parteitag Großdeutschland vom 5. bis 12. September 1938, München 1938, 224-234, hier 226). Der Leistungskampf gehe eben nicht in Lohnforderungen auf, sondern ziele auf eine klügere und zielgerichtetere innere Sozialpolitik, auf engere Bande zwischen Unternehmen und Beschäftigten, auf Wachstum für alle Deutschen im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Zielen des NS-Regimes (Astrid Gehrig, Nationalsozialistische Rüstungspolitik und unternehmerischer Entscheidungsspielraum. Vergleichende Fallstudien zur württembergischen Maschinenbauindustrie, München 1996, 162). Parolen wie „Leistungskampf ist Leistungssteigerung!“ (Bremer Zeitung 1938, Nr. 205 v. 28. Juli, 11) oder „Betriebsgemeinschaft—Leistungsgemeinschaft—Schicksalsgemeinschaft“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 350 v. 29. Juli, 6) unterstrichen dies. Dass man dabei an noch weit verbreitete Formen patriarchaler Unternehmensführung anknüpfte, zielte insbesondere auf Handwerk und Handel. Zugleich aber sprach insbesondere der DAF-Bevollmächtigte für den Leistungskampf Theo Hupfauer (1906-1993) von Sozialtechnologie, von der „Steuerung der sozialen Leistung“ (Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 202 v. 31. August, 3; Ders., Die Auszeichnung gilt der Gemeinschaft, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10-11). Der Leistungskampf war für ihn artgerechtes Management – und er dürfte damit in einer Linie mit der großen Zahl junger aufstrebender Betriebsführer gestanden haben, die für die Kriegsführung entscheidend werden sollten. Leistungsfähig und leistungsfroh trotz ständiger Höchstleistungen – nur so könne man die Zukunft gewinnen (Die großen Ziele des Leistungskampfes, Deutscher Reichsanzeiger 1938, Nr. 189 v. 16. August, 2).

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Einschwören der Unternehmer und DAF-Repräsentanten: Eröffnung des Leistungskampfes der deutschen Betriebe in der Stuttgarter Liederhalle (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 301 v. 1. Juli, 3)

Diese neuen Eliten – die wie Hupfauer ihre Karrieren nach 1945 meist ohne größere Brüche haben fortsetzen können – akzeptierten und begrüßten durchaus die politischen Ziele von DAF und NSDAP: „Das gesteckte Ziel dieses Leistungskampfes ist das Hinsteuern darauf, daß in Bälde die ganze deutsche Wirtschaft als einziger NS.-Musterbetrieb angesprochen werden kann“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit!, Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8). In diesem Betrieb gab es nur einen Willen, dominierte das gemeinsame Ziel im Völkerringen: „An die Stelle von Humanität und Gefühlsduselei, von Klassenhaß und Klassenvernichtung setzen wir die Gemeinschaft, geboren aus der Rasse, und die Gerechtigkeit als das, was dem Volke nützt“ (Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 424 v. 10. September, 2). Tobias Groll war ein werbendes Hilfsmittel, um die Zielsetzungen des Regimes auch bei denen zu verankern, die noch nicht überzeugt waren, die aber gewonnen werden konnten.

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Aufforderungen zum freiwilligen Leistungskampf (Marbacher Zeitung 1938, Nr. 156 v. 7. Juli, 3)

Tobias Groll – Name, Mann und Zeichner

Obwohl die NS-Sozialpolitik insbesondere in den 1970er bis 1990er Jahren ein wichtiger Forschungsbereich war (heute ist dies leider anders), konnte ich in der Fachliteratur nicht einen Hinweis auf die Comicstrips „Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll“ und „Neue Abenteuer von Tobias Groll“ finden. Die hier gezeigten und analysierten Quellen entstammen denn auch der letzten „Geheimquelle des ‚Dritten Reiches‘“, der Tagespresse (Peter Longerich, NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene, in: Christian Kuchler (Hg.), NS. Propaganda im 21. Jahrhundert […], Köln, Weimar und Wien 2014, 15-26, hier 15). Obwohl diese zunehmend digital verfügbaren Massenquellen aufgrund von Gleichschaltung und Presselenkung nur mit Vorbehalt genutzt werden können, spiegeln sie treulich das Selbstbild des NS-Regimes und ermöglichen insbesondere im Konsumsektor vielfältige Neuentdeckungen – dieser Blog zeugt davon. Digitalisierte Tageszeitungen werden dennoch von der Mehrzahl der Historiker bisher nicht genutzt, denn ihre Auswertung ist (auch aufgrund der vielfach qualitativ schlechten Digitalisierung) arbeitsintensiv und erfordert eine bedingte Abkehr von der leider immer noch weit verbreiteten Texthörigkeit der Zunft. Zudem tappen viele Regionen Deutschlands aufgrund fehlender Arbeitsamkeit von Archiven und Bibliotheken weiterhin im pressetechnischen Dunkel. Aus nicht nachvollziehbaren volkspädagogischen Überlegungen sind ferner die wichtigsten nationalsozialistischen Tages- und Wochenzeitungen weiterhin digital nicht verfügbar; zumindest nicht im deutschen Inland. Dies steht im klaren Widerspruch zu der hierzulande offiziell immer wieder beschworenen vermeintlich vorbildlichen „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus. In diesem von Antisemitismus weiter und neu durchfurchten Land liebt man es halt öffentlich ein verlogenes „Nie wieder!“ zu heucheln, um zugleich den Nationalsozialismus im politischen Alltagsgeschäft als denunzierende politische Waffe unkundig zu verzwecken. Dafür braucht man in der Tat keine seriöse Forschung oder die Breite der Quellen. Gleichwohl entstammt die Mehrzahl der nachfolgend verwandten Quellen aus (leider kaum koordinierten) deutschen Digitalisierungsprojekten. Wenig ist besser als nichts.

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Ein seltsamer Zeitgenosse wird vorgestellt (Wittener Volks-Zeitung 1938, Nr. 151 v. 1. Juli, 4)

Und hier erscheint nun endlich unser „Held“, Tobias Groll. Er erschien erstmals während der Anmeldephase für den zweiten Leistungskampf der deutschen Betriebe im Juli 1938. Lassen Sie das Bild auf sich wirken, das Bild eines gesetzten Herrn im schlecht sitzenden Anzug, der trotz Sonnenschein den Regenschirm nutzte. Sprechend war schon der Name: Tobias war eine überraschende Wahl. Zum einen war dieser Vorname in den 1930er Jahren relativ selten, zum anderen hatte er eine ins Alte Testament zurückreichende Geschichte, war hebräischen Ursprungs, Name eines Erzengels. Im Katholizismus wurden gleich zwei Heilige mit Namenstagen geehrt. Doch der gemeinhin langsam ausgesprochene dreisilbige Vorname bot einen guten Einstieg in den dynamischen, schnell ausrollenden Gesamtnamen. Das gab ihm rhythmisierende Qualität, zumal durch die verborgene Alliteration des Buchstabens O.

Die Wahl des Nachnamens erfolgte dagegen sicher mit Bedacht: Groll war ein seit dem späten Mittelalter im deutschen Sprachraum verwandtes Substantiv, das während der NS-Zeit aber nur noch selten verwandt wurde. Während ältere Bedeutungsnuancen eher den im Jähzorn ansprechend eingebundenen plötzlich hervorbrechenden Zorn stärkten – das mittelhochdeutsche Grellen entspricht dem von Zorn hervorgerufenen laut Schreien – war Groll vor allem im 19. Jahrhundert ein zunehmend auf Dauer angelegter Begriff. Der Groll war still, verinnerlicht, versteckt, ein verborgener, doch steter und kaum zu brechender Zorn. Er war von Ressentiments geprägt, gegen etwas gerichtet, präsent und feindlich, schwer zu brechen. Das deckte sich – im Gegensatz zur öffentlichen Propaganda – durchaus mit der Stellung der vielgestaltigen Arbeiterschaft und auch vieler Unternehmer zum NS-Regime zur Zwangsinstitution der DAF. „Tobias Groll“ war 1933 bereits Held einer Kurzgeschichte, war damals ein kleiner Trickbetrüger (Alois Brunner, Tobias Groll findet eine Uhr, Merseburger Tageblatt 1933, Nr. 73 v. 27. März, 7). Doch dies galt nicht für seinen Nachfolger, einen ambivalenten, schwer zugänglichen Charakter, der vielleicht schon zu alt war, um sich zu ändern, um in der neuen Zeit bestehen zu können. Wäre er doch ein Kind: „Kinder hegen keinen Groll, das rettet sie“ (José Saramago, Das steinerne Floß, Hamburg 2015, 69) – allerdings dann im Sinne einer gläubig angenommenen NS-Ideologie.

