Macht und Repräsentation – Zu Tisch mit Kaiser Wilhelm II.

Ja, die Kulissen der Paläste laden ein. Mächtige Bauten, große Räume, prächtige Tafeln. Ja, dort gab es erlesene Weine und delikate Speisen. Man vernahm raschelnde, edle Roben, verhaltenes Gemurmel, den dezenten Klang der Tischmusik und die Eilfertigkeit der Diener. Die höfische Pracht wirkt heute noch nach, Höfe und Herrscher bleiben dank Büchern, Filmen und Frauenzeitschriften ein Alltagsphänomen. Wie viel größer mag da die Ausstrahlung eines Hofes, eines Herrschers gewesen sein, der reale Macht in Händen hielt, der nicht nur in fernen Traumwelten, sondern im Deutschen Reich selbst agierte, dort seine Pracht entfaltete?

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Wilhelm II (Berliner Leben 5, 1902, Nr. 9, 142)

Obwohl das in sich sehr heterogene Bürgertum seine gesellschaftliche Position stark ausbaute, gelang es ihm im 19. Jahrhundert nicht, den Adel aus wesentlichen Machtpositionen, sei es in Militär, Bürokratie, Politik und auf dem platten Lande, heraus zu drängen. Im Gegenteil: Mit Wilhelm II. hatte 1888 ein Kaiser das Zepter übernommen, der von der Gottesunmittelbarkeit seiner Herrschaft zutiefst überzeugt war und das konstitutionellen Systems bestenfalls formal akzeptierte. Er stand im deutschen Adel keineswegs allein, das neoabsolutistische Gebaren von „Kini“ Ludwig II. von Bayern ist wohlbekannt. Weniger bekannt ist jedoch, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die deutschen Höfe sich in historisch einmaligen Ausmaß ausdehnten und eine Repräsentationspracht wie nie zuvor entfalteten. So stiegen die Ausgaben des ehedem als „sparsam“ geltenden preußischen bzw. kaiserlichen Hofes seit den 1860er Jahren real deutlich an. 1908/09 kostete der Hof Wilhelm II. 22,2 Mio. Mark staatliche Subventionen, also „mehr als der Reichskanzler, die Reichskanzlei, das Auswärtige Amt (mit dem gesamten diplomatischen Korps und dem Konsulardienst), das Kolonialamt und die Reichsjustizverwaltung zusammen“ – so der britische Historiker John C.G. Röhl. Hinzu kamen noch Einnahmen aus dem beträchtlichen Vermögen der Hohenzollern. Im föderalen Reich gab es zahlreiche weitere Höfe. Ihre Ausgaben lagen bei zusätzlich etwa 20 Mio. Mark; und in dieser Summe sind die vielen herrschaftlichen Haushalte bis hinab in den niederen Adel nicht enthalten.

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Schloß Abenberg im Rangau, Geschenk an Wilhelm II. zum 25-jährigen Thronjubiläum 1913 (Welt-Spiegel 1913, Ausgabe v. 19. Juni, 4)

Kurzum: Deutschland war mit einem Netz repräsentativer Zentren übersät. Allein der preußisch-deutsche Hof bestand aus mehr als 40 Schlössern mit nicht weniger als 3.500 Beschäftigten. Die Präsenz der Herrscher wurde durch eine den hochmittelalterlichen Kaisern kaum nachstehende Reisetätigkeit erhöht, und Hofberichterstattung prägte die meisten Printmedien.

