Die Einführung der Selbstbedienung im Einzelhandel der DDR 1951-1960

Selbstbedienung ist eine logische Konsequenz industrieller Massenproduktion. Entstanden ab 1916 in den USA, dauerte es allerdings fast vier Jahrzehnte bis sie sich auch im relativ rückständigen und durch den Zweiten Weltkrieg weiter geschwächten Europa durchsetzen konnte. In den 1940er Jahren waren Schweden, Großbritannien und die Schweiz Vorreiter, westdeutsche Konsumgenossenschaften folgten ab 1949. Der eigentliche Siegeszug der Selbstbedienung begann in der Bundesrepublik jedoch erst Ende der 1950er Jahre (Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, hier 102). In den vier Jahrzehnten zuvor wurde die neue, „amerikanische“ Art des Verkaufens zwar immer wieder diskutiert, praktische Versuche aber blieben Ausnahmen: Einheitspreisgeschäfte nutzten sie seit den späten 1920er Jahren, 1938 gründete der Handelsunternehmer und Ariseur Herbert Eklöh (1905-1978) in Osnabrück einen ersten Selbstbedienungsladen. Weitere Versuchsläden schlossen sich an, und während des 2. Weltkrieges halfen sogenannte Ratio- sowie Einmannbetriebe bei der Auskämmung des Handels, bei der Freisetzung von Arbeitskräften für Wehrmacht und Rüstung (Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich, Bramsche 2000, 191-210, hier 196-197).

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Modell eines Piggly-Wiggly-Selbstbedienungsladens, Memphis 1917 (Library of Congress, 3a33004u)

Während der erst zögerliche, seit 1957 dann aber enorm rasch einsetzende Wandel hin zur Selbstbedienung in Westdeutschland mehrfach dargestellt wurde (zuletzt Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln/Weimar/Wien 2013), gilt dies nicht für die Entwicklung in Ostdeutschland. Doch auch hier tönte es 1958, also fast zeitgleich wie im Westen: „Selbstbedienungsläden sind in vielen Städten der DDR bereits zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Sie ersparen lange Wartezeiten selbst in den ‚Spitzenzeiten‘ und machen den Einkauf zur Freude“ (Bunaprogramm kein fertiges Rezept, Handelswoche 3, 1958, Nr. 3, 10). In der Fachliteratur wird als Beginn derartiger Läden gemeinhin das Jahr 1956 genannt (Mark Landsman, Dictatorship and Demand. The Politics of Consumerism in East Germany, Cambridge und London 2005, 187; Andreas Ludwig (Hg.), KONSUM. Konsumgenossenschaften in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2006, 26; Rainer Gries, Produktkommunikation. Geschichte und Theorie, Wien 2008, 168, spricht gar von 1958). Frühere Diskussionen werden erwähnt, erscheinen jedoch als unbedeutend (Silke Rothkirch, ‚Moderne Menschen kaufen modern‘, in: Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln et al. 1996, 112-119). Damit folgt die Historiographie grundsätzlich der offiziellen Lesart des SED-Regimes: Als die materiellen Möglichkeiten bestanden, die Investitionen in die Grundstoffindustrien getätigt waren, war es dann auch möglich, den Handel zu fördern und damit den Einkaufsalltag freudvoll umzugestalten. Doch so war es nicht. Stattdessen entpuppt sich die Frühgeschichte der Selbstbedienung in der DDR als ein überraschend ungeplantes Hin und Her.

Die erste Welle der Selbstbedienung 1951-1952

Die unmittelbare Nachkriegszeit war in der sowjetischen Besatzungszone trotz fortbestehender Rationierung durch massive Unterversorgung gekennzeichnet. Obwohl „Mitteldeutschland“ deutlich geringere Kriegszerstörungen als die westlichen Besatzungszonen aufwies, litt die verarbeitende Industrie unter den Zerstörungen der Infrastruktur, Kohlemangel, dem Verlust der Lieferbeziehungen nach West und Ost sowie den überdurchschnittlichen Reparationen und Demontagen. Mit der „Bodenreform“ wurden die Eigentumsverhältnisse auf dem Lande sowie die Grundlagen der Agrarproduktion massiv verändert, und Verstaatlichungen umgriffen schon bei der Gründung der DDR 1949 mehr als 60 % der Industrie (André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, Kap. 1). Im Handel gab es anfangs deutlich geringere Eingriffe: Der private Einzelhandel und die sich wieder neu konstituierenden Konsumgenossenschaften dominierten den legalen Handel. Seit November 1948 trat die staatliche Handelsorganisation (HO) an deren Seite. Sie verkaufte Mangelwaren ohne Bezugsscheine zu höheren Preisen, half damit den Schwarzmarkt peu a peu auszutrocknen. HO und Konsumgenossenschaften erhielten einen Großteil der staatlichen Investitionsmittel, entsprechend war nur von ihnen eine Verbesserung der durchweg bestehenden Mangelversorgung zu erwarten (Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001, 25-33).

Selbstbedienung schien der Enge der Kriegszeit angemessen, doch während der Besetzungszeit ging es erst einmal um die Sicherung des täglichen Bedarfs (Marcel Boldorf, Sozialfürsorge in der SBZ/DDR 1945-1953. Ursachen, Ausmaß und Bewältigung der Nachkriegsarmut, Stuttgart 1998, 62-86). Fehlende Waren, vor allem aber fehlende Investitionsmittel ließen an mehr als einen Wiederaufbau des Netzwerkes kleiner und bestenfalls mittlerer Lebensmittel- und Gebrauchswarenläden nicht denken. Wie in Westdeutschland, wo das erste 170 m² große Selbstbedienungsgeschäft am 30. August 1949 von der Konsumgenossenschaft „Produktion“ im Hamburger Stadtteil St. Georg eröffnet wurde, wurde das Kapitel Selbstbedienung auch in der DDR durch eine lokale Einzelinitiative neu begonnen. Während der Hamburger Laden jedoch ein Neubau war, der an schwedische und schweizerische Vorbilder anknüpfte, stand am Anfang in der DDR lediglich eine „Selbstbedienungsecke“. Sie resultierte zudem nicht aus längeren öffentlichen Debatten – wie sie in der Bizone 1947 und 1948 insbesondere in der Fachzeitschrift Konsumgenossenschaftliche Rundschau geführt wurde –, sondern entstand offenbar aus der Rezeption „von sowjetischen und amerikanischen Vorbildern“ (Hausfrauen bedient euch selbst! Man kann sich sein Körbchen selbst füllen, aber jeder bezahlt, Neue Zeit 1951, Nr. 238 v. 19. Juni, 5).

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Pionierbetrieb Konsumverkaufsstelle 150 in Chemnitz (Der Handel 1, 1951, 21)

Im März 1951 lockte die Konsumverkaufsstelle 150 der traditionsreichen Konsumgenossenschaft Chemnitz die Mitglieder mit einem neuartigen Verkaufssystem, materialisiert in einem Selbstbedienungsregal. Darin fanden sich 75 frei verkäufliche Artikel, gegliedert in drei Gruppen: Wasch- und Reinigungsmittel, Nährmittel und kleinere Artikel, wie Backpulver und Gewürze. Alle waren mit Schildern ausgezeichnet, auf denen auch die Preise vermerkt waren. Auch mit einem hygienischen Streifband versehenes Brot konnte aus einem eigens konstruierten Stapelschrank entnommen werden. Mögliches Misstrauen wurde mit Probegläsern begegnet, ebenso gab es eine Kontrollwage. Die Kunden nahmen sich eine Verkaufsschale, legten die Ware hinein und konnten dann zur Kasse gehen. Das Selbstbedienungsregal wurde allseits begrüßt, schien es doch möglich, Verkaufskräfte einzusparen und Kosten zu senken (Hert, Die Käufer greifen selbst in die Regale. Selbstbedienung, Verkaufsmethode der Zukunft?, Berliner Zeitung 1951, Nr. 189 v. 17. August, 5). Auch die Kunden zogen mit – wenngleich entsprechende Aussagen in den Fachzeitschriften immer unter Zensurvorbehalt und Propagandaverdacht stehen: „Das Anstehen hört auf, der Kunde sieht selbst das ganze Sortiment und kann in Ruhe seine Waren aussuchen, ohne daß hinter ihm eine lange Schlange darauf warten muß, bis er fertig bedient worden ist. Zunächst waren natürlich beträchtliche Hemmungen zu überwinden. Der Kunde, gewohnt, über jedem Warenregal ein ‚Bitte nicht berühren‘ zu lesen, getraute sich zuerst nicht so recht an das Selbstbedienungsregal heran“ (D[örthe] S[äckl], Ist Selbstbedienung eine bessere Verkaufsmethode?, Der Handel 1, 1951, 21). In der Konsumgenossenschaft Chemnitz wurden dazu Mitgliederversammlungen und Vertreterbesprechungen abgehalten, zudem erfolgte eine „wirksame Agitation am Selbstbedienungsregal“.