Die Nutzung eines solchen Namens war dennoch recht typisch für die NS-Zeit. Tobias Groll reihte sich ein in eine rasch wachsende Zahl einschlägiger Bildreihen und Comicstrips, in denen ein sprechender Name den Charakter widerspiegelte: Herr Hase, Herr und Frau Spießer, Familie Pfundig, Herr Bramsig und Frau Knöterich (auch Herr Knöterich). Sie wurden ergänzt von nur kurzfristig in Kampagnen auftauchenden Personen, etwa Herr Knauserig bei Sammlungen des Winterhilfswerkes (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 175) oder Herr Gebefroh beim Eintopfsonntag (Erzgebirgischer Volksfreund 1939, Nr. 60 v. 11. März, 10). Charakterisierende Namen wurden während des Weltkrieges gar modisch, ein gängiges Element in Werbung und Propaganda: Herr Soll in der Groschengrab-Kampagne (Neußer Zeitung 1940, Nr. 155 v. 8. Juni, 4); Herr Pfiffig in der Bramsig-Kampagne (Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 1941, Nr. 342 v. 13. Dezember, 3); Herr Freundlich in der Wybert-Werbung (Schlesische Sonntagspost 13, 1942, Nr. 12, 11) und Herr Friedlich in den Anzeigen für Schaub Radios (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 4, Anh., 17). Derartig sprechende Namen gab es schon zuvor, sie wurden teils fortgeführt, symbolisierten auch in der Nachkriegszeit Kontinuität. Dr. Unblutig war seit 1925 im Kukirol-Einsatz gegen Hühneraugen, hatte auch zu Grolls Zeiten seine Tätigkeit noch nicht eingestellt (Illustrierter Beobachter 13, 1938, 1064), setzte sein Werbewesen während des „Wiederaufbaus“ fort (Hamburger Abendblatt 1952, Nr. 189 v. 16. August). Einen zeitgenössischen Höhepunkt derartig sprechender Namensverwendung stellte aber die Werbung für Darmol-Abführmittel dar: Während des sich ausweitenden Weltkrieges diskutierten dort typisierende Gegensatzpaare, etwa Herr Fettlich und Herr Schläuling, Frau Launig und Frau Nett, Frau Sauertopf resp. Schlau, etc. (Die Kunst für Alle 57, 1941/42, H. 8, Anhang, 18; ebd., H. 7, Anhang, 16; ebd., H. 9, Anhang, 12). Genug der Abschweifung, nähern wir uns wieder Herrn Groll.

Tobias Groll war ein Auftragsprodukt, gezeichnet von dem in Karlsruhe geborenen Graphiker und Schriftsteller Franz Roha (1908-1965). Er hatte den Leistungskampf bereits 1937 in Schaubildern illustriert, die Sie schon oben haben sehen können. Im gängigen Lexikon, verfasst von einem fidelen NS-Humoristen, heißt es schwammig und irreführend: „Karikaturist der Berliner Presse in den dreißiger Jahren, Illustrator eigener Reportagen mit Sinn für’s [sic!] Aktuelle“ (Kurt Flemig, Karikaturisten-Lexikon, München etc. 1993, 237; Dank an Eckart Sackmann für den Hinweis). Da die nationalsozialistische Presse von der Berliner Staatsbibliothek recht konsequent nicht digitalisiert wurde, ist dies kaum zu überprüfen. Roha erscheint Mitte der 1930er Jahre abseits der Hauptstadt jedoch als Illustrator von Schaubildern (Essener Volks-Zeitung 1936, Nr. 86 v. 5. April, 8), etablierte sich zugleich aber als systemtreuer politischer Karikaturist.

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Sich dem Regime andienen: Stangenware von Franz Roha 1938 (Arbeitersturm 1938, Nr. 90 v. 28. Juni, 5; Die Glocke, Ausg. A 1938, Nr. 261 v. 25. September, 8)

Der Comicstrip war für den jungen Zeichner eine Chance, um sich als Pressezeichner etablieren zu können. Er nutzte diese, seit 1941 firmierte er unter dieser Bezeichnung im Berliner Fernsprechbuch, obwohl er noch 1939 einen ersten Roman veröffentlicht hatte (Franz Roha, Stiller Ozean Insel X. Ein abenteuerlicher Roman, Berlin 1939). Roha war publizistisch breit einsetzbar, schon in der Vorkriegszeit visualisierte er antisemitische Verschwörungsmythen. Während des Krieges avancierte er zu einem der meistgedruckten deutschen Pressezeichner – und ich behalte mir vor, nach Einsicht in seine NS-Personalakten hierzu genaueres zu veröffentlichen. Franz Roha war freiberuflich tätig, Auftragszeichner, dessen Arbeiten anfangs über Scherl-Matern und den RD.-Dienst verbreitet wurden. Während des Krieges wurde er jedoch zum Hauptzeichner einer seit Frühjahr 1939 vom Berliner Verlag Rudolf Dehnen herausgegebenen modernen „Korrespondenz des politischen Zeitgeschehens“ (Zeitungswissenschaft 16, 1941, 140) namens „Bilder und Studien“. Diese vertrieb anfangs vornehmlich Karten, erweiterte ihr Angebot aber während des Krieges um politische Kommentare und Hintergrundberichte – und eben gängige Karikaturen (Handbuch der deutschsprachigen Zeitung im Ausland, hg. v. Walther Heide, Essen 1940, XVIII; Zeitungswissenschaft 15, 1940, 584). „Bilder und Studien“ bündelte die Pressezeichnungen dutzender führender visueller Propagandisten und war neben der Agentur Interpress eine der auch europaweit wirkmächtigsten deutschen Presse- und Materndienste. Franz Roha arbeitete nach dem Krieg als Graphiker und Kunstmaler weiter, erst in Celle, dann in Hamburg, wo er nicht zuletzt für das sozialdemokratische Hamburger Echo zeichnete.

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Der Jude als weltbewegende Kraft: Antisemitische Zeichnungen von Franz Roha (Westfälische Neueste Nachrichten 1937, Nr. 293 v. 15. Dezember, 1; Innsbrucker Nachrichten 1938, Nr. 257 v. 5. November, 1)

Während wir den Zeichner der Comicserien über Tobias Groll zumindest einordnen können, bleibt der Texter unbekannt. Die Serien wurden zudem kaum eingeleitet. Die meisten Zeitungen veröffentlichten die Comics ohne Vorrede, häufig auch ohne die Zeichnung des Mannes mit dem Regenschirm bei Sonne. Die Schriftleiter konnten gewiss voraussetzen, dass Leser und potenzielle Teilnehmer um den neuerlich anlaufenden Leistungskampf der deutschen Betriebe wussten. Vielleicht genügten sie auch einfach nur einer vermeintlichen Publikationspflicht oder meinten, die Einzelepisoden würden für sich sprechen. Derartig fehlende Einrahmung war nicht ungewöhnlich, war eher charakteristisch für den NS-Journalismus, die NS-Propaganda. Auch die 1938 anfangs parallel laufende, vom NS-Zeichner Hans Kossatz (1901-1985) ausgestaltete Comicserie „Groschengrab“ verzichtete auf eine gesonderte inhaltliche Einführung, schloss inhaltlich aber an die drei 1937/38 durchgeführten Kampagnen „Brot ist kostbares Volksgut“, „Richtig Verbrauchen“ und „Kampf dem Verderb – so gut wie Erwerb“ an. Dennoch gab es vereinzelte Einführungen der Tobias Groll-Serie, geschrieben auf Grundlage der Handreichungen der DAF. Lesen wir nach, was unser Held bezwecken sollte.

Einerseits ging es um die Bildwerdung eines seit 1933 immer wieder kritisierten Menschentypus: „Groll. Grollt immer ein wenig, nimmt übel, hockt auf veralteten Anschauungen, will Neues nicht anerkennen, nicht verstehen. Lebt in der ‚guten alten Zeit‘. Tobias Groll, ein wenig erfreulicher Herr, so will uns zunächst scheinen. Ganz so arg ist er vielleicht nicht, aber schließlich hatte jeder schon seine Kollision mit ihm. Solcher Grolls gibt es viele im Alltag. Im Frack erscheinen sie, im Sportdreß, aber ebenso im Arbeitskittel. Das ist einerlei. Das Tobias-Groll-sein ist ein Zustand. Mal erheitert er uns, meistens verursacht er aber Aerger, selten erfreut er“ (Kiebitz, Gestatten: Tobias Groll .., Hamburger Neueste Nachrichten 1938, Nr. 135 v. 2. Juli, 3). Tobias Groll stand damit in der Reihe mit den spätestens seit 1934 vom NS-Staat offensiv attackierten und in immer wieder neuen Kampagnen adressierten „Meckerern“ und „Kritikaster“, den der Milleniumsmission des Nationalsozialismus nicht aufgeschlossenen „Spießern“. Diese vermeintlich egomanischen Gestalten wurden in der NS-Propaganda durchweg entlarvt, dienten als Negativbeispiel, von der sich der echte Volksgenosse abzugrenzen hatte. Das war Teil innerer Überwindung – und entsprechend zielte der Comicstrip auch auf den kleinen Groll, der in den meisten steckte.

