Lob des Amateurs – Walter Ehlerts Gaardener Geschichte(n)

Die Stadtbibliothek Braunschweig öffnete die Türen zum alljährlichen Bücherflohmarkt – und am Samstag, punktum 10 Uhr, waren die heiligen Bildungshallen angefüllt mit drängenden Buchenthusiasten, mit Kindern auf der Suche nach neuen Spielen, mit Jazzfans, Romanhungrigen, Kunstbuchliebhabern, Harzern und voran Bücherweiterverkäufern, allesamt auf Schnäppchenjagd. Auch ich war Teil der Meute, auch ich machte meine Beute.

01 - BeuteUnter den Büchern stach eines rot heraus, für zwei Euro hatte ich es mitgenommen. Ein mir unbekannter Walter Ehlert hatte es geschrieben, der Titel lautet etwas ungelenk „Gaardener Handel und Wandel in Geschichte und Geschichten“. In der Stadtbibliothek lag es gut in der Hand, das Titelbild aus einer Metzgerei war einladend, mehr Photos warteten im Innern. Ich erinnerte mich an einen alten Tatort – Borowski und die Kinder von Gaarden –, an dessen präzise Schilderung dieses „sozialen Brennpunktes“ in Kiel. Eine stolze Werftgeschichte, Zwangsabrüstung und Konversion, Deindustrialisierung, „Gastarbeiter“, Strukturwandel – da kann ein Sozial- und Wirtschaftshistoriker nicht nein sagen. Auch wenn das Buch offenbar von einem Amateur stammt, nicht von einem Profi – man hat ja seinen Dünkel.

02 - Ehlert_GaardenerZurück aus der Stadtbibliothek besah ich neuerlich meine Billigschätze, schaute genauer in dieses Buch – und blieb hängen. Der Band war offenkundig „unwissenschaftlich“. Er enthielt keine Fußnoten, eine „richtige“ Gliederung war nicht vorhanden. Stattdessen hat Ehlert 78 Miniaturen aneinandergereiht, ein Großteil davon mit Bildern bereichert. Keine Plastikbilder aus den so bequemen Bilddatenbanken, sondern „private“ Photos. Musiker im Tanzsaal, Fassaden von Läden, und zwar von kleinen. Ehrbare Bürger, Geschäftsleute und Arbeiter. Anzeigen, Inneneinrichtungen, Hinterhofblicke und immer wieder Gruppenphotos. Viele Frauen, denen man den Stolz auf ihr Geschäft noch ansieht, doch auch die schwere Arbeit. Männer waren hier noch welche, die Ordnung der Geschlechter und der Generationen war klar. Eine kleinbürgerliche Welt, wie sie professionelle Historiker so gern negieren, schreiben sie doch lieber über die „Macher“, die wichtigen Leute – oder aber über die Unterdrückten dieser Erde, denen sie so gerne eine Stimme verleihen; als ob sie diese Welt besser verstünden, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte angemessener artikulieren könnten.

Walter Ehlert – ich habe nachgelesen – stammt aus der Mitte der Gesellschaft. Ein ehemaliger Großhandelskaufmann, der weiß, was Geldverdienen bedeutet. Der Ruhestand gab ihm Zeit, zu einem „Chronisten des Lebens“ zu werden. Das Buch unterstreicht dies. Denn trotz der 148 Bilder ist es ein Buch zum Lesen. Es beginnt mit einem kurzen Überblick der Stadtgeschichte: Werften, der Aufschwung im Kaiserreich, die vernichtenden Luftangriffe, der Wiederaufbau, der notwendige „Strukturwandel.“ Doch es sind die Miniaturen, die einnehmen – und dem Profi immer wieder vor Augen führen, wie wenig er doch weiß, selbst wenn er die großen Linien zu ziehen vermag, ein breites Wissen zur „Kontextualisierung“ hat, ein theoretisches und methodisches Arsenal um Einzelgeschichten einzubetten.

Ehlert konzentriert sich auf diese Einzelgeschichten. Er hat sie über viele Jahre gesammelt, hat mit „den Leuten“ geredet. Mit Gerhard Haase, Hühnerhalter und Eierverkäufer auf dem immer wieder neu gestalteten Vinetaplatz, dem Ort des Wochenmarktes. Mit dem Ehepaar Priess, Bäcker und Garanten für das tägliche Brot, die ihren Laden später an einen Filialisten verkauften. Alte Traditionen treten wieder hervor, etwa die Reepschlägerei (das Wörterbuch von Word unterschlängelt den unbekannten Begriff rot), der Rollerverleih, Hinterhofgärtnerei. Ehlert ist Chronist, beschreibt, zeichnet das Bild seines Viertels, seines Heimatortes für lange 32 Jahre. Er macht sich nicht gemein mit seinen Protagonisten, auch wenn sie seiner Sympathie sicher sein können. Das gilt auch für die Zinnen der Arbeiterbewegung, etwa dem Kieler Konsumverein. Und er vergisst nicht die wenigen, die von ihren Nachbarn nicht geschützt wurden als es darauf ankam. Den Transportunternehmer Wilhelm Wilke etwa, ein Kommunist, von dem nur ein Stolperstein blieb. Die Konflikte im kleinen Gaarden sind zwischen den Zeilen der Miniaturen präsent.

03 - Tante EmmaGaarden ist fern. Doch Ehlerts Geschichten docken an die schemenhaften Kenntnisse an, die wir noch an Zeiten haben, in denen man bei Meyer oder Christen kaufte, man zu Wöhler oder Walser ging und es noch Spezialisten wie den Pferdeschlachter Helf gab. All dies war Geschäft, doch fehlte das dröhnende Einerlei der inhaltsarmen Dauerwerbung, das einnehmend-abstoßende Ladenlächeln der Verkäufer. Ehlerts Geschichten können nostalgisch stimmen, doch sie sind es nicht. „Damals“ war es nicht besser, sondern nur anders. Ehlert hält dies fest. Und es ist dieses Andere, das uns immer wieder auf Geschichte und Geschichten verweist. Ja, es verändert sich alles, Heimat zerbröselt, ob gewollt oder nicht. Doch „das Leben“ kann auch verändert, kann gestaltet und gemeistert werden, steifen Brisen zum Trotz.

Der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte ist zu danken, dass es dieses 2016 erschienene Buch für den sagenhaften Preis von 12,95 € abseits der Bücherflohmärkte zu kaufen gibt. Das Vorwort macht klar, dass man vom Potenzial des Amateurs überzeugt war, dass man zugleich aber einen Profi – Martin Rackwitz – nochmals hat darüber schauen lassen. Der mag einiges professioneller gemacht haben, besser verständlich für Leser abseits von Gaarden. Doch es ist just der wissbegierige Blick des Amateurs, der dieses Buch besonders macht. Sein Interesse an denen, die „Eliten“ vielfach verachtend „kleine Leute“ nennen. Sein Respekt vor den hier nachgezeichneten eigenständig gelebten Leben. Seine Freude an all den kleinen Streichen, Kniffen und Ungebührlichkeiten. Sein Mitgefühl angesichts der Fährnisse und Härten des Alltags. Gaarden ist fern. Doch Ehlerts Buch bringt es uns nahe. Ein zweites über die dortigen Arbeiter steht noch aus, ist aber wohl in Arbeit. Gutes Gelingen diesem Amateur, von dem die Profis lernen können.

Uwe Spiekermann, 30. Mai 2018

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