Der Pioniertat des neuartigen Verkaufsregals folgte die Fachdiskussion auf dem Fuße. Am runden Tisch diskutierten Vertreter von Konsumgenossenschaften, Handelsorganisation, der Gewerkschaften und des Demokratischen Frauenbundes im Frühjahr 1951 Chancen und Limitierungen der neuen Verkaufsmethode (D[örthe] S[äckl], Selbstbedienung – am runden Tisch diskutiert, Der Handel 1, 1951, 51-52 – auch für das Folgende). Sie akzeptierten eine dienende Funktion des Handels für die industrielle Entwicklung der DDR. Selbstbedienung legitimierte sich demnach durch Ziele abseits des privaten Konsums: „Durch die Einführung der Selbstbedienung ist es möglich, Verkaufskräfte einzusparen, also die Selbstkosten zu senken und der Produktion Mittel zuzuführen, gleichzeitig aber werden auch Arbeitskräfte frei, die wir in der Produktion dringend benötigen.“ Doch die fehlende Produktion setzte diesem so wichtigen Ziel gleich Grenzen: Grundnahrungsmittel, wie Zucker, Fette und Fleisch, waren immer noch rationiert und nur gegen Bezugsscheine erhältlich. Dies erforderte den Einsatz von verwaltendem Verkaufspersonal. Komplette Selbstbedienungsläden schienen kaum möglich, da ein Gesamtsortiment nicht angeboten werden konnte. Zudem waren die Waren meist nicht verkaufsfähig: Die große Mehrzahl wurde den Läden in großen Chargen oder gar lose geliefert. Selbstbedienung aber erforderte verpackte Waren, wobei es nicht allein um Portionierung und Schutz des Inhalts ging, sondern immer auch um Informationen etwa über den Hersteller oder den Preis. Die Schilder und Probegläser in Chemnitz waren Resultate just dieser Mangelsituation. Die Experten wussten ferner um die unzureichenden Investitionsmittel der Handelsbetriebe. Neubauten waren praktisch ausgeschlossen, nur kleine Umbauten bzw. neue Einzelmöbel schienen möglich. Entsprechend sollten kleinere Läden zu Vorreitern werden. Deren Verkaufsraum sollte möglichst lang sein, eine Art Verkaufsstraße ermöglichen. Mangels spezieller Verkaufsmöbel, insbesondere von Verkaufsgondeln sowie Kühltruhen, konnte man sich so auf Regale konzentrieren. Diese sollten nicht höher als 1,40 bis 1,50 m sein und nicht tiefer als 50-60 cm. Schließlich erörterten die Experten den an sich erwünschten Einsatz von Registrierkassen, „um von der manuellen zur maschinellen Arbeitsweise zu gelangen und so eine geistige Überanstrengung der Selbstbedienungsverkäuferin zu verhindern.“ Doch solche gab es nicht. Einkäufe wurden auf Bestellblocks geschrieben, nur vereinzelt gab es Addiermaschinen. All dies offenbarte gravierende Unterschiede zwischen der theoretisch wünschenswerten Selbstbedienung und den realen Möglichkeiten des DDR-Handels. Hinzu kam ein grundsätzliches Misstrauen gegen frei agierende Käufer. Der direkte Zugang zur Ware könne Diebstähle erleichtern. Käufererziehung schien daher notwendig, „Bewußtseinsbildung der Bevölkerung auf breiter Grundlage“. Die Chemnitzer Selbstbedienungsecke lenkte im Frühjahr 1951 den Blick auf die immensen Vorarbeiten, erforderlich für das schnelle und direkte Einkaufen. Weitere Beispiele seien zu schaffen, an denen man lernen könne, die Aufgaben praktisch zu schultern.

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Selbstbedienungsregale für Industriewaren in Dresden 1951 (Der Handel 1, 1951, 190)

Im Juni 1951 folgten gleich mehrere neue Selbstbedienungsverkaufsstellen. Die Handelsorganisation öffnete einen Laden in Magdeburg, der einerseits bis 22 Uhr geöffnet hatte, anderseits sogenannten Schnellverkauf anbot, also die Vorbestellung von Waren, die dann zusammengestellt wurden und nur noch abgeholt werden mussten (Einkaufsmöglichkeit bis 22 Uhr, Neue Zeit 1951, Nr. 128 v. 7. Juni, 6; Selbstbedienung in Magdeburger HO, Berliner Zeitung 1951, Nr. 143 v. 24. Juni, 7). Beide Maßnahmen dienten „Werktätigen“, insbesondere Arbeiterinnen, waren also wieder Ausdruck der Produktionsorientierung der Leitungskader. Längere Ladenöffnungszeiten, kürzere Wartezeiten und ein beschleunigter Einkauf waren sinnvolle Maßnahmen, um die gängige Doppelbelastung weiter tragen zu können. Die Handelsorganisation richtete parallel in Dresden die erste Selbstbedienungsverkaufsstelle für sogenannte „Industriewaren“ ein, also dauerhafte Gebrauchsgüter, vornehmlich Haushaltswaren, Einrichtungsgegenstände, Textilien und Lederwaren (Erstes Kundenfest der HO, Neue Zeit 1951, Nr. 128 v. 13. Juni, 6). Auch die Konsumgenossenschaften weiteten ihr Selbstbedienungsangebot im gleichen Monat weiter aus, etwa durch eine weitere Verkaufsstelle in Leipzig-Gohlis.

Die (ver)öffentlich(t)e Debatte war Mitte 1951 zwar vorrangig rational ausgerichtet, betonte den Rationalisierungseffekt der neuen Verkaufsmaßnahmen. Wie nicht anders zu erwarten, wurden sie als Beitrag zum Aufbau des Sozialismus interpretiert: „Auf allen Gebieten des wirtschaftlichen Lebens werden neue, verbesserte Arbeitsmethoden eingeführt, so daß auch der Handel jetzt mehr und mehr bemüht sein muß, mit der steilen Entwicklung unserer Industrie Schritt zu halten“ („Bitte, bedienen Sie sich selbst!“, Neue Zeit 1951, Nr. 205 v. 9. September, 5). Zugleich aber wurde nun auch der utopische Gehalt der Selbstbedienung sichtbar. Sie wurde als Schritt in eine neue Welt des Einkaufens und des Konsums präsentiert: „Im Handumdrehen wandern ein Paket Waschpulver, eine Tube Zahnpasta und eine Tüte Erbsen in den Korb, und zuletzt entnimmt die hausfraulich geübte Hand einem Spezialregal ein Brot der gewünschten Sorte, ohne auch nur im geringsten mit den darunter liegenden Broten in Berührung zu kommen. Nach einer kleinen Rechtswendung kommt man dann vor eine junge Dame zu stehen, die mit liebenswürdiger Geste den gefüllten Korb in Empfang nimmt, ein-, zwei-, dreimal auf die Kassenknöpfe drückt und schließlich das Gekaufte behutsam in die Markttasche der Kundin legt.“ Einkaufen konnte so einfach sein, keine Mühsal mehr: „Wenn man’s nicht selbst gesehen hat, glaubt man gar nicht, wie schnell und mühelos man sich selbst bedienen kann“ (Hausfrauen bedient euch selbst! Man kann sich sein Körbchen selbst füllen, aber jeder bezahlt, Neue Zeit 1951, Nr. 138 v. 19. Juni, 5 (beide Zitate)). All dies war noch eingebettet in die Präsentation der Methode, die Erziehung der Hausfrau zur konsumtiven Tat. Selbstbedienung schien jedoch ein Abglanz des besseren Lebens zu sein, das die Werktätigen nach dem Aufbau des Sozialismus planmäßig genießen würden.

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Eine Stadt, zwei Systeme: Links SB-Verkaufsregale der HO-Verkaufsstätte Andreasstraße 44, rechts ein Blick in den komplett auf Selbstbedienung umgestellte Konsum-Verkaufsstelle Elsenstraße 83 in Berlin-Treptow (Der Handel 1, 1951, 223)

Die neue Verkaufsmethode wurde in den Industriestädten Sachsens und Sachsen-Anhalts erstmals eingesetzt, nicht im vermeintlichen „Schaufenster“ der DDR, dem umkämpften Berlin. Doch auch dort etablierte sich im August 1951 die neue Form des Absatzes. In der Friedrichshainer Andreasstraße 44 eröffnete die Handelsorganisation ein erstes Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung (Wohnhäuser aus Trümmerschutt, Neue Zeit 1951, Nr. 191 v. 19. August, 7). Die Presseberichterstattung verwies im üblichen überbordenden Stolz, dass man diese Methode in der DDR „schon eine ganze Weile“ kenne. Es handelte sich um einen kleinen Laden mit Seitenregalen, gruppiert um einen Mittelgang: „Da liegen sie, sauber, appetitlich und übersichtlich aufgebaut die Kekse mit Marmorfüllung in Zellophanbeuteln, Datteln, Bonbons, Konfekt, in langer Reihe Mehl, Hülsenfrüchte, Gries, Schnellgerichte in Büchsen, Oelsardinen, nein, es läßt sich nicht alles aufzählen. Nur einige Artikel, wie Kuchen, Brot, Brötchen, Käse und Wurst, sind noch von der Selbstbedienung ausgenommen. ‚Bitte, bedienen Sie sich selbst!‘ Nicht zu übersehen ist das große Schild, das Hausfrauen und kauflustige Junggesellen dazu auffordert, selbst in die Regale zu greifen. Auch die freundliche Verkäuferin nötigt immer wieder dazu, denn der Berliner, sonst keineswegs schüchtern, muß sich erst an diese Neuerung gewöhnen, die so völlig auf Vertrauen zur Kundschaft aufgebaut ist.“ Man spürt die Freude am Neuen, spürt zugleich den Wunsch nach Umsatzsteigerung und damit Planerfüllung („Bitte, bedienen Sie sich selbst!“, Neue Zeit 1951, Nr. 205 v. 9. September, 5). Und schon kam die Rede auf ein ähnliches, bald in Treptow geöffnetes Konsum-Geschäft, folgte die Aussicht auf weitere Selbstbedienungsgeschäfte der Handelsorganisation.

Auch abseits des damals als „Groß-Berlin, Demokratischer Sektor“ bezeichneten sowjetischen Sektors des unter Viermächtestatus stehenden Berlins ging der Ausbau der neuen Verkaufsmethode weiter. Die Konsumgenossenschaften schritten voran, die Handelsorganisation folgte, so im sächsischen Annaberg, im mecklenburgischen Güstrow oder im brandenburgischen Forst. Doch statt uns weiter an den kleinen Neuerungen zu erfreuen, sollten wir uns doch näher mit deren Entstehung befassen. In Chemnitz gab es eine lokale Initiative – und ein Regal war rasch gezimmert. Ähnlich war das in Forst, wo sich der einschlägige zehn Meter lange und 63 m² große Selbstbedienungsladen in der Stadtmitte befand. Dort hatten sich alle HO-Beschäftigten am Aufbau beteiligt, hatten also ohne Salär gearbeitet. Das war in der damaligen DDR recht üblich, wenngleich es sich vielfach nicht um völlig freiwillige Sonderschichten handelte. Die Investitionskosten für den neuen Laden lagen dadurch bei ganzen 30 DM. Eine Registerkasse war dafür nicht zu bekommen, doch man experimentierte. So etwa mit leicht im Raum stehenden Verkaufsregalen, die von hinten befüllt werden konnten – wie schon die Ratio-Läden der Edeka seit 1939 (Hert, 1951, 5). Dennoch berichtete die Presse hier, wie auch an anderen Orten, über deutliche Umsatzsteigerungen und Arbeitsplatzeinsparungen.