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Repräsentativer Nachtisch (Kochkunst und Tafelwesen 11, 1909, 29)

Essen (und Trinken) hatte eine wichtige Mittlerfunktion: Kontakte zwischen Herrschern und Untertanen waren fast durchweg mit der Speisekultur verwoben. Ihr Ziel war nicht primär Nährstoffzufuhr, sondern Herrschaftssicherung, hierarchische Kommunikation und die Festschreibung scheinbar obsoleter ständischer Unterschiede. Trinksprüche auf Empfängen, Büfetts auf Eröffnungsfeiern, erfrischende Getränke bei Hofbällen und ausladende Menüs mehrfach am Tage; sie alle waren Teil einer nach außen gewandten repräsentativen höfischen Speisekultur, der sich die Mehrzahl der Deutschen kaum entziehen konnte. Doch Essen integrierte nicht nur, sondern selektierte auch: Das strenge Hofzeremoniell schied strikt zwischen Teilnehmern und Nichtteilnehmern. Die einzelnen Mahlzeiten bzw. festlichen Veranstaltungen mit Mahlzeiten waren stets auf fest definierte Kreise zugeschnitten, ihnen anzugehören war wichtig für Karriere und Status. Der „Königsmechanismus“ des späten Kaiserreichs, das allgemeine Buhlen um das „Allerhöchste Vertrauen“ führte zu einer Ausweitung der höfischen Speisekultur auf die Angehörigen der engeren Herrschaftszirkel, deren Ausgaben anlässlich der häufigen Besuche des Kaisers immens anstiegen.

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(Paul Lindenberg: Das Familienleben am deutschen Kaiserhof, in: Paul Brehmer (Hg.): Am Hofe Kaiser Wilhelm II., Berlin 1898, 49-64, hier 59)

Blicken wir nun genauer hin: Zu Hofe gab es drei feste warme Mahlzeiten, Frühstück, zweites Frühstück und Lunch/Diner am Abend. Die Essenszeiten wurden im Laufe des Wilhelminismus deutlich hinausgeschoben, beim Frühstück von 7 Uhr auf 9 Uhr, beim Diner von 19 Uhr bzw. 19½ Uhr auf 20 Uhr. Die Hauptmahlzeit verlagerte sich vom Mittag auf den Abend. Zudem gab es regelmäßige Zwischenmahlzeiten, etwa vor dem Frühstück oder aber den Tee um 17 Uhr. Die Nahrungsaufnahme vollzog sich stets in Gesellschaft und nahm vergleichsweise wenig Zeit in Anspruch: Eine mittägliche Familientafel währte nur 20-30 Minuten, selbst vielgängige Festmenüs selten mehr als eine Stunde. Grund hierfür war sicherlich die starke Fixierung auf den Kaiser, der stets schnell aß, konnte er doch aufgrund seiner Behinderung sein Essen – trotz individuell gefertigten Bestecks – nicht selbst zerlegen. Die Mehrzahl der Speisen war daher direkt verzehrfertig und wurde auch direkt verzehrt. Hatte der Kaiser aber einen Gang beendet, deckten die Diener bei allen Gästen ab.

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Gala mit Wilhelm II., Zar Nikolaus II. und König Georg V. anlässlich der Hochzeit von Prinzessin Viktoria Luise mit dem welfischen Herzog von Cumberland (Die Woche 15, 1913, 907)