Anderseits sollte Tobias Groll unterhalten, ein ambivalentes, sich selbst erkennendes und korrigierendes Lachen ermöglichen. Die Bildgeschichten verwiesen offensiv auf noch bestehende Hindernisse im Leistungskampfe der deutschen Betriebe, boten zugleich aber eine Handreichung für die Willigen: Tobias Grolls „tragisch-komischen Erlebnisse, die aus dem täglichen Arbeitsleben herausgegriffen sind, werden jede Lachmuskel reizen und so das Eis brechen. Tobias Groll wird mit seinen Abenteuern allen, die noch nicht froh und frei mitmarschieren können, mögen sie nun Betriebsfüührer [sic!] oder Gefolgschaftsmitglieder sein, mögen sie im Betrieb hohe oder niedrige Stellen bekleiden, einen Spiegel vorhalten. Und jeder wird sich in die Brust werfen und sagen: ‚Nein, so bin ich nicht, so handele ich nicht!‘ […] Er wird die Herzen öffnen helfen, und darauf kommt es im Leistungskampf ja an, daß nicht nur das Hirn, der kalte Verstand, sondern daß das Herz marschiert“ („Tobias Groll“ hilft mit!, Westfälisches Volksblatt 1938, Nr. 189 v. 15. August, 9). Entsprechend handelte es sich bei dem Comicstrip um eine in immer neuen Konfigurationen dargebotene Erlösungsgeschichte. Tobias Groll, allein und ohne Familie, nahm misstrauisch, ja feindlich, die raschen Veränderungen in seinem Lebensumfeld war, räsonierte, wurde mitgezogen, eingebunden – und am Ende zum eifrigen Protagonisten des Leistungskampfes.

Die seltsamen Abenteuer des Tobias Groll

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Der Albtraum: Der Leistungskampf als Bruch mit dem Alten (Der Patriot 1938, Nr. 175 v. 30. Juli, 5)

Tobias Grolls Abenteuer begannen mit einem Albtraum: Der Held, offenkundig ein kleiner Unternehmer, wurde von der Regsamkeit anderer Firmen aufgeschreckt. All das ängstigte ihn, befürchtete er doch von des „Fortschritts schnellen Tritt“ überrollt zu werden. Doch Nachdenken führte zum Wandel: Groll reihte sich ein, „ist belehrt“, „ist zum Leistungskampf bekehrt“. Die Konversion mag abrupt anmuten, doch die erste Episode will noch keinen inneren Wandel nachzeichnen, sondern ein dem relativen Anpassungszwang folgendes Einreihen. Zugleich machte sie den Leser mit dem Leistungskampf der deutschen Betriebe bekannt, erinnerte an die schon 1937 an vielen Unternehmen prangenden Banner. Es galt als „das Ehrenschild, das an die Hauptfront jedes deutschen Betriebes gehört“ (Nationalsozialistische Gesinnung entscheidet!, Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 12). Selbstverständlich handelte es sich um einheitliches Bestellgut, käuflich erwerblich bei der jeweiligen DAF-Kreis- oder -Stadtverwaltung: Das Banner war eine Art Vordiplom, griff dem Zeigestolz der gewonnenen Auszeichnung vor. Zugleich war es ein Bekenntnis: „Zeige mit diesem Schild der Oeffentlichkeit, daß du mit deiner Gefolgschaft selbstverständlich dem Führer entgegenmarschierst mit dem unerschütterlichen Willen deinen Betrieb zum nationalsozialistischen Musterbetrieb zu gestalten!“ (Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 164 v. 18. Juli, 10). Wie die geflaggten Hakenkreuze suggerierten die mit dem DAF-Signet versehenen Marsch-Banner einheitliches Wollen, einheitliches Tun. Der Einzelne hatte sich zu entscheiden, für oder gegen das große „Wir“. Wer auf einer schmissigen Demonstration schon einmal die 1968er-Parole „Solidarisieren – mitmarschieren“ skandiert hat, wird ein Gefühl für die damit verbundenen Emotionen, für die damit verbundene Dynamik haben.

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Bekenntnisparolen: Bannertext des Leistungskampfes der deutschen Betriebe (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 278 v. 9. Oktober, 10)

Die erste Episode zeigt zugleich den Aufbau der Serie: Vier Einzelbilder, jeweils von einem sechszeiligen Gedicht unterlegt. Einfache Sprache. Paarreim. Groll anfangs am Grollen, am Schwanken, schließlich mit einem verhaltenen, doch vorhandenen Lächeln. Abstrakt: Getragen von der Erwartungszukunft einer leistungsfähigen und wohlhabenden NS-Konsumgesellschaft, geht die Serie unmittelbar in eine Art Gestaltungszukunft über – so, als wären mit dem Start des Leistungskampfes auch gleich Ergebnisse verbunden (Rüdiger Graf und Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung, Geschichte und Gesellschaft 42, 2016, 497-515, hier 505, 508). Analog waren die NS-Musterbetriebe allein durch die Auszeichnung schon Vorbilder – was innerhalb der Unternehmen geschehen war, blieb meist recht unklar. Tobias Groll machte jedenfalls mit, wusste um die einmonatige Zeitspanne, in der er den Banner „Wir marschieren mit!“ werbeträchtig nutzen durfte (Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 4, 1937, Nr. 9, 66-67).

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Betriebssport: Ein Volk macht gemeinsam mobil (National-Zeitung 1938, Nr. 203 v. 28. Juli, 10)

Tobias Groll war Eigenbrötler, zudem unsportlich. Freiwillig würde er sich körperlich nicht betätigen, aus dem Alter des Vereinssports war er entwachsen, als Chef hatte er andere, vermeintlich wichtigere Aufgaben als einem Ball hinterherzujagen. Doch die DAF vertrat noch höhere Ziele: „Es gilt […] ein körperlich gestähltes Volk zu erreichen.“ Turnen, Sport und Spiel waren einerseits Ausgleich zum Einerlei der Arbeit. Anderseits beharrte der NS-Staat auf einer Pflicht des Einzelnen zur Gesunderhaltung. Das diente nicht nur der Kostendämpfung im Gesundheitswesen, sondern auch der eigenen Leistungsfähigkeit. Betriebssport sollte vielgestaltig sein, jedem das Seine bieten, doch dazu mussten Sportstätten und -geräte vorgehalten werden. Richtig umgesetzt würde er die Betriebsgemeinschaft stärken. Groll verstand dies, die Niederlage im sportlichen Kampf wog demgegenüber wenig. Der Betriebssport erschloss körperlichen Fähigkeiten, stärkte das Durchhaltevermögen. Als Gemeinschaftswerk war er „Quell der Lebensfrische und Leistungsfähigkeit unseres Volkes“ (Alfred Kettler, Betriebssport, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 1, 1938, Nr. 1, 17-18 (beide Zitate)). Großbetriebe bereiteten hierfür den Weg, Betriebssportgemeinschaften kämpften miteinander. Einzelne oder Mannschaften standen dabei für das gesamte Unternehmen, unterstützten damit beträchtliche öffentliche Sportinvestitionen, die während der Olympiade 1936 zu einem hierzulande nie wieder erreichten Medaillensegen geführt hatten. Zugleich erlaubten sie die Schaffung betrieblicher und völkischer Geschlossenheit. Dem Betriebssportappell bei Robert Bosch in Stuttgart wohnten im September 1938 fast alle der 8000 Beschäftigten bei (Schwäbischer Merkur 1938, Nr. 2144 v. 11. September, 11).

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Schönheit der Arbeit: Bruch mit den grauen Mauern des Betriebs (Dortmunder Zeitung 1938, Nr. 233 v. 21. Juli, 8)

Das 1933 von der DAF gegründete Amt „Schönheit der Arbeit“ zielte auf eine Verbesserung der innerbetrieblichen Arbeitsbedingungen. Jahr für Jahr wurde ein neues Ziel ausgegeben, einschlägige Verbesserungen sollten nun auch Teil des Leistungskampfes sein: „Saubere Menschen in sauberen Betrieben“ hieß es 1933, danach „Grün in die Betriebe“, „Kampf dem Lärm“, „Gutes Licht – gute Arbeit“, 1938 dann „Gesunde Luft im Arbeitsraum“, begleitet von der bis 1939 laufenden Aktion „Warmes Essen im Betrieb“. Disziplinierung und Humanisierung gingen dabei Hand in Hand (Karsten Uhl, Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Zeitalter, Bielefeld 2014, v.a. 95-162). Die Arbeit des Amtes erschöpfte sich wahrlich nicht in dem vielfach verspotteten Blumenschmuck in den Firmen, auf den auch der Comicstrip anspielte. Tobias Groll repräsentierte darin den gewalttätigen Patriarchen der alten Zeit, und sein Lernprozess war hier nachvollziehbarer als in anderen Episoden. Beschämt von der eigenen Grobheit, vom ehrenamtlichen Engagement eines Lehrlings, besann sich der Chef und kehrte – den Schirm geschlossen geschultert – mit Blumen zurück in den Betrieb. Die „Schönheit der Arbeit“ blieb vielfach Propaganda, doch die immer wieder beschworenen Verheißungen veränderten das Bild des Betriebes als solchen: „Ein netter, in der wärmeren Jahreszeit in frischem Grün prangender Fabrikgarten in frischem Grün prangender Fabrikgarten grüßt sie bei ihrem Eintreten, und an ihren eigentlichen Arbeitsplätzen erwartet sie blitzende Sauberkeit. Keine Maschine, die früher viele Unfälle, ja selbst Menschenleben forderte, die nicht in hinreichendem Maße gesichert wäre. Aus den weiten Fabrikhallen sind die matten, den Blick ins Freie verwehrenden Milchtafelgläser verschwunden“ (Der NS.-Musterbetrieb Ausdruck höchster wirtschaftlicher Sauberkeit! Völkischer Beobachter 1938, Nr. 120 v. 15. Juli, 8-9, hier 8). Der Leistungskampf stand in der Tradition reflektierter Humankapitalwahrung, schuf zugleich aber Anspruchshaltungen und Vorstellungen, die in beiden Nachfolgestaaten weiter wirksam blieben.