Und doch: Die erste Welle der Selbstbedienung in der DDR scheiterte spätestens 1952. Zum einen wurden die ambitionierten Ausbaupläne – in Leipzig allein etwa zehn Konsum-Geschäfte mit Selbstbedienungsecken – nicht in die Tat umgesetzt. Zum anderen fand die neue Verkaufsform nach kurzer Zeit nicht mehr genügend Resonanz. 1952 waren in Chemnitz von den sechs Konsum-Geschäften mit Selbstbedienungsecken nur noch drei übrig. Herbert Poller, Initiator dieser Neuerung, vermisste „Schwung und Begeisterung“ der Anfangsphase. Des vermeintlichen Zeitdruckes zum Trotz optierten die Käufer nach einer ersten Probephase wieder für die tradierte Bedienung. Hausfrauen frequentierten die Läden mehrfach täglich, auch um zu sehen, ob neue Ware eingetroffen sei. Warten war zeitraubend, erlaubte aber auch einen kleinen Schwatz. Parallel sperrte sich ab und an auch das Verkaufspersonal: „Die vornehmlich älteren Verkäuferinnen fürchteten, überflüssig zu werden und ihre Arbeit zu verlieren“ (Etwas über die Selbstbedienung und neue Arbeitsmethoden, Die Waage 1952, 246-247, hier 246). Ähnliche Widerstände wurden aus Dresden, Erfurt und Magdeburg berichtet (A. Marga, Wie steht es mit der Selbstbedienung?, Der Handel 2, 1952, 421). Aus der Berliner Andreasstraße hieß es prägnant: „Viele Käufer trauten sich nicht, die Ware selbst aus den Regalen zu entnehmen. Einige lachten bedrückt und verschämt, als sie dazu aufgefordert wurden, andere gewöhnten sich langsam daran“ (Wie hat sich die Selbstbedienung bewährt?, Berliner Zeitung 1953, Nr. 21 v. 25. Januar, 6). Selbstbedienung setzt Warenvertrauen voraus, doch dieses bestand in der damaligen DDR nur ansatzweise.

Für die Handelskader war all dies ein Steilpass, erschien ihnen die Einführung der Selbstbedienung doch weniger als technisches, denn als erzieherisches Problem: „Entscheidend ist, daß man die Kundschaft an das ‚Selbstbedienen‘ gewöhnt“ (Die Diskussion um die Selbstbedienung geht weiter, Die Waage 1952, 277). Doch derartige „demokratische Bewußtseinsbildung“, also etwa Einkauf unter der Prämisse gesamtwirtschaftlicher Rationalisierung, war offenkundig zu kurz gegriffen. Die Defizite waren auch strukturell bedingt, war das Sortiment doch zu klein, fehlten allüberall Tüten, Cellophan und ansprechende Verpackungen. Das Verkaufspersonal wies eine hohe Fluktuation auf, ständig müsste man „immer wieder von vorn anfangen“ – so nochmals der überzeugte Neuerer Herbert Poller (Etwas über die Selbstbedienung und neue Arbeitsmethoden, Die Waage 1952, 246-247, hier 247). Ebenso wichtig war, dass sich das Kleinklein der Einzelinitiativen schlicht nicht rechnete. Die anfangs hochschnellenden Umsätze pendelten sich rasch auf nur leicht überdurchschnittliche Werte ein, Verkaufskräfte konnten nicht eingespart werden. Die meisten der 1951 gegründeten Selbstbedienungsgeschäfte stellten ihren Betrieb spätestens 1952 wieder ein, auch wenn es keine Rückführung auf null gab.

Mangelversorgung und Reorganisation 1952-1955

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Ein Vergleich von 1948 und 1952: Propagandakarikatur zum Neujahrsfest (Leipziger Volkszeitung 1953, Nr. 1 v. 1. Januar, 8)

Hier gilt es den Blick neuerlich zu weiten: Zu dieser Zeit geriet die DDR in eine existenzgefährdende Versorgungskrise, die im Spiegel als drohende „Hungersnot“ beschrieben wurde (Schweinemord, Der Spiegel 1953, Nr. 2 v. 14. Januar, 12-13, hier 12). Karl Hamann (1903-1973), Minister für Handel und Versorgung und Co-Vorsitzender der Liberaldemokraten, wurde im Dezember 1952 verhaftet, und durch den linientreuen SED-Politiker Curt Wach (1906-1974) ersetzt. Hamann wurde in typisch stalinistischer Manier zur Last gelegt, die Alltagsversorgung sabotiert und „Schädlinge“ bzw. „kapitalistischen Elemente im Handel“ geduldet zu haben. Die sich eklatant verschlechternde Grundversorgung war allerdings unmittelbare Folge der im Juli 1952 beginnenden Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der Gründung der ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Die Krise spitzte sich 1953 zu und mündete in den Volksaufstand vom 15. bis 17. Juni, obwohl mit dem Neuen Kurs die strikte Durchsetzung einer sozialistischen Entwicklungsdiktatur kurz zuvor gelockert worden war. Der Westen reagierte hierauf nicht, doch verdoppelte sich die Zahl der Übersiedler 1953 auf mehr als 330.000 Personen und der Berliner Senat verteilte mit Unterstützung der USA mehr als 5,5 Millionen Lebensmittelpakete an DDR-Bürger (Michael Lemke, Büchsenmilch als politische Waffe? Die westliche Lebensmittelaktion nach dem 17. Juni 1953 als innerdeutsche Systemkonkurrenz, in: Heiner Timmermann (Hg.), Agenda DDR-Forschung. Ergebnisse, Probleme, Kontroversen, Münster 2005, 133-157).

Die Systemkrise 1953 hatte schon zu Jahresbeginn zu konsumtiven Zugeständnissen geführt, von denen der Handel an sich hätte profitieren sollen. Im Januar fasste das Politbüro der SED dessen Aufgaben neu. Es gelte, „den Lebensstandard ständig zu heben und allen Werktätigen ein besseres und schöneres Leben zu schaffen.“ Pointiert hieß dies: „Mit der ideologischen Unterschätzung des Handels ist Schluß zu machen“ (Zu den Fragen von Handel und Versorgung, Leipziger Volkszeitung 1953, Nr. 22 v. 27. Januar, 3) – das hatte auch der Chemnitzer Herbert Poller bereits 1952 gefordert. Die Folge war eine Reorganisation von Handel und Versorgung: „Im Vordergrund müssen in Zukunft die individuellen Wünsche der Bevölkerung stehen“ (Kommuníqué des Ministerrats, Leipziger Volkszeitung 1953, Nr. 29 v. 4. Februar, 2).

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Kontinuität auf niedrigem Niveau: Selbstbedienung im HO-Geschäft Dimitroffstraße 33 (heute Danziger Straße) (Berliner Zeitung 1953, Nr. 21 v. 25. Januar, 6)

Ein neuer Start: Wissenstransfer und Modellgeschäfte 1956-1957

Dies bedeutete jedoch vorrangig mehr Waren zu teils niedrigeren Preisen – also eine gesicherte Grundversorgung. Es sollte allerdings bis 1958 dauern, ehe der private Verbrauch die Vorkriegswerte erreichen und dann auch überschreiten sollte. Während der Reorganisation der Institutionen war an einen Ausbau der Selbstbedienung nicht zu denken. Die Fachzeitschrift „Der Handel“ veröffentliche weder 1953 noch 1954 einschlägige Artikel; in der Presse wurde die Verkaufsmethode nur selten erwähnt (und dann mit Bezug zur Schutzmacht, so etwa Erleichtertes Einkaufen in Moskau, Neues Deutschland 1953, Nr. 248 v. 22. Oktober, 5). Dieser relative Bann endete 1955. „Der Handel“ brachte zuerst kleine Notizen über Selbstbedienung in der UdSSR, berichtete dann auch über SB-Läden in der Bundesrepublik. Die Rezeption erfolgte vorsichtig, da die Verkaufsmethode im Westen einzig der Profitmaximierung und der Entlassung von Beschäftigten dienen würde. Doch „unter sozialistischen Bedingungen“ (Hat die Selbstbedienung als Handelsform eine Zukunft?, Der Handel 5, 1955, Nr. 16, 18) seien die Vorarbeiten eine Diskussion wert. Im Mittelpunkt stand dabei vornehmlich der rasche Ausbau bei den westdeutschen Konsumgenossenschaften (Der Handel 5, 1955, Nr. 20, 17). In der DDR begannen nun jedenfalls vereinzelte Experimente, u. a. im Konsum-Warenhaus Plauen (Der Handel 5, 1955, Nr. 17, 14).

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Anknüpfen an den Westen auf kleinem Niveau: Selbstbedienungsladen der Konsumgenossenschaft Stuttgart 1951 – reproduziert in der DDR-Fachzeitschrift „Der Handel“ 1956 (Der Verbraucher 5, 1951, 135)

Derartiges Vorpreschen wurde von den Handelsexperten jedoch nicht befürwortet. Ja, die betriebs- und versorgungswirtschaftlichen Vorteile der Selbstbedienung seien offenkundig, doch eine breitere Einführung erfordere mehr Sachkunde (J[ulius] Mader, Einkaufsbummel in einem Stuttgarter SB-Laden, Der Handel 6, 1956, Nr. 3, 8). Diese konnte einerseits aus einer genauen Analyse der Erfahrungen des Auslandes resultieren. Dabei blickte man durchaus auf das sozialistische Ausland. Wiederholt verwies man auf den Einzelhandel der Tschechoslowakei, wo nicht nur die Selbstbedienung schneller vorangekommen war (60 SB-Geschäfte Ende 1955), sondern auch der Automaten- und Schnellverkauf (Im Handel kommt ein erfreulicher Wandel, Neue Zeit 1956, Nr. 63 v. 14. März, 7). Doch auch dort kamen noch 90 Prozent aller Lebensmittel lose in den Handel, darunter auch Butter und Süßwaren. Hinweise auf die „in Polen vorhandenen und bei uns nur völlig ungenügend existierenden Selbstbedienung“ (Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1956, Nr. 189 v. 15. August, 5) unterstrichen aber den Handlungsbedarf im vermeintlich am weitesten entwickelten Staat des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Erwartungsgemäß wurden auch sowjetische Entwicklungen immer wieder thematisiert, wo insbesondere die großen Warenhäuser mit Selbstbedienungsabteilungen experimentierten (Neue Erfahrungen mit der Selbstbedienung, Der Handel 6, 1956, H. 6, 8-9).

Die Erfahrungen des kapitalistischen Westens wurden mit großem Interesse studiert, insbesondere die schwedischen Konsumgenossenschaften galten als Vorbild (Auch von der Selbstbedienung in Schweden können wir lernen, Der Handel 6, 1956, H. 9, 30). Stärker noch als für den Handel galt dies für die Gaststätten, die in der DDR größtenteils von der Handelsorganisation sowie den Konsumgenossenschaften betrieben wurden (Eine Lanze für die Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1956, Nr. 124 v. 31. Mai 1956, 6). Seit 1956 entstanden etwa „Schnellgastronome“. Der in Halle/S. war auf 2000 Personen ausgelegt, Verkaufsfächer ersetzten hier die Servicekräfte, senkten die Kosten für den Betrieb (Unliebsames Warten vorbei, Berliner Zeitung 1956, Nr. 108 v. 10. Mai, 2). Ideologisch sicherte man derartige Wissenstransfers damit ab, Techniken im Sozialismus zu neuen Höhen führen zu können: „Notwendig ist auch, die zahlreichen Erfahrungen des westlichen Auslandes anzuwenden, nachdem sie von dem Schlamm der kapitalistischen Handelsmanieren gereinigt sind“ (Jiri Aron, Die Selbstbedienung im tschechoslowakischen Handel, Der Handel 6, 1956, H. 12, 10-12, hier 12). Doch abseits derartiger ideologischer Aussagen versuchte man die internationalen Veränderungen einzufangen und für die eigenen Belange zu nutzen: „Es ist erstaunlich, wie schnell und erfolgreich sich in Europa rund um unsere Republik seit den letzten neun Jahren die Selbstbedienung im Lebensmitteleinzelhandel durchgesetzt hat“ (J[ulius] M[ader], Unsere internationale Rundschau: Für Sie in Selbstbedienungsläden geblickt, Der Handel 6, 1956, H. 16, 24-25, hier 24).