Über die Speisen wurde viel geschrieben, doch diente dies vorrangig der Stilisierung. Die strikte Trennung zwischen den vermeintlich einfachen und kräftigen Speisen der Familientafel und den delikaten Genüssen bei größeren Empfängen führt in die Irre, sie sollte eher die Volksverbundenheit des Kaiserhauses demonstrieren. Schon die Art der Zubereitung schloss dies aus, der Schmorbraten des Hofes konnte mit dem des bürgerlichen Hauses kaum verglichen werden. Höchste Qualität der Nahrungsmittel, perfekte Saucen und raffinierte Gewürze ließen die Speisen am Hofe generell zu Wohlgenüssen werden. Schon direkt nach der Thronbesteigung 1888 setzte der Geschmack des Kaiserpaares neue Akzente. Die Speisekarten trugen seitdem deutsche anstelle der zuvor üblichen französischen Bezeichnungen, und auf Wunsch Wilhelm II. wurden regelmäßig kalte Vorspeisen und zunehmend Fischgerichte aufgetragen. Die Menüs selbst folgten allerdings anerkannten kulinarischen Regeln. So wechselten sich anregende und sättigende Speisen ab, zielten die Köche auf größtmögliche geschmackliche Abwechslung und vermieden Wiederholungen. Festliche Diners wiesen zwischen neun und zwölf Gängen auf, lediglich während der häufigen Jagdgesellschaften reduzierte man sie auf sieben. Das war höfische Repräsentationskultur, denn im Doorner Exil lag die Zahl der Gänge bei zumeist zwei bis drei, in seltenen Fällen bei vier bis fünf. Die Tafel war stark fleischbestimmt: Braten aus Rind-, Kalb- oder Lammfleisch bildete meist den „pièce de résistance“, neben Fischgerichten wurden stets mehrere Geflügelgerichte aufgedeckt. Wild dagegen besaß, abgesehen vom gern gereichten Rehrücken, bei festlichen Diners nur eine Randstellung – eine Überraschung angesichts der massakerhaften Jagdleidenschaft des Kaisers.

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(Friedrich v. Campe-Dincklage: Das Waidwerk, in: Georg W. Büxenstein (Hg.): Unser Kaiser. Zehn Jahre der Regierung Wilhelm II. 1888-1898, Berlin/Leipzig/Stuttgart 1898, 305-315, hier 310)

Hier könnte man fortfahren, etwa einen Blick auf das exklusive Tafelporzellan werfen, bei den riesigen Tafelaufsätzen verweilen, gar einen Blick in die modernen Kücheneinrichtungen der Schlösser zu werfen. Die Prachtentfaltung des Hofes käme noch stärker zum Ausdruck, die Differenz zur bürgerlichen „Sparsamkeit“ wäre noch augenfälliger. Wichtiger aber ist, nach der realen Bedeutung der höfischen Speisekultur für die allgemeine Küche zu fragen, zumal auf die der gehobenen bürgerlichen Kreise. Gab es also eine „Aristokratisierung“ (oder auch „Feudalisierung“) der feinen Küche? Die wenigen empirischen Untersuchungen hierzu erlauben keine generellen Aussagen. Was für die Familie Krupp galt, auch für viele gesellige Essen des Besitzbürgertums, muss nicht zwingend für die Mehrzahl des in sich so heterogenen gehobenen Bürgertums gelten.

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Kaiserbesuch der Kruppschen Villa Hügel (Kochkunst 8, 1906, 278)

Dennoch scheint die höfische Speisekultur hochgradig prägend gewesen zu sein, sei es durch die immense Zahl offizieller Besuche, bei denen dem Kaiser auch kulinarisch stets etwas ihm angemessenes geboten werden musste. Sei es durch die für die gehobenen Restaurants und professionellen Köche wichtigen Fachzeitschriften, wie etwa „Die höfische und herrschaftliche Küche“ oder „Kochkunst und Tafelwesen“, die jährlich zig Menüs des Hofes nachdruckten und so zum Vorbild auserkoren. Sei es durch die Etablierung einer größeren Zahl exklusiver Spitzenrestaurants, etwa des Hotel „Adlon“ in Berlin, an dessen Gründung Wilhelm II. persönlich beteiligt war. Und sei es schließlich durch die immer wiederkehrenden Speisepläne und Hofberichte in den Familien- und Gesellschaftszeitschriften der Jahrhundertwende. Die kaiserliche Tafel blieb schon aus Kostengründen der Mehrzahl der Deutschen verwehrt. Das aber heißt nicht, dass nicht viele sich einmal wünschten, dort zu sein, wo das glänzende Leben sich abspielte, sich an delikaten Speisen, an erlesenen Weinen zu laben und mit dem Kaiser anzustoßen auf das Wohl des Deutschen Reiches.

Uwe Spiekermann, 12. Mai 2018