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Betriebsausflug: Geselliges Miteinander als Ziel (Bergedorfer Zeitung 1938, Nr. 187 v. 12. August, 6)

Die weit zurückreichende Rationalisierung und Mechanisierung gewerblicher Arbeit veränderte die Produktionswelt aber auch indirekt, denn Freizeit und Konsum gewannen zumal in den 1920er Jahren für viele Arbeitnehmer eine immer größere Bedeutung. Die DAF bemühte sich, wie zuvor schon Gewerkschaften, Parteien und eine wachsende Zahl von Unternehmen, diese Aufgabe im Sinne des NS-Staates aufzugreifen. Durch die Konsumgenossenschaften, vor allem aber durch die Organisation „Kraft durch Freude“ besaß sie ein elaboriertes Instrumentarium für gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten (Karsten Uhl, Visionen der Arbeit im Nationalsozialismus. Automatisierung und Menschenführung in der Leistungsgemeinschaft, in: Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann (Hg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn 2019, insb. 107-126). Die Parolen zielten auf Einflussnahme: „Mindestens einmal im Jahr, mitten in der Woche, einen KdF.-Betriebsausflug ins deutsche Land!“ (Betriebsausflüge nur an Wochentagen, Verbo – Riedlinger Tageblatt 1938, Nr. 198 v. 26. August, 15). Während der Sommerzeit, meist im Juni oder Juli, standen Betriebsausflüge daher auf der Tagesordnung einer wachsenden Zahl von Betrieben. Sie waren nicht immer wohlgelitten, erfolgten vielfach im kleineren Rahmen etwa der Betriebsleitung oder der Facharbeiter. Groll versuchte sich dieser Zwangsvergemeinschaftung zu entziehen, wurde aber von den Ausflüglern eines Konkurrenzunternehmens abgepasst und zu seinem Glück gezwungen. Am Ende marschierte Groll wieder im Leistungskampf, der Schirm blieb geschlossen, mutierte zum Taktstock.

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Genrebeitrag ohne direkte propagandistische Einbettung (Ostmark-Woche 7, 1939, Nr. 22, 7)

Dieser vierte Comicstrip lenkt unseren Blick zugleich auf die Form der Bildergeschichten. Die vier Einzelbilder erschienen zumeist als fast quadratischer Block, meist als Eckenfüller der Zeitschriften. Variationen waren jedoch möglich, in diesem Fall als Bilderabfolge in horizontaler Reihung. Für den Leser war dies einfacher, denn die im Block teils noch erfolgte Nummerierung der Einzelbilder verwies auf Probleme im Verständnis der jeweiligen Reihenfolge. Zugleich spielte die Serie mit Abenteuermotiven, die von anderen Medien parallel aufgegriffen wurden. Betriebsausflüge waren damals ein gängiger Anlass für humoristische Auslassungen. Das galt auch für Tobias Groll, für sein angestrengtes Sackhüpfen. Doch die Serie verblieb nicht in Witz und Schabernack, sondern bettete diese in eine völkische Verpflichtung ein: Der Betriebsausflug sollte Volksgemeinschaft im Kleinen zelebrieren, die Kampfgemeinschaft als Feiergemeinschaft darstellen.

24_Jeversches Wochenblatt_1938_08_10_Nr181_p4_Tobias-Groll_Warmes-Essen-im-Betrieb_DAF_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Warmes Essen im Betrieb: Dezentrale Versorgungsstrukturen (Jeversches Wochenblatt 1938, Nr. 181 v. 10. August, 4)

Eine der Begleitparolen des zweiten Leistungskampfes war: „Fort mit Stulle und Butterbrot“ (Der Grafschafter 1939, Nr. 48 v. 25. Februar, 14). Das folgte dem schon im Februar 1938 einsetzenden „Aufklärungsfeldzug“ für „Warmes Essen im Betrieb“ (Speiseräume für die Gefolgschaft, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 528 v. 10. November, 3). Das fünfte Grollsche Abenteuer führte die Leser entsprechend in die Mängel insbesondere der Mittagsverpflegung ein. Arbeitszeit, Arbeitsweg und Überstunden konnten sich auf zwölf, gar vierzehn Stunden aufaddieren – und die üblichen Stullen konnten den Substanzverlust nur teilweise kompensieren. Die DAF unterstützte daher einen deutlichen Ausbau betrieblicher Kantinen bzw. auch mittäglicher Verpflegung durch zentralisierte Küchen. Der Comicstrip präsentierte die oft desolate Ausstattung betrieblicher Kochgelegenheiten, setzte unausgesprochen ein Interesse der Arbeitnehmer an einem einheitlichen Mahl voraus. Das widersprach der betrieblichen Realität, doch man kann davon ausgehen, dass sich die Zahl der Kantinen in der unmittelbaren Vorkriegszeit auf Anfang 1940 geschätzte 7.000 bis 7.500 verdoppelte (Otto Suhr, Neue Formen der Werkverpflegung, Monatshefte für NS-Sozialpolitik 9, 1942, 215-216, hier 215). Die weitere Entwicklung unterstrich, dass Kantinen als wichtige Grundlage einer leistungsfähigen Rüstungswirtschaft galten. 1943 gab es bereits 17.500 „Werksküchen“, zudem 2.000 Fernverpflegungsbetriebe, 1944 nahmen 26 Millionen Beschäftigte an der Gemeinschaftsverpflegung teil (Gemeinschaftsverpflegung 1944, 363; Arbeitertum 13, 1944, Nr. 18, 7). All das wurde – wie bei den öffentlichen Eintopfessen – als Teil einer Volksgemeinschaft am Tisch präsentiert. Doch anders als im Comic, wo Tobias Groll und der Vorarbeiter August Schmidt gemeinsam das Mittagessen einnahmen, speisten Chefetage und Belegschaft weiterhin zumeist anderes und andernorts.

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Das Schwimmbad oder Solidarität mit dem Chef (Tremonia – Westdeutsche Volkszeitung 1938, Nr. 227 v. 22. August, Bl. 2, 1)

Bei der sechsten Episode der Abenteuer kam mir unwillkürlich August Bebels (1840-1913) spöttische Sentenz vom „Paradies der großen Fabrikbetriebe“ in den Sinn (Heinz Marr, Die Industriearbeit (Das Fabriksystem), in: Karl Peppler (Hg.), Die Deutsche Arbeitskunde, Leipzig und Berlin 1940, 115-138, hier 129). Ein Schwimmbad in einem Industriebetrieb? Das gab es natürlich, die Anlage der Uhrenfabrik Junghans diente ganz Schramberg zum Pläsier (Arbeitertum 5, 1935/36, Nr. 13, 22), generell ging es um ein sicheres Erlernen des Schwimmens (Illustrierter Beobachter 12, 1937, 1022). Doch in der Bildgeschichte ging es vorrangig um die Solidarität der Arbeiter mit ihrem Chef, aber auch um den Willen zur Selbsthilfe. Eine Gemeinschaftsaktion abseits der eigenen Hierarchieebene unterstrich die Kraft des Gemeinschaftsgedankens: Alle für einen, einer für alle. Zugleich erinnerten die Bilder an die stetig wiederholte Parole, dass es im Leistungskampf keine Geschenke gäbe, sondern jede Verbesserung erarbeitet werden müsse. Tobias Groll war jedenfalls hoch erfreut über den Wandel der nationalsozialistisch inspirierten „Gefolgschaft“ – und sprang stellvertretend für seine Volksgenossen in das kühle Nass.

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In variabler Form: Vertrauensrat und Kameradschaftsabend (Der Führer 1938, Nr. 222 v. 14. August, 5 (l.); Neue Mannheimer Zeitung 1938, Nr. 229 v. 21. August, 5)

Die folgenden zwei Abenteuer spiegeln eine weitere formale Variation der Serie, die in einigen Zeitungen nicht nur im Quer-, sondern auch im Längsformat erschien. Inhaltlich ging es um zwei weitere Elemente des betrieblichen Alltags während der NS-Zeit. Da war zum einen der Vertrauensrat, der als Vermittlungsinstanz an die Stelle der bis 1933 bestehenden Betriebsräte trat. Das im Januar 1934 erlassene Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit führte das Führerprinzip auch in die Betriebe ein. Die Gefolgschaft hatte dem Betriebsführer treu und gehorsam zu folgen, während sich letzterer um das Wohl seiner Beschäftigten sorgen musste. Für sozialpolitische Konfliktfälle gab es einen beratend arbeitenden Vertrauensrat, dessen Mitglieder der DAF angehören mussten (Frese, 1992, 282-283). Sollte kein Einvernehmen erzielt werden, so entschieden die staatlich ernannten Treuhänder der Arbeit. Der Leistungskampf der deutschen Betriebe sollte diesem recht zahn- und machtlosen Gremium neuen Glanz verleihen, sollte es doch den „Generalstab des Leistungskampfes“ bilden (Die Parole des Monats, Bremer Zeitung 1938, Nr. 214 v. 6. August, 6). Der Vertrauensrat war vertraut mit der innerbetrieblichen Sozialpolitik – und sollte nun Vorschläge für die Maßnahmen im Leistungskampf machen (Unser Betrieb im Leistungskampf, Werkzeitung der Gebr. Böhler & Co. AG 2, 1939, Nr. 6, 20). Der Betriebsführer sollte sie abwägen, dann mit dem Vertrauensrat besprechen. Konflikte konnten dabei kaum offen ausgetragen werden, denn der Betriebsfrieden stand über allem.