Westdeutsche Erfahrungen wurden wiederholt herangezogen, doch von einer einseitigen Fixierung auf den großen Bruder im Westen – die DDR-Bürger lagen 1958 bei ca. 60 % des privaten Verbrauchs (Steiner, 2004, 102) – kann nicht die Rede sein. Gleichwohl finden sich in der Fachliteratur Berichte über die für die westdeutsche Entwicklung wichtige Essener Lehrschau „Moderne Verkaufsstätte“ oder aber Informationen über die neuesten Trends im SB-Ladenbau (J[ulius] M[ader], Aus dem Ladenbau in Westdeutschland, Der Handel 6, 1956, H. 17, 8-9). Zudem waren Studienreisen nach West-Berlin bzw. der Bundesrepublik schon aus sprachlichen Gründen relativ einfach (Landsman, 2005, 187). Festzuhalten ist aber auch eine über ideologische Differenzen hinausgehende Interessenidentität der Handelsexperten. Als die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels 1956 die Parole ausgab, „Das Ziel aller Rationalisierungsbestrebungen ist der Selbstbedienungsladen“ (W[erner] Prendel, Die Moderne Verkaufsstätte, Der Handel 6, 1956, H. 9, 11-12), so traf dies die Gemütslage auch zahlreicher DDR-Repräsentanten.

Der Wissenstransfer mündete zweitens in eine kleine Zahl von Modellgeschäften, auf deren Erfahrungen dann ein allgemeiner Ausbau der Selbstbedienung gründen sollte. Die Federführung lag beim Ministerium für Handel und Versorgung, den Konsumgenossenschaften und der Handelsorganisation, doch weitere Ministerien leisteten Flankenschutz. Im Ministerium für Allgemeinen Maschinenbau wurde 1956 nicht nur an neuen Heiz- und Küchengeräten gearbeitet, sondern auch die Probleme des Einkaufs behandelt. Eine Arbeitsgruppe, natürlich, beschäftigte sich „mit der schrittweisen Einführung der Selbstbedienung, der besseren Verpackung und des Automatenverkaufs“ – wobei man wissend nachschob, dass dies zunächst nur „Zukunftsmusik“ (Ziel: Billige Küchengeräte von Weltniveau, Berliner Zeitung 1956, Nr. 172 v. 26. Juni, 5) sei.

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Der Reiz des Neuen: Grünes Neonlicht und neuartige Schaufenster im Hallenser SB-Laden (Der Handel 6, 1956, H. 13, 7)

Den ersten Schritt machten 1956 abermals die Konsumgenossenschaften. Abermals entstand ein Modellladen in einer industriell geprägten Großstadt. Das am 8. Juni 1956 in Halle/S. eröffnete und komplett neu gestaltete Selbstbedienungsgeschäft besaß 150 m² Verkaufsfläche, hatte ein Sortiment von fast 700 Artikeln und war von 8 bis 20 Uhr durchgehend geöffnet (J[ulius] Mader, Neue Konsum-Verkaufsstätte für eilige Kunden, Der Handel 6, 1956, H. 13, 6-7). Platziert in der im Stadtzentrum gelegenen Klement-Gottwald-Straße (heute Leipziger Straße), verband es englische, sowjetische, schwedische, finnische, vor allem aber hamburgische Erfahrungen mit der Versorgungsrealität der DDR. Einkauf schien hier leicht zu sein, auch Konsumfreude: „Durch einen geräumigen Eingang, der von dem Ausgang abgetrennt ist, betreten wir den durch Neonlicht taghell erleuchteten Laden. Ein freundliches junges Mädchen händigt uns einen Korb aus, den jeder Kunde erhält, auch wenn er nicht die Absicht hat, einzukaufen. Links und rechts liegen auf Regalen, sehr übersichtlich angeordnet, griffbereit die mit ihren Verkaufspreisen gekennzeichneten verpackten Waren. Gleichsam im Vorübergehen greift man zu, wie von selbst füllt sich der Korb“ (Wie von selbst füllt sich der Korb, Neue Zeit 1956, Nr. 175 v. 29. Juni, 5). Das sechzehnköpfige Planungskollektiv hatte zuvor durch Presseberichterstattung und Handzettel sichergestellt, dass die Käufer wussten, was sie erwarten konnten. Registrierkassen gab es noch nicht, wohl aber vier Addiermaschinen, die auch einen für die Rückvergütung wichtigen Beleg ausdruckten. Zwei Kühltruhen bargen Käse, Butter, Margarine und Feinfrostartikel, also Tiefkühlkost. Der Fortschritt gegenüber den Läden der frühen 1950er Jahre war offenkundig, dennoch aber handelte es sich bei dem neuen Laden um einen Kompromiss: Am Ende des Verkaufsraumes befanden sich zwei personalintensive Bedienungstheken, eine für bezugsscheinpflichte Waren, eine für Fleischprodukte. Insgesamt arbeiteten 20 Personen in zwei Schichten für die Versorgung der Werktätigen. Diese begrüßten die neue Verkaufsstelle, forderten aber zugleich mehr: Einerseits Schnellverkauf tafelfertiger Gerichte, anderseits mehr Auswahl. Die Fachdiskussion konzentrierte sich auf eher technische Details, so die auf den Verpackungen fehlenden Verkaufspreise, aber auch die für einen modernen Verkaufsraum erforderlichen Verkaufsmöbel aus Leichtmetall, Glas und Kunststoff. Weitere Tests waren jedenfalls geplant: In Halle etwa ein nach westdeutschen Vorbildern einzurichtender Tempoladen sowie Selbstbedienungsinseln für Industriewaren in einem Kaufhaus.

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Blick in die Konsum-Selbstbedienungsverkaufsstelle in Halle/S. (Der Handel 6, 1956, H. 13, 7)

Doch das war in der Tat noch Zukunftsmusik, Vorrang hatte die Versorgung mit Lebensmitteln. Das galt auch für Ost-Berlin, eine bisher in den tradierten Formen des Verkaufens verharrende und mit Hauptstadtanspruch versehene Teilmetropole. Selbst in der so prestigeträchtigen Stalinallee – heute Karl-Marx-Allee – gab es 1956 keinen SB-Laden. Lediglich ein HO-Kaufhaus offerierte Teil-Selbstbedienung in seiner Herrenausstattungsabteilung (Kein Hosenbein ist mehr zu lang, Neues Deutschland 1956, Nr. 130 v. 1. Juni, 3). Das sollte sich ändern und der neu geplante Wohnkomplex Friedrichshain bot dazu eine gute Gelegenheit. Der Chefarchitekt des Magistrats, Hermann Henselmann (1905-1995), integrierte einen großen Selbstbedienungsladen als Versorgungszentrum der zentrumsnahen Hochhaussiedlung (Gedanken zu einem Entwurf, Neues Deutschland 1956, Ausg. v. 24. März, 11). Der am 15. Dezember eröffnete Konsum-Selbstbedienungsladen entstand aber an der Ecke Stalinallee und Fruchtstraße (heute Straße der Pariser Kommune). Das entsprach nicht den ursprünglichen Planungen, auch die Sozialeinrichtungen des Wohnkomplexes wurden zurückgestellt. Der neue Laden war kein Neubau, sondern eine fünf Wochen lang umgebaute Verkaufsstelle. Er war mit dem Hallenser SB-Laden vergleichbar, war mit drei Kassen aber etwas größer ausgelegt (Selbstbedienung auch beim Konsum, Neues Deutschland 1956, Nr. 299 v. 16. Dezember, 6). Während der Weihnachtsfeiertage besuchten ihn täglich 1800 Käufer.

Neue Maßstäbe setzte in Ost-Berlin jedoch die Handelsorganisation, deren Flagschiffladen bereits kurz vor dem kleineren Modelladen der Konsumgenossenschaften an der sogenannten Paradestrecke von Wandlitz nach den Partei- und Regierungsinstitutionen in der Weißenseer Klement-Gottwald-Allee 100 eröffnete worden war (für weitere Abbildungen s. Maritta Adam-Tkalec, Berlin in historischen Aufnahmen. Der erste Selbstbedienungsladen der DDR, Berliner Zeitung 2018, Ausg. v. 5. April, auch wenn die Aussage des Untertitels irreführend ist). Schon im September 1956 drangen erste Details über den neuen Selbstbedienungsladen an die Öffentlichkeit. Bis zur Enteignung war das Ladenlokal von einem zur Karstadtgruppe gehörenden Einheitspreisgeschäft genutzt worden, nun war ein kleines Einkaufsparadies mit sieben Kassen geplant. Die Preise lagen immer noch höher als im Konsum, doch dafür sollte das Angebot umfassend sein. Auch in der Klement-Gottwald-Allee waren jedoch noch Bedienungstheken integriert (Mit kleinem Wagen von Regal zu Regal, Neue Zeit 1956, Nr. 21 v. 9. September, 8). Kurz vor Weihnachten war es dann soweit: Neueröffnung! Schon lange zuvor Kundenauflauf. Türen auf, Blumenstrauß an die erste Kundin. Drinnen alles so wie in Halle, doch größer, viel größer. Hier konnte wahrlich mit dem Auge gekauft werden. Die hier neben den üblichen Körben verfügbaren Einkaufswagen konnten nun genutzt werden: „Das Warensortiment dieser Verkaufsstelle ist so umfangreich, wie wohl kaum in einem anderen Geschäft Berlins. Denn angefangen vom frischen Fleisch über Geflügel, Nährmitteln, Backwaren, Kaffee, den man gleich mahlen kann, den verschiedensten Sorten von Weinen – auch halbe Flaschen werden angeboten –, bis zu Rauchwaren erhält man einfach alles. […] Was hier demonstriert wird, ist wahre Verkaufskultur“ (Hier bedient sich jeder selbst, Neue Zeit 1956, Nr. 292 v. 14. Dezember, 6). Sogar Südfrüchte gab es am 13. Dezember, dem Eröffnungstag. 6000 Kunden wurden während des Feiertagstrubels täglich gezählt (Einkaufen im Vorübergehen, Neues Deutschland 1957, Nr. 12 v. 13. Januar, 6).