Kameradschaftsabende waren ähnliche Gesprächsforen, allerdings weniger reguliert. Sie dienten vornehmlich der Geselligkeit, dem Erfahrungsaustausch und der Sozialisation. Der Begriff war Teil einer idealisierten Rückbesinnung auf das Fronterlebnis des Weltkrieges, gewann im NS-Umfeld vor allem seit 1933, im betrieblichen Bereich seit 1934 an Bedeutung. Beide Episoden spiegelten die im Leistungskampf nicht berührten innerbetrieblichen Machtverhältnisse. Chef Tobias Groll etablierte beide Institutionen, versuchte damit die Beschäftigten formal einzubinden und Konflikte abzumildern. Doch trotz neuer Besprechungen und eines Klaviersolos behielt er die eigentliche Macht in der Hand – wobei er nun erstmals ohne Schirm gezeichnet wurde.

27_Der oberschlesische Wanderer_1938_08_27_Nr235_p06_Tobias-Groll_Lehrlingswerkstatt_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Lehrlingswerkstatt: Qualifizierung als Anrecht (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 235 v. 27. August, 6)

Die Qualifizierung des Nachwuchses war schon während der Reichsberufswettkämpfe ein zentrales Anliegen sowohl der Wirtschaft, des Staates und der DAF. Die Massenarbeitslosigkeit hatte zu einer relativen Dequalifizierung vieler Lehrlinge geführt, so dass Facharbeiter rasch Mangelware waren. Die Neugründung vieler Lehrlingswerkstätten nach der Weltwirtschaftskrise war eine Reaktion auf den „merklichen Mangel an qualifizierten Arbeitern“ (Herner Zeitung 1934, Nr. 77 v. 3. April, 3), der das nationalsozialistische „Wirtschaftswunder“ schon früh gefährdete. Der im Comic verwandte Begriff der „Lehrlingswerkstatt“ griff allerdings über die betriebliche Bildung hinaus. So hatte etwa die Zeche Zollverein schon 1934 eine Lehrlingswerkstatt geschaffen, „die nicht nur den beruflichen Fortschritt fördern soll, sondern auch außerhalb des Berufes dem jugendlichen Arbeiter Gelegenheit gibt, sich durch Turnen und Wandern körperlich zu ertüchtigen und durch vielseitigen Unterricht geistig weiterzubilden.“ Auch die Eltern wurden einbezogen, waren Gast bei gemeinsamen Unterhaltungsabenden. Ziel der Einrichtungen war es, „die ihr anvertrauten jungen Menschen zu körperlich und geistig tüchtigen Volksgenossen […] im Sinne unseres Führers“ zu erziehen (Essener Allgemeine Zeitung 1934, Nr. 19 v. 20. Januar, 4 (auch zuvor)). Sie waren, wie das duale System der Lehrlingsausbildung, eine Erbschaft des Kaiserreichs und dienten vornehmlich der Ausbildung von Kernbelegschaften (Marhild v. Behr, Die Entstehung der industriellen Lehrwerkstatt, Frankfurt a.M. und New York 1981). Lehrlingswerkstätten waren typisch für Großbetriebe, gewannen aber auch in Mittelbetrieben schon lange vor dem Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe an Bedeutung, waren sie doch kostengünstiger als Einzelausbildung. Für Tobias Groll war es daher keine Frage, dass er dem Lehrling Fritz letztlich bessere Rahmenbedingungen zubilligte. Zugleich mutierte er vom erschreckten Griesgram zu einem zunehmend aktiven Gestalter. Im Gegensatz zu dem im Alten verharrenden Vorarbeiter nahm er den Flügelschlag der neuen Zeit wahr. Groll verinnerlichte langsam Grundlagen des Leistungskampfes und füllte seine Funktion als Betriebsführer zunehmend zum Wohle seiner Mitstreiter aus.

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Werkswohnungen: Betriebsanbindung und Familiengrund (Siegblätter 1938, Nr. 207 v. 6. September, 8)

Das NS-Regime hat im Vergleich zum Weimarer Staat deutlich weniger Wohnungen gebaut. Gleichwohl berichtete die Propaganda immer wieder von neuen kleinen Siedlungen, hob die Bedeutung auch des betrieblichen Wohnungsbaus stetig hervor. Anfangs setzten die neuen Machthaber auf eine begrenzte Reagrarisierung des Neubaus. An die Stelle der fabriknahen Mietswohnung sollte ein einfaches, häufig nicht wirklich unterkellertes Kleinhaus mit einem großen Wirtschaftsgarten und Kleintierhaltung treten. Diese „Eigenheimstätte“ blieb als gerade noch zu finanzierendes Ideal bestehen, doch spätestens mit dem Vierjahresplan war sie zu teuer. Angesichts von 1938 ca. 1,5 Millionen fehlenden Wohnungen versuchte man nachzubessern, da ansonsten die wirtschaftlichen und politischen Ziele des Regimes gefährdet seien: „Ein Gefolgschaftsmann, der in einer dunklen, dumpfigen, beengten Behausung mit Frau und Kindern zu leben gezwungen ist, kann am Arbeitsplatz bei den schönsten und besten Einrichtungen der Arbeitsstätte kein leistungsfähiges, vollwertiges und besonders frohes Mitglied der Betriebsgemeinschaft sein“ (Heimstätten – nicht Mietswerkwohnungen, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 318 v. 11. Juli, 6). Die DAF steuerte um, zielte nunmehr auf eine Mischung von Eigenheimen und Vierraumwohnungen in Wohlblocks ohne Garten. Man gab vor, damit auch dem Willen der Arbeiter zu entsprechen – die angesichts der hohen Arbeitsbelastung vielfach keine Möglichkeiten für Nebenerwerbslandwirtschaft hatten (Carl Wellthor, Richtige Wirtschaft – falsche Wirtschaft, Württemberger Zeitung 1938, Nr. 206 v. 3. September, 2). Waren im ersten Leistungskampf der deutschen Betriebe 1937/38 nominell knapp 29.000 Werkswohnungen gebaut worden, so sollte diese Zahl nun einerseits deutlich erhöht, die Förderung zugleich auf Mittel- und Kleinbetriebe, auf kleinere Projekte konzentriert werden (Der Wohnungsbau im 2. Leistungskampf, Stuttgarter NS-Kurier 1938, Nr. 409 v. 2. September, 4).

Tobias Groll hatte diese Veränderungen bereits verinnerlicht. Wie zuvor vom eigenen Lehrling lernte er nun vom Vorbild seines Konkurrenten. Er investierte in einen Wohnblock, bot seinen Beschäftigten damit einen festen Grund. Am Ende der ersten Staffel der Abenteuer des Tobias Groll lachte die Sonne und der Schirm steckte in der zu besiedelnden Erde. Unser Held hatte die Anregungen des Leistungskampfes angenommen, handelte sozial verlässlich, von „der Gefolgschaft dicht umringt“. Am Ende verspürte er gar ein „Gefühl des Glücks“ – und unterstrich damit, dass er seinen Weg gefunden hatte, da er „im Leistungskampf marschiert!“

Perspektivwechsel: Neue Abenteuer des Tobias Groll

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Die Abenteuer des Tobias Groll: Ein thematischer Überblick

Damit sind wir an das Ende der seltsamen Abenteuer des Tobias Groll gelangt – und zehn neue Abenteuer sollten folgen. Neue Themen des Leistungskampfes wurden angesprochen, die vielgestaltigen Verbesserungsmöglichkeiten weiter ausgelotet. Wichtiger aber war, dass Tobias Groll seine Rolle wechselte. Aus dem Chef der ersten Reihe wurde nun ein Kollege, der teils als Werkmeister, teils auch als einfacher Arbeiter agierte. Durch diesen Perspektivwechsel konnten innerbetriebliche Aufgaben anders angesprochen werden. Das folgerte auch aus dem fortschreitenden Leistungskampf. Der Abdruck der ersten Reihe begann im Juli, die einzelnen Geschichten folgten bis August/September im Wochentakt. Genau getaktete Erscheinungsdaten gab es allerdings nicht, ebenso fehlte eine verbindliche, gar logische Abfolge. Die Zeitungen variierten durchaus. Die Serie selbst erschien reichsweit. Sie fand sich in einer recht großen, aber doch überschaubaren Zahl von Tageszeitungen, nicht jedoch in Wochenzeitschriften oder Illustrierten.

Die zweite Reihe setzte Ende September ein – und fokussierte sich auch deshalb stärker auf innerbetriebliche Aufgaben, weil die Mobilisierung der Betriebe zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war, es nun um die Arbeit in den Unternehmen selbst ging. Dass dabei die Belegschaften auf die besonderen Bedingungen eines Krieges eingeschworen werden sollten, ist angesichts von Hitlers Kriegswillen offenkundig – auch wenn das Münchner Abkommen 1938 einen unmittelbaren Waffengang auf Kosten der Tschechoslowakei noch abwenden konnte. Die neuen Abenteuer des Tobias Groll erschienen weiterhin im Wochentakt, setzten im September ein, endeten im November/Dezember. Parallel franste der Abdruck jedoch zunehmend aus. Während die einzelnen Episoden anfangs noch durchnummeriert waren, endete diese innere Ordnung spätestens mit dem vierten Abenteuer. Die Abfolge geriet in Unordnung, variierte zwischen verschiedenen Presseorganen, teils wurde die Reihe vor ihrem Ende beendet. Für mehrere Zeitschriften schien es sich um eckenfüllende Einzelepisoden zu handeln. Entsprechend ist nicht verwunderlich, dass die neuen Abenteuer in Einzelfällen auch später einsetzten resp. endeten. Der letzte Abdruck stammt aus dem Februar 1939. All dies entspricht nicht der Imagination eines zackigen und mörderisch-effizienten NS-Regimes, war aber durchaus kennzeichnend für ein Umfeld großen Wollens und improvisierten Tuns: Die Presse war teils nicht in der Lage, die gezeichnete NS-Propaganda einheitlich an den Mann, an die Frau zu bringen. Das galt nicht nur für Propaganda, sondern auch für die visuelle und textliche Propagierung der vielgestaltigen Sammelaktivitäten einer Mangelökonomie, zumal des Winterhilfswerkes.

Zugleich unterstreichen die Abenteuer des Tobias Grohl, dass gängige Vorstellungen von einer Comic-Feindlichkeit des NS-Regimes mehr als zu relativieren sind (vgl. bereits Eckart Sackmann, Die Braune Post – die Nazis und die Sprechblase, Deutsche Comicforschung 12, 2016, 74-83; ders., »>Comics< sind als undeutsch verpönt.« Die Nazi-Jahre, ebd. 15, 2019, 56-93). Auch wenn die Abenteuer nicht in Form der vermeintlich „amerikanischen“ Sprechblasencomics erschienen – die aber durch NS-Zeichner wie Emmerich Huber schon lange zuvor auch in offiziellen Kampagnen angewendet wurden – so unterstreicht der aus zwanzig Episoden bestehende Comicstrip, dass das NS-Regime Comics auch für staatspolitisch vorrangige Themen und für Erwachsene nutzte. Zeitgenössische NS-Kritik an bestimmten Ausprägungen der US-Comickultur darf nicht mit grundsätzlicher Ablehnung verwechselt werden. Comics waren sowohl für Propaganda- als auch für Unterhaltungszwecke eine gängige literarisch-visuelle Form der NS-Zeit – auch und gerade in den bisher kaum beachteten Tageszeitungen. Doch nun zu den neuen Abenteuern:

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Berufsbildung oder Kämpfen und Können (Münsterischer Anzeiger 1938, Nr. 436 v. 21. September, 6)

Schon in der ersten Folge sehen wir einen äußerlich gewandelten Tobias Groll: Schirm und Anzugsjacke waren weggefallen, wurden ersetzt durch ein schlecht sitzendes Arbeitshemd und eine Hose, beide unvorteilhaft für den übergewichtigen Griesgram, der den gängigen Idealbildern deutscher Kämpfer und nationalsozialistischer Aktivisten wahrlich nicht entsprach. Unser Held donnerte gleich los, konnte der Leserei des Lehrlings nichts abgewinnen. Doch anders als in der ersten Serie wurde Werkmeister Groll nun rasch überzeugt, ließ den Jungen gewähren, verstand seine eigenen Defizite, ging in die Betriebsbücherei und arbeitete an sich – in trauter Gemeinschaft mit dem ehedem getadelten Lehrling, der den Sinn des Leistungskampfes schon früher verstanden hatte. Die Konversion des Griesgrams erfolgte in den neuen Abenteuern schneller, das Abwägen wurde vermehrt durch rasches Begreifen und Folgsamkeit ersetzt.

Da Berufsbildung bis heute eine mit massivem Ressourceneinsatz verbundene Gemeinschaftsaufgabe von Staat, Wirtschaft und Individuum ist, gilt es den NS-Kontext der Bildgeschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Berufsbildung stand damals im Spannungsgefüge einer vermeintlich „liberalistischen“ Vergangenheit und der nationalsozialistischen Gegenwart. Erstere sei durch „selbstsüchtige Wünsche“ nach raschem Fortkommen und Reichtum geprägt gewesen, letztere berücksichtige auch „die höheren und höchsten Interessen des Volkes“. Egoisten hätten materialistische Gruppenbildungen, etwa von Gewerkschaften, vorangetrieben, während nun „das Wohl und das Leben der Volksgemeinschaft einzige Richtschnur für das Handeln des einzelnen“ sei (Zitate aus Der Angestellte und die Wirtschaft, Vestische Neueste Nachrichten 1934, Nr. 300 v. 31. Oktober, 3). Derartiges Wortgeklingel unterschlug, dass just während der NS-Zeit viele Facharbeiter gezielt in ihren sozialen Aufstieg investierten und sich ihnen insbesondere nach Beginn des Vierjahresplans neue Chancen in Betrieben und der Wehrmacht eröffneten. Volksgemeinschaftsrabulistik konnte die erodierenden Solidaritätsstrukturen innerhalb der Milieus nicht ansatzweise substituieren. Erfolgreiche Fernunterrichtsangebote wie etwa des Rustinschen Lehrinstituts in Potsdam, des Konstanzer Christiani-Fernunterrichts oder der Berliner Fernunterrichts-Gesellschaft bewarben „den Weg nach Oben“ und ließen eine Berufsbildung für das völkische Ganze zur Feiertagsphrase verkommen – mochte beide Wege für die expansiven Ziele des Regimes auch dienlich gewesen sein.

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Kleiner Betriebsknigge: Der Ton macht die Musik (Herner Zeitung 1938, Nr. 222 v. 22. September, 4)

Das NS-Regime propagierte offiziell einen respektablen Umgang der Volksgenossen untereinander, kernig und versöhnlich, direkt und auf Gemeinsames zielend. Das stand quer zum generellen Ton dieser Zeit, der schon aufgrund der hierarchischen Strukturen eines „Führersystems“ und dem Ausgrenzungs- und Vernichtungswillen gegenüber allem nicht „Arteigenen“ gänzlich anders klang. Das spiegelte sich etwa in der Tätigkeitsbeschreibungen der sozialen Ehrengerichte, die offenkundige Verstöße gegen den undefinierten Betriebsknigge sanktionierten. Sie sanktionierten „asoziale Gesinnung, […] Mißbrauch der Machstellung, […] versteckte Böswilligkeit, […] Mißachtung und sozialen[n] Unverstand.“ Die vielbeschworenen gekränkten Leberwürste sollten dort aber ebenfalls kein Forum erhalten: „Der viel belächelte Kommißton sei keine Kränkung der Soldatenehre, und auch der Arbeiter schätze eine kernige Sprache, den rauhen aber herzlichen Ton, während ihm Leisetreterei und doppelzüngige Ironie verhaßt sei.“ Im Betrieb ging es normativ um eine richtige soziale Gesinnung, um Taktgefühl angesichts von Kränkungen und kleineren Pflichtwidrigkeiten (Zitate aus Soziale Ehrengerichtsbarkeit als Erziehungsinstrument, National-Zeitung 1936, Nr. 129 v. 5. Juni, 8). Der kleine Betriebsknigge zielte auf wechselseitige Achtung. Soweit folgte er dem Vorbild des Freiherrn Adolph von Knigge (1752-1796). Dessen 1788 erschienenes Hauptwerk „Ueber den Umgang mit Menschen“ war allerdings eine Handreichung für den höflichen Umgang ständisch unterschiedlicher Menschen. Benimmregeln in einer Volksgemeinschaft der nominell Gleichen konnten daraus nur bedingt abgeleitet werden.

32_Hoextersche Zeitung_1938_10_01_Nr229_p06_Tobias-Groll_Brause_Franz-Roha_Leistungskampf-der-deutschen-Betriebe_Comic

Die Betriebsbrause: Hygienepflicht und Unfallschutz (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 229 v. 1. Oktober, 6)

Waschgelegenheiten waren seit dem späten 19. Jahrhundert eine von Sozialreformern und Arbeitervertretern beharrlich eingeforderte Schutzmaßregel, um insbesondere im Umgang mit Staub, Glas, Metallen und Chemikalien Gesundheitsgefährdungen einzudämmen. Doch gerade in mittleren und kleineren Unternehmen waren sie meist unzureichend (von den Aborten ganz zu schweigen). Während der NS-Zeit wurde das Thema im Rahmen der Gesundheitsführung propagandistisch weiter aufgeladen, Vorzeigeeinrichtungen wie das 1935 von Daimler-Benz in Gaggenau erbaute „Haus der Gesundheit“ (Illustrierter Beobachter 11, 1936, 128) illustrierten Notwendigkeit und Ideal zugleich. Tobias Groll war dennoch skeptisch gegenüber derartigen Neuerungen, die er erst schätzen lernte, als ein kleiner Unfall ihn an das Labsal der Reinigung erinnerte. Er fügte sich in sein Schicksal, auch wenn er scheinbar noch mit dem Dreck der alten Zeit gut hätte leben können.