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Eine neues Raumerlebnis: HO-Selbstbedienungsladen in Berlin-Weißensee (Neues Deutschland 1957, Nr. 12 v. 13. Januar, 6)

Kurz nach der Eröffnung der beiden Berliner Modellläden wurde ein vorläufiges Resümee gezogen. Die Warenversorgung funktionierte, der Kundenzuspruch beider Läden pendelte sich bei täglich 4000 Käufen ein. Diebstähle gab es nur wenige, auch dank zahlreicher Spiegel. Die Kühltechnik arbeitete zufriedenstellend, ebenso die Kassen. Reserven waren jedoch nicht vorhanden, so dass Unsicherheit blieb. Schwerwiegender war, dass die anvisierten Rationalisierungseffekte nicht erzielt wurden. Die vom Kommunalen Großhandel gelieferten Verpackungen hatten keine Bilder und Beschriftungen, Verzögerungen und Rückfragen waren die Folge. Die Verkaufsarbeit konzentrierte sich auf das Kassieren und die Neuverpackung der meisten Waren. Im SB-Konsum Stalinstraße mussten von 80.000 angelieferten Warenposten 70.000 nochmals bearbeitet werden (Einkaufen im Vorübergehen, Neues Deutschland 1957, Nr. 12 v. 13. Januar, 6). In einem launigen Artikel über die „Verpackungsmaterialkrankheit“ im Konsum Friedrichshain wurden die Finger in die Wunden gelegt: „Es ist verständlich, daß es noch geraume Zeit dauern wird, ehe sämtliche Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Verpackung beseitigt werden können. Es geht ja nicht nur um Rohstoffbeschaffung, sondern auch um Normung des Verpackungsmaterials und Entwickeln neuartiger Behälter, um gründliche Abstimmung zwischen Produktion und Handel darüber, wer was und inwieweit verpackt, es geht um die Produktion neuer Abpack- und Schließmaschinen. Doch jetzt ist es höchste Zeit, wenigstens bestimmte, schon jahrelang vorhandene Unzulänglichkeiten schnellstens zu beheben, so das Fehlen von Tüten mit Papiereinlagen, von Säcken und Behältern aus festerem Material“ (Verpackungskrankheit, Berliner Zeitung 1957, Nr. 34 v. 9. Februar, 5). Selbst Cellophan, gängiges Verpackungsmaterial seit den späten 1920er Jahren, war nicht in ausreichender Menge zu erhalten. Anspruch und Wirklichkeit, zukunftsgewandte Verheißungen und die Realitäten einer Mangelgesellschaft trafen hart aufeinander. Parallel zerfiel schon die Leuchtreklame in der Stalinallee. Von den 114 Neonlichtern waren fast die Hälfte ganz oder teilweise ausgefallen (Zwischen ‚obelhaus‘, ‚sum‘ und ‚aren‘, Neue Zeit 1957, Nr. 105 v. 7. Mai, 8). Derartige Informationen wurden nun jedoch gesammelt und in Planungsszenarien integriert. Die noch rudimentären Daten über Absatz, Sortimente und Umsätze boten die Möglichkeit für einen Aufbau von Selbstbedienungssortimenten auf breiter Front.

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Bauarbeiten am Kaufhaus Fix 1957 (l.) und Weihnachtswerbung 1958 (Berliner Zeitung 1957, Nr. 242 v. 16. Oktober, 8; Neue Zeit 1958, Nr. 286 v. 7. Dezember, 6)

Dabei war der Lebensmittelsektor noch relativ überschaubar, verglichen zumindest mit dem weiten Feld der Industriewaren, der später so genannten tausend kleinen Dinge. Um dieses näher zu erkunden wurde schließlich als vierter Modellladen am 5. November 1957 das Konsum-Kaufhaus Fix für Industriewaren in der Schönhauser Allee, Ecke Milastraße im Bezirk Prenzlauer Berg eröffnet. Über die Presse wurden die Pläne frühzeitig veröffentlicht, die Bauarbeiten an der 40 Meter langen und von 13 Schaufenstern geprägten Front weckten Neugier. Auf 300 m² Verkaufsfläche wurden „Erzeugnisse der Haushaltschemie, Toiletteartikel, Bestecke, Haushaltsgeräte, Kunststoffartikel, Glas- und Porzellanwaren, Holz- und Bürstenwaren sowie Gummiartikel“ per Selbstbedienung, zudem „Kurzwaren, Kleintextilien, Parfümerieartikeln, Bijouteriewaren und Uhren“ im Tempoverkauf angeboten (Selbstbedienung auch bei Industriewaren, Berliner Zeitung 1957, Nr. 248 v. 23. Oktober, 7). Angepriesen als eine „bisher einmalige Einrichtung in Deutschland“ (Fix ins Kaufhaus „Fix“, Neues Deutschland 1957, Nr. 252 v. 24. Oktober, 6), nahm man gar für sich in Anspruch mit dem Kaufhaus Fix den Selbstbedienungspionier Schweden zu übertreffen. Weltniveau in Ost-Berlin: Höhere Rentabilität, weniger Verkaufskräfte (im Betrieb arbeiteten nur 22 Personen) sowie schnellerer Einkauf, das waren die rationalen Gründe für den neuen Modellladen, der die bisherigen Erfahrungen mit vielen Selbstbedienungsecken und -abteilungen in der DDR vorgab zu berücksichtigen (Fix zu ‚Fix‘, Berliner Zeitung 1957, Nr. 259 v. 5. November, 5). Die Geschäftsöffnung folgte den gängigen Formen, flotte Musik und pullernde Heizungen luden ein. Rasch danach eine erste Evaluation, abermals eine geringe Zahl von Diebstählen, vor allem aber Akzeptanz des neuen SB-Ladens bei Käufern und Verkäuferinnen: „Die neue Art des Verkaufens war ungewohnt und erfuhr bei so mancher Kollegin Skepsis, sogar Abneigung. Aber heute hat sich schon fast alles eingespielt, und jeder steht seinen Mann“ – auch die Frau… (Gisela, Wie geht es mit Kaufhaus „Fix“, Neues Deutschland 1957, Nr. 291 v. 10. Dezember, 6).

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Kontinuität lokaler Initiativen: Konsum-Selbstbedienungsladen im mecklenburgischen Neustrelitz (Der Handel 6, 1956, H. 14, 24)

Die vier Musterläden in Halle/S. sowie Ost-Berlin standen im Mittelpunkt der öffentlichen und insbesondere der fachlichen Diskussion über die allgemeine Einführung der Selbstbedienung in der DDR. Doch diese Leuchtturmprojekte waren umkränzt von zahlreichen weiteren lokalen Initiativen vornehmlich lokaler Konsumgenossenschaften. Regelmäßig verwies man dabei stolz auf die geringen Anschaffungskosten. In Neustrelitz lackierte man dazu in Eigeninitiative eine alte Ladeneinrichtung um, renovierte den Verkaufsraum und fertig war ein neuer 64 m² großer Selbstbedienungsladen. Dies zählte, mochten auch Addiermaschinen fehlen und das Sortiment mangels Vorverpackung beschränkt sein (In Neustrelitz setzte sich das Selbstbedienungssystem durch, Der Handel 6, 1956, H. 14, 24-25). Auch in Sachsen nahm die Zahl der SB-Geschäfte wieder rasch zu (Selbstbedienung, Neues Deutschland 1956, Nr. 234 v. 30. September, 3), und die Konsumgenossenschaften verpflichteten sich 1957 in allen vierzehn DDR-Bezirken zumindest einen SB-Laden für Industriewaren einzurichten (Selbstbedienung im Vordergrund, Berliner Zeitung 1957, Nr. 10 v. 12. Januar, 5).

Auf dem Weg in die sorgende Diktatur 1957-1958

Die Musterläden fügen sich in den Rahmen der allgemeinen Entwicklung der DDR. Die Versorgungslage hatte sich stabilisiert, die Wirtschaft wuchs nicht allein in den weiterhin im Vordergrund stehenden Grundstoff- und Investitionsgüterindustrien. Die Politik versprach neuerlich deutliche Verbesserungen des Lebensstandards, der 1956 begonnene zweite Fünfjahresplan sollte diese ermöglichen. All das hörte sich an wie die übliche Zukunftsmusik, zumal erst im Frühjahr 1957 klarere Vorgaben für den Handel erlassen wurden. Mit dem sogenannten Bunaprogramm konzentrierte man sich auf „Maßnahmen zur Entlastung der werktätigen Frauen“. Das flankierende Elfpunkteprogramm des Ministeriums für Handel und Versorgung nannte die Schaffung neuer Selbstbedienungsläden an erster Stelle (Mehr Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1957, Nr. 90 v. 15. April, 2). Zugleich wurde die Umsetzung jedoch dezentralisiert und auf Großbetriebe konzentriert. Ladenneubauten sollten zwar gleich als SB-Geschäfte geplant werden, doch die weiterhin eng bemessenen Investitionsmittel sollten zudem Schnellverkauf und Verkaufsautomaten fördern, längere Öffnungszeiten und vorverarbeitete Lebensmittel erlauben, Tiefkühltruhen und Lieferdienste unterstützen, nicht zu vergessen verbesserte Gastronomieangebote (Handel soll arbeitenden Frauen helfen, Berliner Zeitung 1957, Nr. 112 v. 16. Mai, 5). Das war ein bunter Strauß an sich sinnvoller Maßnahmen, der allerdings nur teilweise umsetzbar war, da sie das wirtschaftliche Potenzial der DDR massiv überschätzten. Der Fünfjahresplan musste 1959 abgebrochen werden, wurde dann jedoch durch einen Siebenjahresplan ersetzt, der kaum minder irreale Zielsetzungen verfolgte. Die Fixierung der politischen Führung auf den westdeutschen Konkurrenten ließ zugleich die nicht unbeträchtlichen ökonomischen Erfolge der DDR schrumpfen. Relative Rückständigkeit wurde zum Marker und Makel Ostdeutschlands. Die immer neuen Parolen des Ein- und Überholens erschienen phrasenhaft, zumal als die durchaus ambitionierten Wirtschaftsreformen an den Grundstrukturen einer sozialistischen Planwirtschaft scheiterten.

Die Handelstätigkeit wurde in dieser Zeit moralisch weiter aufgeladen, sollte der sozialistische Handel doch – so das Präsidium des Nationalrates Anfang Mai 1957 – „die Überlegenheit des sozialistischen Systems über dem kapitalistischen System zum Ausdruck bringen“ (Staatsmacht im Dienst des Volkes, Berliner Zeitung 1957, Nr. 106 v. 8. Mai, 6). Viel wurde angekündigt, doch nur weniges umgesetzt. Ein neues „erstes“ HO-Fleischwaren-Selbstbedienungsgeschäft am Bahnhof Friedrichstraße feierte zwar schon Anfang September 1957 Richtfest, konnte jedoch aufgrund von Lieferschwierigkeiten erst Anfang März 1958 eröffnet werden (Schnitzel aus der Kühlvitrine, Berliner Zeitung 1957, Nr. 205 v. 4. September, 8; Neue Selbstbedienungsläden, Neue Zeit 1958, Nr. 51 v. 1. März, 6). Ende 1958 wurde dann kritisiert, dass die Ware nicht ausreiche und vor Verkaufsschluss mehrfach ausverkauft sei (Gute Vorsätze bringen gute Umsätze, Berliner Zeitung 1958, Nr. 304 v. 31. Dezember, 6). So sah das gute Leben nicht aus. Das Bunaprogramm entpuppte sich als „nur ein Beschluß unter vielen“ (Eberhard Russek, Was erwartet die werktätige Frau vom Handel?, Neues Deutschland 1958, Nr. 34 v. 8. Februar, 12), auch wenn die Selbstbedienung Fortschritte gemacht hatte. Im Bezirk Halle/S. gab es derweil 18 SB-Läden, im Bezirk Karl-Marx-Stadt 11. Von einer Verbesserung der Einkaufssituation, vor allem einer Reduktion der langen Wartezeiten, konnte dennoch kaum die Rede sein (über die Erfahrung des Wartens vgl. K. Lehmann, Einkauf leicht gemacht, Neues Deutschland 1957, Nr. 245 v. 16. Oktober, 6).

Die Selbstbedienung gewann 1957 an Bedeutung, von einem Durchbruch konnte aber noch nicht die Rede sein. Dieser sollte erst 1958 und vor allem 1959 erfolgen. Zentral war dabei das Ende der Rationierung am 29. Mai 1958 (Gesetz über die Abschaffung der Lebensmittelkarten vom 28. Mai 1958, Handelswoche 3, 1958, Nr. 23, 4). Sie war trotz damit einhergehender Preiserhöhungen eine Morgengabe für den im Juli stattfindenden 5. Parteitag der SED. Dort wurde festgestellt, dass die Grundlagen des Sozialismus im Wesentlichen geschaffen worden seien und man nun „die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat“ auch dadurch unterstreichen sollte, dass „der Pro-Kopf-Verbrauch unserer werktätigen Bevölkerung mit allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgüter den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft“ (Walter Ulbricht, Unsere ökonomische Hauptaufgabe, in: Ders., Über die Dialektik unseres sozialistischen Aufbaus, Berlin (O) 1959, 93-96, hier 94). Der Parteitag beschloss, „Schluß zu machen mit allen Überresten des nur ‚Verteilens‘ von Waren: Es gilt, auf neue Art Handel zu treiben, d. h. die Warenproduktion mit den Bedürfnissen der Werktätigen in Übereinstimmung zu bringen und den kürzesten Warenweg zu benutzen, die Waren kulturvoll anzubieten und schnell zu verkaufen. […] Der weiteren Entwicklung des sozialistischen Sektors ist dadurch Rechnung zu tragen, daß die Einführung solcher Methoden, wie die Selbstbedienung, der Schnellverkauf, der Versandhandel für die Landbevölkerung und der ambulante Landhandel, der Ausbau und die Spezialisierung der Verkaufskapazitäten in Stadt und Land planmäßig vorangeht“ (Neues Deutschland 1958, Nr. 170 v. 18. Juli, 6). Das lag auf der Linie des Bunaprogramms, doch die neue Form höchster Dringlichkeit trug Früchte. Der Binnenhandel erhielt höhere Investitionsmittel, die nun etwas mehr als 4 % der Gesamtinvestitionen ausmachten (Karl C. Thalheim, Die wirtschaftliche Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland, 3. überarb. und erw. Aufl., Opladen 1988, 109). Diese konnten genutzt werden, da man 1958 auf eine breite Palette von Erfahrungen und Vorarbeiten zurückgreifen, die zuvor nicht zur Verfügung standen. Damit gelang in den folgenden zwei Jahren der quantitative Durchbruch der Selbstbedienung in der DDR.

Der quantitative Durchbruch der Selbstbedienung 1958-1960

Die Konsumgenossenschaften blieben Hauptpropagandisten und Hauptträger einer umfassenden Modernisierung des Verkaufsstellennetzes, nicht zuletzt, um die dominierenden Kleinstläden zu erneuern und den Absatz damit wirtschaftlicher gestalten zu können. Sie forderten ein Ende des Kleinklein bei der Selbstbedienung: “Eine Anzahl repräsentativer Verkaufsstellen wurde projektiert und eingerichtet, doch der Aufwand dafür steht in keinem Verhältnis zum eigentlichen Nutzeffekt“ (Böttner und Thiel, Neue Wege im Ladenbau, Handelswoche 1958, Nr. 41 v. 8. Oktober, 10). Der Verband Deutscher Konsumgenossenschaften handelte entsprechend, schuf Rahmenbedingungen für Veränderungen in der Breite. Im März 1957 wurde die Abteilung „Technik des Handels“ gegründet, um alle mit dem Ladenbau zusammenhängenden Fragen anzugehen. Im Mittelpunkt standen dabei standardisierte Selbstbedienungsmöbel. Erste Entwürfe wurden 1957 vorgestellt, anschließend hunderte Ladeneinrichtungen „im konsumeigenen Möbelwerk Arendsee und außerhalb des Plans im Konsum-Holzverarbeitungswerk Eberswalde“ (Andreas Ludwig (Hg.), KONSUM. Konsumgenossenschaften in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2006, 31) produziert.

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„Formschön und zweckmäßig“: Beispiele standardisierter SB-Möbel der DDR-Konsumgenossenschaften (Handelswoche 3, 1958, Nr. 47, 7)

1958 begann dann die Serienproduktion von etwa 80 Verkaufsmöbeltypen. Grundprinzipien industrieller Massenproduktion sollten helfen, Massenkonsum rasch und kostengünstig zu ermöglichen: „Vorteile liegen insbesondere in der Festlegung und Anwendung eines einheitlichen Maßsystems, in der vielseitigen Anwendungsmöglichkeit der Standards für die Masse der Verkaufsstellen, in der serienmäßigen, industriellen Produktion dieser Möbel und nicht zuletzt niedrigeren Fertigungskosten. Mit den Standardmöbel ist auch die bisherige Form der individuellen Projektierung und Einrichtung von Verkaufsstellen sowie der damit verbundene Zeit-, Arbeitskraft- und Kostenaufwand überholt“ (Böttner und Thiel, Neue Wege im Ladenbau, Handelswoche 1958, Nr. 41 v. 8. Oktober, 10). Die immer noch große Zahl der Verkaufsmöbel sollte helfen, einer „Uniformierung“ der Läden entgegenzuwirken (Böttner und Thiel, Formschön und zweckmäßig, Handelswoche 1958, Nr. 47 v. 19. November, 7). Sie sollten aber nicht nur den sehr heterogenen Ladenstrukturen der Konsumgenossenschaften entsprechen, sondern auch Vorarbeiten für eine sozialistische Konsumgesellschaft leisten, die den so unterschiedlichen Bedürfnissen der sozialistischen Persönlichkeiten entsprechend sollte. Überschätzen darf man die Auswirkungen der Standardisierung aber nicht: Von den 1958 neu eröffneten 1652 Läden – nicht nur mit Selbstbedienung – der Konsumgenossenschaften, waren lediglich 466 mit standardisierten Möbeln ausgestattet (Ludwig (Hg.), 2006, 33). Für Veränderungen blieben lokale Initiativen unabdingbar.

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Neue Registerkassen als Grundlage für die quantitative Ausweitung: Anzeige 1958 (Handelswoche 3, 1958, Nr. 49, 11)

Die Konsumgenossenschaften gingen ebenfalls das Kernproblem der Registrierkassen an. Der VEB Secura bot jedoch erst 1958 ein verlässliches Modell an, 1800 Geräte konnten im selben Jahr eingesetzt werden. Zuvor versuchte man aus der Not eine Tugend zu machen, indem man Addiermaschinen aus der Buchhaltung für den Verkaufseinsatz umrüstete (Angaben n. Ludwig (Hg.), 2006, 32-33). Trotz beträchtlicher Erfolge wurde die Abteilung „Technik des Handels“ im Rahmen der allgemeinen Umstrukturierung der Wirtschaftsverwaltung allerdings aufgelöst und in das Staatliche Versorgungskontor für Handelsausrüstungen überführt. Dies sollte die Breitenwirkung seiner Arbeit unterstützen.

Die Vorarbeiten der Konsumgenossenschaften, aber auch die Erfahrungen mit den vier Musterläden, mündeten dann in politisch unterstützte regionale Initiativen, unter denen die Berlininitiative herausragte. Ost-Berlin war damals trotz der drei Musterläden eine Selbstbedienungsdiaspora. Im Januar 1958 plante der Magistrat die Errichtung von 38 SB-Läden bis 1960 (Landsman, 2005, 187), doch diese Zahlen wurden rasch gesteigert. Anfang März lagen die Planungen bei 20 weiteren Läden schon im Jahre 1958 (Neue Selbstbedienungsläden, Neue Zeit 1958, Nr. 51 v. 1. März, 6). Der 5. Parteitag der SED und die neuen Perspektivpläne des Siebenjahresplanes führten dann in ganz andere Dimensionen. Am 31.12.1958 gab es in Ost-Berlin 27 Selbstbedienungsläden, 1959 sollte deren Zahl auf 95 steigen. Dann aber legten die Konsumgenossenschaften los und begannen „mit wenigen Mitteln Verkaufsstellen in allen Größen in Selbstbedienung umzubauen“ (Dieter Schindler, Berlin holt auf!, in: Durch sozialistische Gemeinschaftsarbeit im Handel zur mustergültigen Versorgung der Bevölkerung, hg. v. ZK der SED, Berlin (O) 1959, 160-162, hier 160). Bis zur Leipziger Binnenhandelskonferenz Ende Juli 1959, auf der die Handelskader sich auf die neuen wirtschaftlichen Aufgaben einschworen, waren in Berlin dann 460 SB-Verkaufsstellen eingerichtet worden, 40 % davon kleiner als 50 m² (Ebd., 160).