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Urlaubsfahrt mit „Kraft durch Freude“ (Der Patriot 1938, Nr. 234 v. 7. Oktober, 7)

Die DAF zielte auf eine Kompletterfassung der arbeitenden Bevölkerung: „Die betriebliche Betreuung darf daher keinesfalls am Betriebstor enden“ (Hans Rasch, Pioniere der neuen Sozialordnung, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 5, 3-4, hier 4). Entsprechend hoch war die nicht nur propagandistische Bedeutung der DAF-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, die breit gefächerte Freizeitaktivitäten anbot. Reisen und Wanderungen galten vornehmlich den deutschen Landen, doch propagandistisch wichtiger wurden die im Mai 1934, also lange vor Beginn des Leistungskampfes der deutschen Betriebe, mit gecharterten Passagierdampfern begonnenen Kreuzfahrten. Die kurzen Reisen nach Norwegen, insbesondere aber zum portugiesischen Madeira standen für den Traum einer erschwinglichen Fernreise, von Urlaub allgemein (Sascha Howind, Kraft durch Freude und die Illusion eines besseren Lebens. Sozialpropaganda im Dritten Reich 1933-1939, Phil. Diss. Hannover 2011 (Ms.), insb. 150-189). Als „deutsche Friedensflotte“ dienten die Schiffe auch außen- und bündnispolitischen Zwecken. Die Kiellegung und der Stapellauf der beiden für knapp 2000 Personen ausgelegten Dampfer „Wilhelm Gustloff“ und „Robert Ley“ wurden reichsweit zelebriert, sollten diese mit Einheitskabinen ausgestatteten Schiff doch Vorstellungen einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft nähren. Nicht jeder konnte zudem mitfahren, politische Zuverlässigkeit war verpflichtend: „Die Fahrten ‚Kraft durch Freude‘ sind keine einfachen Vergnügungsfahrten, sondern einer der Wege der Verwirklichung des Gedankens nationalsozialistischer Volksgemeinschaft“ (Jeversches Wochenblatt 1936, Nr. 214 v. 12. September 1936, 7). Wer sich in diesem Rahmen daneben benahm, konnte unmittelbar entlassen werden.

Trotz vergleichsweise hoher Kosten, die ebenso wie beim KdF-Wagen mit einer eigenen Reisesparkarte zusammengekratzt werden mussten, handelte es sich um ein gern genutztes Angebot – schon, weil die Zahl der Reisenden sehr überschaubar blieb. Tobias Grolls Ängste sind daher unglaubwürdig – im Gegensatz zu seinen grundsätzlich positiven Erfahrungen. Dagegen passte sein Glücksgefühl, denn der Poesiealbumspruch „Lebe glücklich, lebe froh, wie der Mops im Paletot“ reichten bis ins Kaiserreich zurück und stand – auch durch den 1933 veröffentlichen Foxtrott „Immer lustig, immer froh, wie der Mops im Paletot“ – für eine gewisse spießbürgerliche Häuslichkeit (Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung 1933, Nr. 26 v. 31. Januar, 8). Der Texter dürfte aber kaum an den Refrain „Denn die große Pleite kommt ja so wie so“ gedacht haben (Mittelrheinische Landeszeitung 1936, Nr. 118 v. 23. Mai, 14).

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Werkskapelle: Wir machen Musik – im Betrieb (Lippische Staatszeitung 1938, Nr. 287 v. 18. Oktober, 5)

Weniger bedeutsam waren die Werkskapellen, die es – anders als die noch zahlreichen Männergesangvereine – zumeist nur in Großbetrieben gab. Werkskapellen spielten zu besonderen Anlässen auf, gaben vereinzelt auch die in der Episode angesprochenen Mittagskonzerte (Die Bewegung 4, 1936, Nr. 40, 7). Sie standen für Frohsinn und Freude, gegen das „Heer von Tränenklößen und Lebensverneinern“ (Walter Krause, Der Weg zur Leistung. Wir brauchen Herrenmenschen, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 6, 3-4, hier 3). Das angetönte, aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Lied zielte mit seiner Hauptzeile „Waldeslust, Waldeslust, / o wie einsam schlägt die Brust“ direkt auf den im „Jammertal“ verharrenden Tobias Groll. Schunkelnd reihte er sich ein, mutierte zum passionierten Mitmarschierer.

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Betriebsarzt: Gesundheitsfürsorge und Expertenwissen (Wittener Tageblatt 1938, Nr. 304 v. 29. Dezember, 5)

Mit der sechsten Episode der neuen Abenteuer wurde eine weitere Facette der DAF-Arbeit vorgestellt, der Implementierung von Betriebsärzten auch durch das Amt für Volksgesundheit. Dessen Ziel war es, jeden „deutschen Menschen zu der auf Grund seines Erb- und Rassegutes überhaupt erreichbaren höchsten Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu führen und Gesundheit und Leistung bis ins höchste Alter zu erhalten“ (Die Deutsche Arbeitsfront, ihre Ämter und Leistungen. XV. Das Amt für Volksgesundheit, Illustrierter Beobachter 12, 1937, 949-950, hier 949). Dabei legte man besonderes Gewicht auf Frauen ab ca. 35, Männer ab 40-45 Jahren, der damaligen Zeitspanne nachlassender Arbeitskraft. Tobias Groll spürte diese vor allem aus wehrwirtschaftlichen Gründen bedrohlichen Entwicklung bereits am eigenen Leibe. Der Betriebsarzt empfahl, wie schon seine seit dem späten 19. Jahrhundert eingestellten Kollegen in den Berufsgenossenschaften und auch Großbetrieben, Ernährungsumstellung, vor allem aber den Verzicht auf Fett und Alkohol. Ob unser Held diese Ratschläge umgesetzt hat, ist nicht bekannt.

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Betriebskindergarten: Kinder als Zukunftsgaranten (Der oberschlesische Wanderer 1938, Nr. 309 v. 9. November, 8)

Die neuen Abenteuer des Tobias Groll spielten in einer reinen Männergesellschaft, obwohl die DAF auch für Frauen zuständig war – und die Erwerbstätigkeitsquote im Deutschen Reich vor dem Krieg europaweit relativ hoch lag. Frauenarbeit wurde nicht zuletzt durch den Vierjahresplan immer wichtiger, stand jedoch in Konflikt mit der pronatalistischen Politik des NS-Regimes. Betriebskindergärten erlaubten Kompromisse, die im Pathos der Zeit gleichsam hymnisch belobigt wurden: „Bewundernd blicken wir auf die Unmenge von Maßnahmen weitblickender und gesund denkender Betriebsführer, die darauf abzielen, bei der deutschen betriebstätigen Frau die Freude am Kinde zu wecken, die dem Zwecke dienen, die Zeit der Mutterwerdung zum größten und schönsten Erlebnis werden zu lassen, die eine verstärkte Menschenbetreuung darstellen und jede ernste Sorge der Schwangeren und Mutter nehmen“ (Hupfauer, Auszeichnung, 1938, 10). Tobias Groll teilte derartige Begeisterung nicht, verband Kinder mit Lärm und Störungen. Doch auch hier lernte er im Umgang mit den Kleinen andere Seiten seines Ichs kennen, folgte der Belehrung durch „Kindermund“ und wurde so neuerlich durch „Leistungskampf belehrt“.

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Rücksichtnahme: Tobias Groll als Helfer (Herner Zeitung 1938, Nr. 262 v. 8. November, 7)

Das NS-Regime war gnadenlos gegenüber den selbst definierten Feinden, doch der Vernichtungsfuror ging einher mit immer wieder eingeforderten und praktizierten Formen der Hege, des Respektes und der Höflichkeit. Daran wurde öffentlich immer wieder appelliert, im Mai 1942 initiierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) gar eine eigene Kampagne für mehr Höflichkeit, zumal in Berlin (Wer ist der höflichste Berliner?, Bremer Zeitung 1942, Nr. 124 v. 7. Mai, 6). Dies war Ausdruck nationalsozialistischer Moral, ebenso wie die Mutter- und Tierliebe (Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Bonn 2010; Wolfgang Bialas, Moralische Ordnungen des Nationalsozialismus, Göttingen 2014). Kampf und Gewalt, Mord und Vernichtung standen in engem Zusammenhang zu diesem Tugendkatalog, zur Scheidekunst zwischen Lebens- und Liebenswerten einerseits, Unterdrückungs- und Vernichtungswertem anderseits. Entsprechend überrascht der neuerliche Schwenk der Reihe auf Umgangsformen innerhalb des Betriebes kaum. Die Betriebsgemeinschaft war rassistisch konnotiert, innerhalb half man auch Schwächeren und Älteren: „Einer beobachtet den anderen. Jeder hilft ohne Aufforderung, wenn er sieht oder auch nur empfindet, daß die Arbeit des andern durch seine Mithilfe – und häufig sind ja nur kleine Handreichungen erforderlich – gefördert wird“ („Kamerad wart, ich helfe dir!“, Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 319 v. 12. Juli, 3). Tobias Groll verkörperte dies, dämpfte seinem Unmut über den älteren Kollegen, überwand in gar. Fast könnte man eine Referenz an den alttestamentarischen alten Tobias sehen, der auch in der assyrischen Gefangenschaft an seiner Treue zu Gott festhielt, der sich durch Nächstenliebe und Almosen auszeichnete. Doch dieser Tobias war ein Jude – und Tobias Groll hätte dann wohl seine andere Seite gezeigt.