Selbstbedienung stand in Ost-Berlin für Handelsrationalisierung – und diese war angesichts der Planvorgaben unausweichlich, sollte der Warenumsatz bis 1965 um die anvisierten etwa 50 % gesteigert werden. Das war mit den tradierten Bedienungsgeschäften nicht zu schaffen, zumal die DDR auch zu dieser Zeit jährlich mehr als 100.000 Personen an den Westen verlor und an zusätzliche Verkaufskräfte nicht zu denken war. Die Konsumgenossenschaft Berlin setzte sich in ihren Perspektivplänen daher ambitionierte Ziele: „Bis zum 10. Jahrestag unserer Republik, dem 7. Oktober 1959, werden von den 1300 Konsum-Verkaufsstellen 226 auf Selbstbedienung und Teilselbstbedienung umgestellt. Bis 1961 erhöht sich diese Zahl auf 600“ (Konsum-Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1959, Nr. 86 v. 14. April, 5). Die Zahlen umfassten allerdings sehr unterschiedliche Verkaufsmethoden, nämlich Selbstbedienung, Teilselbstbedienung und Schnellverkauf. Klar war aber: „Selbstbedienung wird in den kommenden Jahren groß geschrieben“ (600 Konsum-Selbstbedienungsläden, Berliner Zeitung 1959, Nr. 92 v. 21. April, 5). Und die Pläne waren gar noch größer: „Alle Konsumverkaufsstellen werden bis Ende 1961 renoviert und planmäßig mit Kühlmöbeln, Registrierkassen, Schnellwaagen und anderen modernen Handelsausrüstungen versehen“ (Berliner Konsum hat viel vor, Neues Deutschland 1959, Nr. 108 v. 20. April, 2). Diese Zahlen ließen auch die Konkurrenz nicht unbeeindruckt, auch HO und der unterkapitalisierte private Handel zogen nach und mit (Private Selbstbedienungsläden?, Neue Zeit 1959, Nr. 115 v. 21. Mai, 6). Bis zum Jahrestag der Republik sollten in Berlin 735 SB-Läden bestehen, vorrangig Lebensmittelläden, doch auch zahlreiche Industriewarengeschäfte und Gaststätten. Angesichts solcher Perspektiven war sie wieder da, die Utopie eines besseren Lebens: „Die Zeit der Schimpfkanonaden und berechtigten Kritik am Berliner Handel ist bald vorüber. Wie gehen erfreulichen Zeiten entgegen. Wir werden in den Gaststätten billiger essen, weit mehr Selbstbedienungsgeschäfte antreffen, ja, künftig werden sogar Milch und Schrippen ihren Weg bis zu unserer Haus- und Korridortür finden“ (Frischer Wind im Handel, Neue Zeit 1959, Nr. 98 v. 28. April, 6). Die Planziffern würden zwar nicht erreicht werden, doch der Einkauf rascher erfolgen, die Preise sich vielleicht etwas verringern, das Warenangebot steigen. Utopien dienten dazu, die Bevölkerung in Schach zu halten.

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Neuer SB-Laden in Stalinstadt 1959 (Bundesarchiv, Bild 183-61967-0008, CC-BY-SA 3.0)

Dieses rasche Wachstum galt der politischen Führung als Bestätigung ihrer Politik. Die Investitionsmittel wurden zwar auf die industriellen Zentren und Prestigeprojekte, wie Leuna, Schwarze Pumpe, das Erölkombinat Schwedt oder Stalinstadt konzentriert, doch offenbar gelang der „Sprung nach vorn“ (Curt-Heinz Merkel, Bessere Lösung der Versorgungsaufgaben hilft maximalen Zeitgewinn sichern, in: Durch sozialistische Gemeinschaftsarbeit im Handel zur mustergültigen Versorgung der Bevölkerung, hg. v. ZK der SED, Berlin (O) 1959, 45-70, hier 63) in der gesamten DDR. Ende 1959 gab es stolze 7168 Geschäfte mit Voll- und 5781 mit Teilselbstbedienung. Konsumgenossenschaften und HO dominierten klar. Deren 6959 Geschäfte mit Vollselbstbedienung lassen sich weiter aufgliedern: Mit 5292 Läden dominierte der Lebensmittelsektor, gefolgt vom Industriewaren- (810) und Gemischtwarenverkauf (700). Hinzuzuzählen waren 157 SB-Gaststätten (Hans Schlenk, Der Binnenhandel in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Berlin 1960, 81). Fast zwei Drittel dieser Geschäfte waren Teil der Konsumgenossenschaften.

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Anteil der HO- und Konsum-Selbstbedienungsgeschäfte am gesamten Lebensmittelhandel in den Bezirken der DDR 1960 (Handelswoche 6, 1961, Nr. 26, 10)

Das Wachstum ging weiter, schwächte sich 1960 aber deutlich ab – eine Folge der wirtschaftlichen Krise der DDR, die unter anderem aus der forcierten Zwangskollektivierung, einer disproportionalen Branchenentwicklung, verschärfter politischer Repression, weiter ansteigenden Flüchtlingszahlen und der temporären Kündigung des Interzonenhandelsabkommes durch die Bundesrepublik resultierte. All dies mündete im Mauerbau, politisch desaströs, wirtschaftlich aber unausweichlich. Ende 1960 gab es bei Konsumgenossenschaften und HO 13.070 Selbstbedienungsläden (8776 für Lebensmittel, 2026 für Industriewaren, 1900 für Gemischtwaren und 358 Gaststätten). 18,5 % des HO- und Konsum-Umsatzes wurden im IV. Quartal 1960 per Selbstbedienung erzielt, bei Lebensmitteln betrug deren Anteil gar 28,2 % (Selbstbedienung setzt sich durch, Handelswoche 6, 1961, Nr. 26 v. 29. Juni, 10; Landsman, 2005, 278 nennt für Ende 1961 12.1912 SB-Geschäfte). Ost-Berlin hatte seinen Rückstand mehr als wettgemacht, besaß seither relativ mehr SB-Geschäfte als die 14 DDR-Bezirke. Die Selbstbedienung war 1960 in der DDR fest etabliert, der Ausbau setzte sich in den 1960er Jahren, wenngleich relativ moderat, weiter fort.

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DDR-Bürgerin beim Einkauf 1959 (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 1)

Die Einführung der Selbstbedienung in der DDR war ein Kraftakt. Sie veränderte das Einkaufen, sie eröffnete einen Freiheitsraum. Der Käufer war nicht länger der relativen Willkür der Verkäufer und Händler ausgesetzt, er hatte direkten Kontakt zur Ware, konnte wählen: „Ein erhabenes Gefühl, allen Waren allein gegenüberzustehen. Ich verweile vor dem Ständer mit Marmeladen und betrachte sie mir wie ein Gemälde. Ich lese die Etikette, studieren die Preise, nehme ein Glas heraus, stelle es wieder zurück, greife zum nächsten… In jedem anderen Laden hätten der Verkäufer und die hinter mir anstehenden Personen längst mit Marmelade nach mir geschmissen.“ Nach fast zwei Jahrzehnten Rationierung kann man es kaum ermessen, das „herrliche Gefühl, bloß zugreifen zu brauchen, um sich in den Besitz einer Ware zu bringen“ (Zitate aus Kundendienst bei Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1959, Nr. 32 v. 7. Februar, 8).

Entsprechend hat insbesondere die Kulturanthropologin Ina Merkel auf die emotional begründete Faszination der Selbstbedienung hingewiesen: „Große Schaufenster, durch die man in das Innere blicken konnte, kräftige Beleuchtung und Neonschriften – die Selbstbedienungsgeschäfte traten als beleuchtete Glaspaläste in Erscheinung und vermittelten einen Hauch von Moderne und von Welt. […] Aus dem Funktionswandel des Einkaufs folgte eine völlig neue Ästhetik, und sie war das eigentlich Bezaubernde. […] Die Verkaufsräume beeindruckten selbst nach geringfügigen Umbauten durch ihre Großzügigkeit und Offenheit. Das Licht war auf die Waren konzentriert. Das Ganze wirkte wie eine große Warenausstellung. Durch die Innenausstattung mit Drahtkörben, Stahlrohrgestellen und plasteverkleideten Regalen kamen moderne Materialien zum Einsatz. Selbst die nach heutigen Begriffen kleinen Einkaufskörbe und die ersten Einkaufswagen entzückten die Konsumenten durch ihren Neuigkeitswert. Für einige wenige Jahre war die Ästhetik der Öffentlichkeit der des privaten Raumes um einiges voraus“ (Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999, 207).

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Modell eines standardisierten Konsum-SB-Ladens (Handelswoche 3, 1958, Nr. 41, 10)

Diese Faszination bestand. Doch sie dominierte nicht. Die Einführung der Selbstbedienung in der DDR war nicht allein Resultat länger zurückreichender ökonomischer Notwendigkeiten, sondern sie diente vielfach einem Notwendigkeitskonsum. In Magdeburg war beispielsweise das 1958 gegründete „Tempo-Eck“ die erfolgreichste SB-Verkaufsstelle. Direkt am Hauptbahnhof gelegen, war es Tag und Nacht geöffnet, richtete sich an Reisende, vor allem aber an die Eisenbahner und Werktätigen. Hier konnte man auch Brötchen, Milch, Kakao und Butter ordern, allesamt nötig, um einen harten Arbeitsalltag einfacher organisieren zu können (Vorbildliche Selbstbedienung, Berliner Zeitung 1959, Nr. 41 v. 18. Februar, 5). Faszination konnte von Selbstbedienungsgeschäften ausgehen, doch sie bewirkten wohl eher Erleichterung; Erleichterung darüber, dass nach langen Debatten endlich auch der tägliche Einkauf etwas leichter wurde, dass ein Stück der täglichen Entmündigung abgetragen wurde. Um das damit aufgeworfene Problem besser abschätzen zu können, gilt es abschließend einen genaueren Blick auf die 1959 bis 1960 neu entstandenen Einkaufsstätten zu werfen. Sie wiesen, abgesehen von wenigen Modelläden, deutliche qualitative Defizite auf.

Tonnenideologie oder Ausweitung mit qualitativen Defiziten

Ja, in den späten 1950er Jahre begann der „Siegeszug der Selbstbedienungsverkaufsstätten“ (Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Göttingen 2018, 1136) auch in der DDR. Vor Ort aber war die Begeisterung oft flau, erinnerte an die rasch abebbende Resonanz 1951/52. Als 1958 im sächsischen Annaberg-Buchholz ein erster HO-Selbstbedienungsladen nach einem Umbau eröffnet wurde, war das Ergebnis ernüchternd: „Anfangs war ein guter Käuferstrom vorhanden, doch in der letzten Zeit flaute dies ab“ (Annamaria Becker, Selbstbedienung ohne Zuspruch?, Neues Deutschland 1959, Nr. 92 v. 4. April, 10). War es die relative Kälte des auf den Wahl- und Kaufakt reduzierten Einkaufs? War es das fehlende Schwätzchen in der Warteschlange? War es der fehlende Kontakt zur Verkäuferin, notwendig auch für begehrte Bückware? Oder aber Widerstand gegen den Zwang zur Mitarbeit, gegen die Ersetzung von Verkäufer- durch Kundenarbeit? Die offizielle Antwort war mangelhaft entwickeltes gesellschaftliches Bewusstsein der Kunden, resultierend aus ungenügender Käufererziehung. Im brandenburgischen Neuglobsow konnte der HO-Verkaufsstellenleiter Otto Schulze durch Hilfe und gutes Zureden vielen alten Frauen die Angst nehmen, den neuen SB-Laden zu betreten (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 77). Das Notwendige musste nur vermittelt werden, dann würde es schon funktionieren.

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Standardpläne für neu einzurichtende Industriewaren-Selbstbedienungsläden (Handelswoche 3, 1958, Nr. 37, 9)

Die durchaus bestehende Zurückhaltung der Käufer war auch eine Folge der geringen Faszination, die von den meisten SB-Läden ausging. Gewiss, es handelte sich an sich um einen neuen Typ des Verkaufs/Einkaufs, für den an sich nicht nur eine neue Absatzkette, neue Verkaufsmöbel, neu gestaltete Waren, sondern nicht zuletzt neue Läden erforderlich waren (Werner Prendel und Bruno Wilms, Selbstbedienungsläden Lebensmittel, Berlin (O) 1958; Julius Mader, Die Selbstbedienung im Lebensmittel-Einzelhandel, Berlin (O) 1960). Neue Läden aber blieben in der DDR eine Ausnahme. In ihrer großen Mehrzahl handelte es sich bei den „neuen“ Geschäften um simple Umbauten mit geringen Investitionen. Dies war Folge des relativen und absoluten Rückstandes der DDR nicht nur gegenüber westlichen, sondern auch gegenüber östlichen Staaten. 1958/59 war dieser „Tempoverlust“ ein auch öffentliches Ärgernis, entsprechend massiv musste das Aufholen sein: „Wir können uns, um rasch zu Ergebnissen zu kommen, dabei nicht nur auf den Bau von neuen und die vollständige Neueinrichtung der vorhandenen Verkaufsstellen orientieren. Es müssen nicht pompöse Verkaufspaläste sein. Es kommt vielmehr darauf an, auch die vielen kleineren Verkaufsstellen, in denen die Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs versorgt wird, auf Selbstbedienung umzustellen“ (Oesterliches Intermezzo um lange Wartezeiten, Neue Zeit 1959, Nr. 24 v. 28. März, 6). Es ging, anders ausgedrückt, nicht um den Aufbau einer großen Zahl ansprechender SB-Läden, sondern nur um den Aufbau einer großen Zahl. Es ging um Tonnenideologie auch auf dem Felde des Konsums.

Auf der Leipziger Handelskonferenz machte der neue SED-Minister für Handel und Versorgung, Curt-Heinz Merkel (1919-2000) – Curt Wach war just aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, er selbst war ein geläutertes NSDAP-Mitglied – nochmals klar, dass man keineswegs Ladenlokale von mindestens 80 m² und Investitionsmittel von mindestens 100.000 DM benötige, um zur Tat zu schreiten: „Die Praxis hat bewiesen, daß die Einführung der Selbstbedienung auch in Verkaufsstellen unter 40 m² und vor allem mit verhältnismäßig wenig finanziellen Mitteln möglich ist“ (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 63). Dieter Schindler, Vorstandsvorsitzender der Konsumgenossenschaft Berlin-Mitte, machte es noch praktischer: „Es gibt Farbe, Pinsel, Glas und Holz der vorhandenen Einrichtungen, und wir haben die Initiative der Werktätigen. Alles in richtigem Verhältnis eingesetzt, ergibt gutaussehende Selbstbedienungsverkaufsstellen“ (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 161). Primitiv sollten sie nicht, teuer aber durften sie nicht werden. Selbstbedienung konnte in der Tat einfach sein, orientierte man sich etwa an einem belobigten Konsum-Verkaufsstellenleiter im Kreise Halberstadt: „Er erhielt für das Lager drei Regale geliefert. Kollege Wilms aber meinte, daß diese Regale im Laden besser aufgehoben sind; denn es gehört ja soviel Ware in den Laden wie möglich. Er nahm geringfügige Aenderungen an den Regalen vor, und heute werden die haushaltschemischen Artikel und andere Waren des täglichen Bedarfs in Selbstbedienung verkauft.“ Auch im Kreise Zittau wurden vorhandene Regale verändert und neu angeordnet – und schon konnten die Konsum-Mitglieder sich selbst bedienen (Oesterliches Intermezzo um lange Wartezeiten, Neue Zeit 1959, Nr. 24 v. 28. März, 6). So einfach ging man nicht überall vor. Im Kreise Pirna erforderte der erste SB-Laden Investitionen von 50.000 DM. Doch dank der Schöpferkraft der Werktätigen lagen die Kosten der folgenden 29 Läden nur noch zwischen 2000 und 3000 DM (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 278).

Derartig niedrige Investitionen waren nur möglich durch sogenannte Selbstverpflichtungen. Handelsmitarbeiter und Konsummitglieder leisteten freiwillige Arbeit, bauten Läden um, schufen Verkaufsmöbel. Das war für Konsum und HO nützlich, denn so konnten Mittel und Sachleistungen des Nationalen Aufbauwerkes genutzt werden. Die Zusatzarbeit konnte wiederum als „Aufbaustunden“ geltend gemacht werden, die den Freiwilligen beispielsweise Vorteile bei der Wohnungsvergabe verschaffte (Leidig (Hg.), 2006, 31). 1960 erreichten die ehrenamtlichen Leistungen bei den Konsumgenossenschaften stattliche 9,1 Mio. DM (Wolfgang Heinrichs, Ökonomik des Binnenhandels in der DDR, 2. stark überarb. und erw. Aufl., Berlin (O) 1962, 142). Selbstverständlich wurde offiziell vor der Vorstellung gewarnt, „daß ein weggeräumter Ladentisch, ein paar Einkaufskörbe, ein Warenträger oder Farbe, die nicht zur Ware paßt, schon Selbstbedienung“ sei (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 161 (Schindler)). Doch der massive Anstieg der SB-Geschäfte von 1958 bis 1960 basierte vorrangig auf preiswerten und rasch zu bewerkstelligenden Umbauten. Nur so konnten 1959 im brandenburgischen Kreis Elsterwerda gleich 40 SB-Läden entstehen, und bewiesen werden, „daß auch auf kleinstem Raum und in jedem Dorfe die Einführung der Selbstbedienungsmethode möglich ist“ (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 269 (Hubert May)).

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Kompromisse als Grundlage der quantitativen Ausweitung: Gemischte Bedienungssysteme in Berlin-Friedrichshain (Handelswoche 3, 1958, Nr. 50, 10)

Ladenlokale und auch Verkaufsmöbel waren entscheidend für das quantitative Wachstum der Selbstbedienung in der DDR. Doch damit war das Verkaufssystem eben nicht vollständig implementiert: „Die Frage der Addiermaschinen, der Kassen und der Selbstbedienungskörbe muß endlich gelöst werden, damit der Schwung, in dem sich der Handel zur Zeit befindet, nicht aufgehalten wird“ (Gemeinschaftsarbeit, 1959, 135 (Jutta Kretzschmar)). Der Schwung erlahmte, das leidige Verpackungsproblem blieb. Erst 1966 legte die Verordnung über die Planung, Leitung und Organisation des Verpackungswesens fest, dass Produktionsbetriebe ihre Waren verkaufsgerecht zu verpacken hatten. Hinzu kam, dass auch die verpackte Ware vielfach nur rudimentär informierte und nicht verkaufsfördernd ausgestaltet war (Werner Jurich und Eberhard Wieland, Unser Lebensmittelverbrauch, T. II – Entwicklung im Sortiment, Berlin (O) 1965, 16). Das hatte immense betriebswirtschaftliche Folgen: 1962 mussten beispielsweise 18,4 % der Arbeitszeit der Verkaufskräfte in den Konsumgenossenschaften für Abpacken und Preisauszeichnung aufgewendet werden (Hans Schlenk, Der Binnenhandel der DDR, Köln 1970, 83).

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Dauerbrenner der Kritik: Karikaturen 1968 (Handelswoche 13, 1968, Nr. 21, 5)

Die Konsequenz von geringen, im Regelfall unzureichenden Investitionen in das Verkaufssystem Selbstbedienung war, dass einerseits Einkaufen mit vielen Problemen verbunden blieb, dass anderseits aber dessen Rationalisierungspotenzial auch nicht annähernd ausgeschöpft werden konnte. Einkaufen war auch in SB-Läden zeitaufwändig, da die flächendeckende Einführung von modernen Secura-Registrierkassen und selbst von Schnellwagen immer wieder auf Hindernisse stieß. Verpackungsdefizite und andauernde Probleme mit der Kühlkette führten zu beträchtlichen Warenverlusten. Zwar konnte die Zahl der Verkaufsstellen von 1962 bis 1971 um ein Drittel reduziert werden, doch die Zahl der Beschäftigten blieb bis zum Ende der DDR relativ konstant. Noch 1974 hatten 70 % aller Verkaufsstellen – ein Großteil davon SB-Geschäfte – eine Verkaufsfläche von unter 50 m², 40 % waren gar kleiner als 25 m² (Handbuch DDR-Wirtschaft, hg. v. Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Reinbek bei Hamburg 1977, 182). Fasst man all diese Punkte zusammen, so zeigt sich, dass die DDR, trotz, ja auch wegen der raschen Einführung der Selbstbedienung 1958 bis 1960 ein Land mit einem immens kostenträchtigen Einzelhandel blieb, der viele Versorgungsaufgaben nur unzureichend erfüllte und der keine sozialistische Alternative zum westlichen Konsummodell hat entwickeln können.

Uwe Spiekermann, 28. September 2019

11 Gedanken zu „Die Einführung der Selbstbedienung im Einzelhandel der DDR 1951-1960

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  5. Mein Vater Günter Senaczek hat damals den ersten Selbstbedienungsladen in Halle in der Klement Gottwald Str. eröffnet udn geleitet mit 19 Mitarbeitern. Es war die Vst 188.. Es wars ehr interessant den Artikel zu lesen udn an alte zeiten zurück zu denken. Wir als seien Kinder saßen oft oben udn haben durch Spiegel die Kunden beeobachtet. Diese Einrichting war geschaffen um vermeindliche Ladendiebstähle zu verhindern.

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