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Theaterbesuch: Kultur als Ressource (Höxtersche Zeitung 1938, Nr. 270 v. 19. November, 13)

Groll selbst war ein einsamer, in sich gekehrter Mann, der trotz ärztlicher Mahnungen immer wieder dem Alkohol zusprach. Die Angebote der Kraft durch Freude-Organisation verschmähte er, selbst wenn es um einen verbilligten Theaterabend ging. Doch auch in diesem Falle lernte Groll hinzu, schämte sich seines Katers, seiner selbst gewählten Isolation. Gemeinsam mit anderen setzte er dann doch auf einen freudigen Theaterabend. Robert Ley hätte dies anders gefasst: „Gebt dem Volke einen wahrhaften Feierabend, aus dessen Jungbronnen [sic!] es neu emporsteigen kann, und man wird die höchste Leistung von diesem Volke verlangen können“ (Der Schulungsbrief 5, 1938, 2. S. n. 276). Theaterbesuche waren Teil des Leistungskampfes.

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Kraft durch Freude-Wart: Mitgestalten statt Meckern (Wittener Tageblatt 1939, Nr. 44 v. 21. Februar, 5)

Auch die zweite Tobias Groll-Comicserie endete in anderem Ton, präsentierte einen gewandelten und geläuterten Helden. Er, der ewig Griesgram und Meckerer, ging ohne Anlass, aus innerem Antrieb gegen Kollegen vor, die wie einst er selbst meckerten um des Meckerns willens. Zuvor hatte er sich endlich auch formal eingereiht, hatte das Amt des KdF-Wartes übernommen, war damit zuständig für die betrieblichen Freizeitangebote der DAF. „Eifer, Saft und Kraft“ waren an die Stelle seines früheren Missmutes getreten. „Heiter“ und licht würde die gemeinsame Zukunft sein, die Errungenschaften des Leistungskampfes würde er mit ausbauen helfen. Tobias Groll marschierte mit, hatte endlich seinen Platz gefunden, im Gefolge seines Betriebsführers Leitungsaufgaben übernommen. Das freute auch die Initiatoren des Leistungskampfes, die diese Neumenschwerdung immer beabsichtigt hatten: „Kraft durch Freude soll mithelfen, den Begriff des Proleten zu überwinden und aus dem deutschen Arbeiter eine unbekümmerte und stolze Herrennatur zu machen“ (Ein stolzer Rechenschaftsbericht der DAF, Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9).

Auf Dauer gestellter Leistungskampf

Mit diesem nationalsozialistischen Happyend könnte man schließen. Comicheld Tobias Groll hatte den Kampf gegen seinen Missmut, seine Indifferenz gewonnen, würde seinen Beitrag zum Leistungskampf der deutschen Betriebe leisten. 164.239 Betriebe mit ca. vier Millionen Beschäftigten hatten teilgenommen. Sie folgten aus Überzeugung und Opportunität, folgten ihren eigenen, sich vielfach im NS-Regime widerspiegelnden Interessen. Am Ende stand Belobigung, teils in Form von Urkunden und Fahnen, teils aber auch nur in Form gemeinsamen Bemühens. Die Teilnehmer bewährten sich vor Ort, im kleinen Leben. Die Comicserie Tobias Groll bot hierfür eine Deutungsvorlage, mochte sie den zeithistorischen Kontext auch großenteils ausblenden. Das dürfte nicht allen Teilnehmern gelungen sein. Doch die DAF hatte – wie auch die NSDAP – eine Kultur der schaffenden Überbietung in Gang gesetzt: „Das Herz, auch es bedarf des Überflusses, / Genug kann nie und nimmermehr genügen“ (Conrad Ferdinand Meyer, Gedichte, Leipzig 1882, 3).

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NS-Kader unter sich: Vergabe von Gaudiplomen im Gau Weser-Ems 1939 (Oldenburger Nachrichten für Stadt und Land 1939, Nr. 113 v. 27. April, 9)

Ende April 1939 wurden 2.165 Gaudiplome verliehen und 1.251 Leistungsabzeichen (Zeno-Zeitung 1939, Nr. 119 v. 30. April, 3). In der Reichskanzlei verlieh Herr Hitler 202 Goldene Fahnen, zu den im Jahr zuvor verliehenen 103 Auszeichnungen traten 99 neue (National-Zeitung 1939, Nr. 101 v. 1. Mai, 4). Hupfauer sprach Eröffnungsworte, las die Namen der ausgezeichneten Betriebe vor. Der Reichskanzler schüttelte anschließend jedem Betriebsführer oder -obmann die Hände, der Vierjahresplanbeauftragte Hermann Göring (1893-1946) und Reichsinnenminister Wilhelm Frick (1877-1946) reihten sich ein, Ley beglückwünschte und verteilte die zugehörigen Urkunden (Oberbergischer Bote 1939, Nr. 101 v. 2. Mai, 5). Danach eröffnete Hitler den 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe 1939/40. Er sollte der erste Kriegsleistungskampf werden.

Parallel hatten die Oberen Bilanz gezogen, im Detail, mit langen Listen aller Einzelmaßnahmen. Man sprach von „Durchbruchsschlachten für die Arbeitshöchstleistungen der Nation“, von einem in „seiner Bedeutung überhaupt noch nicht abschätzbaren revolutionären Beitrag zur politischen Freiheit der Nation“ (E.G. Dickmann, Der 3. Leistungskampf der deutschen Betriebe, Arbeitertum 9, 1939/40, Nr. 8, 4-5, hier 4). Wichtiger noch war, dass der Leistungskampf auf Dauer gestellt wurde. Reichsorganisationsleiter Robert Ley verkündete: „Das ist erst ein Anfang unseres Beginnens! Ich erwarte, daß die Teilnahme an dem neuen Leistungskampf der deutschen Betriebe […] sich verdoppelt und verdreifacht! Ich will nicht ruhen und nicht rasten, bis auch der letzte deutsche Betrieb – ganz gleich, welcher Größe und welcher Sparte – sich beteiligt“ (Volksblatt 1939, Nr. 103 v. 4. Mai, 9). Tobias Grolls Comicstrips war an ein Ende gekommen, das NS-Regime aber sah darin nur den Beginn kontinuierlicher Kämpferei.

Bevor diese neuerlich einsetzte hatte der evangelische Pfarrer, alte Kämpfer und Reichstagsabgeordnete Ludwig Münchmeyer (1885-1947) den Leistungskampf nochmals präzise benannt: „Der Einzelne ist nichts, die Gemeinschaft ist alles! Wenn einer an seinem Arbeitsplatze nicht voll und ganz seine Pflicht tut, schädigt er dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch die Gemeinschaft. Er wird zum Verräter an seinen Kameraden, die auf seine Arbeitsleistung angewiesen sind, um auf ihrem Arbeitsgebiet schaffen zu können. […] Wir stehen alle als Soldaten der Arbeit in einer großen Front. Absichtlich ist die deutsche Arbeit zu einer großen Front zusammengeschweißt worden und wird es noch immer mehr werden. Auch der Schaffende im Zivilkleid ist Soldat, nämlich Soldat der Arbeit. […] Nicht mürrisch und gedrückt sollen wir unsere Arbeit verrichten, sondern mit Freude im Herzen. Wir wollen und können heute froh sein, daß wir im schönen Reiche Adolf Hitlers schaffen können. Mißgunst und Neid müssen aus den Betriebsgemeinschaften verschwinden. Alle müssen an einem Strang ziehen, um die beste Leistung für den Betrieb und damit für das große Ganze zu erreichen“ (Jevers Betriebsgemeinschaften zum Leistungskampf aufgerufen, Jeversches Wochenblatt 1939, Nr. 118 v. 23. Mai, 3). Parallel wurde die nationalsozialistische Betriebsgemeinschaft in güldenen Farben präsentiert und ausgemalt.

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Die schöne Propagandawelt der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft (Der Führer 1938, Nr. 118 v. 1. Mai, 1)

Darin, aber auch in den Comicserien über Tobias Grolls Abenteuer, fehlt das Entscheidende: Der kritische rückfragende Blick der Historie, das Aufbrechen des licht Präsentierten durch ergänzende Einschübe, durch erweiternde Empirie. Die Serie tilgte die Vergangenheit betrieblicher Sozialpolitik, zeichnete einen selbstbezüglichen Mann, der sich am Ende stets dem Kollektiv zuwandte, der schließlich selber tätig wurde. Sie spielte mit einer Zukunft voller Verheißungen, kitzelte den Glauben, nicht den Zweifel. Diesen zu nähren und zu artikulieren mag ermüdend sein, eine Sisyphusarbeit. Aber beharrlicher Zweifel ist das wichtigste Hilfsmittel gegen die Propaganda vergangener und heutiger Tage.

Uwe Spiekermann, 26. Oktober 2024